302 Schere r für ihn im Centralpuncte seiner Existenz gestanden, wie sehr es ihm nur als ein secundäres Mittel zur Erreichung fremdartiger Zwecke gegolten haben mag: für uns gewinnt erst um dieses Werkes willen seine ganze Gestalt Bedeutung und Interesse. Ein grosses Resultat menschlicher Tätigkeit scheint uns darin vorzuliegen und in Willi- ram gewahren wir einen Mann, der seiner Zeit genug getan, wie nicht viele andere der ihrigen. Sein Erfolg war nicht etwa der prak tischen Brauchbarkeit zu verdanken. Williram hat keines jener un zähligen Conversationslexika oder Compendien geliefert, die das Mittelalter so hoch verehrte, dass es ihre Autoren oft als die berühm testen Väter der lateinischen Kirche dachte. Er hat auf dem Felde der Bibelexegese durch Geschmack und Geschicklichkeit einen eigen tümlichen und hervorragenden Platz eingenommen. Construiert man sich aus den verhältnissmässig spärlichen und oberflächlichen Notizen den Geist eines der Kirchenfürsten damaliger Zeit und versucht aus diesem Geiste heraus Willirams Paraphrase zu lesen: so wird man das Erbauliche eben so sehr wie das Unterhaltende des Buches an erkennen müssen und vielleicht gemessen können, das Urteil der Zeitgenossen mithin bestätigen, so weit uns dieses aus der grossen Zahl alter Abschriften, aus der lateinischen Übersetzung, welche im 12. Jahrhundert im Pantaleonskloster zu Cöln wenigstens begonnen wurde (Cod. Gud. 131 zu Wolfenbüttel), und aus der weiten Ver breitung fast über alle Teile Deutschlands noch heute erkennbar entgegentritt. Merkwürdig, dass es so wenig Nachahmung fand. Nur vereinzelt bemerkt man Benutzung, etwa die Fortpflanzung des übersetzten Tex tes (wie in der von Joseph Haupt, Wien 1864, herausgegebenen sich frei und geschickt in deutscher prosaischer Rede bewegenden Aus legung des Hohenliedes): aber keine Arbeiten ähnlicher Art wie in Sangallen und in baierischen Klöstern Notker Labeo sie angeregt hatte. Für deutsche Bibelcommentare war eben die Zeit vorderhand abgelaufen, Willirams Paraphrase war der vollständigste und ab schliessende Ausdruck einer entschwindenden Epoche: der geistige Inhalt der neu aufsteigenden erforderte andere Formen. In dieser Beziehung ist die Berührung mit des Bamberger Scho- lasticus Ezzo Cantilena de miraculis Christi bemerkenswert. Beide stammen aus den Sechziger Jahren des 11. Jahrhunderts, beide sehen wir in dem Lateinisch mit Deutsch mischenden Jargon abge-