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SITZUNGSBERICHTE
DER KAISERLICHEN
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PHILOSOPHISCH-HISTORISCHE CLASSE.
EINUNDDREISSIGSTEII BAND.
WIEN.
AUS DER K. K. HOF- UND STAATSDRUCKEREI.
IN COMMISSION BEI KARL SEROLD’S SOHN, BUCHHÄNDLER DER KAIS. AKADEMIE
DER WISSENSCHAFTEN.
1859.
SITZUNGSBERICHTE
DER
PHILOSOPHISCH-HISTORISCHEN CLASSE
DER KAISERLICHEN
AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
EINUNDDREISSIGSTER BAND.
Jahrgang 1859. — HEFT I bis III.
WIEN.
AUS DER K. K. HOF- UND STAATSDRUCKEREI.
IN COMMISSION BEI KARL GEROLD’S SOHN, BUCHHÄNDLER DER KAIS. AKADEMIE
DER WISSENSCHAFTEN.
1859.
300122
INHALT.
Sitzung vom 6. April 1859.
Gindely, Beiträge zur Geschichte des dreissigjährigen Krieges ....
Sitzung vom 13. April 1859.
Pfizmaier, Beiträge zur Geschichte des Entsatzes von Han-tan ....
Sitzung vom 27. April 1859.
Wolf, Beiträge zur spanischen Volkspoesie aus den Werken Fernan
u Caballero’s . . .
Brücke , Über die Aussprache der Aspiraten im Hindustani
Verzeichniss der eingegangenen Druckschriften
Sitzung vom li. Mai i859.
Karajan, Bericht über die Thätigkeit der historischen Commission wäh
rend des akademischen Jahres 1857 auf 1858
— Bericht über die Thätigkeit der Commission zur Herausgabe der
Acta Conciliorum Saeculi XV. während des akademischen Jahres
1857 auf 1858
L-
Bergmann, Die Edlen von Embs zu Hohenembs in Vorarlberg, dargelegt
und beleuchtet in den Ereignissen ihrer Zeit. (Auszug aus einer für
die Denkschriften bestimmten Abhandlung.)
Scliröcr, Nachtrag zum Wörterbuche der deutschen Mundarten des ungri-
schen Berglandes
/ (Jhlemann, Über die Bildung der altägyptischen Eigennamen .
Sitzung vom 18. Mai 1859.
Pfizmaier, Li-sse, der Minister des ersten Kaisers
Pcrger, Zur Geschichte der Falkenjagd
Verzeichniss der eingegangenen Druckschriften
Sitzung vom 8. Juni 1889.
Bergmann, Die Edlen von Embs zu Hohenembs in Vorarlberg, dargelegt
und beleuchtet in den Ereignissen ihrer Zeit. (Auszug aus einer
für die Denkschriften bestimmten Abhandlung.) (Fortsetzung.) .
Goldenthal, Über einige Benennungen synagogaler Gesänge des Mittel
alters , wie über die Namen der Accente im Hebräischen . . .
Sitzung; vom 22. Juni 1859.
Bergmann, Die Edlen von Embs zu Hohepembs in Vorarlberg, dargelegt
und beleuchtet in den Ereignissen ihrer Zeit. (Auszug aus einer
für die Denkschriften bestimmten Abhandlung.) (Fortsetzung.) .
Aschbach, Über die Zeit des Abschlusses der zwischen Rom und Karthago
errichteten Freundschaftsbündnisse
Maussen, Paucapalea. Ein Beitrag zur Literargeschichte des canoni-
schen Rechts im Mittelalter
Verzeichniss der eingegangenen Druckschriften
\.
Seite
65
133
219
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231
242
243
243
293
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352
393
397
400
420
422
449
517
SITZUNGSBERICHTE
DER
KAISERLICHEN AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
PHI LOS OFM IS CH-HISTORISCHE CLASSE.
XXXI. BAND. I. HEFT.
JAHRGANG 18S9.
APRIL.
X T
3
SITZUNG VOM 6. APRIL 1859.
Vorgelegt:
Beiträge zur Geschichte des dreissigjährigen Krieges.
Von Dr. Anton (rindely.
Die nachfolgenden zwei Aufsätze über die Annahme Ferdi
nande II. zum Könige von Böhmen und über die Wahl Friedrich's V.
von der Pfalz zum Könige von Böhmen beruhen auf den handschrift
lichen Mittheilungen zweier böhmischer Historiker. Der erste der
selben, Slawata, bekannt wegen seines Schicksals beim Ausbruche
des böhmischenAufstandes, bringt umständliche Nachrichten über die
Ereignisse in Prag im Jahre 1617 und 1619; die Angaben welche
er über Friedrich’s Wahl beibringt, sind von ihm selbst aus den
Originalprotokollen geschöpft worden. Der andere, Paul Skala, des
sen ausserordentliche umfangreiche Handschrift sich in der Bibliothek
der Grafen Waldstein in Dux befindet, gibt die ausführlichsten Nach
richten über die Geschichte Böhmens, besonders im 17. Jahrhunderte;
während der ereignisreichsten Zeit lebte er in Prag, doch sah er
sich nach der Schlacht am weissen Berge als Protestant genöthigt
im Exile sein Leben zu fristen. Slawata als Katholik und Skala als
Protestant ergänzen sich vollständig; in Bezug auf den Thatbestand
ist übrigens zwischen beiden nie ein Zwiespalt zu finden; der Refle
xion enthalten sich beide oder räumen ihr nur ausserhalb der Erzäh
lung eine Stelle ein.
Skala ist bisher nie von der Geschichtsforschung benützt wor
den; ausser der böhmischen Literatur kennt man ihn nicht einmal
dem Namen nach. Slawata ist von dem böhmischen Historiker
1
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yj. Dr. Anton Gin de ly*
Pubitschka in Bezug auf die Ereignisse des Jahres 1609 und 1610,
dann von Senkenberg in Bezug auf die Geschichte des Fenstersturzes
benützt worden. Es scheint mir nicht wahrscheinlich, dass Senken
berg böhmisch verstand, durch irgend einen Zufall mochte er in den
Besitz des ersten Bandes von Slawata’s Geschichte gelangt und
dadurch veranlasst worden sein sich einige Stellen übersetzen zu
lassen. Denn auf diesen beruht seine ganze Kenritniss Slawata’s und
alle die Citate, mit denen er sein Buch und nach ihm alle jene die
ihn benützt haben, schmücken. Es gereicht mir zu nicht geringem
Vergnügen der gelehrten Welt über die Gelangung Ferdinand's und
Friedrich’s zur böhmischen Krone durchwegs neue Nachrichten brin
gen zu können und insbesondere die Frage über das böhmische
Wahlrecht, welche in allen Bearbeitungen des 30jährigen Krieges
so gut wie die Interpretation des böhmischen Majestätsbriefes eine
Achillesferse bildet, vollständig erörtern zu können.
Die genaue Bezeichnung, woher die einzelnen Angaben geschöpft
sind, habe ich nicht weiter für nöthig erachtet; Alles ist entweder
dem 7., 8. oder 10. Theile Slawata’s oder dem 8. und 9. Theile
Skala’s entnommen; wer die Handschriften je in die Hand bekommt,
kann leicht darin sich wo möglich noch des umständlichem belehren.
Dem zweiten Aufsatze sandte ich einige Angaben über die Verbin
dungen Böhmens mit der Pfalz voran; die höchst wichtige Äusserung
Jakob s I. von England ist, wie das an der betreffenden Stelle bemerkt
worden, den Papieren des Münchner Staatsarchivs entnommen.
I.
Über die Vorgänge bei Annahme des nachmaligen Kaisers Ferdinand 11.
zum König von Böhmen.
Das Vertrauen und die Achtung, welche sich Erzherzog Ferdi
nand bei seinen Vettern die ein näheres Erbrecht auf die Kronen
von Ungern und Böhmen besassen, erwarb, war der Grund, wesshalh
diese auf ihre Rechte verzichteten, als König Matthias bei seinen
Lebzeiten in die Wahl eines präsumtiven Nachfolgers willigte, weil
er die Hoffnung auf directe Leibeserben bereits aufgegeben hatte.
Der Anfang zur Übertragung der Anwartschaft auf die Kronen wurde
mit Böhmen gemacht und am 1. Mai 1617 verkündete den Ständen
dieses Landes ein kais. Patent, sie hätten sich am S. Juni in Prag
Beiträge zur Geschichte des dreissigjährigen Krieges.
5
zu versammeln um daselbst wegen des künftigen Königs von Böhmen
zu verhandeln. Matthias bemerkte ausdrücklich in dem Berufungs
schreiben, dass die Wahl des Königs die einzige Angelegenheit sei,
welche an diesem Landtage verhandelt werden würde. Dieser Zu
satz war in der Absicht heigesetzt, damit die Protestanten die Recla-
mationen wegen der Braunauer Kirche, die damals schon im vollen
Gange waren, nicht am Landtage zu Sprache brächten. Zudem war
noch eine andere und nahezu wichtigere Gelegenheit zu einer
Beschwerde den Protestanten in die Hände gelegt worden. Als die
Defensoren nämlich an den Kaiser mehrmals ihre Intervention für die
Braunauer gelangen Hessen, berief dieser bei seiner Anwesenheit
in Böhmen im Jahre 1616 den Grafen Thurn, Ulrich von Gersdorf
und Simon Kohout von Lichtenfeld als Vertreter der übrigen Defen
soren zu sich auf das Schloss Brandeis und Hess ihnen durch den
obersten Kanzler sagen, er erkenne weiterhin die Klagen der Pro
testanten nicht an und wünsche nicht mehr mit ihnen belästigt zu
werden. Die Besetzung der Pfarreien auf allen seinen Gütern habe
er übrigens in die Hände des Erzbischofs gelegt. Der Kanzler ver
mochte seinen persönlichen Groll, den er gegen die Stände und ihre
Invectiven vom Jahre 1609 noch fühlte, nicht, wie es sich geziemt
hätte, zu bemeistern, sondern bemühte sich diese kaiserliche Antwort
in einer solchen Weise zu geben, dass sie die Defensoren durch
ihren höhnischen Beigeschmack noch tiefer verletzen musste. Die
Übertragung der Collaturen an den Erzbischof konnte in einer ge
wissen Beziehung mit dem „Majestätsbrief“ und dem „Vergleiche der
katholischen und protestantischen Stände“ bestehen, dann musste
aber dieses Recht vom Erzbischof innerhalb sehr enger Schranken
ausgeübt werden, und jedenfalls konnte die Frage über die Art
dieser Ausübung am Landtage zu den bittersten Erörterungen
führen.
Während die böhmischen Stände sich vorbereiteten diesem Ruf
zu folgen und, wie allen wohl bekannt war, auf Erzherzog Ferdinand
als den vom Kaiser zu präsentirenden Candidaten ihre Stimmen zu
übertragen, fanden Verhandlungen über die Krone Böhmens zwischen
dem kaiserlichen und dem spanischen Cabinete im tiefsten Geheim
nisse Statt. Die spanischen Könige missbrauchten das Ansehen und
die Ehrfurcht welche die jüngere Linie ihnen willig zollte, zu ver
schiedenen Forderungen welche wohl nicht die Absicht hatten der
6
Dr. Anton G i n d e 1 y.
letztem wehe zu thun, aber ihre Ansprüche auf stete Präponderanz
kundgaben. In diesem Momente trat Philipp III. mit Ansprüchen auf
die Krone Böhmens als Nachkomme einer Tochter Ferdinand’s I. auf
und da diese Ansprüche, wenn wir vernünftig die Sachlage erwägen,
nicht ernst gemeint sein konnten, so ist es begreiflich, dass er sich
mit geringen Zugeständnissen die sich auf Italien bezogen, abfinden
liess. Die Beilegung dieser spanisch-österreichischen Angelegenheit
ging in Prag vor sich, als sich der Landtag eben versammelt hatte.
Aus den bald unten folgenden Erörterungen über das böhmische
Wahlrecht wird sich ergeben, dass Spanien auch nicht den leisesten
Schein eines gesetzlichen Rechtes für sich hatte.
Würden diese Unterhandlungen für die nächste Zukunft ein
Geheimniss geblieben sein, so hätte man sie, wenn sie in späteren
Jahren aus den Archiven an’s Licht der Öffentlichkeit gedrungen
wären, kaum für etwas mehr als für Curiosa angesehen. Unglückli
cher Weise für Ferdinand II. wurden sie gleich beim Beginne des
Aufstandes von 1618 bekannt und gossen Öl in s Feuer. Einer der
Schreiber der spanischen Kanzlei hatte die Actenstücke der Unter
handlung einem Jesuiten A. E. (sic) in Prag, mit welchem er, weil
derselbe spanisch sprach, bekannt war, mitgetheilt. Der Jesuit, die
Tragweite dieser Angelegenheit nicht durchblickend, theilte den
Vertrag Ferdinand's mit Spanien einem Freunde mit, der in Eile das
Actenstück abschrieb und für den Augenblick das Geheimniss be
wahrte. Als aber der Aufstand losbrach, machte er dem Grafen An
dreas Schlick eine vollständige Mittheilung und dieser den Ständen.
Durch drei Jahre war es stets einer der aufstachelndsten Vorwürfe,
dessen sich die Direetoren im Landtage und in Flugschriften bedien
ten , dass nämlich hinter dem Rücken der Stände über die Krone
verhandelt worden.
Die ganze Schuld in dieser Angelegenheit, welche das böhmische
Ehrgefühl tiefer, als man meint, verletzte, lag am spanischen Hofe.
Hätte Ferdinand einfach die Prätensionen desselben zurückgewiesen,
Philipp III. hätte gewiss die böhmischen Stände nicht zu Schieds
richtern zwischen sich und seinem Vetter aufgerufen, aber Ferdi
nand hätte sieh Spanien, dessen er für die Zukunft wohl bedurfte,
entfremdet. Warum hätte er dem spanischen Stolze durch ein
unbedeutendes Actenstück, wie er wohl meinen mochte, nicht
genügen sollen ?
Beiträge zur Geschichte des dreissigjährigeu Krieges.
7
Inzwischen war der Tag (6. Juni), an dem der Landtag eröffnet
werden sollte, herangekommen, als die obersten Beamten und die
Beisitzer des Landrechts, des Hof- und Kammergerichts, die Einla
dung erhielten vor der Eröffnung der Sitzung um 6y a Uhr Morgens
sich in der königlichen Kanzlei einzufinden, um einer vorläufigen
Berathung beizuwohnen. Die Einladung ging im Namen des Kaisers
vom obersten Kanzler aus und Alle die gerufen waren, fanden sich
ein mit Ausnahme des Grafen Thurn und des Leonhart Colonna von
Fels, von denen der erstere als Burggraf von Karlstein, der letztere
als Mitglied des Land rechtes zu erscheinen verpflichtet war. Diese
beide Hessen zurückmelden, dass , da der Landtag für den heutigen
Tag anberaumt sei, sie nur im Sitzungssaale desselben zu finden
seien. Der Kanzler las den Anwesenden die königliche Botschaft vor,
welche dem Landtage bezüglich der Wahl mitgetheilt werden sollte,
und forderte sie darauf auf, ihr Gutachten abzugeben. Die Botschaft
erörterte ausführlich, in welchem glücklichen Einvernehmen Böhmen
seit jeher mit der Dynastie Habsburg gestanden, und wie der Kaiser
von dem Wunsche beseelt sei, alle die Treue und Opferwilligkeit,
deren er sich von den Ständen in der Vergangenheit rühmen könne
und die auch in Zukunft nicht wanken werde, dadurch zu belohnen,
dass er sich bemühe, jedem traurigen Zufall vorzubeugen, welcher
das Land beim Ableben seines Herrschers treffen könnte, wenn nicht
bereits für ein neues Haupt vorgesorgt wäre. Aus diesem Grunde
wünsche er, dass sein Vetter Erzherzog Ferdinand, welchen Gott
mit allen Vorzügen reichlich versehen habe und zu dessen Gunsten
die bereits in einem gebrechlichen Alter stehenden Erzherzoge
Albrecht und Maximilian auf alle Ansprüche verzichtet hätten, als
König von Böhmen „angenommen, ausgerufen und gekrönt werde“
(prijat, wyhläsen a korunowän byl). Der Erzherzog werde einen
Ilevers ausstellen, dass er sich in die Regierung des Landes ohne
ausdrücklichen Auftrag des Kaisers nicht einmischen werde, und
thäte er dies dennoch, so seien die Stände von jeglichem Gehor
sam entbunden. Auch werde derselbe alle die Privilegien, wie
solche bisher von den Königen von Böhmen bestätigt worden sind,
bestätigen.
Das Bedeutsamste in dieser Botschaft waren die Worte, mit
denen die Stände um Annahme, Ausrufung und Krönung Ferdi
nand's ersucht wurden; es war darin sorgfältig jede Erwähnung
8
Dr. Anton G i n d e I y.
einer Wahl vermieden und an deren Stelle insbesondere das Wort
Annahme substituirt. Da die berufene Versammlung meistentheils aus
Katholiken bestand, so erklärten dieselben ohne weitere Umschweife,
sie seien mit dem Inhalte der Botschaft vollständig einverstanden,
und auch erbötig, im Landtage sie zu vertreten. Die Protestanten,
von denen sich trotz Thurn's Ausbleiben einige Häupter eingefunden
hatten, legten schon jetzt Verwahrung gegen die Botschaft ein.
Der erste der dies that, war Wilhelm der ältere von Lohkowitz,
er weigerte sich seine Meinung abzugeben, weil die Botschaft im
Landtage werde vorgelegt werden und dort Zeit und Gelegenheit
zur Debatte sei. Der Kanzler entgegnete ihm, dass er wie alle
übrigen Anwesenden als Rath des Königs hieher berufen sei und dass
er auf Befehl des Königs seine Meinung abzugeben habe. Allein auch
dieser Aufforderung weigerte sich Lohkowitz nachzukommen.
Wilhelm von Ruppa machte darauf zu seinem Nachbarn, dem
Oberstlandrichter Johann dem älteren von Talmberg, dieBemerkung,
er finde es sonderbar an der Botschaft, dass in derselben nur von der
Ann ahm e und nicht von der Wahl Ferdinand's zum Könige die Rede
sei; er habe von seinen Freunden den Auftrag erhalten, gegen eine
solche Fassung zu protestiren, weil dies den Freiheiten Böhmens
gefährlich werden könnte. Als er hierauf sein Gutachten laut abgab,
wiederholte er seine Einwendung in derselben Weise und rieth für
eine Umänderung der Botschaft. Der Oberstburggraf Adam von
Sternberg entgegnete darauf: Bewahre mich der Himmel vor der
Vertretung einer solchen Ansicht, es sei denn, ich besässe zwei
Köpfe. Herr von Talmberg setzte aber hinzu, dass er doch von
Jugend auf gehört habe, den Ständen Böhmens stehe das Recht zu,
ihren König frei zu wählen. Der Kanzler antwortete ihm: Es ist
wohl richtig, lieber Freund, dass wir Böhmen uns vor andern Völ
kern bedeutender Privilegien rühmen, und insbesondere des Rechtes,
unsere Könige wählen zu dürfen ; allein wenn wir dies Recht
beweisen sollten, so dürften wir übel daran sein, denn es findet sich
unter unseren Privilegien keines das für unser Wahlrecht einen
Beweis abgähe.
Der Kanzler war auf Ruppa’s Einwurf wohl vorbereitet, denn
er liess es nicht bei dieser allgemeinen Behauptung bewenden, son
dern trat alsbald den Beweis derselben theils aus der Landesordnung,
theils aus den böhmischen Privilegien an, und wir vernehmen aus
Beiträge zur Geschichte des dreissigjährigen Krieges.
9
seinem Munde sämmtiiche Argumente welche für die Erblichkeit der
böhmischen Krone sprachen. Diese vorausgesendet, werden wir
später die Vertreter des Wahlrechtes ihre Sache führen lassen, und
urtheilen können, ob das öffentliche Recht in der Königsfrage schwan
kend gewesen oder nicht.
Der Kanzler nahm die Landesordnung welche unter Ferdinand I.
zur gesetzlichen Giltigkeit gelangt war, und las daraus Artikel A 1 :
Von der Wahl des Königs, vor: „Sollte es je nach den Privilegien
„dieses Königreiches, d. i. nach der güldenen Bulle Kaiser Karl's IV.,
„dem Privileg des Königs Wladislaw und nach der Verbriefung (list),
„welche unser gnädigster Herr und König (Ferdinand I.) den Stän
den gegeben, dazu kommen, dass ein König von Böhmen gewählt
„werden sollte, so soll er so gewählt werden wie von altersher, und
„zwar auf dem Prager Schlosse“.
Die Fälle, in denen die Wahl eines Königs hier zugelassen
wurde, waren sonach durch Karl IV., Wladislaw und Ferdinand I.
bestimmt. Karl IV. bestimmte in der goldenen Bulle, die Wahl dürfe
eintreten in casu dumtaxat et eventu, quibus de genealogia progenie
vel semine aut prosapia regis Boemiae masculus vel famolla superstes
legitimus (quod Deus avertat) nullus fuerit oriendus. Nach der Vor
lesung dieser Stelle welche unzweifelhaft das Wahlrecht den Stän
den erst dann in die Hände gab, wenn das ganze königliche Haus
erlosch, brachte der Kanzler das Privileg Wladislaw’s vom Jahre
1510 vor. Dasselbe beschränkte in einer noch auffälligeren Weise
das böhmische Wahlrecht, obzwar es nicht über die Bestimmungen
der goldenen Bulle hinausging. Wladislaw bestimmte darin, dass
sein Sohn Ludwig ihm in der Krone Böhmens nachfolgen sollte,
und würde dieser ohne Erben sterben, dann sei seine Tochter
Anna als Erbirin Böhmens anzusehen. Dafür that er den Ständen das
Versprechen, dieselbe als substituirte Erbinn der Krone nicht ohne
Beirath und Mitwissen der Stände verehelichen zu wollen.
Der Brief Ferdinand’s I., auf welchen sich die Landesordnung
bezieht, ist vom Jahre 1545. In diesem gab Ferdinand zu, dass er
nur durch Wahl der Stände zum Besitze der böhmischen Krone
gekommen sei, hielt aber darin das Erbrecht seiner Gemahlinn auf
recht. Dies hat die Bedeutung, dass, wenn die Stände Böhmens auch
Ferdinand nicht zu ihrem Könige gewählt hätten, Anna dennoch
Königinn des Landes geworden wäre und in dieser Würde die Kinder
10
Dr. Anton G i n d e I y.
ihrer Ehe rechtmässige Nachfolger gewesen wären. Zugleich sprach
Ferdinand die Giltigkeit der goldenen Bulle Karl's IV. in Bezug auf
die Familie Hahsburg aus, so dass von da an die Krone erblich bei
dem Hause zu verbleiben hatte, und erst wenn der gesammte männ
liche, von Ferdinand ausgehende Stamm erlosch und der letzte König
ohne Töchter oder ohne bereits ausgestattete Schwestern verstarb,
das Wahlrecht den Ständen in die Hände fiel.
Man wird diesen Citationen des Kanzlers weder die Klarheit,
noch die entsprechende Tragweite absprechen können, wenn man
insbesondere über die eben mitgetheilte Entscheidung und Bestim
mung Ferdinand’s zu der Meinung gelangt, dass ihrer gesetzlichen
Giltigkeit nichts abgeht, und da dies, wie wir bald zeigen werden,
der Fall, so könnte man billig fragen, wie eine an sich so klare Sache
wie das Erbrecht des Habsburgischen Hauses nur im mindesten
bestritten werden konnte? Allein es wird sich, wenn wir diese
gesetzlichen Bestimmungen über das königliche Erbrecht genauer
analysiren, die Argumente der protestantischen Opposition und end
lich die Geschichte des Landes befragen, zeigen, dass man auf diesem
Terrain von den einander widersprechenden Bestimmungen förmlich
gefoppt wird, und dass, wenn man mit voller Sicherheit einen end-
giltigen Ausspruch thun will, plötzlich die gewonnene Überzeugung
durch einen bisher nicht beachteten Einwand über den Haufen
geworfen wird.
Ich will nun die Gründe welche die Stände für ihr Wahlrecht
vorbrachten, erörtern.
Die böhmischen Stände beriefen sich im J. 1619, als sie König
Ferdinand seiner Würde entsetzten, auf das Privileg Friedrieh’s II.
vom Jahre 1212, durch welches ihnen das Beeilt ihren König zu
wählen, verliehen worden sei. Die Bedeutung und Giltigkeit dieses
Privilegs hörte aber gewiss mit dem Momente auf, als Karl IV. die
goldene Bulle veröffentlichte, in dieser seinen Stamm zum erblichen
in Böhmen erklärte und sogar der Tochter des letzten Königs das
Erbrecht ertheilte; die böhmischen Stände erkannten selbst im Jahre
1619 an, dass das Haus Luxemburg vermöge dieser Bulle mit vollem
Erbrechte geherrscht habe , und behaupteten nur, dass seit dessen
Erlöschen initLadislaw, als dem Sohne der letzten Erbtochter, nach
den Bestimmungen der Bulle das Wahlrecht in ihren Besitz gekom
men sei. Allein trotz dieser Bulle glaubte Karl sich berechtigt, auch
Beiträge zur Geschichte des dreissigjnhrigen Krieges.
11
über ihre Bestimmungen hinaus über den böhmischen Thron verfügen
zu können; er schloss nämlich mit den Herzogen von Österreich
einen Erbvertrag ah, der keine Auslegung zulässt, die dem ständi
schen Wahlrechte günstig wäre.
Die religiösen Wirren beim Tode Ladislaw's, die übergrosse
Macht der böhmischen Stände veranlasste jedoch, dass die Böhmen
nach den Bestimmungen der goldenen Bulle sich des Wahlrechtes
bemeisterten, zu dem sie auch, wenn vom Erbvertrage abgesehen
wird, vollständig berechtigt waren. Dies ist der einzige Fall, in
welchem die Böhmen im vollsten Umfange über den königlichen
Thron verfügten.
Zwar wird auch die Wahl Wladislaw's als ein Ausfluss des
ständischen Wahlrechtes angesehen, und sie ist es, doch ist dabei
des Umstandes nicht zu vergessen, dass derselbe Sohn einer Tochter
Elisabeth's von Luxemburg war, und dass diese Abstammung welche
nach den Principien des Erbrechtes ihn zum böhmischen Thron
berufen hätte, vornehmlich seine Wahl veranlasste. Dieser König
erklärte aus eigener Machtvollkommenheit im Jahre 1510 den Thron
Böhmens in seinem Geschlechte erblich, und wir finden nicht, dass
die böhmischen Stände gegen diese königliche Publication den leise
sten Einwand erhoben hätten, und keinen andern Grund können wir
für ihre stillschweigende Billigung ausfindig machen, als dass die
Erblichkeit des Thrones ihnen eine selbstverständliche Grundlage
der gesellschaftlichen Ordnung war. Denn weder eigene Schwäche
noch Angst vor der königlichen, zum Schatten herabgesunkenen
Gewalt konnte sie an einer freien Meinungsäusserung oder an einem
Proteste hindern. Erst im Jahre 1619 behaupteten die Stände, dass
die von Wladislaw bestimmte Erbordnung keine Giltigkeit habe, weil
die Vertreter des Landes hiezu nicht ihre Zustimmung gegeben
hätten. Allein dieser Protest, der 109 Jahre früher erhoben aller
dings von bedeutender Wichtigkeit wäre, kann, weil erst im Jahre
1619 erhoben, unmöglich unser Urtheil in etwas modificiren.
Gleichwohl trat mit der Ankunft des Hauses Habsburg auf den
böhmischen Thron eine neue Epoche im Erbrechte der königlichen
Dynastie ein. Die Rechte früherer Familien konnten nicht ohne wei
ters auf eine folgende Familie ohne eine förmliche Zustimmung und
Erklärung des Landes übergehen. Die goldene Bulle Karl’s galt nur
für die Luxemburger, Wladislaw’s Erbordnung für seine Familie; die
12
Dr. Anton Gindely.
Habsburgische Dynastie konnte sich diese Vortheile nicht einfach
zuwenden. Auf die Art, wie Ferdinand I. zum böhmischen Thron
gelangte, haben die Protestanten im Jahre 1619 hingewiesen, um
ihr Wahlrecht zu erhärten; wir wollen nun sehen, mit welchem
Grunde.
Im Jahre 1526 behaupteten die Böhmen, Niemand besitze ein
Anrecht auf ihren Thron und es trete der in der goldenen Bulle
vorhergesehene Fall ein. Anna sei nicht die Tochter des letzten
Königs, überdies sei sie schon ausgestattet, verheirathet und also
kein Landeskind mehr; es ist sichtlich, dass die Stände auf diese
Weise von Wladislaw's Erbordnung vom Jahre 1510 einfach Umgang
nahmen. Nachdem sie die freie Bewerbung um den Thron mehreren
Prinzen zugestanden, wählten sie Ferdinand, und der letztere musste
sich bequemen, in einem Reverse einzuräumen, den böhmischen Thron
der freien Wahl des Landes zu danken.
Es ist aber wohl zu bedenken und dies ist der Angelpunct
in der ganzen Streitfrage — dass die Böhmen nicht gewillt waren,
durch den Revers welchen sie sich vom Könige ausstellen Hessen,
ihr Wahlrecht für jeden Fall der Thronerledigung zu wahren. Sie
wollten nur bezeugt wissen, dass sie mit Ferdinand aus freien Stücken
und hiezu berechtigt eine neue Dynastie begonnen hatten, die so
lange im erblichen Besitze des höhmischen Thrones bleihen sollte,
so weit dies die goldene Bulle, die nun auch der Dynastie Habs
burg zu Gute kommen sollte, einräume. Denn dieselben böhmischen
Stände welche Anna's Erbrecht nicht anerkannten, weil sie nicht
Tochter des letzten Königs und schon ausgestattet sei, und sonach —
nach ständischer Deutung — nach den Bestimmungen der goldenen
Bulle nicht als Erbtochter angesehen werden könne, dieselben Stände,
sagen wir, verlangten von Ferdinand, er möge die Giltigkeit der
goldenen Bulle bestätigen und dahin erklären, dass nach seinem
Tode sein Sohn und überhaupt die von ihm abstam
menden männlichen Nachkommen Erben seien, und
wenn kein männlicher Sprössling seines Stammes
mehr da sei, solle des letzten Königs noch nicht aus
gestattete und nicht vermählte Tochter Erbinn sein.
Wenn man dieses Begehren der Stände erwägt, so müsste man
nur eigenwillig nach Ausflüchten suchen, wollte man bestreiten, die
Böhmen hätten nicht mit Ferdinand eine erbliche Dynastie begründen
Beiträge zur Geschichte des dreissigjährigen Krieges.
13
wollen — mit der einzigen Beschränkung, dass an sie das Wahlrecht
zurückfallen sollte, wenn der letzte König keine unverheirathete
Tochter zurücklassen würde.
Was hatte nun Ferdinand, dass er selbst diese Wahlbedingun
gen zu hart fand und sich später von seinem Reverse entbunden
wissen wollte und auch entband, und welche Bedeutung bat sein
königlicher Brief vom Jahre 1545?
Ferdinand, wenn er auch zugab, die Böhmen seien nicht ver
pflichtet gewesen, ihn als König anzuerkennen, wollte nicht das Erb
recht seiner Frau bestritten wissen, an welches sich dann von selbst
das Erbrecht seiner Söhne anschloss. Er wollte seine Dynastie nur
als natürliche Fortsetzerinn der frühem angesehen haben und das
Erbrecht derselben nicht auf die Wahl der Stände begründen; im
übrigen aber sollte die goldene Bulle die Grenzen dieses Erbrechtes
wie hei den Luxemburgern festsetzen. Alle diese seine Wünsche
erreichte Ferdinand im Jahre 1545, sein Revers wurde ihm zurück
gestellt und er stellte an dessen Statt eine andere Verschreibung aus,
welche seiner Gemahlinn Erbrecht festhielt, seine eigene königliche
Würde als die Folge der ständischen Wahl erklärte und das Erbrecht
der Luxemburger auf die Habsburger übertrug.
So wurde die Erbfrage im Jahre 1545 gelöst und die mitunter
von neueren Historikern aufgestellte Behauptung, als hätte Ferdinand
erst nach der Besiegung des böhmischen Aufstandes von 1547 das
ständische Wahlrecht aufgehoben, ist eine völlig ungerechtfertigte,
aus der Luft gegriffene Annahme. Dass nach der Bestimmung des
Jahres 1545 von einem Wahlrechte nicht weiter die Rede sein
konnte, das wussten die Protestanten im Jahre 1619 ganz gut, und
desshalb griffen sie diese Verschreibung, nicht aber irgend eine des
Jahres 1547 an, einfach darum, weil aus dem letztem Jahre keine
vorhanden war.
Da sich aber die Protestanten in Verlegenheit befanden, gegen
die Tragweite der königlichen Verschreibung vom Jahre 1545 einen
haltbaren Einwurf anzuführen, so stellten sie die Behauptung auf,
die ganze Verschreibung sei falsch, sie sei von einem Betrüger in
die Landtafel eingetragen worden, und da ihrer im Landtagsschlusse
jenes Jahres nicht erwähnt werde, nur ein späteres Machwerk. That-
sächlich ist diese Behauptung aus der Luft gegriffen, und wir finden
in den historischen Nachrichten die der Zeit um 1545—1550 ent-
14
Dr. Anton G i n d e 1 y.
stammen, genug Beweise für die Authenticität jener in der Landtafel
eingetragenen Verschreibung. Um nur einen anzuführen, so birgt
die Prager Universitätsbibliothek eine Handschrift (17. C. 3) über
die Geschichte der Unität, welche, der Mitte des XVI. Jahrhunderts
angehörig, von Brüdern, also unverdächtigen Berichterstattern, ver
fasst, von den Bestimmungen Ferdinand's I. im Jahre 1545 Nach
richt gibt.
So bleibt uns nur noch ein Argument, das für die Wählbarkeit
der böhmischen Krone zu streiten scheint, zu widerlegen. Ferdinand,
heisst es, liess bei seinen Lebzeiten Maximilian zum Könige wählen,
dasselbe tliat Maximilian mit Rudolf, beide haben damit Misstrauen
gegen ihr Erbrecht an den Tag gelegt. Zunächst möge man wissen,
dass beide Male nicht von einer Wahl, sondern nur von einer Annahme
der Erzherzoge die Rede war, in derselben Weise also, wie auch
jetzt Ferdinand II. zur Thronfolge gelangen wollte; damit bricht also
die Spitze des Eimvandes ab. Es hatte aber Ferdinand I. bei dem
Versuche, seinen Sohn noch bei seinen Lebzeiten zum König erklä
ren zu lassen, einen andern Grund. Unter den Bedingungen welche
die Stände bei der Königswahl im Jahre 1526 festsetzten, bestimmte
die eine, dass künftighin bei Lebzeiten des Königs nie ein Nachfolger
aufgestellt und gekrönt werden sollte. Wir mögen zugeben, dass
dieser Bedingung die Absicht zu Grunde lag, bei jeder Thronerledi
gung freie Hand zu besitzen und etwa unter den königlichen Prinzen
frei wählen zu dürfen, obgleich dieselben Stände mit Ferdinand I.,
wie wir gesehen, eine erbliche Dynastie gründen wollten. Gonsequenz
liegt in dieser Handlungsweise nicht, doch diese suchen wir vergeb
lich in so vielen gesetzgeberischen Acten der früheren Jahrhunderte.
Ferdinand I. musste den ständischen Wünschen nachgeben, aber als
er die Regierung Böhmens in die Hand genommen hatte, machte er
den Ständen Vorstellungen über die gefährlichen Folgen welche
unter gewissen Verhältnissen eintreten könnten, wenn man den Erben
der Krone als solchen nicht schon bei Lebzeiten des Königs aner
kennen würde. Diese Vorstellungen hatten Erfolg, Ferdinand wurde
von seiner Verpflichtung entbunden, und die Annahme Maximilian’s
zum König von Böhmen ist auf diese Weise nicht, wie man meint,
ein Beweis für den Zweifel der Habsburger an dem eigenen Erbrecht,
sondern sie ist der Beweis, dass Ferdinand sich von allen den lästi
gen Bedingungen, unter denen man ihm die Krone übertragen, frei-
Beiträge zur Geschichte des dreissigjährigen Krieges. 1;)
zumachen gewusst, und zwar nicht etwa durch Gewalt, sondern durch
eine friedliche Einwirkung auf die Stände des Landes.
Wenn man auf diese Weise glücklich über alle Klippen hinüber
gekommen zu sein glaubt und endlich mit der Befriedigung eines
gewissenhaften Forschers den Schluss wagt: „DieFamilie Habsburg
„hatte erbliche Rechte auf die Krone Böhmens, und die Behauptung
„der Protestanten im Jahre 1617 und 1619, es stehe ihnen das
„Wahlrecht zu, ist eine durch nichts begründete Prätension“; so
thürmt da mit einem Male die Geschichte des XVII. Jahrhunderts
neue Schwierigkeiten auf, die Sicherheit verlässt beim Schlüsse
und man weiss sich aus den Irrgängen dieses Labyrinths nicht mehr
zu helfen.
Es ist bekannt, dass im Jahre 1608 Matthias seinen Bruder, den
Kaiser Rudolf, zur Abtretung von Österreich, Ungern und Mähren
nöthigte; auch Böhmen wollte er zu gleicher Zeit erringen, doch
scheiterte sein Bestreben an dem Widerstand der Stände selbst, und
er erlangte nur, dass er als Rudolfs Nachfolger designirt wurde.
Nach der goldenen Bulle und nach Ferdinand’s Verschreibung vom
Jahre 1545 war er der rechte Erbe der Krone nach Rudolfs Tode;
es konnte sich sonach bei ihm auch nur um die Annahme als künfti
gen König und nicht um die Wahl handeln. Gleichwohl erkannte
Rudolf ausdrücklich an, dass sein Bruder von den Ständen zum
Nachfolger gewählt worden, und Matthias nahm unter dieser Bedin
gung die Anwartschaft auf die Krone an.
Die Folgen und die Tragweite dieses Ereignisses bieten sich
von selbst. Ob Rudolf im Jahre 1608 verpflichtet war oder nicht,
ein Wahlrecht der Stände anzuerkennen, bleibt sich gleich; genug
dass er es gethan hat und hiedurch für die ständischen Forderungen
einen höchst wichtigen Präcedenzfall statuirte. Zudem waren sich
die Verhältnisse, als es sich um Ferdinand’s II. Succession handelte,
vollkommen gleich; Ferdinand war nicht der Sohn des regierenden
Königs, sondern stand zu demselben in einer entfernteren Verwandt
schaft als Matthias zu Rudolf, was also im Jahre 1608 ständisches
Recht war, musste es wohl auch im Jahre 1617 bleiben. Dass die
herrschende Familie seihst im Jahre 1608 ein Zugeständniss that,
zu dem sie nach dem geschriebenen Rechte nicht verpflichtet war,
vergass man im Jahre 1617 und 1619, und bemühte sich, aus der
Geschichte früherer Zeit das ständische Wahlrecht zu deduciren,
16
Dr. Anton Gindely
legte auf die goldene Bulle alle Bedeutung und vergass, dass die vom
Lande anerkannten Verordnungen der Könige, weil sie später waren,
desshalb nicht minder giltig seien.
Diese Deduction über die Erblichkeit und Wählbarkeit der
böhmischen Könige lässt uns übrigens einen Blick in die seltsame
Handlungsweise der böhmischen Herrscher thun. Karl IV. ertheilt
feierlich den Böhmen das Kecht, nach dem Erlöschen seiner Dynastie
sich einen König wählen zu dürfen, und schliesst, unbekümmert um
diese Schranke seines Willens, einen Erbvertrag mit den Herzogen
von Österreich ab; Wladislaw, durch Wahl in den Besitz der böh
mischen Krone gelangt, erklärt aus eigener Machtvollkommenheit
seinen Sohn und seine Tochter zu Erben des Landes und begegnet
dabei keinem Widerspruche. Sollten desshalb Ferdinand's I. Bestim
mungen vom Jahre 1U4S über die Thronfolge weniger giltig sein,
Aveil sie mit Wissen und mit Zustimmung der Stände publicirt wurden,
und sollte die auf sie Bezug nehmende Landesordnung desselben
Königs, welche als Grundgesetz des Landes allgemein anerkannt Avar,
in diesem Falle keine Autorität haben?
So stand es mit der böhmischen Krone, und diejenigen denen
nach des Kanzlers Deductionen klar Avurde, Avie Avenig von einem
eigentlichen Wahlrechte die Rede sein konnte, mochten zugleich
anerkennen, dass sich die Habsburgische Familie im Jahre 1608 selbst
durch Anerkennung einer Art von Wahlrecht eine Wunde schlug,
Avelche zu heilen die angelegentlichste Sorge der Katholiken, die
unter den Beamten und Räthen der Krone am meisten vertreten
Avaren, sein musste. Desshalb erhob sich Aveiter keine Opposition
gegen die königliche Botschaft, Herr von Talmberg erklärte, es könne
füglich von einem Wahlrechte keine Rede sein, und Ruppa mit Budo-
wec schienen durch ihr StillscliAveigen dieser Erklärung beizupflich
ten. Die Versammlung löste sich auf und ging zu den übrigen
Ständen in den Landtag.
Um 9 Uhr des Morgens (6. Juni) entbot der Kaiser den ver
sammelten Ständen, er wolle sich in ihre Mitte begeben. Auf dies
gingen ihm die obersten Beamten entgegen und führten ihn in den
Landtag ein. Matthias nahm auf dem Throne Platz, ihm zu beiden
Seiten die Erzherzoge Maximilian und Ferdinand, Avährend alle übri
gen Anwesenden standen. Der Vicelandschreiber las die königliche
Botschaft vor, deren Inhalt Avir mitgetheilt, und nach diesem die Acte,
Beiträge zur Geschichte des dreissigjährigen Krieges.
17
mittelst derer die Erzherzoge Maximilian und Albrecht auf ihre Rechte
verzichtet hatten. Nachdem dann der Kaiser durch den Kanzler die
Hoffnung aussprach, die Stände würden seinem Wunsche, dessent
wegen er sie berufen, nachkommen, entgegnete der Oberstburggraf
mit der Versicherung, dass der Landtag unverzüglich seine Berathun
gen beginnen werde, um dem Ansuchen des Kaisers zu willfahren.
Der Kaiser verliess darauf mit seinem Gefolge, geleitet wie früher,
die Versammlung und begab sich in seine Gemächer.
Die Verhandlungen begannen sogleich, nachdem die obersten
Beamten wieder in den Saal zurückgekehrt waren, und zwar war es
nach altem Brauch an ihnen die königliche Proposition zu empfehlen
und zu einer schnellen Beschlussfassung zu rathen. Das Herkommen
brachte es mit sich, dass jedes Mitglied des Landtages seine Stimme
besonders abgab und dabei entweder sich mit der in Frage stehen
den Massregel einfach einverstanden erklärte oder seine Meinung
mit einer Rede begleitete.
Die Anrede des Oberstburggrafen welcher der erste das Wort
ergriff, war nur eine Wiederholung und einfache Anempfehlung der
kaiserlichen Botschaft; Erzherzog Ferdinand’s Regierungstüchtigkeit
welche sich schon bei Verwaltung anderer Länder erwiesen hätte,
wurde angepriesen, den Ständen dessen Annahme als König empfoh
len, und ihnen vorgeschlagen, den 29. Juni als Krönungstag bestim
men zu wollen. Der oberste Hofmeister, Herr Adam von Waldstein,
welcher nach ihm seine Meinung abgeben sollte, war gerade am
Podagra krank und desshalb zu erscheinen verhindert; in seinem
Namen erklärte Martinitz, der eigens von den Ständen an Waldstein
zu dessen Befragung abgeschickt worden, dass er sich mit des Oberst
burggrafen Erklärung ganz und gar vertrage. In gleicher Weise
sprachen sich der oberste Kämmerer Johann Sezitna, der Oberst
landrichter und der Kanzler aus. Der oberste Hofrichter Slawata
führte den Beweis welchen schon der Kanzler gegen das Wahlrecht
der Stände durchgeführt hatte, dahin durch, dass Ferdinand nach der
Renunciation seiner Vettern diejenige Person sei, welche durch die
Gesetze allein zur Erbfolge berechtigt sei.
Noch hatte Niemand von der Opposition das Wort ergriffen, es
war nun an Thurn der als Burggraf von Karlstein zu reden hatte,
seinen Plan durchzuführen. Aus den Andeutungen welche das säch
sische Staatsarchiv enthält, ist ersichtlich, dass schon im Jahre 1614
Sitzb. d. phil.-hist. CI. XXXI. Bd. I. Hft. 2
18
Dr. Anton Gindely.
dem Kurfürsten von Sachsen die böhmische Krone durch die Unzu
friedenen angeboten wurde. Aus diesem sichern Factum und aus den
späteren Ereignissen ist nur zu klar, dass die Protestanten mit aller
Entschiedenheit die Entfernung des katholischen Regentenhauses im
Plane hatten.
So gut wie die katholische Partei sich bemüht hatte, alle Schwie
rigkeiten welche der Succession Ferdinand's entgegenstehen konn
ten, wegzuräumen, so gut hatten auch die Protestanten berathen, wie
die Hindernisse unübersteiglich gemacht werden könnten. Tags vor
her hatten sie sich im Karolinsaale versammelt und daselbst sich
geeinigt, nicht blos ihre Wahlrechte zu behaupten, sondern auch
gegen die unmittelbare Vornahme der Wahl überhaupt zu protesti-
ren und auf die Berufung der Kronländer anzutragen; offenbar um
die Wahl so weit wie möglich aufzuschieben und dann zu vereiteln.
Man war zugleich übereingekommen, dass der Graf Schlick welcher
mehr den Ruf eines ruhigen und unparteiischen Mannes hatte, im
Namen des gesammten protestantischen Herrenstandes dieser Gesin
nung Ausdruck gebe, und dann sollten sich sowohl die Ritter wie die
Städte der Opposition anschliessen. Die eigentlichen Häupter der
selben waren der Graf Thurn, Colonna von Fels, Ruppa, Budowec,
Kaspar Kaplir von Sulewic und Maximilian Hostälek.
Wenn jetzt die Protestanten sogar die Incompetenz Böhmens
zur Vornahme einer Wahl behaupteten, so war dies nur ein Partei
manöver, weil sie nicht hoffen konnten, die Wahl für sich allein zu
vereiteln. Denn es ist eine gewisse Thatsache, dass alle die Gründe,
welche die Böhmen für ihr Wahlrecht anführen konnten, eben so viele
Beweise waren, dass dasselbe stets von ihnen allein ausgeübt wurde.
Nie hatten die Böhmen etwas von diesem Rechte vergeben wollen,
und wenn jetzt Thurn dasselbe bestritt, so geschah es, weil er im
Interesse seiner Sache jedes Manöver für gut hielt, und wenn weiter
die Böhmen im Jahre 1 Gl9 freiwillig bei der Wahl Friedrich's von
der Pfalz auf ihre Prärogative verzichteten, so geschah es eines-
tlieils, weil ihre Häupter sich consequent bleiben mussten und gern
die Ungiltigkeit der Wahl Ferdinand’s aus mehreren Gründen und
namentlich aus dem der Nichtberufung der Kronländer erweisen
wollten, und anderntheils, weil Böhmen für die Absetzung des Hauses
Habsburg nicht allein verantwortlich bleiben, sondern auch die Ver
bündeten dafür verantwortlich machen wollte; umsonst zwar, denn die
Beiträge zur Geschichte des dreissigjährigen Krieges. 19
schweren Folgen des Aufstandes entluden sich fast allein über dies
unglückliche Land.
Thurn also, aufgefordert nach Slawata's Rede seine Meinung
abzugeben, protestirte zuerst dagegen, dass nur von Annahme des
Königs und nicht von seiner Wahl die Rede sei; dann verlangte er
eine Vertagung des Landtages, weil die übrigen böhmischen Kron-
länder zu berufen seien und nur im Vereine mit denselben die
Königsfrage entschieden werden dürfe. Der Erzherzog Ferdinand
werde es wohl vorziehen, wenn seine künftige Regierung eine ruhige
sein würde, als wenn durch Übergehung der Kronliinder die Rechte
derselben verletzt würden und Misstrauen und Unzufriedenheit in
denselben entstehen möchte.
Anstatt nun die Landrichter ihr Votum abgeben zu lassen, trat
der Oberstburggraf auf, um Thurn’s Rede zu beantworten. Es ist
mir, sagte er, sonderbar, zu vernehmen, dass den böhmischen Stän
den das Recht bestritten wird, als hätten sie ohne Berufung der ein
verleibten Länder nicht die Macht, einen König anzunehmen oder zu
wählen oder zu krönen. Zwar haben die einverleibten Länder, beson
ders die Mährer und Schlesier, auch Ansprüche auf dieses Recht
gemacht, aber die böhmischen Stände fanden sich nie bewogen, den
selben nachzukommen. Man findet in den Acten der böhmischen
Kanzlei, dass als Kaiser Ferdinand I. durch seine Gesandten dem
mährischen Landtage vorschlagen liess, dass sie seinen von den Böh
men zum König angenommenen Sohn Maximilian als solchen aner
kennen und zu ihrem Markgrafen annehmen möchten, die Stände
Mährens zwar Maximilian als ihren Markgrafen angenommen, aber
einen Protest dagegen eingelegt hätten, weil von den Böhmen ihre
alten Rechte verletzt und der Bischof von Olmütz und der Landes
hauptmann von Mähren nicht zur Annahme Maximilian's zum böhmi
schen König eingeladen worden seien, und verlangten desshalb vom
Kaiser Abhilfe. Es findet sich nun nicht, ob und welche Antwort
ihnen Ferdinand I. gegeben, aber so viel ist sicher, dass die böhmi
schen Stände den mährischen Forderungen nicht nachgegeben haben.
Ja es findet sich in unseren Annalen, dass als Ladislaw, der Sohn
Albrecht’s, nach Prag fuhr, um daselbst gekrönt zu werden, er seinen
Weg durch Mähren nahm und während seines Aufenthaltes in Brünn
ohne Vorwissen der böhmischen Stände von den Mährern als Mark
graf angenommen wurde; es wurde ihm von denselben gehuldigt und
2*
20
Dr. Anton Gindely.
er leistete den üblichen Eid auf die Privilegien Mährens. Die böhmi
schen Stände haben es darauf bitter getadelt, dass die Mährer sich
dessen unterfangen, und verlangten von Ladislaw eine Versicherung
die sie gegen ähnliche Übergriffe in Zukunft sicher stellen sollte.
Die Mährer enfgegneten auf diese Beschwerden, sie seien keine
Unterthanen Böhmens, sondern ein Glied, und zwar das vornehmste
dieses Königreiches; sobald über den rechtmässigen König kein
Zweifel ohwalte, seien sie nicht verpflichtet abzuwarten, bis er von
den Böhmen anerkannt und gekrönt werde. Sobald sich vielmehr
ihnen die Gelegenheit biete, ihre Huldigung zu leisten, sobald seien
sie auch dazu berechtigt, und desshalb wäre ihr Benehmen bei König
Ladislaw vollständig loyal und die Böhmen nicht berechtigt, eine
Beschwerde zu führen. König Ladislaw suchte den Streit zu schlich
ten, aber die von ihm aufgestellten Commissäre brachten keinen
Vergleich zu Stande und es blieb die Streitfrage ungelöst. Wenn
nun aber die Mährer sich das Recht vindicirten, ohne Vorwissen der
Böhmen ihrem Markgrafen huldigen zu dürfen, bevor derselbe noch
als König von Böhmen angenommen und gekrönt war, um wie viel
mehr muss es im Befugniss der Böhmen selbst, die das Haupt des
Reiches sind, liegen, ihren König ohne weitere Befragung anzuneh
men und zu krönen. Jetzt wie bei Ladislaw handelt es sich um einen
Prinzen, dessen Erbrecht nach der goldenen Bulle und den übrigen
Privilegien klar ist, und derselbe muss ohne weiters so gut von den
Böhmen als König angenommen werden, wie Ladislaw von den Mäh
rern als Markgraf empfangen wurde, und nur in dem Falle könnte
die Berufung eines Generallandtages einen Schein der Berechtigung
haben und der Gegenstand einer Erörterung sein, wenn es sich um
die Wahl eines neuen Königs nach dem völligen Erlöschen des Königs
hauses handeln würde, nicht aber wie jetzt, wo es sich nur um die
Annahme eines erbberechtigten Fürsten handelt. In dem besondern
Falle, in welchem es sich wie jetzt bei Lebzeiten des Königs um die
vorläufige Annahme eines Nachfolgers mit dem königlichen Titel
handle, in diesem Falle muss zwar diese Forderung an die Stände
aller böhmischen Provinzen aber nur successive gestellt werden. Der
Anfang wird mit Prag gemacht und sobald die Krönung hier verrich
tet sein wird, wird sich der Erzherzog Ferdinand in alle übrigen
Provinzen begeben und bei den Ständen die Annahme als Erbe
ansuchen. Dies wäre jedoch nicht nothwendig, wenn der regierende
Beiträge zur Geschichte des dreissigjährigen Krieges.
21
König mit Tode abgegangen wäre; sobald der Erbe von den Böhmen
als König angenommen ist, hat er es nicht nöthig, die Anerkennung
der übrigen Provinzen zu erbitten, denn es ist in der Geschichte
unerhört, dass sie je einem böhmischen Könige verweigert worden
wäre. Bedarf es noch für die Rechte Böhmens einige Beweise, ist
nicht Maximilian bei Lebzeiten Ferdinand’s I., ist nicht Rudolf bei
Lebzeiten Maximilian’s II. von den böhmischen Ständen allein als
König angenommen worden?
Die Argumentation ist in der That vortrefflich und kann, wenn
das Erbrecht des Habsburgiseben Hauses auch nicht zugestanden wird,
nur ungenügend widerlegt werden, sie ist aber schlagend, wenn das
Erbrecht zugestanden wird. Ihr Eindruck war sichtlich sehr bedeutend
und für einige schwankende Gemiither entscheidend. Thurn begnügte
sich, auf dieselben zu entgegnen, dass ihm wie jedem Andern die
Freiheit zustehe, seine Meinung abzugeben, und diese sei auch jetzt
dieselbe wie früher. — Als die Beisitzer des Landrechtes ihre Mei
nung abgaben, erklärten sie sich, mit Ausnahme Colonna’s von Fels,
vollständig mit dem Oberstburggrafen einverstanden. Fels nahm alle
die Vorschläge Thurn's wieder auf, betonte das Wahlrecht und wollte
die Berufung der übrigen Provinzen. Heinrich von Kolowrat, ein ent
schiedener Anhänger des Kaiserhauses, brachte dem Grafen Thurn
einige Äusserungen in Erinnerung, die demselben jetzt wenig gelegen
waren und seiner Opposition bedeutend die Spitze abbrachen. Im
Jahre 1611 waren Vertreter von Schlesien nach Prag gekommen
und verlangten da Abhilfe verschiedener Beschwerden. Ein Ausschuss
der böhmischen Stände war zur Unterhandlung mit ihnen beauftragt,
und in den Sitzungen desselben verlangten die Schlesier, dass sie
für die Zukunft auch zu den böhmischen Königswahlen berufen wür
den. Damals hatte Graf Thurn sich dagegen auf’s Äusserste gewehrt
und eine solche Verkürzung der Rechte Böhmens um keinen Preis
zugeben wollen. Wie passt dies, frug Kolowrat, zu des Grafen jetzi
gen Behauptungen?
Nun votirten die Mitglieder des Hof- und Kammergerichtes,
unter diesen befanden sich drei der entschiedensten Feinde der vor
geschlagenen Thronfolge: Ruppa, Budowec und Wilhelm der ältere
von Lobkowitz. Keiner von ihnen wagte es mehr, sich zum Vertreter
der Thurn’schen Argumente zu machen, und die Rede Kolowrat’s
mag wohl dazu das Ihrige beigetragen haben; nur Lobkowitz konnte
22
Dr. Anton Gindel y.
sein Bedauern nicht unterdrücken, dass Maximilian, der näher
berechtigte Erbe, auf die Krone verzichtet habe, und sprach die
Hoffnung aus, Ferdinand werde wohl die religiöse Freiheit nicht
unterdrücken.
Alle Erwartung der Protestanten ruhte auf Schlick, als jene
Herren welche dem Herrenstande angehörig in keiner Bedienstung
standen, zur Meinungsabgabe aufgefordert wurden. Sie hatten ja
einstimmig in ihrer Versammlung im Karolingebäude Schlick zu ihrem
Sprecher gewählt, und wenn dieser dem übertragenen Amte ent
sprach, so musste es einen furchtbaren Auftritt geben, sobald seine
Opposition von dem Geschrei des Herrenstandes unterstützt wurde,
die Ritter hatten ihren Beistand schon versprochen und von den
Städten Hess sich dann mit Gewissheit erwarten, dass sie dem Bei
spiele der höheren Stände folgen würden.
Allein mit Schlick war eine bedeutende Sinnesänderung seit
wenigen Stunden vor sich gegangen. Am frühen Morgen hatte Hein
rich von Kolowrat welcher mit ihm durch die Bande des Blutes ver
bunden war, zu ihm geschickt und hatte ihn auf das Inständigste
ersucht, sich ja nicht zum Sprecher der Opposition zu machen, um
das Schicksal Georg’s von Lobkowitz nicht auf seinen Hals zu laden
und sich keinen Täuschungen über das vorgebliche Wahlrecht der
Stände hinzugeben, sondern sich gründlich in dieser Angelegenheit
vom Oberstburggrafen und Kanzler belehren zu lassen. Schlick der bei
vielen Anlässen bewiesen hatte, dass seine Beharrlichkeit, um nicht
zu sagen sein Muth hinter seinen Entschlüssen sei, ersehrack hier
um so mehr, als die vorläufigen Andeutungen ihm wichtig schienen.
Er eilte also in die Wohnung des Oberstburggrafen und begleitete
diesen in die Schlosskirche, traf da mit dem Kanzler zusammen, hörte
deren Mittheilungen über den Inhalt und die Tragweite der böhmi
schen Privilegien aufmerksam an und wohnte auf ihre Einladung der
Versammlung der obersten Beamten und Richter bei, welche zur
Begutachtung der königlichen Botschaft stattfand. Alles was er da
vernahm, veranlasste ihn, jeden Gedanken auf eine Opposition aufzu
geben und das Amt eines Vertreters derselben von sich abzulehnen.
Die wenigen Augenblicke welche zwischen der Berathung der ober
sten Beamten und der Eröffnung des Landtages verflossen, benützte
er, um seine Freunde davon zu benachrichtigen, dass er sie nicht zu
vertreten gedenke, und alle Bitten, mit denen man ihn bestürmte,
Beiträge zur Geschichte des dreissigjährigen Krieges.
23
seinem Versprechen nachzukommen, verhallten an ihm ohne Erfolg.
Da keine Zeit mehr übrig war, Jemand andern zum Dolmetscher der
ständischen Opposition zu wählen, so war diese auf einmal rathlos.
Denn es konnten wohl viele votiren, aber wenige überzeugend
reden.
Die letzte Hoffnung, dass vielleicht Schlick im entscheidenden
Augenblicke doch zu seinen Freunden stehen werde, zerstörte der
selbe durch seine Rede ganz und gar. Er bekannte frei und offen,
dass er die Intention gehabt, auf Vertagung des Landtages, auf Beru
fung der Kronländer anzutragen und dass er das freie Wahlrecht
habe verfechten wollen. Sein Entschluss sei aber vollständig durch
die Belehrung welche er vor der Eröffnung des Landtages erhalten
habe, und durch die eben gehörte Rede des Oberstburggrafen umge
ändert, und er fühle sich als treuer Unterthan des Hauses Habsburg
verpflichtet, für die Annahme Ferdinand’s zum König zu stimmen,
die Idee der Berufung eines Generallandtages zu verwerfen, weil
derselbe nur Unordnungen und Gefahren im Gefolge haben könne. —
Niemand aus dem Herrenstande sprach mehr gegen die Annahme
Ferdinand's.
Nun gaben die Ritter ihre Stimmen und unter diesen zuerst die
mit einem Amte Betrauten; diese, so wie die übrigen Mitglieder des
Ritterstandes, endlich alle Vertreter der Städte stimmten einfach für
die Annahme Ferdinand's, und so löste sich die Opposition die noch
am gestrigen Tage einer bedeutenden Siegeszuversicht sich hingeben
konnte, vollständig auf. Der Annahme Ferdinand’s stand nichts mehr
entgegen; ein Comite, zu dem jeder Stand acht Personen wählte,
wurde mit der Redaction des Landtagsbeschlusses der Ferdinand
zum König erklärte, betraut.
Wohl selten ist eine Opposition so schnell und so vollständig
besiegt worden, wie diesmal die der Protestanten, und Ferdinand
konnte sich füglich freuen, über ein hartes Hinderniss hinübergekom
men zu sein. Auch ist es beachtenswerth, dass dieses Resultat that-
sächlieh allein den überzeugenden Gründen des Kanzlers und der
Beredtsamkeit des Oberstburggrafen zu danken war. Der Kanzler
berichtete an der Spitze einer Deputation dem Kaiser von dem Resul
tate der Verhandlungen; zu dem Erzherzog Ferdinand verfügte sich
der Oberstburggraf in zahlreicher Begleitung und theilte ihm dasselbe
mit. In der Aufwallung der Freude dankte Ferdinand auf das Ange-
23Z
24
Dr. Anton Gindely.
legentlichste für den guten Willen der Stände, und versprach ihnen,
dessen in aller Zukunft zu gedenken.
Das Comitd welches den Landtagsheschluss redigiren sollte,
beauftragte zwei seiner Mitglieder, Slawata und Martinitz, einen
passenden Entwurf vorzulegen, welchem Wunsche diese beiden
Herren zur Zufriedenheit ihrer Auftraggeber nachkamen. Während
die eine Hälfte des Entwurfes die Annahme Ferdinand's zum Könige
von Böhmen als das glücklichste Ereigniss pries, das diesem Lande
hätte zu Theil werden können, bestimmte die zweite Hälfte, dass
Ferdinand vor seiner Krönung einen Revers unterzeichnen sollte,
welcher das Versprechen zu enthalten habe, dass er bei Lebzeiten
Matthias’ keinen Regierungsact ausüben und nach Ableben desselben
die Privilegien des Königreiches bestätigen wolle. Der Revers
selbst wurde im Hause des Obersthofmeisters Adam von Waldstein
im Vereine mit mehreren Personen vom protestantischen Adel ent
worfen und in denselben ein Satz bezüglich der Privilegien aufge
nommen, welcher von tiefem gegenseitigen Misstrauen der Parteien
zeugt. Ferdinand sollte nach demselben sich nicht einfach verpflich
ten, die Privilegien des Landes nach dem Tode Matthias' bestätigen
zu wollen; er sollte sich verpflichten, dass er die Privilegien, Frei
heiten und Gesetze des Landes, die alten Gebräuche und Gewohn
heiten „in allen Puncten und Klauseln, keine einzige
„ausgenommen, so wie dies der gegenwärtige Kaiser
„und seine Vorfahren, die Könige Böhmens, gethan
„haben, bestätigen werde“. In dieser weiter durchgeführten
Formel suchte man eine grössere Garantie für die Zukunft des
Landes.
Als nun das Comite mit dem Entwürfe des Landtagsabschiedes
in den Landtag kam (7. Juni), wurde derselbe den versammelten
Ständen vorgelesen und wie üblich zuerst die Mitglieder des Her
renstandes um ihre Beistimmung gefragt. Die Katholiken waren
selbstverständlich mit Slawata’s Arbeit zufrieden und auch Thurn und
Fels erhoben keinen Einwand; erst als die Frage auf Wilhelm den
Älteren von Lobkowitz kam, protestirte dieser, den Entwurf des
Reverses in der Hand, gegen den Landtagsabscbied, weil derselbe mit
dem Reverse, was die Bestätigung der Privilegien betreffe, nicht
gleichlautend sei, und beschuldigte desshalb den Slawata der Falsch
heit und Absichtlichkeit. Dieser Vorwurf war in so ferne ungerecht,
Beiträge zur Geschichte des dreißigjährigen Krieges.
25
als der Beschuldigte von dem Wortlaute des Reverses keine Kennt-
niss hatte und auch keine haben konnte, weil der Revers zu gleicher
Zeit wie der Landtagsbeschluss und jeder in einem andern Hause
entworfen wurde. Doch hatte Slawata nach seinem eigenen Geständ
nisse die Privilegiumsfrage desshalb einfach abgethan, weil es ihm
als einem Katholiken nicht darum zu thun sein konnte, für den Maje
stätsbrief, auf welchen eben die genauere Detaillirung des Reverses
hinwies, einzutreten. Die Opposition Wilhelm’s von Lobkowitz machte
mit einem Male der friedlichen Stimmung im Landtage ein Ende;
zwar erklärten sich auch noch viele Protestanten und selbst die Prager
mit Slawata’s Arbeit zufrieden, allein das feurige Auftreten des Ver
treters von Saatz, Hostälek, der sich ganz und gar dem Urheber der
Opposition anschloss, erhöhte die Stimmung der Protestanten der
gestalt, dass der Oberstburggraf selbst und nach ihm alle übrigen
Kronbeamten sich für die Correctur des Landtagsbeschlusses aus-
sprachen und denselben mit dem Wortlaute des Reverses in Einklang
brachten. Slawata, welcher um seine Beistimmung zu der Redactions
änderung befragt wurde, entschuldigte und vertheidigte seine Arbeit
damit, dass er um den Revers nicht gewusst habe und desshalb jeder
Vorwurf ihn mit Ungrund treffe. Aber sich nicht mit dieser einfachen
und hinreichenden Erklärung begnügend, that er eine Äusserung
welche kaum ein Jahr später wenige Momente vor dem Fenstersturze
ihm wiederholt wurde und wie seine Verurtheilung da klang. „Um die
ausdrückliche Bezeichnung des Majestätsbriefes“ — sagte er — „war
es mir nicht zu thun, denn er geht mich nichts an; als Katholik habe
ich seiner bei meiner Religion nicht nöthig, habe mich um seine
Erwirkung nie gekümmert und werde mich auch um seine Bestätigung
nie kümmern. Am Landtage hat Jeder die Freiheit, seine Meinung zu
äussern, und das that ich; die Majorität mag nun einen beliebigen
Beschluss fassen“. Diese Worte, voll Stolz und Herausforderung,
welche später zu seiner Anklage wiederholt wurden, verfehlten jetzt
nicht, auf einzelne Protestanten Eindruck zu machen, und der Graf
Schlick drückte ihm selbst seine Achtung über den männlichen Muth
aus, mit dem er seine Überzeugung vertreten hatte. — So ging zuletzt
ein Landtagsbeschluss durch, der weder die Katholiken noch die
Protestanten befriedigte, die ersteren nicht wegen des Gewichtes
das auf den Majestätsbrief gelegt war, die letzteren nicht weil grund
sätzlich ausgesprochen worden, dass der König angenommen und
26
Dr. Anton Gindely.
nicht gewählt werde. Bei dem schliesslichen Namensaufrufe stimm
ten alle Mitglieder des Landtages zu dem su redigirten Beschlüsse,
selbst Thurn machte keine weitere Bemerkung; nur Slawata und
Martinic glaubten ihre Zustimmung nicht unbedingt geben zu dürfen,
sondern einigten sich dahin, dass jeder von ihnen, nicht wie üblich
war, erklärte: „Ich trete dem Beschlüsse bei“, sondern sagte:
„Ich erkläre, dass man über den Beschluss so übereingekommen
ist“, durch diese eigenthümliche Meinungsabgabe ihre Opposition an
den Tag legend.
Am 9. Juni erschien Matthias mit den Erzherzogen wieder im
Landtage und vernahm dessen Beschluss. Ferdinand war nun König
von Böhmen.
Es war ein alter Gebrauch , dass dem neuen Könige von den
Ständen eine Krönungssteuer votirt wurde, dies geschah auch diesmal
und ihr Ertrag belief sich auf 60.000 Thaler. Skala, ausser Slawata,
der einzige ausführliche Erzähler der Ereignisse dieser Zeit, der
nach der Schlacht am weissen Berge seine Sicherheit in der Fremde
suchte und in der Müsse des Exils wenn auch nicht das schönste,
doch das grösste (dem Umfange nach) Werk der böhmischen Lite
ratur schuf, schreibt, dass Ferdinand den geringen Betrag des Ge
schenkes seiner Annahme nicht würdig hielt und desshalb dasselbe
unter die obersten Beamten und jene Personen vertheilte, die sich
bei seiner Erhöhung am thätigsten gezeigt batten. Slawata, in der
Praxis so gut wie in der Theorie an den rigorosen Geboten des
Christenthums festhaltend, hielt es für eine Befleckung seiner Ehre,
wenn er von einer durch Steuern aufgebrachten Geldsumme auch
nur einen Heller nähme, und verweigerte beharrlich die Annahme
eines Geschenkes. Da sein Widerstand nicht besiegt werden konnte,
so kaufte man ihm für das bestimmte Geld einige kostbare Gefässe,
und wir wissen nicht, ob er ein in dieser Form und wahrschein
lich im Namen Ferdinand’s ihm angetragenes Geschenk ausgeschla
gen hat.
Während so einigen Herren der königliche Dank zu Theil ward,
gingen die Führer der Opposition auch nicht leer aus. Die Debatte
hatte zu klar herausgestellt, dass das prätendirte Wahlrecht durch
kein Gesetz und namentlich durch die Geschichte der Succession der
Habsburgischen Dynastie, Matthias’ eigene Thronbesteigung ausge
nommen, sich nicht stützen lasse; aus diesem Grunde mochten es
Beiträge zur Geschichte des dreissigjährigen Krieges.
27
Matthias und Ferdinand an der Zeit finden, den Opponenten einen
Verweis zukommen zu lassen. Thurn, Fels, Budowec, Ruppa, Kaph'r,
Hostälek und Kochan wurden in die königliche Kanzlei berufen,
daselbst ihnen ihr Betragen verwiesen und ihnen mit dem Schicksale
Georg’s von Lobkowitz gedroht. Dabei blieb es aber nicht. Hostälek,
Primas von Saatz, und Kochan, Schreiber des Altstädter Stadtrathes,
wurden unmittelbar darauf ihrer Ämter entsetzt, während die übrigen
Herren, durchwegs Räthe entweder des Landrechtes oder des Hof-
und Kammergerichfes, nicht weiter behelligt wurden; nur Thurn
musste sein Amt als Burggraf von Karlstein gegen das eines obersten
Hofrichters vertauschen. Bei den Glückwünschen welche Ferdinand
von den Mitgliedern des Landtages entgegennahm, frug derselbe
geradezu einige seiner Gegner, wesshalb sie seine Feinde wären
und was der Grund ihres Misstrauens sei. Es versteht sich, dass
diese Frage unbeantwortet blieb. — Da die Umstände, unter denen
Thurn sein Amt verlor, eigenthümlicher Art waren und man übrigens
stets auf die Massregel als die Ursache hin wies, welche Thurn im
folgenden Jahre in die Arme der Revolution getrieben, so wollen wir
die Geschichte dieser Absetzung hier mittheilen, natürlich ohne der
selben in Bezug auf Thurn’s Entschlüsse jene allgemein angenom
mene Tragweite zugestehen zu wollen.
Die obersten Beamten hatten ihre Ämter lebenslänglich inne
und konnten nur im Falle eines Verbrechens abgesetzt werden, so
dass die Könige in dieser Beziehung genug beschränkt waren. Doch
hatte sich im Laufe des XVI. Jahrhunderts unter Maximilian II. die
Gewohnheit festgesetzt, dass der König einen Beamten der ihm an
einem bestimmten Posten nicht genehm war, an einen höheren, auch
gegen den Willen desselben, befördern konnte. Dies geschah z. B.
dem Oberstlandrichter Johann von Waldstein, welchem von Maximi
lian II. trotz allen Widerstandes das Amt eines obersten Kämmerers
übertragen wurde. Mit Matthias trat in dem Verhältnisse und der
Stellung der obersten Beamten eine neue, höchst wichtige Änderung
ein. Die Protestanten welchen Matthias seine Erhebung dankte,
wünschten mit aller Gewalt zu den Ämtern zu gelangen, von denen
sie bisher ausgeschlossen waren; da aber dieselben besetzt waren
und die Unabsetzbarkeit der Inhaber ein unübersteigliches Hinder
niss bildete, so wurde von den Protestanten die Theorie aufgestellt,
dass die Beamten bei einem Thronwechsel ihre Ämter zur Disposi-
28
Dr. Anton Gindely.
tion des neuen Königs stellen müssten, von dessen Gutdünken es
abhängen sollte, ob er sieb ihrer Dienste weiter bedienen wolle oder
nicht. Zwar war für diese Theorie aus der Geschichte ein Beweis
zu holen; unter Ferdinand I. hatten nämlich die obersten Beamten
auf ihre Ämter resignirt, um den Oberstburggrafen Lew von Rozmital
aus dem Amte zu treiben; seitdem aber war dieses Verfahren in Ver
gessenheit gerathen, und erst 1612 von den Protestanten in Vor
schlag gebracht und von Matthias, der sich in ihren Händen befand,
adoptirt. Die Folge war, dass Slawata das Burggrafenamt, in dessen
Besitz er war, verlor und Thurn dasselbe erhielt, und nur weil einer
der neuernannten Beamten, der Oberstkämmerer Schwamberg, auf
sein Amt verzichtete und eine Stelle dadurch frei ward, geschah es
damals, dass Slawata in den unansehnlichen Posten eines Obersthof
richters eingeschoben wurde. Im Range stand zwar derselbe über
dem Burggrafen von Karlstein und sonach war dieser Posten eine
Beförderung, aber das Burggrafenamt war eine über die Massen ein
trägliche Sinecur, nach deren Besitz sich gar viele sehnten.
Nun war der Oberstkämmerer Johann Sezima kurze Zeit nach
der Krönung Ferdinand’s II. gestorben, hiedurch eine Stelle vacant
geworden und dem Kaiser die Gelegenheit geboten, seinen Unwillen
gegen Thurn entschieden an den Tag zu legen, so wie Slawata’s und
Martinitz’s beharrliche Anhänglichkeit besser zu belohnen. Am
4. October berief der Kaiser alle Beamten und Räthe in die Burg,
um sie nach ihrer Meinung zu befragen, wie das Amt des Oberst
kämmerers zu besetzen sei, und nachdem dies geschehen, beschied
er sie auf den folgenden Tag, um seinen Willen zu vernehmen.
Inzwischen hatte Thurn in Erfahrung gebracht, dass man ihm durch
Übertragung eines andern Postens das Burggrafenamt nehmen wolle,
und als er mit seinen Collegen wieder in der Burg zusammentraf,
ging er auf Slawata zu, beklagte sich gegen ihn über den Schimpf
den man ihm anthun wolle, und forderte dessen Fürsprache auf. Es
liegt sehr wenig männlicher Stolz und Ehrgefühl darin, dass Thurn
seine Klagen an dem Ohre desjenigen ertönen liess, den er doch
selbst um das nun so sehr beklagte Amt gebracht, und dass er diesen
sogar um dessen Vermittelung beim Oberstburggrafen ansuchte. Der
Oberstburggraf hatte nur wenig Trost für den Grafen; indem er ihm
das Geschick Johann’s von Waldstein mittheilte, und ihn aufmerksam
machte, dass es selbst gegen eine ungewünschte Beförderung keine
Beiträge zur Geschichte des dreissigjährigen Krieges.
29
Verteidigung gebe, bat er ihn, sich doch zu erinnern, wie es Slawata
selbst ergangen und ob dieser nicht gute Miene zum bösen Spiele
habe machen müssen. Thurn betheuerte, wenn ihm das Burggrafen
amt genommen würde, so leiste er auf jedes Amt Verzicht; Slawata
warnte ihn jedoch vor dieser Übereilung, bat ihn, sich in den Willen
Gottes zu ergeben und seinen Entschluss erst auszuführen, wenn
ihm ein anderes Amt übertragen worden. Es ist nicht anzunehmen,
dass Slawata seinen Amtsnachfolger höhnen wollte; wenn aberThurn’s
Sinne nicht völlig von der Angst des Augenblickes verwirrt waren,
so musste er bei den religiösen Trostgründen die ihm nun ertheilt
wurden, das Lächerliche und Demüthigende seiner Lage bitter
empfinden.
Während Thurn, noch von Angst und Zorn gefoltert, in kläg
licher Schwäche bald den Tröstungen Slawata's, bald den Auseinan
dersetzungen, wie weit des Kaisers Macht reiche, sein Ohr lieh,
erschien der Kanzler und befahl den obersten Beamten, in das kai
serliche Gemach einzutreten. Hier eröffnete ihnen derselbe im Namen
des anwesenden Kaisers, dass dieser sich entschlossen habe, das
durch den Tod Johann Sezima’s vacante Amt eines Oberstkämmerers
dem Oberstlandrichter Georg von Taimberg zu geben, an dessen
Stelle den Obersthofrichter Slawata zum Oberstlandrichter zu ernen
nen, dem Grafen Thurn das Burggrafenamt von Karlstein abzunehmen
und ihm dafür das Amt eines obersten Hofrichters zu übertragen, und
dem Jaroslaw von Martinitz den dadurch ledigen Posten eines Burg
grafen zu verleihen. Taimberg dankte darauf in böhmischer Sprache,
der Kanzler theilte in deutscher Sprache dem Kaiser den Inhalt der
Rede mit; Slawata, der deutschen Sprache vollständig mächtig,
dankte in dieser. Thurn, ohnedies im Deutschen besser wie im Böh
mischen bewandert, sagte zum Kaiser: „Seit jeher war das Kriegs
handwerk meine Beschäftigung und zu dieser passt das Amt eines
Burggrafen von Karlstein, welches ich bisher so verwaltet, dass
Niemand eine Klage gegen mich erheben kann. Aus diesem Grunde
bitte ich Euer Majestät, mich in meinem Amte zu belassen, um so
mehr, da ich wenig in den Gesetzen und Rechten des Landes
bewandert, zu dem höheren Amte eines Obersthofrichters keine
Fähigkeit besitze“. Um dem Kaiser bei seiner Entscheidung völlig
freie Hand zu lassen, erklärte Martinitz augenblicklich, er verzichte
gern auf seine Beförderung, wofern Thurn’s Wünsche erhört werden
30 Dr. Anton Gindely.
sollten. Offenbar war er nicht in Matthias’ Entschliessungen einge-
weiht, denn sonst hätte er demselben durch seine bereitwillige Ver
zichtleistung keine Verlegenheit bereitet, da Thurn's Entfernung eine
fest beschlossene Sache war. Denn der Kaiser erklärte durch den
Kanzler, obgleich er die Bitte Thurn's erwogen, so fühle er sich doch
nicht veranlasst, von seinem Entschlüsse abzugehen. — Dies war das
letzte Wort. Thurn, jeden Widerstand aufgehend, leistete, wie die
übrigen neuernannten Collegen, den Amtseid und küsste beim
Abschiede des Kaisers Hand. In seinem Kopfe mögen einen Augen
blick lang die verschiedensten Entschlüsse sich bekämpft haben; so
oft er später Slawata begegnete, dankte er ihm für dessen freund
schaftliche Rathschläge welche ihn vor einer unüberlegten Hand
lung zurückgehalten hätten. „Auf welche Weise er mir seinen Dank
beim Fenstersturze abgetragen — sagt Slawata bei Erzählung
dieser Begebenheiten — mag Jeder beurtheilen“. Gewiss waren die
Worte:« Meine Herren, hier habt ihr den Zweiten“, mit denen
Thurn nach dem Sturze des Martinitz den Slawata zur gleichen
Behandlung empfahl, nicht nach einem besonders tiefen Dankgefühle
angethan.
Ferdinand war schon vor diesem Ereignisse, nachdem die Krö-
nung in Prag mit einem Pomp den nur die gleichzeitige Anwesen
heit eines Kaisers und Königs veranlassen konnte, vollendet war,
nach Brünn und Breslau gereist, um von den Mährern als Markgraf,
von den Schlesiern als Herzog angenommen zu werden. Diese beiden
Annahmen konnten, da Böhmen vorangegangen war, keiner Schwie
rigkeit mehr unterliegen, und so sah sich noch im Laufe des Jahres
1617 Ferdinand mit Sicherheit als Beherrscher mehrerer der schön
sten Länder. Da Matthias von seiner Abreise aus Böhmen durch
anhaltende Krankheit verhindert wurde, wobei man, nach den Berich
ten des bairischen Geschäftsträgers am kais. Hofe i) zu schliessen,
unablässig den ärgsten Ausgang befürchtete, so wurde die kommende
Herrschaft Ferdinand’s von den Katholiken Böhmens als ein in näch
ster Zeit bevoi’stehendes Ereigniss erwartet. Welche Ströme von
Blut erst vei’gossen und noch mehr, welches Wehe vordem auf das
Land kommen sollte, das ahnte Niemand.
I
1 ) Münchener Staatsarchiv.
Beiträge zur Geschichte des dreissigjährigen Krieges.
31
II.
I her die Vorgänge bei der Absetzung Ferdinnnd’s II. als Königs von
Böhmen und bei der Wahl Friedrich’s V. von der Pfalz zum Könige von
Böhmen.
Wir haben im ersten Theile dieses Aufsatzes die Behauptung ge-
than, dass die Böhmen schon vor dem Jahre 1618 ernstlich auf einen
Wechsel der Dynastie dachten, und fügen nun bei, dass dies vom
Momente des Fenstersturzes an das unablässige Streben ihrer Häupter
war; sonach gehören alle Behauptungen, als ob durch irgend welche
Nachgiebigkeit Matthias’ oderFerdinand'sderFriede wieder hätte her
gestellt werden können, in das Bereich frommer Meinungen. Beweise
hiefür enthält nicht nur die geheime Anhaitische Kanzlei, sondern
auch das Münchner Reichs- und Staatsarchiv, und wir werden ihre
Veröffentlichung bei einer anderen Gelegenheit nicht schuldig
bleiben.
Nicht auf einem grossen Theile der ständischen Versammlung,
sondern nur auf sehr wenigen, ja gar nur auf zwei Häuptern lastet
der Vorwurf, durch ihre mit seltener Kühnheit aufgefassten und mit
steter Beharrlichkeit durchgeführten Pläne das Unglück über die
Nation gebracht zu haben, und diese sind Thurn und Ruppa; von
dem Grafen Andreas Schlick und von Budowec wissen wir zwar, dass
sie in vielen Fällen in’s Vertrauen gezogen worden, sie kannten aber
nach unserer Ansicht vom Anfänge her nicht das Geheimniss der
Bewegung.
Drei von diesen Personen, Thurn, Schlick und Budowec, besas-
sen im Jahre 1618 eine Berühmtheit die in das Jahr 1609 zurück
reichte, ja Budowec hatte schon im Jahre 1602 die Aufmerksamkeit
des Landes auf sich gelenkt. Bei den Kämpfen um den Majestätsbrief
hatte er die parlamentarische Debatte geleitet und den Willen der
Stände mit meisterhafter Sicherheit gelenkt; Schlick, dessen Reich
thum und Adel bedeutend in die Wagschale fielen, diente dazu, die
grollenden Lutheraner zu beschwichtigen, wenn sie mit einem Male
von Misstrauen gegen die Leitung des Bruders Budowec erfasst
wurden. Bei allen nüthigen Anlässen hervorgezogen und desshalb
viel genannt, war Schlick doch nur ein Spielball in den Händen
32
Dr. Anton Gin de ly.
anderer Personen und derjenige welcher an» wenigsten sein späteres
Schicksal verdiente.
Am meisten machte Graf Thurn vor und im Jahre 1618 von sich
reden; im Jahre 1609 war er General der höhmischen Truppen
gewesen, welche die Stände gegen Rudolf geworben hatten, und
seine kriegerischen Leistungen konnten Tadlern nicht die geringste
Handhabe zu einem Spotte bieten, denn Rudolf hatte keinen Mann
zu seiner Vertheidigung und musste gutwillig mit seinem Feinde
capituliren. Seit der Zeit hielt sich Thurn zum Unglück seiner
Anhänger für einen tüchtigen Feldherrn, und die Hand stets am
Schwerte, erwartete er seine Zukunft ungeduldig. Es ist bekannt,
dass oft die tüchtigsten Feldherren, die kühn auf dem Schlachtfelde
hundertmal dem Tode in's Angesicht gesehen und ihre Ruhe bewahrt
hatten, in den Verhältnissen des täglichen Lebens oder in staatlichen
Kreisen weder Charakterstärke, noch Muth, noch Einsicht bewiesen
haben. Wir finden nicht, dass Thurn je auch nur einen mittelmässi-
gen Feldherrn abgab, denn an wessen Seite er sein Leben lang über
stand und half, an dessen Ferse heftete sich Unglück und Niederlage,
aber das wissen wir, dass er jene dunkeln Schwächen vortrefflicher
Feldherren im hohen Masse besass.
Thurn war mit Ruppa der eigentliche Urheber des Aufstandes
von 1618; der Plan zum Fenstersturze mag allein in des erstem
Kopf gereift, von dem letztem eifrig aufgefasst worden sein, denn
beide sehen wir an dem 23. Mai 1618 und der folgenden Zeit im
vollkommensten Einverständnisse. Ruppa hatte sich schon im Jahre
1609 und später im Jahre 1617 bei Ferdinand’s Königswahl als
eifriger Opponent hervorgethan; seine Familie gehörte seit Jahr
zehnten wie er selbst der Bruderunität an. Er war also kein Cal-
viner, wie er häufig von Historikern genannt wird, und man möge
wissen, dass es überhaupt in Böhmen keine einzige calvinische Ge
meinde gab. Die welche man Calviner zu nennen pflegt, das sind
die Brüder; man nannte sie damals häufig Calviner, weil sie eben
nicht Lutheraner sein wollten, aber mit so wenig Recht, als wenn
man die englische Hochkirche lutherisch nennen wollte. Auf Ruppa
überging um das Jahr 1618 die ganze Bedeutung, welche die Unität
ihren weltlichen Häuptern geben konnte; denn Budowec, nunmehr
71 Jahre alt, lieh der Bewegung, obgleich er vielfach in ihr genannt
Beiträge zur Geschichte des dreissigjährigen Krieges. 33
wird, nur seinen Namen; seine geistige und physische Kraft scheint
das Jahr 1609 und 1610 verzehrt zu haben.
Gleich nach dem Fenstersturze errichteten die Stände eine pro
visorische Regierung und betrauten mit derselben dreissig Personen
unter dem Namen von Directoren; zehn waren aus jedem Stande
gewählt worden. Das Präsidium der Direction wurde dem Ruppa
übertragen, und er war es, der die gesammte Correspondenz mit dem
Auslande führte, die auswärtigen Agenten in Prag empfing, und nur
Thurn, dessen Weisungen er wiederum entgegennahm, war vollstän
dig mit diesem Getriebe bekannt. Neben Ruppa nahm noch Bohu-
chwal Berka als rangältester Director einen Vorrang ein; doch
beschränkte sich derselbe darauf, dass Berka bei allen Landtagen
in der Revolutionsperiode das Präsidium führte.
Die diplomatischen Verbindungen Thurn’s und Ruppa’s mit dem
Auslande begannen unmittelbar nach dem Fenstersturze, und dieje
nige Person, an welche sie sich zuerst wandten, war der Fürst Chri
stian von Anhalt. Seit mehr als einem Jahrzehent hatte dieser ehr
geizige Aventurier seine Augen auf Böhmen geworfen, um da im
Trüben zu fischen. Im Jahre 1608 hatte er bei dem Kampfe zwischen
Matthias und Rudolf für den erstem intriguirt, und seine Verwandt
schaft mit dem letzten Rosenberger hatte allerlei Plane in seinem
Kopfe zur Welt gebracht. Wo in Europa etwas faul war, war er bei
der Hand; in Frankreich stand er nach Heinrich’s IV. Tode mit dem
Hugenottenführer Duplessis Mornay, in Italien mit Savoyen und
Venedig, im Norden mit den Generalstaaten in Verbindung; zu dem
Ende der im raschen Verfalle während Philipp's III. und Matthias’
Lebzeiten befindlichen Habsburgischen Macht konnte er sich rühmen,
das seinige beigetragen zu haben. Seine Freunde rühmten ihn als den
zweiten Feldherrn in Europa — Prinz Moriz von Oranien hiess
der erste — und er selbst glaubte zu seinem Unglück dieser
Schmeichelei.
Die confidentiellen Mittheilungen welche von Prag an Anhalt
gelangten, veranlassten ihn zur Absendung eines eigenen Agenten
nach Prag in der Person des Achaz von Dohna; er selbst aber strengte
alle seine Kräfte an, um den Böhmen in der ganzen Welt Bundes
genossen zu werben. Den meisten Einfluss übte er auf den Kurfür
sten Friedrich von der Pfalz, und dieser war es auch, der den Böhmen
anfangs durch Zuspruch, später durch wirkliche Hilfe auf alle Weise
Sitzb. <1. phil.-hist. CI. XXXI. Bd. I. Hft. 3
34
Dr. Anton G ind e 1 y.
unter die Arme griff; zu einer Zeit schon, als er sich scheinbar recht
eifrig bemühte, zwischen dem Kaiser und Böhmen wieder ein gules
Einvernehmen herzustellen.
Man muss wissen, dass es bereits im Jahre 1618 zu einer for
mellen Übereinkunft zwischen den Häuptern der Böhmen und dem
Pfalzgrafen kam, durch welche letzterem die Krone angetragen wurde.
Dieser Antrag ging nicht allein von Thurn und Ruppa aus, er halte
auch die Billigung mehrerer anderer Personen, unter diesen des
Generals Grafen Hohenlohe. Der Pfalzgraf sandte hierauf Christoph
von Dohna nach London und theilte seinem Schwiegervater, dem
König Jakob, mit, welche glänzende Anerbietungen ihm gemacht
worden. Der König von England, welcher in der Folgezeit so beharr
lich missbilligte, dass sein Schwiegersohn sich in den böhmischen Auf
stand verwickelt habe, und sogar im Parlamente (1621) feierlich
erklärte, dass er die Absetzung Ferdinand's als eine ungesetzliche
Massregel ansehe und angesehen habe, hat durch diese und andere der
bisherigen Geschichtsforschung bekannten Äusserungen, endlich durch
sein ganzes Benehmen den Glauben hervorgerufen, als ob er stets
gegen den Ehrgeiz Friedrich’s angekämpft habe. Allein dieser könig
liche Philosoph und Pedant, welcher in seinen officiellen Erklärungen
den böhmischen Aufstand für nichts anderes als einen solchen ansah,
hatte in seinem Cabinete einige schwache Augenblicke, als ihm per-
spectivisch die Grösse des Pfalzgrafen gezeigt wurde, und er liess
sich zu einigen Äusserungen verleiten, die dessen unvorsichtige Ent
schlüsse und dessen Verderben herbeiriefen. „So lange Matthias
lebt — sagte Jakob zu Christoph Dohna*) — kann ich meinem
Schwiegersöhne zur Erlangung der böhmischen Krone nicht behilflich
sein; stirbt er aber und verharren die Stände in ihrer günstigen
Stimmung, dann will ich ihm mit aller Kraft behilflich sein“.
So viel verheissend dies Versprechen für den Pfalzgrafen und
für den Fürsten von Anhalt für die Zukunft sein mochte und ihren
*) Die Erklärung welche Jakob that, lautet: que pendant la vie de F Empereur
Mathias Sa Majeste ne pouvoit s’embarquer aux dits affaires, inais au cas que le
dit Empereur vint a mourir et qu’alors les estats de Boeme publiassent au moude
leurs raisons contre l’archiduc Ferdinand et persistassent en leur affection envers
son Gendre , qu’alors S. M. leur presteroit toutte faveur et assistance. Original
im Münchener Staatsarchiv, 119/3, ßl. 102.
Beiträge zur Geschichte des dreissigjahrigen Krieges.
35
Muth auch bei den späteren Entschliessungen belebte, so genügte es
doch für die Bedürfnisse des gegenwärtigen Augenblickes nicht. Der
Krieg wüthete in Böhmen und unablässig kamen von Prag Bitten an
den Pfalzgrafen und an Anhalt, es möchte doch den im Unterliegen
Begriffenen geholfen werden. Aber so gut wie Jakob sich durch sein
königliches Ehrgefühl bewogen sah, seine Unterstützung zu versagen,
so lange Matthias lebte; eben so wenig konnte der Pfalzgraf während
derselben Zeit anders als verstohlen, also in unzureichender Weise,
den Böhmen helfen. Aus diesem Grunde ging allein zunächst von
Anhalt der Plan aus, den Herzog von Savoyen mit in’s Interesse zu
ziehen und seine Schätze wie seine Vergrösserungssucht für ihre
Zwecke zu benützen.
Der Herzog Karl Emanuel galt unbestritten hei seinen Zeit
genossen für den durchtriebensten und schlauesten Kopf. Nicht allein
Noth, auch Ehrgeiz hatten ihn veranlasst, in seiner Handlungsweise
längst auf die Beobachtung einfacher Moralprincipien Verzicht zu
leisten. Zwischen Frankreich und Spanien in der Klemme, wechselte
er nach Umständen seine Allianzen, und liess sich nie so weit in einer
derselben ein, dass er sich den Zugang zu der entgegengesetzten
ganz versperrt hätte. Im Jahre 1610 aber hatte ihn das Vertrauen
zu Frankreichs Stärke und zu den Talenten Heinrich's IV. zu einer
innigen Allianz mit dem letztem vermocht, und seine Hoffnung, die
spanischen Besilzungen in Oberitalien erwerben zu können, schien
alle Aussicht auf Erfolg zu haben. Da, nachdem er jede Brücke einer
Verständigung mit Philipp III. abgebrochen, fällt Heinrich IV. durch
einen Dolchstich, die Kraft Frankreichs ist mit einem Male durch
innere Parteiungen gelähmt, die Regentinn zu keinem Kriege mehr
geneigt und Karl Emanuel sieht sich allein der spanischen wohlver
dienten Rache preisgegeben. Es war da kein langes Besinnen gestat
tet, der Herzog hielt keine Bitte für zu demüthig und keine Demii-
thigung für zu niedrig, wenn er nur die Verzeihung Philipp’s erlangen
konnte. Was konnte er auch spröde oder stolz tliun, war er doch
ertappt worden, wie er die Hand in des Nachbars~Tasche stecken
wollte!
Seit dem verunglückten Versuche, seine Herrschaft auszudehnen,
waren acht Jahre verflossen, und keine passende Gelegenheit bot sich
dem Herzoge zu beweisen, dass er wieder zu allem bereit sei, wenn
ihm der gehörige Preis gezahlt würde. Kaum aber war der böhmische
3*
36
Dr. Anton Gindely.
Aufstand ausgebrochen, so erlangten die Böhmen durch pfälzische
Vermittelung, dass er Mannsfeld mit einem kleinen Heere ihnen zu
Hilfe schickte und dessen Besoldung übernahm. Um seinen Eifer
wach zu erhalten, boten ihm die Agenten des Pfalzgrafen und des
Fürsten von Anhalt die deutsche Krone nach Matthias’ Absterben das
man täglich erwartete, an. Um diesen Preis war er nicht zu ködern;
sollte er die armselige deutsche Wahlkrone annehmen, um seine
ersparten Schätze zu vergeuden, seine kleinen, aber gehorsamen
Besitzungen in Italien zu verlassen, damit sie Spaniens sichere Beute
würden und seinen Nachkommen der unbeneidete Vorzug zu Theil
werden möchte, dass sie als die ersten entthronten Prinzen die Län
der Europa’s durchirrten und überall Spott für ihren Schaden zur
Zehrung erhielten? Die deutsche Krone wollte er annehmen, wenn
sie ihm im Vereine mit der böhmischen angeboten würde; der
Pfalzgraf aber sollte sich mit dem Erwerbe des Elsasses zufrieden
geben.
Es war eine harte Zumuthung für Friedrich, die Bundesgenos
senschaft Savoyens um einen Preis zu erwerben, welcher ihn allein
zu den bisherigen Machinationen veranlasst hatte. Wir können uns
also denken, wie viel Aufrichtigkeit der Erklärung zu Grunde lag,
der Pfalzgraf wolle „die Affection“ der Böhmen zu seiner Person auf
die des Herzogs lenken und ihm zur Erlangung der böhmischen Krone
mitbehilflich sein, wenn dieser seine gesammte Kraft gegen das
Habsburgische Haus wenden wolle. Karl Emanuel zeigte sich damit
zufrieden, und so wurde bestimmt, dass Böhmen an Savoyen, der
Eisass an die Pfalz nach Matthias’ Tode kommen solle; wie die
übrigen österreichischen Besitzungen zu vertheilen seien, dafür
waren auch schon Pläne entworfen, aber noch keine festgestellt
worden.
Der Herzog wurde jedoch bald nach diesem Übereinkommen
misstrauischer; er mochte herausgefunden haben, dass die Ver
sprechungen bezüglich Böhmens nicht aufrichtig seien, und erklärte
desshalb nach Matthias' Tode, dass die Übertragung der böhmischen
Krone auf das Haupt Friedrich’s die zweckmässigste sei. Dass mit
dieser Erkenntniss auch sein Eifer für die Unterstützung der Böhmen
nachliess, ist begreiflich, und um diesen von neuem anzufachen, reiste
der Fürst von Anhalt zu ihm. Alles wozu sich der Herzog bewegen
liess, war, dass er auch ferner einige hunderttausend Gulden auf die
Beiträge zur Geschichte des dreissigjährigen Krieges.
37
böhmischen Rüstungen verwenden wollte, aber er war nicht dazu zu
bringen, sich mit seiner ganzen Kraft und seinem Vermögen einem
Unternehmen anzuschliessen, bei dessenLeitern er keinenHeinrichlV.
sah, und gegen die er den Verdacht zu hegen anfing, dass sein Geld
der Gegenstand ihrer frommen und feurigen Wünsche sei, um dessen-
willen sie bereitwillig waren, ihn einen Theil der künftigen Gefahren
tragen zu lassen.
Es ist unterhaltend zu wissen, wie der Fürst von Anhalt den
Herzog von Savoyen beurtheilte, denselben Prinzen welchen er den
Böhmen einige Zeit als Ersatzmann für Ferdinand anempfohlen hatte.
Er nannte ihn einen despotischen, treulosen und ehrgeizigen Mann
der jedes Recht verletze, wenn er seine Herrschaft nur vergrössern
könnte, der das Gefühl der Verpflichtung gegen seine Diener nur
in so ferne empfinde, als es ihm lästig sei; ja er meinte, der Herzog
habe viel auf dem Kerbholze, und es stehe wohl zu befürchten, dass
es mit ihm einen seltsamen Ausgang nehmen und die Nemesis nicht
ausbleiben dürfte. Mit einem Worte, er hielt ihn für das schlechteste
Subject innerhalb der civilisirten Welt, und selbst die momentane
Gemeinschaft des Zieles flösste dem Fürsten von Anhalt, der gerade
nicht wählerisch in der Wahl der Bundesgenossen war, Bangen vor
der finstern Seele des in Sünden und Freveln grau gewordenen
Italieners ein.
Sobald Matthias gestorben war, zögerte der Pfalzgraf keinen
Augenblick, seine Verbindung mit den Böhmen enger zu knüpfen, mit
Geld und Munition sie zu unterstützen, ihre Werbungen zu begünsti
gen und die Ferdinand’s zu hindern. Anhalt eilte nach Amberg in
die Nähe der böhmischen Grenze, um in der Mitte zwischen Prag
und Heidelberg die Verbindung zwischen beiden Orten zu über
wachen und zu befördern. So war der Juni des Jahres 1619 heran
gekommen und die Situation in so weit klar geworden, als der Pfalz
graf der alleinige Prätendent für die böhmische Krone war und die
Böhmen allein mit diesem bindende Erklärungen eingegangen waren.
Dennoch zögerte Friedrich, mit allen seinen Hilfsmitteln den Böhmen
beizustellen, da noch nicht die Kaiserfrage entschieden war und er
im Geheimen nach einem Einverständnisse mit Baiern und Sachsen
trachtete. Die Böhmen geriethen hiedurch in eine Lage, welche leicht
schon jetzt zur vollständigsten Niederlage hätte führen können. In
ihren Kassen war kein Geld, und anstatt dasselbe durch Steuern bei-
38
Dr. Anton Giniely.
zutreiben, warteten sie auf auswärtige Subsidien, die weder pünktlich
eintrafen, noch für die Bedürfnisse ausreichten. Das Heer wurde
nicht bezahlt und versagte den Generalen den Gehorsam; hätte in
dem Momente der so häufig wiederkehrenden Widersetzlichkeit der
Soldaten Bucquoy die böhmische Armee angegriffen, so war ihre Nie
derlage sicher und kein Mensch konnte ihn dann von dem Marsche
nach Prag zurückhalten. Nur der schlechte Stand der Armee Ferdi
nande war die Ursache der zeitweisen Unthätigkeit Bucquoy's. Die
Civilregierung des Landes liess alles zu wünschen übrig; die Bauern
empörten sich gegen die Bedrückungen welche der Krieg verur
sachte, und vollständige Anarchie drohte einzubrechen.
Aus diesem Grunde baten die Böhmen, der Pfalzgraf möge, wenn
er nicht ihr Verderben wolle, sie nachhaltiger unterstützen, sie selbst
aber beschlossen, die Königsfrage zu entscheiden. Ein Landtag wurde
berufen und auf demselben ein Bündniss mit den übrigen Kronländern,
dann auch mit Ober- und Nieder-Österreich abgeschlossen, welches
die Mittel zur kräftigen Fortführung des Krieges sichern und das
Loos dieser Länder an einander ketten sollte. Als dann die Frage
zur Berathung kam, ob Ferdinand abzusetzen sei, erklärten die
in Prag weilenden Vertreter der böhmischen Kronländer sich nicht
für hinreichend instruirt. In Folge dessen wurde der Landtag auf
zwei Wochen vertagt, und die Sitzungen wieder aufgenommen,
als die Instruction für die in Prag weilenden fremden Deputaten
angekommen war.
Die Sitzung am 17. August 1619 w'ar eine vorbereitende
Sitzung. Die Direcforen Hessen mehrere Schriften vorlesen, welche
die Hechte der böhmischen Stände den Thron durch Wahl zu be
setzen, erörterten, diesen schlossen sich andere au, w'elche darzu-
thun suchten, dass Ferdinand sein Recht verwirkt habe. Die Beweise
für das Wahlrecht konnten leicht aus der Geschichte geholt werden,
schwerer war es die Massregel der Absetzung zu begründen. Die
wichtigsten gegen Ferdinand geltend gemachten Argumente waren,
dass er Steiermark mit Gewalt wdeder katholisch gemacht habe,
und dass er Böhmen bei Lebzeiten Matthias' und später bekriegt habe,
Diese Argumentation , vom rechtlichen Standpuncte die schwächste,
übte gleichwohl die meiste Wirkung aus und die Mitglieder des
Landtages waren weniger von der Überzeugung geleitet, dass Ferdi
nand seine Rechte formell verwirkt habe, als von dem Gefühle des
39
Beiträge zur Geschichte des dreissigjährigen Krieges.
Hasses and der Furcht, das diese Argumente erzeugten oder hef
tiger anfachten. Da die Lectüre dieser Staatsschriften den ganzen
Tag in Anspruch genommen hatte, wurde die Erwägung derselben
den Ständen empfohlen und die weitere Beschlussfassung wegen des
nachfolgenden Sonntags auf den 19. August vertagt.
Die für Böhmens Wohl und Wehe so entscheidende Verhand
lung wegen Ferdinand’s Absetzung oder Abdication, wie sie im
schlechten Latein jener Zeit benannt wurde, wurde am bestimmten
Tage mit einem Gebete eröffnet, ein Gebrauch welchen Budowec
am Landtage von 1609, als man um den Majestätsbrief kämpfte, ein
geführt hatte. Die Meinungsäusserungen geschahen nach einem be
stimmten Plane. Zuerst nämlich gaben Mitglieder des Herrnstandes
und unter diesen wieder die Directoren obenan, darauf die Ritter
und endlich die Vertreter der Städte ihr Gutachten, ob Ferdinand
abzusetzen sei oder nicht, in motivirter Weise ab. Da Ferdinand vor
nicht langer Zeit an die Böhmen ein Schreiben gerichtet hatte, in
dem er sie nochmals zum Gehorsam mahnte, so nahm das Gutachten
durchwegs die Form an, dass jeder Einzelne die Frage erörterte,
ob dem Könige eine Antwort zu ertheilen sei oder nicht.
Bevor die Umfrage eröffnet wurde, gelangte eine Anzeige der
mährischen Deputirten in den Landtag des Inhalts, die mährischen
Stände hätten ihnen alle Vollmacht ertheilt, jede Angelegenheit in
Prag endgültig abzuschliessen. Da diese Vollmacht wegen der Königs
frage eingeholt worden war, so war sie eine offene Erklärung, dass
Mähren sich mit der Wahl eines neuen Königs einverstanden erklärte.
Unter dem Eindrücke dieser ermunternden Nachricht, da sie die
festeste Einigkeit der böhmischen Provinzen in Aussicht stellte, for
derte Bohuchwal Berka , der als der erste unter den Directoren des
Herrnstaudes das Wort ergriff, die Anwesenden auf ihre Meinung ab
zugeben, und verlangtejdies zunächst von Colonna von Fels. Dieser
General war wie auch Thurn aus dem Lager zu den Verhandlungen
berufen worden, er erschien, nicht aber Thurn; doch war der
letztere durch seinen Vertrauten Ernfrid von Berbisdorf vertreten.
Fels vertrat die Absetzung Ferdinand’s, weil er den Freiheiten Böh
mens gefährlich geworden und seine Wahl nur durch Drohungen
durchgesetzt habe. Auch sei er nur unter der Bedingung zum König
gewählt worden, dass er bei Lebzeiten Matthias’keinen Antheil an
der Regierung suchen wolle, und doch habe er später Truppen gegen
40
Dr. Anion Gindel y.
Böhmen geworben und ihnen Befehle ertheilt. Jene Männer welche
man zum Fenster hinausgeworfen hätte, und andere treulose Söhne
des Landes suche er dem Volke als seine obersten Beamten aufzu
dringen, solche Unbill sei länger nicht zu dulden. — Wilhelm der
Altere von Lobkowitz gab sein Gutachten dahin ah, dass dem König
zwar zu antworten, ihm aber die Gründe aus einander zu setzen
seien, wesshalb er nicht weiter anerkannt werden könne; vielleicht
dass er dann von der Vergeblichkeit seiner Ansprüche überzeugt,
seine Armee zurück ziehen werde. Da der Redner jedoch selbst
dieser Hoffnung misstraute, so rieth er noch, man möge so schnell
wie möglich die Wahl eines andern Königs in Angriff nehmen, um
den Krieg erfolgreicher führen zu können. Die Nothwendigkeit der
Absetzung Ferdinand’s motivirte er damit, dass dieser die Privilegien
der Stände angegriffen habe. Paul von Rican und Heinrich von
Waldstein stimmten ihrem Vorredner einfach bei. Peter von Schwam-
berg stimmte für die Absetzung mit dem Beisatze, er wolle sonst
lieber unter heidnischer Herrschaft leben.
Nun trat der Präsident der Direction Ruppa auf. Wenn, meinte
er, der Mensch in schwierigen und wichtigen Angelegenheiten
rathen soll, so kann er dies nicht aus eigener Kraft, sondern er be
darf dazu des heiligen Geistes und der Hilfe des Allerhöchsten. Dess-
halb bitte auch er Gott um so viel Beredtsamkeit, als sie zu seinem
Ruhm und seiner Ehre wie auch zum Heil des Vaterlandes nöthig
sei. Zwei Fragen bitte er genau zu erwägen: 1. Kann Böh
men und die einverleibten Länder mit gutem Ge
wissen dem Kaiser Ferdinand seine Würde entziehen,
und 2. gibt es noch einige Mittel, durch deren An
wendung seine Herrschaft noch fernerhin ohne Ge
fährde anerkannt werden könnte? Was die erste Frage
betreffe, so scheine ihm, wie er frei und offen vor der Welt er
kennen wolle, dass die Stände der verbündeten Provinzen mit gutem
Gewissen Ferdinand’s Herrschaft ein Ende machen könnten, und
dies aus folgenden Gründen. Erstens sei Ferdinand gegen alle Ord
nung und gegen das gute Herkommen von einigen Feinden des
Landes, welche im Dienst einer fremden Macht gestanden wären,
und von ihm Summen im Betrage von 10 und 20.000 Schock ange
nommen hätten, um Böhmen um seine Freiheiten zu bringen, gewählt
und gekrönt worden. Es sei eine bekannte Sache, wie man gegen
Beiträge zur Geschichte des dreissigjährigen Krieges.
41
jene aufgetreten sei , welche gegen diese Wahl Einsprache er
hoben und die Berufung der Kronländer gefordert hätten. Zweitens
habe Ferdinand den mährischen Landtag für Matthias eröffnet und
an demselben den Antrag gestellt, dass dem kaiserlichen Heere der
Durchzug durch Mähren gegen Böhmen gestattet werde und hie
durch gegen die Bedingungen seiner Wahl verstossen. Drittens
habe er mit den Truppen des Kaisers seine eigenen gegen Böhmen
ziehen lassen und nach des Kaisers Tode gegen Böhmen nicht wie
der König des Landes, sondern wie der offenbarste Feind gehandelt.
Bezüglich der zweiten Frage, ob es noch Mittel gebe, durch deren
Anwendung Ferdinand mit Beruhigung zur Herrschaft zugelassen
werden könnte , müsse er gestehen , dass es keine solchen gebe.
Denn Ferdinand führe die Regierung nur unter dem Einflüsse spa
nischer und päpstlicher Rathschläge, und so sei zu erwarten, dass
er nur eine Zeit lang das Land regieren würde, um es dem Könige
von Spanien abzutreten. Jene Männer welche die Urheber aller
Leiden seien, die über Böhmen gekommen, behalte er noch immer
in seinem Rath, Leute die man aus dem Fenster geworfen , oder
die wie Verräther aus dem Lande geflohen, erkläre er für seine Ge
treuen, und so sei keine Hoffnung, dass je unter ihm eine bessere
Regierung Platz greifen könnte. Die Stände müssten unter dem Ge
fühle steter Furcht und Bedrängniss leben und für ihr Leben und
ihre Güter alles besorgen. Aus diesen Gründen müsse er für Ferdi-
nand's Absetzung stimmen und den Ständen den Rath geben, die
Gründe ihres Verfahrens der Welt in einer Schrift bekannt zu
geben, jetzt aber so schnell wie möglich zur Wahl eines eigenen
Königs schreiten.
So lautete das Votum jenes Mannes der seit mehr wie einem
Jahre an die Spitze der Verwaltung des Landes durch das Zutrauen
seiner Mitbürger berufen worden war. Es wird den Leser interes-
siren zu wissen, welches die weiteren Schicksale Ruppa's gewesen
sind, und desshalb möge eine Andeutung darüber vor der Mittheilung
der übrigen Voten hier Platz finden. Nach der Wahl Friedrich’s
zum Könige wurdeRuppa zum obersten Kanzler von Böhmen ernannt,
ein Amt, im Range das fünfte unter den obersten Stellen. Für diese
Zurücksetzung lässt sich eine ganz natürliche Erklärung ausfindig
machen. Das Kanzleramt trug bei einem Thronwechsel über
60.000 Thaler ein, weil die Lehensleute bedeutende Summen für
42
Dr. Anton Gindelv.
die Bestätigung ihrer Lehen entrichten mussten. Es ist nun mehr
als wahrscheinlich, dass Ruppa sich selbst diese für die nächste Zeit
so einträgliche Stelle zudachte; an Einfluss und Ansehen verlor er
nichts, denn er führte auch unter Friedrich die Regierung von
Böhmen. Nach der Schlacht am weissen Berge floh er mit Friedrich
und begleitete ihn stets unter dem Titel eines Kanzlers von Böhmen.
Die finanziellen Bedrängnisse, in welche der Pfalzgraf gerieth,
nöthigten ihn sein Schicksal von demselben zu trennen; worauf er
längere Zeit in Berlin lebte. Im Jahre 1628 bat er den Kaiser um
Pardon und dieser gewährte ihm die Erlaubniss zur Rückkehr. Wir
wissen nicht, ob ihm dieselbe unter der Bedingung des Übertrittes
zur katholischen Kirche gewährt wurde, wahrscheinlich nicht, denn
der kaiserliche Pardon enthält nichts von einer solchen Bedingung.
Obgleich um diese Zeit schon jeder Protestant gezwungen war Böhmen
zu räumen, so mochte Ferdinand dem Ruppa gegenüber eine Aus
nahme machen; denn es konnte unter den Böhmen keine für diesen
günstige Stimmung hervorrufen, dass er einen Boden wie ein demü-
thiger Sünder aufsuchte, der noch frisch mit dem Blute derjenigen
benetzt war, die durch seine undThurn's weitgehende Plane von jeder
Versöhnung mit dem Kaiserhause zurückgehalten worden.
Die Niederlage welche Friedrich erlitt, sollte nicht die einzige
Täuschung bleiben, der sich Ruppa über die Widerstandskraft Böh
mens hingab. Nachdem er drei Jahre ruhig gelebt, regte der Ein
bruch des Kurfürsten von Sachsen in Böhmen alle in ihm schlum
mernden Leidenschaften und Hoffnungen wieder auf. Der Graf Thurn
war mit den Sachsen auch angekommen; im Vereine mit diesen
organisirte er eine provisorische Regierung in Prag und führte den
vertriebenen protestantischen Klerus in den Besitz der Kirchen ein.
Dieser Versuch nahm ein klägliches Ende, Ruppa flüchtete sich nach
der Vertreibung der Sachsen zu den Schweden und zog im Jahre
1634 mit dem General Baner in Böhmen wieder ein; allein er kam
nur um da zu sterben. Getäuschte Hoffnungen und dasünstäte seines
Lebens störte das Gleichgewicht seines Geistes; er verfiel in Raserei
und in einem heftigen Anfall derselben machte er seinem Leben in
Leitmeritz ein Ende.
Auf Ruppa den Zögling trat Budowec, das greise Haupt der
Unität, auf; ohne tiefer den vorliegenden Gegenstand zu erörtern,
sprach er sich in bündiger Weise für die Absetzung Ferdinand’s aus.
Beiträge zur Geschichte des dreissigjährigen Krieges.
43
Graf Al bin Schlick, welcher hiei’auf das Wort ergriff, meinte, wo
fern man dem Könige schreiben wollte, müsste dies entweder auf
eine zuvorkommende und vielversprechende oder auf eine ent
schieden ablehnende Weise geschehen. Würde das erste geschehen,
so müsste ihm die Aussicht zu weitern Friedenstractationen eröffnet
werden; würde das letztere geschehen, so müsste ihm gleich jede
Hoffnung auf die Wiedererlangung der Krone benommen werden.
So sei es am rathsamsten nichts zu schreiben. Dazu komme noch,
dass, wenn im Reiche sich das Gerücht des fortgesetzten Brief
wechsels verbreiten würde, leicht jene die bisher zu jeder Hilfe er
bölig waren, irre werden und abfallen könnten. Von Ferdinand sei,
wenn er zur Regierung gelangen würde, alles für die ständischen
Freiheiten und für den Majestätsbrief zu befurchten , weil er unter
Jesuiten erzogen worden und in ihnen seine Lehrmeister und Rath
geber verehre. Er (der Graf) habe auf seiner letzten Gesandtschaft
in Deutschland die Überzeugung gewonnen , dass keiner von den
Fürsten den Böhmen offen seine Hilfe zukommen lassen werde, so
lange diese in der Königsfrage nicht die entsprechende Entschei
dung getroffen haben würden.
Der folgende Redner Wenzel der ältere Berka von Duba fasste
die Frage von dem richtigsten Standpuncte auf. Er gab den Stän
den zu bedenken, dass eine Absetzung Ferdinand’s einen Krieg auf
Leben und Tod zur Folge haben würde und bat sie zu erwägen, ob
sie hiezu ausreichende Mittel besässen. Er enthielt sich auf die
Absetzung des Königs anzutragen.
Herr Gottfried Albreeht Krinecky von Ronow nannte Ferdi
nand einen Tyrannen und erklärte lieber seine Güter verkaufen und
auswandern zu wollen , ehe er einwilligen würde ihn als König von
Böhmen anzuerkennen.
Nun gab Heinrich von Waldstein seine Stimme ab. Er wollte
alles dieses Elend vorausgesehen haben, war aber in Besorgniss,
woher man die Mittel zur Kriegführung nehmen würde , weil das
Geld aus dem Lande (von Matthias oder Ferdinand ?) geführt worden;
nichts desto weniger stimme er für die Absetzung des Königs. — Die
Opposition Waldstein's war nicht wie bei den übrigen in dem Miss
trauen welches die Protestanten gegen den katholischen Ferdinand
beseelte, begründet, sondern sie hatte ihre Grundlage in einem
persönlichen Hass Waldstein’s gegen die kaiserliche Familie wegen
mEmTw+TZwi
44 Dr. Anton Gindel y.
eines, wie er meinte, ihm zugefügten Unrechts. Zwei Jahre vor dem
Zeitpuncte dessen Geschichte wir hier erzählen, wurde Wald
stein von Kaiser Matthias zur Verantwortung gezogen, weil aus
seiner Druckerei in Daubrawic ein historisches Werk welches er
selbst verfasst hatte, hervorgegangen war, in dem K. Rudolf und
Matthias auf eine beschimpfende Weise (potupne) angegriffen
wurden. Da das Werk nicht zu finden und wahrscheinlich völlig
vernichtet ist, so können wir nicht beurtheilen, wie schwer das Ver
gehen Waldstein's war. Als er vom Kaiser zur Verantwortung gezo
gen wurde, traute er sich nicht hei demProcesse auf eine glimpfliche
Weise durchzukommen und er schob desshalb die Schuld der Ab
fassung jener ehrenrührigen Stellen auf seinen Drucker. Da ihm
darauf aufgetragen wurde, denselben zur Stelle zu schaffen, fuhr er
in aller Eile nach Daubrawic, liess dem Drucker im Geheimen den
Kopf abschlagen und gab dann vor, er sei entflohen. Dieser Act
roher Willkür, der von einer tiefgehenden sittlichen Verkommen
heit zeugt, blieb jedoch nicht verborgen und Waldstein sah sich
gezwungen, zur Sühne seines Vergehens eine Strafsumme von
30.000 Schock in die kaiserliche Kammer zu erlegen, und nur
durch die Fürbitte seines Verwandten war er um diesen Preis los
gekommen. Nach dem Berichte des Slawata war es eine gewöhn
liche Sache, dass die Adeligen bis zum Jahre 1618 bei Misshandlung
und selbst Ermordung von Bürgern und Unterthanen straflos aus
gingen, und erst als Ferdinand nach dem Jahre 1620 mit absoluter
Gewalt die Zügel der Regierung ergriff, war die in Anklagestand
versetzung Adeliger wegen solcher Vergehen an der Tagesord
nung. Allein wenn auch der Verbrecher vor dem Jahre 1618 in der
Regel straflos davonkam, so verurtheilte ihn dennoch die öffentliche
Meinung in schweren Fällen stark genug und dies war auch bei
Waldstein der Fall. Als nämlich am 22. Mai 1618 (einen Tag vor
dem Fenstersturz) die Stände in Prag in einer Sitzung ihre Be
schwerden besprachen, trat auch Waldstein klagend auf und ver
langte, dass seine Beschwerde zu einer allgemeinen erhoben werde;
es handelte sich ihm um die Rückerstattung der gezahlten Summe,
Niemand unter den Ständen ging aber auf sein Verlangen ein; man
fand vielmehr seine Schrift wie sein Benehmen strafbar. — Nach
der Schlacht am weissen Berge flüchtete Waldstein aus dem Lande,
Beiträge zur Geschichte des dreissigjährigen Krieges. 45
seine Güter wurden confiscirt und er selbst starb im bitteren Elende
in Dresden.
Der nachfolgende Redner war Adam Kinsky, er stimmte für die
Absetzung Ferdinand's und war in seinen Invectiven heftiger wie
seine Vorgänger; lieber, erklärte er, wolle er seine Güter verkaufen
und auswandern als unter Ferdinand’s tyrannischer Herrschaft im
Lande verbleiben. — Seine Opposition war, wie die des Vorredners,
nicht frei von persönlichem Hass gegen das habsburgische Haus. Er
war der Bruder des Wenzel Kinsky, der als landesflüchtiger Ver
brecher in der Fremde während Matthias’ Regierungszeit herumirrte
und in unscheinbarer Verkleidung in der Dunkelheit leben musste,
um wegen des Preises von 10.000 Schock, der auf seinen Kopf ge
setzt war, keinen mörderischen Angriff hervorzurufen. Es wäre hier
zu weitläufig, wollten wir alle die Umstände erzählen, die Wenzel
Kinsky in diese Lage brachten; so wohlverdient dieselbe aber auch
war, so veranlasste sie dennoch seine Brüder während des ganzen
Aufstandes vom Fenstersturze an eine Stellung einzunehmen, die
vom feindseligen Hasse gegen das Habsburgische Haus zeugte. Man
wird leicht ermessen können, wie gross die verbrecherische Schuld
Wenzel Kinsky’s sein musste, wenn er als Katholik von Matthias
so hart gestraft wurde, und man wird dann leicht zugeben, dass die
Motive welche die politische Thätigkeit seiner Brüder leiteten, nur
in den finsteren Abgründen der Intrigue und des Lasters zu suchen
sind. Man darf diesen Männern die Ehre nicht anthun, sie anderen
Parteigenossen gleich zu stellen.
Die übrigen Mitglieder des Herrenstandes erklärten sich einfach
mit den ausgesprochenen Ansichten bezüglich Ferdinand’s Absetzung
einverstanden. Es waren dies die Brüder Heinrich und Jaroslaw
Slawata, Michael der ältere Slawata, Adam und Georg Adam von
Ruppa, Otto von Donin, Johann Lorenz von Zerotin, Sadovsky
von Sloupno, Wenzel Hrzan, der jüngere Budowec und Wenzel
Loksan.
Jetzt war es an dem Ritterstande sein Votum abzugeben. Auch
hier stimmten zuerst die Directoren, und unter diesen der demRange
nach älteste Kaspar Kaplff von Salewic. Er gehörte einer Familie
an, die seit SO Jahren an allen religiösen Kämpfen in Böhmen Au
lheil genommen. Kaplff rieth die unverweilte Absetzung Ferdi
nand’s an, und weil er zugleich dem Einwande begegnen wollte,
46
Dr. Anton Gin<1 e 1 y.
dass man nicht genugsam mit Mitteln zur weiteren Kriegsführung
versehen sei, so schlug er die Confiscation des sämmtlichen
geistlichen Gutes und der Besitzungen jener Herren vor, die aus
Böhmen flüchtig geworden waren, weil sie dem König anhingen oder
von den Directoren aus mehr oder minder triftigen Verdachts
gründen verbannt worden waren. Einiges vom geistlichen Gute war
bereits in Beschlag genommen worden. Kaphr ist jedoch derjenige
gewesen, welcher diese Massregel einer umfassenden Anwendung
empfahl, wodurch, wie leicht begreiflich, bei den Katholiken auch die
letzte Sympathie für die Directorialregierung sich verlieren musste.
Nach der Schlacht am weissen Berge ward des Antragstellers Be
sitzthum von Ferdinand confiscirt, ja er selbst war einer von jenen
die am Altstädter Binge mit ihrem Leben büssten.
Nachdem Prokop Dwofecky von Olbramovic, der zweite Direc-
tor des ßitterstandes, die unverweilte Wahl eines neuen Königs an
empfahl , besprach Friedrich von Btle denselben Gegenstand. Er
empfahl die Absetzung Ferdinand’s, weil er die Privilegien verletzt
habe. Bei der Wahl Ferdinand’s im J. 1617 hatte er keine Einwen
dungen erhoben, nach der Schlacht am weissen Berge ward ihm
mit Kaphr ein gleiches Loos zu Theil.
Der nachfolgende ßedner war Bohuslaw von Miehalowic. Er
war einer der begabtesten und zugleich der beredteste Mann seiner
Partei; während der Wirren zur Zeit der Ertheilung des Majestäts
briefes war durch denEinfluss der Protestanten seineErnennung zum
Vicekanzler von Böhmen durchgesetzt worden. Unter der Zahl der
jenigen welche am 25. Mai 1618 durch das Vertrauen der Stände
zur Direction berufen wurden, befand er sich nicht; doch muss er
später an die Stelle eines abgehenden Directors gewählt worden
sein, denn Slawata führt ihn in der Zahl derselben auf. Sein Sohn
lenkte durch frühzeitiges Talent die Aufmerksamkeit seiner Zeit
genossen auf sich, und man bediente sich desshalb seiner, obwohl er
sich erst im Jünglingsalter befand, bei der Gesandtschaft welche
die Wahl Ferdinand’s zum Kaiser vereiteln sollte. Miehalowic
selbst hatte die Verbindungen Böhmens mit den Kronländern und
anderen Nachbarländern formulirt, und es war nicht seine Schuld,
wenn diese Verbindungsacte, in denen für alle möglichen Angriffe
und jede Vertheidigung Sorge getragen wurde, in der Wirklichkeit
so geringe Früchte trugen. Nach der Schlacht am weissen Berge
Beiträge zur Geschichte des dreissigjährigen Krieges.
47
fiel sein Haupt am Altstädter Ring. — Würde Ferdinand , meinte
Micludowic, zur Regierung gelangen, so würde dieselbe nur nach
dem Willen Spaniens und des Papstes geführt werden, den Ständen
würde keine einzige der gemachten Versprechungen erfüllt werden,
und wer dies nicht glaube, dem möge Steiermark zum Beweise
dienen. Als daselbst Ferdinand seine Reformen begonnen, habe er
bei den Städten den Anfang gemacht, und als sich der Adel für die
selben bei ihm verwendet, habe ihm Ferdinand geantwortet, die
Städte wolle er nach seinem Gutdünken einrichten, dem Adel jedoch
völlige Freiheit in Religionssachen gönnen. Nachdem er bei den
Städten seinen Willen durchgesetzt, habe er sich an den Adel
gemacht, indem er zuerst die Auswanderung aller protestantischen
Geistlichen befohlen habe, und dann sei die Reform des Adels mit
aller Gewalt durchgeführt worden. Aus diesen Gründen sei dasselbe
Verfahren für Böhmen, ja noch mehr, die Einführung der Inquisition
zu befürchten. Würde man Ferdinand als König von Böhmen aner
kennen, so zerreisse man Alles was man bisher mühsam geknüpft;
die Bündnisse mit den Nachbarvölkern würden ein Ende nehmen,
und die Erhebung Ferdinand’s auf den Kaiserthron geradezu hervor
gerufen werden.
Ähnliche Voten wurden von Heinrich Ota von Los, Christoph
Fictum, Albrecht Pfelferkorn und Peter Miller abgegeben. Das
Votum des Wenzel Petipesky unterschied sich von denen der übrigen
dadurch, dass er mit einem gewissen Bedauern in die Absetzung
Ferdinand's willigte. Er war einer von den Wenigen denen bereits
im Jahre 1618 über die Entwickelung der Dinge in Böhmen bange
wurde, und bat desshalb die Stände schon damals, ihn aus der Diree-
tion, in die er gewählt worden war, zu entlassen, welchem Wunsche
jedoch von diesen des gefährlichen Beispiels wegen nicht nachge
geben wurde. So liess er sich von den Ereignissen mit fortschleppen.
Die Beschäftigung mit religiösen Angelegenheiten war stets in der
Familie Petipesky’s hervorragend, doch immer unheilvoll. Ein Peti
pesky fiel unter dem Beile des Henkers im Jahre lo47 in Folge des
damaligen Aufstandes gegen Ferdinand I., andere Glieder dieser Fa
milie zeigten sich stets als hervorragende Beschützer der Unität.
Dieser Wenzel Petipesky rettete sich nach der Schlacht am weissen
Berge vor gleicher Behandlung wie die übrigen Directoren wohl
einestheils dadurch, dass er katholisch wurde und anderntheils
48
Dr. Anton Gindel y.
dadurch, dass er auf seine zurückgezogene Haltung hinweisen
konnte.
Unter den übrigen Votanten des Ritterstandes ist besonders
Ernfried von Berbisdorf hervorzubeben. Er war der Vertraute des
Grafen Thurn und vertrat bei dieser Gelegenheit die Gesinnungen
seines abwesenden Patrons. Er empfahl zur besseren Vertheidigung
des Landes nach der auszusprechenden Absetzung Ferdinand's das
ganze Land zu den Waffen zu rufen, und jene Herren welche diesem
Rufe nicht Folge leisten würden, bei den Füssen an die Thore ihrer
Häuser aufzuhängen. — Bei Berbisdorf ist der Umstand von Wich
tigkeit, dass er der keine Güter besass, nicht blos in den stän
dischen Versammlungen erschien, sondern auch mitsprach. Bis auf
die Zeit Kaiser Rudolfs durfte kein Adeliger am Landtage er
scheinen , der nicht Eigenthümer eines in der Landtafel einge
tragenen Besitzes war. Aber schon bei dem Landtage von 1609, als
es sich um die Ertheilung des Majestätsbriefes handelte, waren viele
erschienen, denen diese Eigenschaft abging und trugen durch ihre
Zahl nicht wenig zur Einschüchterung der Gegner der Protestanten
bei. Seitdem verschwanden diese Herren wieder von den Landtagen,
bis sie im Jahre 1618 wieder herbeieilten und vornehmlich dasjenige
Element bildeten, welches die Gesetze wegen Steuererhebung,
Kriegsbereitschaft u. s. w. votiren half, während sie selbst keinen
rothen Heller zahlten. Gleichwohl wagten sie sich nicht so weit her
vor , um als Redner in den Versammlungen aufzutreten, und dass
Berbisdorf dies that, wurde besonders bemerkt. — Bei dem Fenster
sturze hatte er sich in Thurn’s Begleitung eingefunden, hatte des
Fabricius Hinab werfen veranlasst, war dann auf den Wall geeilt
und suchte von da die im Graben liegenden Statthalter zu erschiessen.
Nach der Schlacht am weissen Berge wurde er flüchtig und verlor
sich aus dem Gedächtnisse seiner Zeitgenossen.
Nachdem auf diese Weise der Herren- und Ritterstand völlig
eines Sinnes waren, übernahm es Herr Bohuchwal Berka den
Städten von dieser Einstimmigkeit Nachricht zu geben und sie zu
gleicher Kundgebung ihrer Gesinnung aufzufordern. Die Städte be-
riethen sich und trugen darauf dem Martin Früh wein, einem der
städtischen Directoren, auf, ihr Gutachten vorzutragen. Derselbe war
der Briiderunität angehörig und insofern ist es begreiflich, dass die
Meinung der Städte, durch den dogmatischen Canal der Uuität ge-
Beiträge zur Geschichte des dreissigjährigen Krieges.
49
leitet, einem Auszug aus der Bibel ähnlich sah. Die Städte, meinte der
Vertreter, wüssten aus der heiligen Schrift wie das Betragen der
Obrigkeit gegen Unterthanen und umgekehrt beschaffen sein solle.
Sei die Obrigkeit rechtlich und christlich, dann seien auch die Unter
thanen in Allem ihr zum Gehorsam verpflichtet. Sei sie aber tyran
nisch , dann entbinde Gott die Unterthanen durch die Aussprüche
der heiligen Schrift vom Gehorsam. Ob nun Ferdinand für einen
christlichen Herrn angesehen werden dürfe, das könne die ganze
Welt entscheiden. Weil also von Ferdinand keine Gnade zu erwarten
sei und die hohem Stände entschieden hätten, es sei an denselben
nicht mehr zu schreiben, sondern in einer Apologie die Gründe ihres
Entschlusses darzulegen, so trete auch der Stand der Städte der
Entscheidung der Herren und Ritter bei. Es werde aus der Apologie
klar werden, ob die Anschuldigung die man in Frankfurt gegen die
Böhmen aufbringe, als wollten sie keiner Obrigkeit gehorchen,
einige Begründung habe. Ferdinand habe sich selbst abgesetzt,
denn er habe nichts von dem erfüllt, was er zugesagt.
So lautete das Votum der Städte; auch sie ereilte nach der
Schlacht am weissen Berge gleich den adeligen Führern die stra
fende Hand Ferdinand's und man muss sagen, am härtesten. Diese
Strafe war vor allem die Ursache des Verfalles, in dem sich Böhmen
im 17. und 18. Jahrhunderte befand. Die Städte verloren nämlich
nicht nur ihre Privilegien, ja einige wurden sogar aus der Reihe der
königlichen gestrichen und als unterthänige in den Besitz von Privat
personen gegeben; sondern sie verloren, was noch viel härter war,
ihren Besitzstand. Um die Wichtigkeit dieses Vermögensverlustes
zu begreifen, muss man wissen, dass der gesammte Grundbesitz
Böhmens in nahezu gleichen Theilen unter die drei Stände: Herren,
Ritter und Städte, vertheilt war, und dass nun die letztem für die Zu
kunft der Mittel beraubt waren, wir wollen nicht sagen, sich weiter
zu entwickeln, aber doch die erreichteBliithe nicht völlig zu verlieren.
Mit dem Vermögen verlor sich in den Städten der rege Betrieb von
Handel und Gewerbe und die wissenschaftliche Bildung. Wir haben
Beweise genug, dass selbst in den unbedeutendsten Städten gelehrte
Meister dem Unterrichte der Jugend oblagen, wo später ein Verfall
sich kundgab, der unglaublich ist. Die härteste Bestrafung der
jenigen die in den Jahren 1618—1620 in den Städten das Regiment
führten, würde kaum in’s Gewicht fallen, denn sie hätte nur Einzelne
Sitzb. (1. phil.-hist. CI. XXXI. Bd. I. Hft. 4
^ () Dr. A n t o n G i 11 d e 1 y.
getroffen. Die Bestrafung der Communen als solclier traf den Bürger
stand bis iu’s Mark. Männer deren Treue sich gegen den Kaiser
in den schwierigsten Zeiten bewährt batte, wie der Oberstburggraf
Sternberg, Slawata u. a., erkannten das Unheilvolle dieser Massregel;
sie vermochten jedoch dieselbe nicht rückgängig zu machen. Ferdi
nand fühlte sich gewiss zu derselben nur aus der Ursache veran
lasst, weil er nicht anders die aufgelaufenen Kriegskosten zu decken
irn Stande war, und dass diese unbedingt bezahlt werden mussten,
ist klar. Es bleibt desshalb zu beklagen, dassFerdinand kein kriege
rischer Fürst war, um das Commando selbst fuhren zu können. Seine
Anwesenheit und seine Strenge hätten hingereicht, den Betrügereien
aller Art ein Ende zu machen, welche die Kosten verdoppelten. Der
Briefwechsel des Herzogs Maximilian von Baiern, des rechtschaffen
sten Fürsten seiner Zeit, bietet dafür Beweise die wir bei einer
andern Gelegenheit veröffentlichen werden.
Nachdem so alle Stände ihre Einwilligung zur Absetzung des
Königs gegeben hatten, verkündigte Bohuchwal Berka das Resultat
der Abstimmung und sprach seinen Wunsch aus, dass Gott das Be
ginnen segnen möge. Ein allgemeines Amen war die Antwort auf
seine Rede. Zu gleicher Zeit bemerkte er, der nächste Gegenstand
der Berathung müsse die Wahl eines neuen Königs sein, bezeichnete
auch seine Eigenschaften, so dass unschwer Friedrich von der Pfalz
als der Empfohlene erkannt werden konnte. — Dass Berka in diese
Stellung kam, die ihn als Haupt der Ferdinand feindlich gesinnten
Partei erscheinen lässt, kann als ein für ihn unglücklicher Zufall
angesehen werden. Denn als ein gebrechlicher Greis liebte er mehr
die Freuden der Tafel und die Musik als die Beschäftigung mit
der Politik, da er aber den Brüdern angehörte, so ward er durch
diese die jetzt allmächtig waren, in die politische Laufbahn hinein
gedrängt. Er büsste dies mit dem Verluste seiner Güter und mit
dem Exil; arm und verlassen endigte dieser Nachkomme eines
der edelsten Geschlechter Böhmens sein Leben als Flüchtling in
Hamburg.
So hatten die böhmischen Stände beschlossen für immer mit
dem Hause Habsburg zu brechen, es war nun dieser Beschluss den
in Prag weilenden Vertretern der Kronländer mitzutheilen. Zuerst
wurden die mährischen Deputirten in die Versammlung der Stände
eingeladen und ihnen von Ruppa verkündigt, dass die Böhmen ein-
Beiträge zur Geschichte des dreissigjährigeu Krieges.
51
stimmig die Absetzung Ferdinand’s beschlosssen hätten, und dass von
ihnen eine Erklärung in Betreff dieses Beschlusses erwartet werde.
Im Namen der Angesprochenen erwiederte der Oberstkämmerer von
Mähren, Wilhelm der ältere von Buppa, erschüttert von der Trag
weite des Mitgetheilten, worauf er doch vorbereitet sein musste, er
und seine Freunde könnten alsbald keine Antwort geben, denn es
handle sich um einen Beschluss, dem nichts Ähnliches aus der Ge
schichte wie aus der eigenen Erfahrung an die Seite gestellt werden
könnte. Auf dies verabschiedeten sich die Mährer und die Sitzung des
19. Augusts wurde geschlossen. — Trotzdem dass es eine bekannte
Sache war, was an diesem Tage verhandelt werden sollte, und
alle jene die zur Theilnahme an der Sitzung berechtigt gewesen,
dringend eingeladen worden waren, zu erscheinen, hatte sich doch
eine nicht unbedeutende Anzahl von Protestanten nicht eingefunden,
die durch Geburt und Reichthum hervorragend war, und die da
durch die Absetzung Ferdinand’s missbilligte. DasHaupt dieserOppo-
sition war Stephan Georg von Sternberg. Dieser Mann war im Jahre
1609 in den ersten Wochen des Landtages der wegen des Maje
stätsbriefes abgehalten wurde , das Haupt der lutherischen Partei.
Da er in dieser Stellung öfters einer den Brüdern feindseligen Stim
mung Ausdruck gab, entfernten ihn die Lutheraner welche mit der
Unität nicht brechen wollten , von der Leitung und stellten Andreas
Schlick an ihre Spitze. Sternberg war darüber nicht wenig erbit
tert und trat darauf allen Protestanten entgegen. Sein damaliges
Betragen zeigte zuerst von armseliger Beschränktheit und später
von verletzter Eitelkeit. Desshalb wurde er nicht weiter beachtet.
Jetzt aber war sein Betragen weit einflussreicher. Indem er sich
fern von dem Wege den die Directoi'en eingeschlagen hatten, hielt
und selbst die Gefahr nicht scheute, welche seine Freiheit und seine
Güter bedrohte, zeigte er, dass er in die Erfolge der ständischen
Unternehmung kein Vertrauen setze und hiedurch veranlasste er
sehr viele seinem Beispiele zu folgen. Um diesem Zerwürfnisse ein
Ende zu machen und der Heimath wie dem Auslande gegenüber das
Bild einer einigen Macht zu geben, machte Ruppa am folgenden Tage
(20. August) den Vorschlag, dass alle Protestanten zur unverzüg
lichen Betheiligung an der gegenwärtigen Versammlung einzuladen
seien. Sein Vorschlag wurde angenommen und an die Abwesenden
der Befehl erlassen, dass sie Angesichts desselben sich unbedingt
52
Dr. A u t o n Gindel y.
und augenblicklich auf den Weg nach Prag zu begeben hätten, um an
den Verhandlungen welche die Absetzung des Königs und die Wahl
eines neuen beträfen, Antheil zu nehmen.
Von Seite der Katholiken hatte selbstverständlich Niemand an
dieser Versammlung Antheil genommen; die Protestanten waren aber
nicht gewillt ihnen die Neutralität zuzuerkennen. Desshalb erging
unter gleichem Datum an die katholischen Herren ein Schreiben,
worin sie aufgefordert wurden binnen zwei Wochen ihre Zustimmung
oder Nichtzustimmung zu den Beschlüssen der gegenwärtigen Ver
sammlung schriftlich versehen mit ihrer Unterschrift und ihrem
Siegel einzusenden. Und damit ihnen kein Zweifel übrig bliebe,
welche Folgen die eine oder andere Entscldiessung für sie haben
würde, wurde ihnen bemerkt, dass die Stände wissen wollten, ob
sie sie als Freunde oder Feinde zu behandeln hätten. Die Neutra
lität wurde auf diese Weise zu einem Verbrechen gestempelt und
abgesehen von der gegenwärtigen Frage mit vollem Rechte, denn
Neutralität ist in dem Momente, wo es sich um das Vaterland han
delt, das grösste Verbrechen.
Zur Wahl eines neuen Königs konnte nicht eher geschritten
werden, bevor nicht die Gutachten der Kronländer bezüglich der
Absetzung eingegangen waren. Die Pause welche sohin in der stän
dischen Beratliung von selbst eintreten musste, wurde damit aus
gefüllt, dass die Absetzung des letzten Beamten, dessen Anstellung
von Matthias herrührte und der bis jetzt in seinem Amte belassen
worden, angeordnet wurde. Man darf nicht glauben, als ob die
Directoren gleich nach dem 23. Mai 1618 die Absetzung der obersten
Beamten beschlossen hätten. Im Gegentheile, es tagten die Statt
halter welche man nicht zum Fenster hinausgeworfen hatte, noch
wie früher im Schlosse und repräsentirten nach wie vor die Regie
rung Matthias’, freilich ohne jede Macht. Erst nach dem Tode des
Kaisers wurde die Absetzung des Oberstburggrafen und der übrigen
missliebigen Beamten beschlossen, so dass auch der Schein einer
bestehenden königlichen Autorität entfernt war. Nur Dionys Cernin
von Chudenic, der von Matthias zum Hauptmann des Prager Schlosses
ernannt worden war, hatte bis jetzt alle Stürme überstanden und
seinen Posten behalten. Es ist mit Grund anzunehmen, dass er, um
ihn zu erlangen, seiner Zeit Katholik geworden, als er aber nach
dem Fenstersturze sali, auf welche Seite sich die Wagschale neige,
Beitrüge zur Geschichte des dreissigjiihrigen Krieges.
53
so zögerte er keinen Augenblick in seiner Eigenschaft als Schloss
hauptmann den Ständen den Eid der Treue zu leisten. Zum früheren
Glauben kehrte er aber nicht zurück, und so fiel er nun der Con-
sequenz zum Opfer; denn die Stände hatten beschlossen, dass die
wichtigsten Ämter des Landes ausschliesslich mit Protestanten be
setzt sein sollten, und dahin rechnete man auch das Amt des Prager
Schlosshauptmanns.
Inzwischen liessen sich die mährischen Deputaten anmelden, und
wurden gleich mit aller Courtoisie durch sechs Mitglieder des Land
tags eingeführt. Wilhelm der ältere von Ruppa erklärte als ihr Vor
redner sich mit der Absetzung Ferdinand's einverstanden. Kaum war
den Mährern für dieses Eingehen in die Wünsche Böhmens gedankt
worden, so wurden die schlesischen Deputirten in die ständische
Versammlung eingeladen und ihnen das Votum Böhmens und Mäh
rens mitgetheilt. Die Schlesier forderten einen Tag Bedenkzeit; am
folgenden Tage (21. August) wieder in die Versammlung einge
lassen , erklärten sie ihren Anschluss an die Beschlüsse der zwei
Schwesterländer. Es blieben jetzt noch die beiden Lausitze um ihre
Meinung zu befragen; die Vertreter derselben, ebenfalls in Prag
weilend, wurden von den bisherigen Beschlüssen inKenntniss gesetzt
und gaben nach einer eintägigen Bedenkzeit ihre völlige Zustim
mung ab (22. August).
Als alle Kronländer ihre Meinung abgegeben hatten, war es an
Böhmen nach der Bestimmung der früher eingegangenen Bündnisse
das Resultat zu verkünden und dadurch der Absetzung Ferdinand’s
die volle gesetzliche Giltigkeit zu geben. Zu diesem Acte versam
melten sich bei den böhmischen Ständen die Vertreter der übrigen
Kronländer; unter den Schlesiern befand sich auch der Herzog von
Münsterberg , der als Nachkomme Georg’s von Podebrad gewisser-
massen den Böhmen die Zeit ihres siegreich durchgeführten Wahl
rechts ins Gedächtniss zurückrief. Wilhelm von Ruppa erklärte
feierlich, es sei von allen Kronländern einhellig der Beschluss
gefasst worden , Ferdinand abzusetzen. Zwei Gründe gäben hierin
den Ausschlag, derselbe sei erstens ungesetzlich gewählt und
gekrönt worden und habe zweitens den Bedingungen , unter denen
selbst diese ungesetzliche Wahl erfolgt sei, nicht entsprochen. —
Zur weiteren Durchführung dieser Gründe wurde ein Comite von
15 Personen gewählt, welches aus Vertretern aller Kronländer be-
54
Dr. Anton G i n d e I y.
stand und mit der Abfassung einer für die Öffentlichkeit berechneten
Rechtfertigungsschrift betraut wurde.
Die Wahl eines neuen Königs war der nächste Gegenstand
der in Angriff genommen werden musste. Auch jene welche auf der
Bahn so gefährlicher Entschlüsse mehr mitgezogen wurden, waren
vollständig mit diesem Schritte einverstanden, weil er ihnen die
einzige Aussicht eröffnete, dass in die Leitung des Krieges Einheit
kommen und die Steuern des Landes ordentlich beigetrieben und
zweckmässig verwendet werden würden. In den letzten Tagen waren
die haarsträubendsten Berichte aus dem Lager der böhmischen
Truppen eingelaufen; die Soldaten verweigerten den Generälen den
Gehorsam und es war eine solche Auflösung der Disciplin, hervor
gerufen durch die Unregelmässigkeit der Soldzahlung und die völlige
Untüchtigkeit der Anführer eingetreten, dass den Truppen Ferdinand’s
kaum ein Widerstand entgegengesetzt werden konnte. Wir ver
weilen nicht länger bei dieser Schilderung, weil wir das böhmische
Kriegswesen dieser Zeit anderswo erörtern werden; wir deuten auf
dasselbe nur hin, um erklärlich zu machen, wie alles stürmisch nach
der Wahl eines Königs hindrängte, um von ihm jene Erfolge sich
erringen zu lassen, zu denen die Nation nach den Ereignissen der
letzteren Zeit keine Kraft mehr in sich verspürte. Gebete in allen
Kirchen Prags wurden von den Directoren angeordnet, damit die
Wahl unter dem Beistände Gottes erfolge; zum Wahltag wurde der
26. August ausersehen.
Am Wahltage fand sich im Landtage eine grössere Anzahl der
Vertreter des Landes ein als je zuvor. Die Drohung der Directoren
hatte viele veranlasst vom Lande herbeizueilen, und von jenen die
zwar in Prag anwesend waren, allein die geselligen Vergnügungen
den ermüdenden Verhandlungen des Landtages vorzogen, waren alle
erschienen, weil die Directoren sie in ihren Wohnungen hatten auf
suchen und eigens citiren lassen. Ein kurzes Gebet leitete die Sitzung,
bei der nur die Böhmen anwesend waren, ein, und Bohuclnval
Berka, auch diesmal wie bei Ferdinand’s Absetzung der erste das
Wort ergreifend, forderte den anwesenden Feldmarschall Colonna
von Fels auf, seine Meinung zuerst abzugeben.
Fels, welcher in die Plane Ruppa’s und Thurn’s nie eingeweiht
war und demnach auch nicht wusste, wie dringend von diesen die
Königswahl betrieben wurde, und auch dem Plane der Erhebung
Beitrüge zur Resehielite des dreissigjährigen Krieges.
SS
Friedrich'« von der Pfalz entgegen wirkte, wünschte Zeit zu ge
winnen, indem er formelle Schwierigkeiten geltend machte und das
alte Wahlceremoniell beobachtet wissen wollte. Es sei stets üblich
gewesen, meinte er, dass man vor einer Königswahl in der Kirche
den Beistand Gottes angefleht habe. Dieser fromme Eifer wurde dem
Ruppa etwas unzeitig. Da er dieAbsicht merkte, beschwichtigte er die
Gewissensscrupel des Generals, indem er auf den Befehl der Direc-
toren hinwies, welcher in allen Kirchen Prags Gebete angeordnet
habe. Fels gab sich damit zufrieden, er hatte aber noch ein anderes
Mittel zur Verzögerung der Wahl in Bereitschaft. Er verlangte, dass
die Stände gesondert die Wahl in Angriff nehmen sollten, allein auch
gegen diese Theilung verwahrte sich Ruppa und hatte die Meinung
der Anwesenden für sich. Nun blieb Fels nichts übrig, als geradezu
den Antrag auf Vertagung der Wahl zu stellen, blos desshalb, damit
jene die am Lande weilten, noch rechtzeitig zu derselben ein-
treflen könnten. Dieser Antrag erzeugte nicht geringe Aufregung
und ein heftiger Wortwechsel entspann sich zwischen Fels und
seinen Gegnern.
Die Sitzung drohte ein stürmisches Ansehen zu bekommen, dess
halb erhob Berka seine Stimme, gebot Ruhe und beschloss die Um
frage zu stellen, ob die Wahl zu vertagen sei. Er richtete seine
Frage an Paul von Rican, der ohne einiges Bedenken sich gegen die
Vertagung aussprach. Ruppa, dem es nicht lieb sein konnte, dass
eine solche Frage einzeln an jedes Mitglied des Landtages gestellt
werde, stand auf und donnerte jeden Widerstand nieder, indem
er keine weitere Rücksicht zu üben beschloss. Mit einer Stimme,
die ebenso von seiner Aufregung wie von Hass zeugte, frug er, wer
es wagen dürfe unter dem Vorwände der Einhaltung alter Ge
bräuche die Wahl zu verzögern. Man möge wissen, dass das Land
am Rande des Abgrundes sich befinde und nicht länger einen Zu
stand ertragen könne, in dem seine Angelegenheiten dem Verderben
zueilten. Jetzt verlange Herr von Fels ausser andern Dingen, dass
die Schrift welche die Absetzung Ferdinand’s rechtfertige, vor der
Wahl abgefasst werde. Das seien Wünsche die nur unnützen Zeit
verlust im Gefolge hätten. An den Generälen sei es, wenn man sie
um ihre Meinung frage, dieselbe abzugeben; eine Entscheidung aber
über das Zeitgemässe einer Massregel käme ihnen nicht zu, da sie
nicht, so wie.die Directoren, einen Überblick über die allgemeine
Dr. Anton Gindel y.
56
Sachlage hätten; ihre Sache sei es, den Beschlüssen der Stände zu
gehorchen, — Diese Rede wirkte, denn als Berka weiter die Umfrage
stellen wollte, ob die Wahl zu vertragen sei oder nicht, sprachen
sich alle drei Stände dagegen aus. Da Ruppa sich so durch die
Beistimmung der Anwesenden gedeckt sah, entschloss er sich zu
einer noch stärkeren Invective gegen die bisherige Leitung des
Gemeinwesens und insbesondere gegen die Generäle. Er rief Gott
zum Zeugen an, dass die Dinge in dem gegenwärtigen Zustande
nicht mehr zu halten seien, dass man nicht wisse wie das Heer
zu zahlen, und dass wenn nicht ein kräftiger Entschluss gefasst
werde, er keinen Theil mehr an der Regierung haben wolle. Von
einer Ordnung sei jetzt keine Rede mehr, jeder wolle befehlen, Nie
mand gehorchen, wer früher aufstehe, wolle sich der Herrschaft be
mächtigen. Und sich an Berka bei diesen Worten wendend, forderte
er ihn als Director des Landtags auf von Niemanden mehr sich ein
Hinderniss legen zu lassen, sondern an die Sache zu gehen.
Berka wollte eben dieser Aufforderung genügen, als die Prager
auftraten und im Namen der übrigen Städte den Vorschlag thaten,
die Versammlung möge wenigstens, doch ohne sich vom Platze zu
entfernen, in einem Liede den heiligen Geist anrufen. Dies geschah
und plötzlich konnte das Volk welches in den Räumen und Höfen
der Burg wandelte, hören, wie die Stände zuerst ein böhmisches
dann ein deutsches Lied absangen. Noch ward ein Gehet verrichtet,
bei dem alle Anwesenden auf die Knie niederfielen.
Darauf stellte Berka an Fels neuerdings die Aufforderung , er
möge seine Meinung bezüglich der Wahl abgeben. Dieser, überzeugt
dass ihm kein Vorwand der Zögerung mehr übrig geblieben, wünschte
doch nicht der erste zu sprechen, es fehlte ihm der Muth hiezu. Er
entschuldigte sich, dass er nicht hinreichend in der böhmischen
Sprache bewandert sei, um in dieser so wichtigen Angelegenheit
sein Wort zuerst ertönen zu lassen; er bat ihm zu gestatten, dass
er zuletzt seine Stimme abgebe, er wolle dies dann nach seinem
besten Wissen und Gewissen thun. Seiner Bitte wurde jedoch nicht
nachgegeben und so sah er sich genöthigt sich offen für den Kur
fürsten von Sachsen zu erklären. Er forderte von einem künftigen
Könige Böhmens, dass er sich zur Augsburger Confession bekenne,
aber tolerant gegen jene sei, welche man Calviner zu nennen pflege,
und glaubte eben diese Eigenschaften in dem Kurfürsten von
Beiträge zur Geschichte des dreissigjährigen Krieges.
57
Sachsen gefunden zu haben , der sich ihm übrigens durch seine
Macht die den Böhmen die ausreichendste Unterstützung zu ver
schaffen im Stande wäre, empfahl.
Abgesehen davon , dass die Häupter der Directorialregierung
längst für Friedrich von der Pfalz sich entschieden hatten und so
nach die Empfehlung des Kurfürsten von Sachsen in vorhinein
fruchtlos war, so ist es doch wichtig zu wissen, warum die Böhmen
die offenbar passendere Verbindung verwarfen. Wir wissen keinen
andern Grund anzugeben, als das tief gehende Misstrauen welches
sich der Brüder gegen die Lutheraner bemächtigt, deren eifersüch
tige Ausbrüche sie selbst in der Zeit vom Jahre 1609—-1618 unab
lässig zu erdulden hatten. War selbst jetzt noch die Lage der
Unität eine bedrohte, wo ihre Häupter durch ihre Geschicklichkeit
sich der Leitung der öffentlichen Angelegenheiten bemächtigt hatten,
was war erst in späterer Zeit zu befürchten! Es war ein sonderbares
Verhältniss in Böhmen; die Lutheraner bildeten die compacte Masse
der Landesbewohner und hatten durch eigene Unfähigkeit die Brüder
eine Oberhand gewinnen lassen, welche diese jetzt die Wahl eines
calvinischen Prinzen anbahnen und gar durchsetzen Hess.
Nachdem Fels gesprochen und seiner Meinung sich noch einer
unter den Anwesenden angeschlossen hatte , ergriff Paul von Bican
das Wort und empfahl den Kurfürsten von der Pfalz. Er führte zu
seinen Gunsten Alles an was seitdem so oft angeführt worden und was
die Böhmen bald als eitle Hoffnung zu ihrem Schaden kennen lernten.
Der Kurfürst sei erst 23 Jahre alt und folglich in einem Alter, wo
er die böhmische Sprache lernen und den böhmischen Gebräuchen
sich accomrnodiren könne, seine Verbindungen erstrecken sich auf
die erlauchtesten Häupter der protestantischen Christenheit, den
König von England und den Prinzen Moriz von Oranien. Die Dienste
welche er bisher der böhmischen Sache geleistet hätte, seien mit
allem Dank anzuerkennen, ja er habe sogar eine Reiterschaar die
der Graf Solms gegen die Böhmen zu führen im Begriffe war, zer
sprengt. Seine Empfehlung, setzte Rican hinzu , werde auch von
dem abwesenden Director Wilhelm von Lobkowitz, den das Kranken
lager gefesselt halte, vollständig gebilligt.
Es war nun die Reihe an Ruppa sein Votum abzugeben und es
war dies keine leichte Aufgabe. Während des Jahres 1618 und
1619 hatte er mittelst des Fürsten von Anhalt mit aller Welt Ver-
Di*. Anton Gin d e I y.
58
bindungen angeknüpft und ehrgeizige Prinzen mit der Krone Böh
mens geködert, jetzt, wo er seinen längst gehegten Wünschen Aus
druck geben und sich für Kurpfalz entscheiden wollte, musste er
dies auf eine Art thun, dass sich nicht Groll der enttäuschten Prinzen
bemächtige. Namentlich war dies der Fall mit dem Herzog von
Savoyen, dem geradezu die Krone Böhmens angetragen worden und
bei dem es bis zu schriftlichen Verpflichtungen gekommen war und
nur die durchtriebene Schlauheit Karl Emanuers blickte am Ende den
Anschlag durch, der seine Cassen von den aufgehäuften Ducaten
geleert, seine Besitzungen aber nicht um eine Hule Landes vermehrt
hätte. Ruppa musste in Rücksicht auf diese Vorgänge erklären, dass
jeder Fürst, ob katholisch oder nicht, fähig sei den böhmischen
Thron zu besteigen, wofern von ihm Hilfe gegen den Gegner und
Gerechtigkeit im Innern zu erwarten sei. In der That erklärte er, er
habe durch inbrünstiges Gehet sich für diesen entscheidenden Augen
blick gestärkt, nach seiner innersten Überzeugung werde er ohne
Ansehen der Person, ohne Rücksicht auf eine zu erlangende Gunst,
ohne persönliche Neigung oder Abneigung, um vor dem Richterstuhle
Gottes später seine Meinung vertreten zu können, sprechen. Er pro-
testire desshalb feierlich, dass er keinen Fürsten der Christenheit,
wenn er jetzt einem derselben, ob Katholik, ob Lutheraner oder
Calvinist, seine Stimme gebe, damit beleidigen wolle, er rufe Gott
zum Zeugen an, dass er keinem Könige der da gewählt werden
würde, möge er katholisch, lutherisch oder calvinisch sein, seinen
Gehorsam verweigern werde. Vor allem nun müssten die Stände bei
der Wahl einen solchen Prinzen in's Auge fassen, der der Unord
nung welche sich im Lande eingeschlichen, ein Ende machen und
der Nation mit einer allzeit fertigen Hilfe thatsächlich unter die
Arme greifen könnte. Dieser Prinz müsse ferner die Garantie bieten,
keine von den Religionsparteien im Lande unterdrücken zu wollen,
damit unter diesen selbst Ruhe eintrete und einer den andern, weil
dieser bessere Mittel zu seiner Seligkeit zu besitzen wähne, nicht
anfeinde. Die nächste Berücksichtigung verdiene auch jener Prinz
welcher den Böhmen in ihrer bisher bedrängten Lage mit Geld und
Waffen ausgeholfen, der sich nicht von Räthen leiten lasse, welche,
dem Lande feindlich, über dessen Wohl und Wehe heimlich mit
fremden Mächten unterhandeln. Er wisse nun Niemand der besser
diesen Anforderungen entspreche, als den Kurfürsten von der Pfalz,
Beiträge zur Geschichte des dreissigjährigen Krieges.
59
welcher noch im rüstigsten Jagendalter, gelehrt, in vielen Sprachen
bewandert sei, tüchtige Rathgeber besitze und ohne deren Befra
gung nichts unternehme. Er liebe gute Gesetze und Einrichtungen
und werde Jedermanns Bedürfnissen gerecht; überall nehme er von
allem selbst Einsicht; in dem Gefecht, in welchem seine Truppen
die Reiter des Grafen Solms zerstreut hätten, sei er in Person zu
gegen gewesen. Er sei zudem das Haupt der Union, der einzigen
Schutzmauer der Christenheit. Wer habe bisher die Zuzüge spani
scher Schaaren nach Böhmen verhindert, wer den Grafen von Mans
feld mit seinen Truppen nach Böhmen gebracht, wer ihn besoldet,
wer die Kriegsbereitschaft Böhmens auf alle Weise befördert ? Alles
dies habe der Kurfürst von der Pfalz gethan. Habe er aber blos
Truppen und Geld den Böhmen gegeben, habe er ihnen nicht auch
mit Munition, mit Musketen, mit Blei und Lunten ausgeholfen, sei
er es nicht gewesen, der ihre Werbungen in Deutschland unter
stützt, habe er endlich nicht den Directoren selbst, wie dies den
selben bekannt, noch zu anderen Zwecken bedeutende Geldsummen
geschickt, und werde nicht in wenig Tagen eine andere bedeutende
Summe noch fällig? Wo ständen die böhmischen Angelegenheiten
nun ohne des Pfalzgrafen Hilfe; habe nicht Mansfeld Pilsen gebändigt
und dadurch Böhmen selbst zur Einigkeit geholfen? Man sehe übri
gens die Gemahlinn des Kurfürsten an; die reiche Tochter eines
Königs, sei sie bereit allen ihren Schmuck zum Pfände herzugeben,
wofern dies die Vertheidigung des Landes erheische. Die Könige von
England und Dänemark, der Kurfürst von Brandenburg seien die
Verbündeten der Pfalz, und der erste Krieger der Christenheit der
beredteste und erfahrenste Staatsmann, der Prinz von Oranien, gehöre
zu seinen Verwandten. Von England und. den Niederlanden sei die
ausgiebigste Hilfe zu erwarten und an dem Herzog von Savoyen, an
der Schweiz und an dem Fürsten von Anhalt werde man durch die
Wahl die treuesten Alliirten haben. Der Kurfürst von Sachsen
werde diese Wahl mit Vergnügen vernehmen und es sei nichts von
seiner Seite zu befurchten, ja er werde froh des Friedens geniessen,
während der Pfalzgraf eine schwere Arbeit auf sich nehme. Übrigens
möchten die Stände doch erwägen, ob man einen Fürsten wählen
könne, der einzelne Artikel der Conföderation cassiren wolle, ohne
noch die Regierung in die Hand genommen zu haben; die Stände
60
Pr. Anton G i n d el y.
würden wohl wissen, wer damit gemeint sei. Aus allen diesen Grün
den stimme er für den Kurfürsten von der Pfalz.
Auf diese Rede die einen tiefen Eindruck zu hinterlassen nicht
versäumen konnte, da sie vor dem Lande die lange und innige Ver
bindung mit der Pfalz zugab, ergriff Graf Albin Schlick das Wort.
Aus der Geschichte, sagte der Graf, habe er die Lehre ge
zogen, dass die Wahl der Könige auf eine doppelte Weise vor sich
gehen solle. Die eine sei die geistige, nämlich die Vorbereitung
durch Gebet, die andere die weltliche, und da gebe es mehrere
Arten, wie man eine Wahl anstellen könne, durch Zettelabgeben,
durch Übertragung des Befugnisses an wenige Personen u. s. w.
Wir deuten hier nur den Eingang der Rede Scldick’s in wenigen
Worten an, in der Wirklichkeit sprach sich derselbe sehr weitläufig
über die Wahlarten aus, und es fehlte wenig, so hätte der gute
Mann die Qualität des Papiers, das man zu Stimmzetteln zu benützen
pflegte, oder die Grösse der dabei gebrauchten Wahlurnen be
schrieben. Er sprach sich gegen die Wahl des Kurfürsten von der
Pfalz aus, denn es sei nicht zu erwarten, dass derselbe die Krone
annehmen, und ihm hiezu von der Union die Erlaubniss gegeben
würde. Auch liege es sehr im Bereiche der Möglichkeit, dass seine
Gemahlinn den englischen Thron erben und hiedurch der Pfalzgraf
König von England werden könnte; dies würde dann eine monströse
Regierung geben. Endlich, und hier traf der Redner allerdings den
richtigen Punct, sei es der Welt bekannt, welcher Zwiespalt in reli
giösen Angelegenheiten zwischen den Kurfürsten von der Pfalz und
von Sachsen bestünde und wie dieser trotz der guten Dienste vieler
deutscher Fürsten nicht habe beseitigt werden können; desshalb sei
zu befürchten , der Kurfürst von Sachsen würde die Wahl des Pfalz-
grafen mit Neid und Unwillen vernehmen. Wähle man dagegen den
ersteren, so wähle man einen Fürsten dessen Land an Böhmen
grenze , aber im guten Einvernehmen mit dem Hause Österreich
stehe und vielleicht zur friedlichen Ausgleichung des Zwistes ver
helfen könnte und dessen Schätze nach dem Urtheile Sachverstän
diger zum Unterhalte eines Heeres nicht ein sondern zehn Jahre
hinreichen würden.
WenzelBudowec sprach sich für den Pfalzgrafen aus und suchte
seines Vorredners Argumente lächerlich zu machen. Der Graf
Schlick, meinte er, ängstigt sieh mit zweiVorstellungen, ich erlaube
Beiträge zur Geschichte des dreissigjährigen Krieges.
61
mir ihm das Irrige derselben darzulegen. Nach seiner Ansicht soll
die Union gegen eine allfällige Wahl Friedrich’s sein. Wenn ich nun
die Bedeutung der Union erwäge, so finde ich, dass eine solche
nicht aus der Verbindung zweier Länder bestehen kann, sondern
sie muss weiter greifen, viele Länder umfassen, um stärker zu wer
den. So ist nicht zu bezweifeln , dass die Union, wofern eine Aus
dehnung bevorsteht, dafür dankbar sein wird. Zweitens behauptet
der Graf, dass der Kurfürst von Sachsen keine Feinde habe und
das österreichische Haus ihm nicht entgegen sei. Wenn er aber zum
König von Böhmen gewählt wird und die Wahl annimmt, so müsste
er schon dadurch dem Hause feind werden und unsere Partei ergreifen.
In ähnlicher Weise sprachen sich Peter von Schwamberg,
Heinrich und Michael Slawata, die Herren von Kolowrat aus, doch
zählte auch der Kurfürst von Sachsen noch einige Anhänger. Als
die Umfrage beim Herrenstand beendet war, zeigte es sich, dass
36 Mitglieder für den Pfalzgrafen und 6 für Sachsen gestimmt hatten.
Berka wollte eben die Meinungen des Herrenstandes zusammen
fassen und das Besultat derselben verkünden, als Colonna von Fels
wieder das Wort ergriff. Im Anfänge der Berathung wollte er, wie
wir gesehen, die Abstimmung nach den Ständen getrennt angestellt
wissen, weil er sich der Hoffnung hingab, zwei Stände für den Kur
fürsten von Sachsen zu gewinnen. Jetzt, wo ihn diese Hoffnung ver-
liess, verlangte er, dass die Abstimmung des Herrenstandes nicht für
sich allein geltend gemacht werde, sondern dass die Stimmen aller
Landtagsmitglieder gesammelt und die Majorität der Stimmenden
ohne Bücksieht auf den Stand entscheiden sollte. Buppa protestirte
dagegen und es war ihm nicht schwer, seiner Ansicht bei seinen
Standesgenossen Eingang zu verschaffen. Er zeigte, dass wofern man
des Fels Forderung nachgeben würde, aller Vorrang und Bedeutung
des Herrenstandes schwinden und die Herrschaft den Städten welche
die meisten Vertreter zählten, in die Hände gespielt würde. Für
die Wahl nach Ständen und nicht für den von Fels vorgeschlagenen
Modus gebe es Beispiele bei den früheren Königswahlen. Diese An
sicht unterstützte auch Albin Schlick und Fels fühlte so sehr seine
Übereilung, dass er sich entschuldigte, die Tragweite seines Antrags
nicht überlegt zu haben. Berka verkündigte darauf das Besultat der
Abstimmung des Herrenstandes und sprach sich bei dieser Gelegen
heit auch für die Wahl des Pfalzgrafen aus.
62
I)r. Anton Gindel y.
Es war nun an den Rittern ihre Meinung auszusprechen. Kapit
als der erste der Directoren dieses Standes richtete die Frage an
jeden einzeln, zuerst an die Directoren, dann an die (ihrigen. Anwe
send waren 111 Personen, 110 Personen gaben ihre Stimme dem
Pfalzgrafen und nur der einzige Friedrich von Bile sprach sich für
Sachsen aus.
Darauf trat der Bürgerstand zu einer ßerathung zusammen und
viel wurde über die Qualification beider zur Wahl vorgeschlagenen
Kurfürsten gesprochen. Bald jedoch war aller Sinn zu Gunsten des
Pfalzgrafen gelenkt, wozu wohl nicht wenig das Votum des Ritter
standes beigetragen haben mag und die Vertreter der Städte schickten
sich an einzeln ihre Stimme abzugeben. Voran die Prager, dann
die Kuttenberger, weiter die Königgrätzer, die Saatzer und wie die
alte Ordnung es mit sich brachte; alle Vertreter ohne eine einzige
Ausnahme sprachen sich für den Pfalzgrafen aus und Simon Susicky
verkündete dies Resultat den anwesenden höheren Ständen. So war
also Friedrich zum Könige gewählt, denn dieses an Einmüthigkeit
grenzende Resultat das bei einer Versammlung von etwa 300 Per
sonen nur sieben Stimmen der Gegenpartei übrig liess, weckte die
Vermuthung, dass die übrigen Kronländer die zur Wahl eingeladen
waren, in demselben Sinne stimmen würden. Mit einem Liede, ent
nommen dem Gesangbuche der Brüder, dankten die Anwesenden dem
Himmel; so zeigte sich auch in unscheinbarem Gewände der Sieg des
Bruderthums über das Lutherthum.
Es war schon spät Nachmittag geworden, dennoch wollten die
Böhmen noch an demselben Tage ihrer Wahl die Sanction durch die
verbündeten Länder geben lassen. Allein die schlesischen Deputaten
wünschten wegen vorgerückter Zeit die Entscheidung vertagt, und
so wurde die Sitzung aufgehoben.
Als sich am folgenden Tage (2*7. August) die Stände versam
melten, erschien Stephan von Sternberg, der mit allen seinen Ge
sinnungsgenossen durch jenes bedrohliche Schreiben vom 20. Au
gust zum augenblicklichen Erscheinen am Landtage citirt worden,
und entschuldigte sein früheres Nichterscheinen mit dem Umstande,
dass er um die Wiederzusammenkunft der Stände nicht gewusst,
und dass nur ein hinterlistiger Feind seinem Ausbleiben das Motiv
habe unterlegen können, als wolle er sich von den Ständen trennen.
Seine Entschuldigung, so gesucht sie auch war, wurde angenommen
Beiträge zur Geschichte des dreissigjührigen Krieges.
63
und dasselbe geschah bei anderen Personen die sich unter den
selben Verhältnissen einfanden. Berka stellte darauf den Antrag,
dass die Gesandten der verbündeten Länder, die schon in einem
Nebensaale harrten, eingeführt würden. Diesem Anträge wurde Folge
gegeben und man holte durch eine eigene Deputation zuerst die
Mährer, dann die Schlesier, dann die Lausitzer ab. Wilhelm von
Ruppa fasste in einer Rede noch einmal die Ereignisse zusammen,
die zur Absetzung Ferdinand’s geführt hatten, und berief sich auf
den Artikel der Conföderation, der da besagte, dass wenn die Wahl
eines Königs vorzunehmen sei, Böhmen einen tauglichen Fürsten den
übrigen Kronländern vorzuschlagen habe. Dies sei nun der Fall und
nach einer sorgfältigen Prüfung und völligen Übereinstimmung
schlage Böhmen den Kurfürsten Friedrich vor. Die Vertreter der
Kronländer entfernten sich nach dieser Mittheilung in die Seiten
gemächer, um den Vorschlag zu berathen. Nach etwa drei Viertel
stunden erschienen die Mährer wieder und erklärten, dass sie ver
möge der ihnen übertragenen Vollmacht der Wahl der Böhmen bei
stimmten und Friedrich von derPfalz als ihren Markgrafen annähmen.
Dessgleichen thaten nach ihnen die Schlesier und Lausitzer.
Als so die Wahl ein Ende hatte, verkündete der Präsident
der Directorialregierung das Resultat derselben, erklärte feierlich
Friedrich dieses Namens den Fünften Kurfürsten von der Pfalz als
König von Böhmen, und schloss mit der Prophezeiung, dass ein
neues Zeitalter beginnen und eine nova facies rerum ihren Anfang
nehmen werde. Es war dies am 27. August zwischen der 11. und 12.
Stunde des Vormittags. Nachdem die sämmtlichen Wähler knieend
das Te Deum laudamus und darauf den 83. Psalm nebst einem an
deren Liede ahgesungen hatten, wurde die Beendigung der Wahl
durch Kanonenschüsse dem Volke kundgegeben und noch an dem
selben Tage in allen Kirchen ein feierlicher Gottesdienst ge
halten.
Die sächsische Partei welche, wie wir gesehen, im Landtage
so schwach vertreten war, war auch dadurch gelähmt worden, dass
Andreas Schlick kurz vordem nach Dresden geschickt worden war,
um dem Kurfürsten die Krone anzutragen, ein Schritt der nur geschah
um dem Kurfürsten zu schmeicheln, weil man einer abschlägigen
Antwort gewiss sein konnte und weil man damit die Lutheraner
Böhmens beschwichtigen wollte. Der Geschichtschreiber Bellus, ein
64
Dr. A. Gind el y. Beiträge zur Geschichte des dreissigj. Krieges.
Zeitgenosse, der über die böhmische Bewegung berichtet, erzählt
des längeren wie der König von Dänemark und andere Prinzen in der
Wahlversammlung in Vorschlag gebracht worden, und welche Gründe
man zu ihren Gunsten angeführt habe. Uns steht dies Eine aus dem
Studium der böhmischen Quellen und der auswärtigen diploma
tischen Correspondenzen fest: Die Häupter der Bewegung haben
vom Anfang an den Kurfürsten von der Pfalz zu ihrem König aus
ersehen, und die Erfahrung lehrt, dass sie ihren Willen durchgesetzt
haben.
Zur Geschichte des Entsatzes von Hau-tan.
SITZUNG VOM 13. APRIL 1859.
Gelesen:
Zur Geschichte des Entsatzes von Han- tan.
Von dem w. M. Dr. Pfizmaicr.
Die Niederlage welche die Heere von Thsin (257 vor Chr.)
unter den Mauern des von ihnen belagerten Han-tan, der Hauptstadt
von Tschao, erlitten, war ein Ereigniss das einen Umschwung in den
Verhältnissen der chinesischen Staaten herbeizuführen geeignet schien.
Wenn gleichwohl die unabhängigen Staaten nur noch durch einen
Zeitraum von ungefähr dreissig Jahren ihr Dasein fristeten, so ist
dies keineswegs der Kraftlosigkeit dieser Reiche, auch nicht einem
Mangel an grossen und ausgezeichneten Männern, sondern einzig und
allein dem Umstande zuzuschreiben, dass man die Gefährlichkeit des
Gegners nicht allgemein und allseitig erkannte.
Die Rettung von Han-tan war nicht die Folge eines im Ange
sichte der Gefahr gefassten einmüthigen Reschlusses, sondern das
mühevolle Werk einiger weniger Männer welche die benachbarten
Reiche mit Ritten um Hilfe bestürmten, gewissermassen selbst zwan
gen. Prinz Wu-ki von Wei konnte sich nur durch List und Gewalt-
that in den Besitz eines Heeres setzen, mit dem er gegen den Willen
seines königlichen Gebieters zum Entsätze herbeieilte. Khaö-lie,
König von Tsu, liess sich früher durch Mao-sui, ein Mitglied der
Gesandtschaft des Landesherrn von Ping-yuen, persönlich bedrohen,
bis er sich zur Absendung eines Heeres entschloss. Noch zur Zeit
der Belagerung musste der eben in Tschao anwesende Lu-tschung-
lien, ein Eingeborner des Reiches Tsi, den König Hiao-tsching von
unüberlegten Schritten zurückhalten.
Noch auffallender ist es, dass kurze Zeit nach dem Entsätze der
König von Tschao sich mit Thsin verbünden wollte, ein Vorsatz, der
Sitzb- <1- phil.-hist. CI. XXXI. Bd. I. Hfl. 3
06
Dr. P f i z in n i e r
von dem Reiclisminisler von Yü mit Beharrlichkeit bekämpft, erst
nach längerer Berathung aufgegeben wurde. Das Ereigniss von Han-
tan konnte daher eben so wenig wie der zehn Jahre später (247 vor
Chr.) erfolgte Angriff der fünf Reiche die Lage der unabhängigen
Staaten für die Dauer verbessern.
Was den Gang der Belagerung und den zur Rettung der bedroh
ten Stadt unternommenen Feldzug betrifft, so fehlen hierüber in der
Geschichte der bezüglichen Staaten, selbst auch in den „Tafeln der
kämpfenden Reiche“ ‘), welche der Verfasser flüchtig durchgesehen,
die erwünschten Einzelnheiten. In den in dem Sse-ki enthaltenen
Nachrichten über die handelnden Personen jener Zeit finden sich
jedoch mehrere solcher Einzelnheiten, ausserdem auch sehr merk
würdige Aufklärungen über die Verhältnisse des Reiches Thsin, des
sen Verkehr mit den übrigen Staaten, so wie über die Mittel deren
es sich zur Ausführung seiner ehrgeizigen Entwürfe bediente.
Die Personen welche hei dem Entsätze von Han-tan eine her
vorragende Rolle spielten, sind, nebst dem Prinzen Wu-ki von Wei,
dessen Leben der Verfasser schon früher geliefert, die Lehensfürsten
von Ping-yuen und Tschün-schin, ferner der als Gast nach Tschao
gekommene Lu-tschung-lien. Als entschiedener Gegner von Thsin
zeigte sich nach dem Eutsatze von Han-tan auch der Reichsminister
von Yü. Indem der Verfasser das Wirken der hier genannten Männer
als einen Gegenstand, der zur Beleuchtung des grossen Ereignisses
das Meiste beizutragen im Stande ist, nach der Quelle des Sse-ki
rnittheilt, fand er es zugleich für gut, auch das Leben des Lehens
fürsten von Meng-tscliang, eines Mannes dem die Arglist von Thsin
vielfache Gefahren bereitete, voranzuschicken.
Der Landesherr von Meng-tscliang.
Der Landesherr von ^ Meng-tscliang hiess zu seinen
Lebzeiten [Jj Tien-wen, wobei Tien der Name des Geschlech
tes und zugleich derjenige der in Tsi herrschenden Königsfamilie,
Wen der Kindername. Dessen Vater war 5 ffl Tien-ying, Lan-
*) Dieses höchst schützbare Werk ist von den die „Novara“-Erdumseglung’s-Expedition
begleitenden Gelehrten für die k. k. Hofbibliothek zu Wien erworben worden.
Zur Geschieht** des Entsatzes von Han-tan.
t>7
desherr von Tsing-ko, der jüngste Sohn des Königs Wei
und der jüngere unrechtmässige Bruder des Königs Siuen von Tsi.
Tien-ying bekleidete seit den Zeiten des Königs Wei (dessen erstes
Regierungsjahr 37S vor Chr.) in Tsi Ämter und betheiligte sich
(333 vor Chr.) als Feldherr mit EL Tseu-ki, Landesherrn von
Tsching, und EL fj] Tien-ki an der dem Reiche Han gelei
steten Hilfe und dem Angriffe auf das Reich Wei.
Um diese Zeit waren der Landesherr von Tsching und Tien-ki,
die beide sich um die Gunst des Königs bewarben, Nebenbuhler
geworden. Tien-ki, hei dieser Gelegenheit durch seinen Gegner
überlistet, ward von Furcht erfüllt und suchte sich, um einen festen
Stützpunct zu erhalten, in den Besitz der Grenzstädte des Reiches
Tsi zu setzen. Da der Überfall misslang, flüchtete er (344 vor Chr.)
aus dem Lande. Unterdessen (343 vor Chr.) starb König Wei. König
Siuen, dessen Nachfolger, dem bekannt war, dass Tien-ki nur über
listet worden, rief diesen wieder zurück und ernannte ihn zu seinem
Feldherrn.
Indem hierauf (341 vor Chr.) der zurückberufene Tien-ki
sammt jp§[ ^ Siin-pin und Tien-ying an die Spitze des Heeres
gestellt wurden, schlugen diese drei Feldherren gemeinschaftlich
das Heer von Wei in Ma-ling, wobei Sehin, Thronfolger von Wei,
gefangen wurde und der feindliche Heerführer Pang-kiuen blieb.
Tien-ying begab sich noch (336 vor Chr.) als Gesandter nach
Han und Wei und bewirkte den Anschluss dieser Reiche an Tsi.
Zugleich bewerkstelligte er eine Zusammenkunft des Fürsten Tsehao
von Han und des Königs Hoei von Wei mit seinem Gebieter, dem
Könige Siuen von Tsi im Süden des Bezirkes ^ Tung-0t).
Bei dieser Gelegenheit beschworen die drei Herrscher einen gegen
seitigen Vertrag. Im nächsten Jahre (33S vor Chr.) ward eine beson
dere Zusammenkunft mit dem Könige von Wei in Kuen 2 ) be
werkstelligt. Der hier genannte König, gewöhnlich König Hoei von
Liang genannt, starb übrigens noch in demselben Jahre.
*) Der heutige gleichnamige District des Kreises Thai-ngan in Schan-tung.
-) Die spätere feste Stadt Kuen, das heutige Pö-tscheu in dem Kreise Tsao-tscheu,
Provinz Schan-tung.
III ■■■
ns
Dr. P f i z in r i e r
Als
(334 vor Chr.) der König von Tsi mit Siang, dem
neuen Könige von Wei, in Siü-tscheu <) eine Zusammen
kunft hatte, brachten diese beiden Herrscher die gegenseitige Aner
kennung ihrer Königswürde zu Wege, wobei namentlich der König
von Wei seinem Vater, dem Könige Hoei von Liang, den Königstitel
nachträglich verlieh. Als der König von Tsu, dessen Haus sich schon
lange im Besitze der Königswürde befand, diesen Vorgang erfuhr,
zürnte er über Tien-ying, dem er die Schuld davon zuschrieb. Tsi
hatte daher (333 vor Chr.) einen Angriff von Seite des Reiches Tsu
zu erdulden, welches dem Heere von Tsi auf dem Gebiete Siü-tscheu
eine Niederlage beibrachte. Zugleich bewirkte Tsu die Vertreibung
Tien-ying's aus Tsi. Als dieser jedoch einen Mann, Namens ~fj-
Tschang-tscheu an den Hof von Tsu entsandte, stand Wei, König von
Tsu, auf dessen Zureden von der Verfolgung ab.
Nachdem Tien-ying durch eilf Jahre in Tsi die Stelle eines
Reichsministers bekleidet, starb (324 vor Chr.) König Siang von
Tsi und hatte zum Nachfolger den durch seine gewagten Unterneh
mungen bekannten König Min. Der neue König belehnte (321 vor
- «1 * 1 -
Chr.) Tien-ying mit dem Gebiete Sie 3 ).
Tien-ying hatte im Ganzen gegen vierzig Söhne. Unter diesen
befand sich ein Sohn Namens Wen, dessen Mutter eine Neben-
gemahlinn niedrigen Ranges. Der Sohn Wen ward am fünften Tage des
fünften Monats geboren. Sein Vater hatte, in Übereinstimmung mit
dem Glauben seiner Zeit, vor diesem Tage eine solche Scheu, dass
er der Mutter befahl, dieses Kind nicht aufzuerziehen. Die Mutter zog
es dessenungeachtet auf und stellte diesen Sohn, nachdem er erwach
sen, mit Hilfe seiner Brüder dem Vater vor. Tien-ying zürnte hier
über und sprach zu der Mutter: Ich befahl dir, diesen Sohn zu ent
fernen. Warum wagtest du es, ihn am Leben zu erhalten?
Der Sohn Wen senkte das Haupt und fragte: Aus welchem
Grunde wolltest du, o Herr, nicht auferziehen den Sohn der geboren
im fünften Monat?
Tien-ying antwortete: Ein Sohn des fünften Monats ist, wenn
er erwachsen, gleichgestellt mit der Thüre des inneren Hauses. Er
wird seinen Eltern keinen Nutzen bringen.
1 ) Der heutige gleichnamige Kreis der Provinz Kiang-nan.
2 ) Der heutige District Theng, Kreis Yen-tscheu in Schan-tung.
■
Zur Geschichte des Entsatzes von Hnn-tan.
69
Der Sohn Wen fragte wieder: Empfängt der Mensch, wenn
er geboren, den Befehl von dem Himmel? Oder soll er den Befehl
empfangen von der Thiire des inneren Hauses?
Als Tien-ying stillschwieg, fuhr der Sohn Wen fort: Wenn er
den Befehl empfängt von dem Himmel, warum bist du dann, o Herr,
bekümmert? Empfängt er aber den Befehl von der Thüre des inneren
Hauses, so braucht man nur die Thüre des inneren Hauses zu
erhöhen; wer könnte ihn dann erreichen?
Tien-ying bemerkte hierauf: Die Wohlfahrt der Söhne ist
bestimmt für die Dauer.
Der Sohn Wen benützte sogleich die durch diese Worte gege
bene Blosse und stellte an seinen Vater folgende Fragen:
Wer sind die Söhne der Söhne?
Es sind die Enkel.
Wer sind die Enkel der Enkel?
Es sind die Urenkel.
Wer sind die Enkel der Urenkel?
Dies kann ich nicht wissen.
Der Sohn Wen entgegnete jetzt: Du, o Herr, wirst verwendet
für die Geschäfte und bist Beichsgehilfe in Tsi bis auf den heutigen
Tag unter drei Königen. Das Reich Tsi ist nicht grösser geworden,
doch der Reichthum deines besonderen Hauses, o Herr, ist gestiegen
auf zehntausend Pfund. Unter deinem Thore ist jedoch nicht ein
einziger weiser Mann zu sehen. Ich habe gehört: Wer einen Feld-
herrn sucht an dem Thore, hat gewiss einen Feldherrn. Wer einen
Reichsgehilfen sucht an dem Thore, hat gewiss einen Reichsgehilfen.
Jetzt tritt man, o Herr, an der Rückseite deines Palastes auf Stickwerk
und dünne Seide, aber die Staatsdiener erhalten nicht einmal kurze
und grobe Kleider. Die Diener und Nebengemahlinnen haben Über
fluss an Getreide und Fleisch, aber die Staatsdiener können sich nicht
sättigen an Weinhefen und Kleien. Indem du jetzt, o Herr, noch
Werth legst auf grossartiges Sammeln, auf das Aufspeichern des
Überflusses, welchen Menschen, die du nicht kennst, willst du es
hinterlassen,so dass du vergissest, wiedieHäuser desStaates täglich
kommen zu Schaden? Ich wage es, mich hierüber zu verwundern.
Tien-ying behandelte Tien-wen jetzt wie seinen Sohn und
ernannte ihn zum Vorsteher des Hauses, in welcher Eigenschaft er
die Gäste zu empfangen hatte. In der That erschienen jetzt täglich
70
Dr. Pfizmaier
Gäste in dein Hause Tien-ying’s, so dass der Naine Tien-wen’s bei
den Reichsfürsten berühmt wurde. Bald schickten auch die Fürsten
der Reiche Abgeordnete an den Fürsten von Sie, welche diesen
baten, dass er seinen Sohn Wen zum Nachfolger in seinem Lehen
einsetzen möge. Die Bitte wurde gewährt.
Nach dem Tode Tien-ying’s, der den posthumen Namen Landes
herr von Tsing-kö ') erhielt, ward Tien-wen wirklich zum Fürsten
von Sie erhoben. Derselbe heisst in der Geschichte Landesherr von
Meng-tschang.
Der Landesherr von Meng-tschang hatte seinen Wohnsitz in
der Stadt Sie und lud daselbst Gäste aus allen Ländern der Reichs
fürsten zu sich, in Folge dessen selbst die Flüchtlinge und Personen
welche sich eines Verbrechens schuldig gemacht hatten, bei ihm
einkehrten. Der Landesherr von Meng-tschang behandelte sie mit
Auszeichnung, indem er es sich zur Aufgabe stellte, die Gäste aus
allen Theilen der Welt auf seine Seite zu ziehen. Auf diese Weise
zählte dessen Haus mehrere tausend Gäste welche sämmtlich bei
ihm Unterhalt fanden. Dabei machte er keinen Unterschied des
Ranges und verkehrte mit allen auf gleichem Fusse. So oft er einen
Gast empfing, setzte er sich an seine Seite und sprach mit ihm,
während sich hinter einem Wandschirme immer ein Schreiber
befand, dessen Geschäft es war, Alles was der Gebieter mit dem Gaste
sprach, zu verzeichnen. Die Fragen des fürstlichen Wirthes bezogen
sich unter anderem auf die Verwandtschaften und den Wohnsitz
des Gastes. Nachdem der Gast sich entfernt, hatte der Landesherr
von Meng-tschang bereits einen Abgeordneten entsandt, der sich
nach den Verwandten des Gastes erkundigte und sie beschenkte.
Einmal ereignete es sich, dass der Landesherr von Meng-tschang
einen Gast empfangen hatte. Bei der Abendmahlzeit die man diesem
vorsetzte, verdeckte einer der Anwesenden das zur Beleuchtung
dienende und durch ein Feuer unterhaltene Licht. Der Gast nahm
es übel, dass ihm dabei ein Gericht nicht der Ordnung gemäss vor
gesetzt wurde, er liess die Speisen stehen, entschuldigte sich und
ging fort. Der Landesherr von Meng-tschang, der dieses bemerkte,
Das Todesjahr Tien-ying’s wird nicht angegeben. Der Grabhügel dieses Fürsten
befindet sich in der alten Stadt Sie, in dem südöslliehen Winkel der Stadt
mauern. Sie gehörle früher zu dem Deiche Lu.
71
Zur Geschichte des Entsatzes von ihm-tan.
sliiml auf, nahm die Schüssel mit eigenen Händen und überreichte
seinem Gaste das Gericht, worüber dieser so beschämt war, dass er
sich den Hals abschnitt. In Folge dieses Vorfalles schlossen sich
viele Staatsdiener dem Landesherrn von Meng-tschang an und er
klärten sich als dessen Anhänger. Dieser hatte die Gewohnheit,
keinen unter seinen Gästen zu bevorzugen, indem er Alle auf aus
gezeichnete Weise behandelte. Aus diesem Grunde war auch jeder
Einzelne der Meinung, dass der Landesherr von Meng-tschang ihn
zu seinem vertrauten Freunde machen werde.
König Tschao von Thsin, zu dem der Ruf von den Verstandes
gaben dieses Mannes gedrungen war, schickte zuerst deu Landes-
herrn von King-yang <) als Geisel nach Tsi und stellte hierauf das
Ansuchen, dass ihn der Landesherr von Meng-tschang besuchen
möge. Dieser war Willens, sich nach Thsin zu begeben, seine Gäste
jedoch wollten ihn nicht ahreisen sehen. Da ihre Vorstellungen
nichts halfen, wandte sich Su-tai, ein öfters erwähnter politischer
Redner der damals in Tsi anwesend war, an ihn mit folgenden
Worten: Als ich heute Morgens von aussen hereinkam, hörte ich die
Bildsäule eines Menschen aus Holz mit der Bildsäule eines Menschen
aus Thon reden. Die Bildsäule des Menschen aus Holz sprach: Wenn
der Himmel einmal regnen sollte, wirst du zusammenfallen. — Die
Bildsäule des Menschen aus Thon sprach: Ich bin entstanden aus
Erde. Wenn ich Zusammenfalle, so kehre ich zur Erde zurück.
Wenn aber der Himmel regnet und das Wasser in Strömen dich
fortführt, so weiss ich nicht wo du anhalten wirst. — Jetzt ist
Thsin ein Reich der Tiger und Wölfe, doch du, o Herr, willst dich
dahin auf die Reise begeben. Wenn es sich treffen sollte, dass du
nicht mehr zurückkehren kannst, wirst du dann, o Herr, so viel
erreichen, dass du nicht verlacht wirst von der Bildsäule des
Menschen aus Thon? — Auf diese Vorstellung stand Tien-wen für
den Augenblick von seiner Reise ab.
Später, im fünf und zwanzigsten Jahre des Königs Min von Tsi
(299 vor Chr.), ward der bisher in Tsi als Geisel lebende Landesherr
von King-yang nach Thsin zurückgeschickt, hei welcher Gelegen
heit auch der Landesherr von Meng-tschang im Aufträge des Königs
i) Der Landesherr von King-yang war, wie in dern Lehen des Fürsten von Jang
angegeben worden, der leibliche Bruder des Königs Tschao von Th^in.
72
Pr. P fi z m a i e r
nach Thsin reiste. Daselbst angenommen, ward er von dem König
Tsehao von Thsin sogleich zum Reiehsgehilfen ernannt, eine Stelle
die in eben diesem Jahre Leu-hoan, ein Eingeborner des Reiches
Tsehao, und Wei-jen, Fürst von Jang, einer nach dem anderen
bekleideten. Tien-wen hatte jedoch bald Ursache den getha-
nen Schritt und die Annahme des genannten höchsten Amtes in
dem fremden Staate zu bereuen. Es fanden sich nämlich Leute
welche ihn bei dem Könige von Thsin mit folgenden Worten ver
dächtigten : Tien-wen ist verständig und gehört auch zu einer
Seitenlinie von Tsi. Da er jetzt Reichsgehilfe in Thsin, wird er
gewiss Tsi voransetzen, Thsin aber nachsetzen. Das Reich Thsin
ist in Gefahr!
König Tsehao machte hierauf die Ernennung rückgängig und
Hess den Landesherrn von Meng-tschang in ein Gefängniss setzen,
wobei er mit nichts Geringerem umging, als seinen Gast aus Tsi
hinrichten zu lassen. Der Landesherr von Meng-tschang, in Gefahr
des Todes schwebend, sandte einige Leute seines Gefolges an die
begünstigte Nebengemahlinn des Königs von Thsin, indem er dieselbe
bitten Hess, sich für seine Refreiung zu verwenden. Die Neben-
gemahlinn erklärte sich hiezu geneigt, machte jedoch ihren Reistand
von einer Redingung abhängig, indem sie sprach: Ich wünsche den
weissen Fuchspelz *) des Landesherrn zu erhalten. — Mit dem hier
zur Sprache gebrachten Gegenstände hatte es folgende Bewandtniss:
Der Landesherr von Meng-tschang hatte sich wirklich im Besitze
eines solchen Pelzes befunden, dessen Werth auf tausend Pfund
geschätzt ward und der in keinem Lande der Welt seines Gleichen
hatte. Als Tien-wen nach Thsin gekommen, machte er diesen Pelz
dem König Tsehao zum Geschenk, er hatte daher über keinen zweiten
zu verfügen.
In dieser Verlegenheit wandte er sich nach einander an alle
Gäste die ihm nach Thsin gefolgt waren, aber keiner wusste Rath.
4 ) Über diesen Gegenstand wird angegeben, dass derselbe ein aus den weissen
Haaren des Fuchses verfertigter Pelz und dass, um ihn herzustellen, die Haare
von dem oberen Rippenfell des Fuchses gesammelt werden. Ein solcher Pelz sei
durch Schönheit ausgezeichnet und schwer zu erlangen. An der Richtigkeit dieser
Erklärung ist jedoch zu zweifeln, da die Annahme, dass ein solcher Pelz das Fell
eines weissen Fuchses, sehr nahe liegt.
Zur Geschichte des Entsatzes von Han-(an.
73
Ein Mann der bisher unter den Gästen den letzten Platz eingenommen
und der es verstand, als Hund verkleidet Diebstähle auszuführen,
erklärte endlich, dass er den weissen Fuchspelz herbeischaffen
werde. Er schlich sich demgemäss in der Nacht als Hund verkleidet
in die Vorrathskammer des königlichen Palastes von Thsin und rauhte
den früher dem Könige von Thsin geschenkten weissen Fuchspelz.
Nachdem man diesen erhalten, überreichte man ihn der begünstigten
Nebengemahlinn des Königs. Dieselbe sprach hierauf in der Angelegen
heit Tien-wen’s mit dem Könige, der auch den Fremdling aus dem
Gefängniss entliess.
Der Landesherr von Meng-tschang, in Freiheit gesetzt, eilte
sogleich aus der Hauptstadt, verleugnete die Stufe seines Lehens,
wechselte mehrmals den Namen und trachtete über die Grenze zu
kommen. Auf diese Weise erreichte er um Mitternacht den an der
östlichen Grenze gelegenen Pass Han-ko.
Wie vorauszusehen war, reute es später den König von Thsin,
dass er den Landesherrn von Meng-tschang seiner Haft entlassen.
Er gab Befehl den Fremdling aufzusuchen, erhielt jedoch die Nach
richt, dass derselbe bereits fortgezogen. Sogleich entsandte der
König Leute, welche dem Flüchtigen mit unterlegten Pferden nach
setzen mussten.
Unterdessen war Tien-wen an dem Passe angekommen. An
diesem Orte war es Sitte, die Angehörigen fremder Länder erst
nach dem letzten Krähen des Hahnes austreten zu lassen. Tien-wen
fürchtete mit Grund, dass Verfolger ankommen und ihn zurück
bringen möchten. Bei dieser Verlegenheit wusste ein anderer Gast
der ebenfalls einen der letzten Plätze eingenommen hatte, Rath zu
schaffen. Derselbe verstand es nämlich, das Krähen des Hahnes
nachzuahmen und machte von dieser Kunst den angemessenen Ge
brauch. Sobald man an dem Passe gehört, dass der Hahn vollständig
gekräht, liess man die Fremdlinge über die Grenze ziehen. Tien-wen
und die Seinigen hatten kaum Zeit, jenseits der Grenze einige Speise
zu sich zu nehmen, als auch schon die Verfolger an dem Passe an
kamen. Es war jedoch zu spät; der Landesherr von Meng-tschang
hatte die Grenzen von Thsin überschritten und kehrte hierauf nach
seiner Heimath zurück.
Was die beiden oben genannten Männer betrifft, so hatten zu
der Zeit, als der Landesherr von Meng-tschang dieselben unter die
74
I)r. I* 1' i t. m a i e r
Zahl seinei- Gäsle aufnahm, alle übrigen Gäste sich ihrer geschämt.
Seit der Zeit jedoch, als dieser Fürst in Thsin sein Leben wagte und
die beiden Männer ihn der Gefahr entrissen, zeigten sich alle Gäste
gegen dieselben unterwürfig.
Auf der Rückreise berührte Tien-wen das Reich Tschao, wo
selbst er von dem Landesherrn von Ping-yuen, Prinzen von Tschao,
als Gast aufgenommen wurde. Sein Aufenthalt in diesem Lande gab
jedoch zu Gewalttätigkeiten Anlass, die, weil in einem fremden
Reiche verübt, doppelt auffallend erscheinen. Die Bewohner von
Tschao , bis zu denen der Ruf des Fürsten von Sie gedrungen war,
zogen nämlich hinaus um ihn zu sehen. Als man aber den Fremdling
erblickte, brach das ganze Volk in ein Gelächter aus und rief: Früher
glaubten wir immer, dass der Fürst von Sie ein Mann von grosser,
stattlicher Gestalt. Jetzt, da wir ihn sehen, ist er nur ein winziges
Männchen! — Der Landesherr von Meng-tschang gerieth über diese
Worte in Zorn, während die ihn begleitenden Gäste von den Wagen
stiegen, über das Volk herfielen und einige hundert Menschen er
schlugen. Hiermit nicht zufrieden, zerstörten sie noch einen ganzen
Bezirk.
König Min von Tsi schrieb den geringen Erfolg seiner Unter
nehmungen dem Umstande zu, dass er Tien-wen in die Fremde
geschickt. Als dieser jetzt zurückkehrte, ernannte ihn daher der
König (298 vor Chr.) zum Reichsgehilfen von Tsi und übertrug ihm
die Geschäfte der Regierung.
Den neuen Reichsgehilfen verdross es, das Thsin, wie in früheren
Jahren, jetzt wieder mit dem Plane umging, durch Tsi zu Gunsten
der Reiche Han und Wei das Reich Tsu angreifen zu lassen. Er
bewirkte daher einen Umschwung der Dinge, in Folge dessen er im
Bunde mit den Reichen Han und Wei diesmal das Reich Thsin
angriff. Die Macht der drei Verbündeten drang hierbei bis zu dem
Passe Hari-kö, woselbst ein Lager aufgeschlagen wurde, während
man von dem Lande der westlichen Tscheu Lebensmittel für die
Krieger entlehnte.
Da das Land des Himmelssohnes durch diese Vorgänge ge
fährdet wurde, wandte sieh Su-tai, der schon früher genannte poli
tische Redner, zu Gunsten des westlichen Tscheu an den Fürsten
von Sie mit folgenden Worten: Du, o Herr, hast mit der Streitmacht
von Tsi zu Gunsten der Reiche Han und Wei überfallen Tsu. Im
1
Zur Geschichte des Entsatzes von Han-tan. 7* 1)
neunten Jahre >) hast du erobert, was nordwärts von Yuen 2 ) und
Sehe s}, und dadurch erstarken gemacht Han und Wei. Jetzt über
fällt man wieder Thsin, um diese zu vergrüssern. Wenn Han und
Wei im Süden keinen Kummer haben wegen Tsu, im Westen keine
Besorgniss wegen Thsin, so ist das Reich Tsi in Gefahr. Han und
Wei werden gewiss geringschätzen Tsi und Ehrfurcht haben vor
Thsin. Ich halte dies für dich, o Herr, gefährlich. Du, o Herr, musst
heissen unsere niedrigen Städte sich fest verbinden mit Thsin, und
du, o Herr, brauchst keinen Angriff zu machen. Du brauchst auch
nicht zu entlehnen Lebensmittel für die Krieger. Du, o Herr, brauchst
nur herabzublicken auf Ilan-kö und keinen Angriff zu machen. Du
heissest unsere niedrigen Städte durch die Neigung deiner Seele
sagen zu Tschao 4 ), König von Thsin: Der Fürst von Sie wird ge
wiss nicht zertrümmern Thsin, um erstarken zu machen Han und
Wei. Indem er Thsin angreift, will er, dass der König den König
von Tsu heisse lostrennen die östlichen Reiche 5 ), damit sie einver
leiht werden Tsi, und dass Thsin austreten lasse den König Hoai
von Tsu °), damit zu Stande komme der Friede. — Du, o Herr,
wirst dadurch heissen unsere niedrigen Städte anerkennen die Gnade
von Thsin. Thsin erfährt nicht die Zertrümmerung und die östlichen
Reiche trennen sich von selbst los. Thsin wird dies gewiss wollen.
Wenn der König von Tsu austreten kann, wird er dankbar sein gegen
Tsi. Wenn Tsi gewinnt die östlichen Reiche, wird es vermehren
*) Thsin, Han, Wei und Tsi hatten im vierzehnten Jahre des Königs i\an von Tscheu
(301 vor Ohr.) das Reich Tsu angegriffen, zu welcher Zeit Tien-wen in Tsi noch
keine Stelle bekleidete.
m Y ueh ist der heutige Kreis Nan-yang in Ho-nan.
3 ) Sehe ist der heutige gleichnamige District des Kreises Nan-yang in Ho-nan.
Von beiden hier genannten Eroberungen wird in der Geschichte der bezüglichen
Häuser keine Erwähnung gethan.
4 ) Hier und in dem Folgenden wird, so wie an vielen anderen Orten der Geschichte,
redenden Personen der posthume Naine noch lebender Herrscher in den Mund
gelegt. Es ist nicht zu glauben , dass die Geschichtschreiber dies aus Versehen,
sondern vielmehr, dass sie es der Deutlichkeit willen gethan haben.
5 ) Die im Osten von Tsu gelegenen Reiche Tsai, Tschin, Tsching und andere, welche
durch diese Macht erobert worden waren.
6 ) König Hoai von Tsu war um diese Zeit in Thsin , wohin er sich in Folge einer
Einladung des Königs begeben hatte, zurückgehalten worden.
I
76
Dp. P f i 7. m a i er
seine Macht, und für Sie l ) ist die Geschiechtsalter hindurch nichts
zu besorgen. Wird Thsin nicht bedeutend geschwächt, und bleibt es
im Westen der drei Reiche von Tsin, so werden die drei Reiche
von Tsin gewiss Werth legen auf Tsi.
Der Fürst von Sie schenkte diesen Worten Reifall. Er hiess die
Reiche Han und Wei dem Reiche Thsin ihre Glückwünsche dar-
bringen und bewirkte, dass die drei Reiche von ihrem Angriff ab
standen. Ausserdem entlehnte er noch von dem westlichen Tscheu
keine Lebensmittel für seine Krieger. Indem Tien-wen diese Verfü
gungen traf, wollte er sogleich dem in Thsin zurückgehaltenen König
Hoai von Tsu die Freiheit verschaffen. Thsin Hess jedoch den König
nicht mehr fortziehen, der bald nachher (296 vor Chr.) in dem
fremden Lande starb.
Während Tien-wen in Tsi Reichsgehilfe war, hatte er einen
Hausgenossen, Namens -J- Wei-tse, der für seinen Gebieter
die Abgaben von den Städten einzubringen hatte. Derselbe war zu
einer gewissen Zeit, in Geschäften seines Amtes abgeschickt, bereits
dreimal zurückgekehrt, ohne auch nur eine einzige Lieferung einzu
bringen. Von Tien-wen desswegen befragt, antwortete er: Es gibt
einen weisen Mann. Ich vermass mich, es zu entlehnen und es ihm
zu geben, desswegen brachte ich die Lieferung nicht ein. — Der
Gebieter war hierüber ungehalten und versetzte Wei-tse in den
Ruhestand.
Einige Jahre später suchten mehrere Personen den Landesherrn
von Meng-tschang bei dem König Min zu verdächtigen, indem sie
voraussagten, dass derselbe eine Empörung erregen werde. Als
hierauf (294 vor Chr.) ein Grosser, Namens W ffl Tien-kiä
den König von Tsi mit Waffengewalt bedrohte, schöpfte dieser gegen
Tien-wen Verdacht. Der Reichsgehilfe fand es indessen für gut,
sich durch die Flucht aus dem Lande jeder Verantwortung zu ent
ziehen. Als dies der weise Mann dem Wei-tse das Getreide ge
schenkt, erfuhr, übersandte er dem König einen Brief, worin er ver
sicherte, dass der Fürst von Sie nicht der Urheber der Empörung
A ) Das früher genannte Lehen des Landesherrn von Meng-tschang.
2 ) Diese Begebenheit wird auch in der Geschichte des Reiches Tsi nur einfach
erwähnt, ohne dass darüber Einzelnheiten mitgetheilt werden.
Zur Geschichte des Entsatzes von Man-tan.
77
sei und zugleich bat, zur Bekräftigung dessen einen Eid, bei dem
das Blut seines eigenen Leibes vergössen würde, ablegen zu dürfen.
Hierauf schnitt er sich, um die Unschuld des Fürsten von Sie dar-
zuthun, vor dem Thore des königlichen Palastes den Hals ab. König
Min gerieth hierüber in Schrecken und ordnete unverzüglich eine
Untersuchung an, durch welche sich herausstellte, dass der Reichs
gehilfe wirklich nicht an Abfall gedacht habe. Der König berief
hierauf Tien-wen zurück. Dieser entschuldigte sich jedoch wegen
Kränklichkeit und begab sich nach seiner Lehenstadt Sie, um daselbst
seine alten Tage zuzubringen, womit sich der König einverstanden
erklärte.
Dem Fürsten von Sie sollte indessen die erwünschte Buhe noch
lange nicht zu Theil werden, da er durch die Verhältnisse zur
Thätigkeit genöthigt ward. Der Zusammenhang der hierauf bezüg
lichen Ereignisse ist übrigens schwer zu errathen, da über dieselben
in den bisher zugänglichen Quellen nichts zu finden und selbst über
einflussreiche Männer nur in den aufbewahrten Reden und Briefen
flüchtige Andeutungen enthalten sind. Aus denselben geht so viel
mit Gewissheit hervor, dass um diese Zeit zwei Männer, Namens
Jj^ JjE] Tscheu-tsui und ^ 701, Thsin-fe, in Tsi nach einander
Ministerstellen bekleideten.
Nach dem Rücktritte Tien-wen’s ward jjj|| |Sj Diii-li, ein
geflüchteter Feldherr des Reiches Thsin 1 ), zum Reichsgehilfen von
Tsi ernannt. Dieser Mann bemühte sich, den Einfluss des in Tsi an
wesenden politischen Redners Su-tai zu schwächen. Der Letztere
fand sich daher bewogen, dem in Zurückgezogenheit lebenden Landes
herrn von Meng-tschang folgenden Rath zu ertheilen: Tscheu-tsui
wird in Tsi mit der grössten Auszeichnung behandelt; aber der
König von Tsi vertrieb ihn und hörte auf den Rath Thsin-fe’s. Indem
man Liü-li zum Reichsgehilfen ernannte, wollte man Thsin an sich
ziehen. Sind Tsi und Thsin vereinigt, so sind Thsin-fe und Liü-li
wichtige Personen. Wenn sie verwendet werden von Tsi und Thsin,
werden sie dich, o Herr, geringschätzen. Du, o Herr, musst eilends
) Über diesen Mann konnte ebenfaMs nichts anderes aufgefunden werden, als dass
die Regierung von Thsin ihn hinrichten lassen wollte, und dass er sich desswegen
78
Dr. P f i l in a i e r
die Waffen kehren nach Norden, schnellen Schrittes dich begeben
nach Tsehao und Frieden stiften zwischen Thsin und Wei. Du nimmst
zu dir Tscheu-tsui, behandelst ihn mit Auszeichnung und kehrst in
dessen zurück. Der König von Tsi schenkt dir Zutrauen und wird
auch nicht geschehen lassen Veränderungen in der Welt. Hat Tsi
keine Gemeinschaft mit Thsin, so wird die Welt sich schaaren um
Tsi, Thsin-fe wird gewiss entfliehen, und wer wird dann besser sein
Reich regieren, als der König von Tsi?
Der Landesherr von Meng-tschang befolgte diesen Rath, was
jedoch für den ersten Augenblick keine andere Wirkung hatte, als
dass der Reichsgehilfe Liü-li ihn mit scheelen Blicken betrachtete
und ihm nachstellte. Tien-wen, um sich selbst besorgt, schrieb
daher an Wei-jen, Fürsten von Jang, den damaligen Reichsgehilfen
von Thsin, folgenden Brief:
Ich habe erfahren, dass Thsin mit Hilfe Liü-li’s an sich ziehen
will Tsi. Tsi ist das mächtigste Reich der Welt; du wirst dann
gewiss geringgeschätzt. Wenn Tsi und Thsin einander aufnehmen
und herniederblicken auf die drei Reiche von Tsin, wird Liü-li gewiss
in sich vereinen die Stellen der Reichsgehilfen. Auf diese Weise
hättest du verkehrt mit Tsi, um Liü-li zu einen Mann von Wichtig
keit zu machen. Wenn Tsi verschont bleibt von den Waffen der
Welt, wird es dich als seinen ärgsten Feind betrachten *). Du musst
ermahnen den König von Thsin, dass er Tsi angreife. Wird Tsi zer
trümmert, so werde ich bitten, dass du belehnt werdest mit den
Eroberungen. Wird Tsi zertrümmert, so fürchtet Thsin die Macht:
von Tsin. Thsin wird dich für einen wichtigen Mann halten und auf
nehmen Tsin. Die Reiche von Tsin werden fallen lassen Tsi und
fürchten Thsin. Tsin wird dich für einen wichtigen Mann halten und
aufnelimen Thsin. Auf diese W r eise zertrümmerst du Tsi und erwirbst
dir Verdienste. Du nimmst unter die Arme Tsin und bringst es zu
Wichtigkeit. Auf diese Weise zertrümmerst du Tsi, sicherst deine
Lehen, während Thsin und Tsin sich vereinigen und dich für einen
wichtigen Mann halten. Wird aber Tsi nicht zertrümmert, so wird
Liü-li wieder verwendet und du geräthst gewiss in grosse Ver
legenheit.
1 ) Dieses, weil die Regierung“ von Thsin, der Wei-jen als Reichsg;ehilfe Vorstand,
den Reichsgehilfen Liü-li hinrichten Lassen wollte.
Zur Geschichte des Entsatzes von llan-tan.
79
In Folge dieses Schreibens hatte der Fürst von Jang eine Unter
redung mit dem König Tschao von Thsin, der das Reich Tsi angreifen
liess, worauf Liü-li aus dem Lande floh.
Tsi erweiterte dessen ungeachtet seine Grenzen nach allen
Seiten, und der Stolz des Königs Min wurde, besonders nach der
(286 vor Chr.) durch ihn bewerkstelligten Vernichtung des Reiches
Sung, immer unerträglicher. Namentlich trachtete er jetzt, den
Fürsten von Sie aus dem Lande zu entfernen, der sich diesmal, um
seine Sicherheit besorgt, in das Reich Wei begab. Daselbst ward
er von Tschao, König von Wei, zum Reichsgehilfen ernannt und
bewirkte als solcher ein Bündniss mit dem Reiche Thsin.
Unterdessen war Tsi, das Vaterland Tien-wen's, von schwerem
Unglück heimgesucht worden. Fünf Reiche, durch den Stolz des
Königs Min beleidigt, vereinigten sich (284 vor Chr.) gegen Tsi,
schlugen dessen Heere, eroberten die Hauptstadt und nöthigten den
König zur Flucht, der in Khiii, einer noch in seinem Besitze verblie
benen Stadt, den Tod fand. Als später, durch mehrere glückliche
Umstände begünstigt, das Reich Tsi sich von seinen Feinden be
freite 0 und König Siang, der Solm des getödteten Herrschers, zur
Regierung gelangte, setzte sich der Fürst von Sie in seinem Lehen
als unabhängiger Reichsfürst fest. König Siang von Tsi, der erst
vor Kurzem in den Besitz des wiedereroberten Reiches gelangt war,
hatte Ehrfurcht vor dem Fürsten von Sie und trachtete, sich mit ihm
in ein gutes Einverständniss zu setzen, indem er ihm wieder seine
Freundschaft zuwandte. Der Fürst von Sie starb im ungestörten
Besitze seines von ihm zur Selbstständigkeit erhobenen Lehens und
erhielt den posthumen Namen: Landesherr von Meng-tschang 2 ).
Nach dem Tode Tien-wen’s stritten dessen Söhne um den Besitz des
Landes, worauf die Reiche Tsi und Wei die Stadt Sie ihrer Unab
hängigkeit beraubten. Das Lehen wurde eingezogen und das Haus
Meng-tschang hatte keine Nachkommen.
Die folgende Erzählung aus dem Leben des Landesherrn von
Meng-tschang ist geeignet, über manche Einrichtungen in den
A ) Von diesem Überfall und der endlichen Rettung des Reiches Tsi ist das Nähere in
dem Aufsatze: „Die Feldherren des Reiches Tschao“, und zwar in dem Leben des
Feldherrn Lo-I sammt dem Anhänge zu demselben, erzählt worden.
Das Todesjahr Tien-wen’s wird nicht angegeben. Meng-tschang hiess ein Stadt-
theil innerhalb der Mauern von Sie.
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Di*. P f i z in a i e r
Lehenstädten und das Verhältnis dev Gäste Aufschluss zu geben.
Ein gewisser j||| 'jFung-hoan, der sich selbst einen wandern
den Staatsdiener nennt und eine Art Abenteurer gewesen zu sein
scheint, hatte von der Gastfreundschaft des Landesherrn von Meng-
tschang gehört und stellte sich diesem, mit einfachen hänfenen
Schuhen bekleidet, vor. Der Fürst von Sie empfing ihn mit den
Worten: Du, o Meister, kommst aus einer fernen Gegend, mich zu
beschämen. Wodurch wirst du mich belehren?
Fung-hoan erwiederte: Ich habe gehört, dass du, o Herr, ein
Freund der Staatsdiener. Da ich arm bin, wendete ich mich, o Herr,
an dich.
Der Fürst Hess seinem Gaste eine der Wohnungen welche nach
einer gewissen Zeit wieder mit einer andern gewechselt zu werden
pflegten, anweisen. Nach zehn Tagen fragte der Gebieter den Auf
seher der zu wechselnden Wohnungen, was der Gast thue. Der Auf
seher sprach: Der Meister Fung ist sehr arm. Er besitzt nichts als
ein Schwert, und bei diesem knüpft er noch an den Griff statt des
Wehrgehänges eine Schnur aus Riedgras. Er schlägt auf sein Schwert
und singt:
Mit langer Klinge bin ich eingekehrt,
Zu essen hab’ ich keine Fische.
Der Landesherr von Meng-tschang Hess seinen Gast in ein soge
nanntes „Haus der Beglückung“ übersiedeln und ihm Fische zur
Speise vorsetzen. Nach fünf Tagen fragte er wieder den Aufseher
der zu wechselnden Wohnungen und erhielt zur Antwort: Der Gast
schlägt wieder auf das Schwert und singt:
Mit langer Klinge bin ich eingekehrt,
Zum Fahren hab’ ich keinen Wagen.
Der Gebieter Hess jetzt seinen Gast in ein sogenanntes „Haus
des Ersatzes“ übersiedeln und für ihn, so oft er das Haus verliess,
einen Wagen bereit halten. Nach fünf Tagen fragte er nochmals
den Aufseher. Dieser antwortete: Der Meister hat auch ferner das
Schwert geschlagen und gesungen:
Mit langer Klinge bin ich eingekehrt,
Kein Haus ist hier, das mir zu eigen.
Der Landesherr von Meng-tschang war von dieser Nachricht
nicht sehr angenehm berührt, und Fung-hoan verweilte, ohne ein
Wort zu reden, über ein Jahr in der ihm angewiesenen Wohnung.
Zur Geschichte des Entsatzes von Han-tan.
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Der Fürst war um diese Zeit Reichsgehilfe von Tsi und war mit
dem Gebiete Sie, welches zehntausend Wohnhäuser des Volkes um
fasste, belehnt. Die Gäste für deren Unterhalt er sorgte, waren
jedoch dreitausend an der Zahl, und die Abgaben welche er von
den Städten bezog, reichten für den Bedarf der Gäste nicht hin. Er
entsandte daher Leute welche aus der Stadt Sie Geld herbeisehaffen
sollten. Es verging über ein Jahr ohne dass etwas eingebracht
worden wäre, da viele von den Personen denen der Fürst Geld
geliehen, die Summen nicht zurückzahlen konnten. Der Augenblick
war nahe, wo den Gästen der zu ihrem Unterhalte nothwendige An-
theil nicht mehr verabfolgt werden konnte. Den Fürsten schmerzte
dieses, und er fragte seine Umgebung, wen man wohl nach Sie
schicken könne, um daselbst die Schulden von den Bewohnern ein
zutreiben.
Der Aufseher der zu wechselnden Wohnungen sprach hierauf:
Der Gast in dem Hause des Ersatzes, der Gebieter Fung ist durch
Gestalt und Gesichtszüge sehr ausgezeichnet. Unter den Ältesten
gibt es keinen Anderen. Seine Vorzüge und Fähigkeiten eignen ihn
zu einem Manne, den man heissen kann die Schulden eintreiben.
Der Landesherr von Meng-tschang liess jetzt Fung-hoan ein-
treten und trug ihm die Bitte mit folgenden Worten vor: Meine
Gäste wissen nicht, dass ich ein Unwürdiger. Die mich beglücken
und herniederblicken auf mich, sind mehr als dreitausend Menschen.
Die Abgaben meiner Städte reichen nicht hin, um meinen Gästen
ihren Antheil zu bieten. Desswegen liess ich kommen das ausge
liehene Geld aus Sie. Aber aus Sie ist in einem Jahre nichts einge-
kommen. Das Volk weigert sich und gibt mir nicht die geliehenen
Gelder. Jetzt fürchte ich, dass der Unterhalt für die Gäste nicht
werde gereicht werden. Ich wünsche, dass du, o Meister, die
Schulden eintreibest.
Fung-hoan willigte ein und begab sich auf die Reise. In Sie
angekommen, berief er alle diejenigen zu sich, welche von dem
Landesherrn von Meng-tschang Geld erhalten hatten, wobei es sich
zeigte, dass die ausgeliehenen Summen sich auf hunderttausend Pfund
Kupfermünzen beliefen. Hierauf liess er eine Menge Weines bereiten,
kaufte fette Rinder und berief neuerdings sowohl diejenigen welche
die ihnen geliehene Summe zurückzahlen konnten, als auch die
jenigen welche dies nicht im Stande waren. Als beide Classen von
Sitzlt. d. phil.-hist. CI. XXXI. Bil. I. Hft. 6
■I
fl
V
§2 Dr. P f i 7. m a i e r
Schuldnern erschienen, nahm er von einem jeden derselben die
■Schuldverschreibungen hervor und legte sie neben einander. Er
bestimmte ihnen dann wieder einen Tag der Zusammenkunft, an
welchem er die Rinder schlachten und den Wein aufstellen Hess. Als
Alle sich des Weines freuten, nahm er wieder die Schuldverschrei
bungen hervor und legte sie wie früher neben einander. Hierauf
bestimmte er denjenigen welche ihre Schuld bezahlen konnten, eine
Frist. Die Schuldverschreibungen derjenigen jedoch welche arm
und zu zahlen unfähig waren, verbrannte er. Hierbei sprach er: In
dem der Fürst von Sie euch das Geld lieh, wollte er, dass das Volk,
welches keines besitzt, seinen Beschäftigungen obliege. Die Ursache,
warum er es zurückbegehrt, ist, weil er nichts hat, das er seinen
Gästen darreichen könnte. Er liiess mich, denjenigen welche reich
sind und es geben können, eine Frist bestimmen. Die aber arm sind,
deren Schuldverschreibungen soll ich verbrennen und davon ab
stehen. Er gibt euch vollauf zu essen und zu trinken. Da ihr einen
solchen Gebieter habt, wie könnt ihr ihm wohl untreu werden?
Bei diesen Worten erhoben sich alle Anwesenden von ihren
Sitzen und verbeugten sich zweimal.
Als jedoch der Landesherr von Merig-tschang erfuhr, dass
Fung-hoan die. Schuldverschreibungen verbrannt, ward er sehr un
gehalten und liess seinen Bevollmächtigten durch einen Abgesandten
zurückrufen. Als Fung-hoan erschien, sprach der Gebieter zu ihm:
Ich sorge für den Unterhalt von dreitausend Gästen. Desswegen lieh
ich Geld auf Zinsen in Sie. Der Städte die mir verliehen worden,
sind wenige, aber das Volk erhielt ziemlich viel. Da sie mir nicht zur
rechten Zeit das Geld gaben, so war zu fürchten, dass für den Unter
halt der Gäste nicht genug vorhanden. Desswegen bat ich dich,
o Meister, das Geld zu fordern und einzusammeln. Ich habe gehört,
dass du, o Meister, sobald du Geld erhalten, sogleich in grosser
Menge herbeischaffen liessest Rinder und Wein und die Schuldver
schreibungen verbranntest. Warum geschah dieses?
Fung-hoan erwiederte: Wenn ich nicht in grosser Menge her-
beigesehafft hätte Rinder und Wein, so wäre ich nicht im Stande
gewesen, Alle zu versammeln. Ich hätte auch kein Mittel gehabt zu
erfahren, welche von ihnen Überfluss haben, und welche Mangel.
Denjenigen die Überfluss haben, bestimmte ich eine Frist. Was
diejenigen betrifft, die Mangel haben, so hätte ich sie bewachen
I
Zur Geschichte des Entsatzes von Han-tan.
83
können und das Geld einfordevn durch zehn Jahre, die Zinsen wären
immer gewachsen. Hätte ich sie gedrängt, so wären sie entflohen.
Desswegen stand ich selbst davon ab. Wenn ich sie gedrängt hätte,
so wäre mir durchaus keine Gelegenheit geboten worden zu Beloh
nungen. Die Höheren hätten geglaubt, dass du, o Herr, habsüchtig
und kein Freund der Staatsdiener und des Volkes. Die Niederen
hätten sich losgesagt von den Höheren und wären gekommen in den
Ruf der Wortbrüchigkeit. Hierdurch hättest du nicht ermuntert Staats
diener und Volk, und Glanz gebracht über deinen Namen, o Herr.
Ich verbrannte die unnützen Schuldverschreibungen, die vergeblich
auf eine Schuld lauteten , ich warf bei Seite die leeren Rechnungen,
durch welche nichts zu gewinnen. Ich hiess das Volk von Sie sich
befreunden mit dir, o Herr, und Glanz bringen über deinen guten
Namen, o Herr. Was hast du, o Herr, dabei zu argwöhnen?
Nachdem der Landesherr von Meng-tschang diese Gründe
gehört, schlug er freudig in die Hände und dankte Fung-hoan.
Der König von Tsi war durch die Verluste die er damals durch
Angriffe von Seite der Reiche Tiisin und Tsu erlitt, ausser Fas
sung gebracht worden. Er glaubte, dass der Fürst von Sie, stolz auf
seinen Ruf, sich zum Gebieter aufwerfen und die Macht in Tsi aus
schliesslich in Besitz nehmen werde. Durch diese Gründe bewogen,
setzte er seinen Reichsminister ab. Als die Gäste des Landesherrn
von Meng-tschang sahen, dass ihr Beschützer abgesetzt worden, ver-
liessen sie sämmtlich dessen Haus.
Unter diesen Umständen sprach Fung-hoan zu dem Fürsten:
Wenn man mir einen Wagen leiht, damit ich eiritreten kann in Thsin,
werde ich bewirken, dass du, o Herr, von Wichtigkeit bist für das
Reich und dass man erweitert das Gebiet der Städte die dir ver
liehen. Ist es mir erlaubt?
Der Landesherr von Meng-tschang Hess einen Wagen bespan
nen , versah seinen Gast mit den Geschenken welche er bei seinem
Besuche darzubringen hatte, und Hess ihn die Reise antreten.
In Thsin angekommen, sprach Fung-hoan zu dem König dieses
Reiches: Unter den wandernden Staatsdienern der Welt, die be
stiegen den Vordertheil des Wagens, banden den Brustriemen und
im Westen einträten in Thsin, war keiner der nicht erstarken machen
wollte Thsin und schwächen Tsi. Unter denen die bestiegen den
Vordertheil des Wagens, banden den Brustriemen und im Osten
0*
84
Dr. P f i l m a i e r
eintraten in Tsi, war keiner der nicht erstarken machen wollte Tsi
und schwächen Thsin. Dies sind Reiche, von denen das eine der
Hahn, das andere die Henne. So lange die Kraft beider sich nicht
das Gleichgewicht hält, ist das eine der Hahn. Dasjenige welches
der Hahn, wird erobern die Welt.
Der König von Thsin stellte sich auf die Knie und fragte den
Fremdling: Auf welche Weise lässt sich bewirken, dass Thsin keine
Henne, und dass dieses auch leicht möglich?
Fung-hoan sprach: Weisst du auch, o König, dass Tsi ahgesetzt
hat den Fürsten von Sie?
Der König erwiederte: Ich habe davon gehört.
Fung-hoan fuhr fort: Derjenige der bewirkt, dass Tsi ein
Reich von Wichtigkeit in der Welt, ist der Fürst von Sie. Jetzt hat
der König von Tsi ihn abgesetzt. Das Herz des Fürsten ist voll Groll,
und er kehrt gewiss den Rücken dem Reiche Tsi. Wenn er den
Rücken kehrt dem Reiche Tsi und eintritt in Thsin, so wird er auch
die Neigungen des Reiches Tsi, das Wesen der Angelegenheiten der
Menschen insgesammt übertragen nach Thsin. Das Reich Tsi lässt
sich dann gewinnen: wie sollte es noch auf geradem Wege der Hahn
werden? Mögest du, o Herr, schleunigst schicken einen Gesandten
der in dem Wagen führt Geschenke, und den Fürsten von Sie ab
holen lassen, ohne Zeit zu verlieren. Wenn Tsi es merken und wieder
anstellen sollte den Fürsten von Sie, so kann man nicht wissen,
welches Reich der Hahn sein wird, welches die Henne.
Der König von Thsin fand an diesen Worten grosses Wohl
gefallen. Er entsandte zehn Wagen und tausend Pfund Goldes, in
der Absicht, den Landesherrn von Meng-tschang abholen zu lassen.
Fung-hoan nahm indessen Abschied, begab sich früher auf die
Reise und gelangte nach Tsi. Daselbst sprach er zu dem Könige
dieses Reiches: Unter den wandernden Staatsdienern der Welt,
welche bestiegen den Vordertheil des Wagens, banden den Brust-
riemen und im Osten eintraten in Tsi, war keiner der nicht erstarken
machen wollte Tsi und schwächen Thsin. Unter denen die bestiegen
den Vordertheil des Wagens, banden den Brustriemen und im
Westen eintraten in Thsin, war keiner der nicht erstarken machen
wollte Thsin und schwächen Tsi. Thsin und Tsi sind zwei Reiche,
von denen das eine der Hahn, das andere die Henne. Ist Thsin stark,
so ist Tsi schwach. Dies ist der Fall, weil die Stärke von beiden
Zur Geschichte des Entsatzes von Han-tan.
85
nicht gleich jener des Hahnes. Jetzt vermass ich mich, in Erfahrung
zu bringen, dass Thsin abgeschickt hat einen Gesandten mit zehn
Wagen, die führen gelbes Gold tausend Pfund, um entgegen zu
ziehen dem Fürsten von Sie. Wendet sich der Fürst von Sie nicht
nach Westen, so ist hieran nichts gelegen. Tritt er aber ein im
Westen und wird Reichsgehilfe von Thsin, so wird die Welt sich
ihm zukehren. Thsin wird der Hahn, und Tsi wird die Henne. Wird
Tsi die Henne, so schweben Lin-tlise und Tse-me 1 ) in Gefahr.
Warum kommst du, o König, nicht zuvor Thsin, setzest, so lange der
Gesandte noch nicht angekommen, den Fürsten von Sie wieder ein und
verleihst ihm eine grössere Menge von Städten, indem du dich bei ihm
entschuldigest ? Der Fürst von Sie wird gewiss Freude haben und
sie annehmen. Ist Thsin auch ein mächtiges Reich, wie könnte es
seine Ritte stellen an denjenigen der Reichsgehilfe unter den Men
schen, und ihm entgegen ziehen ? Hierdurch würde man zu nichte
machen die Anschläge von Thsin und vereiteln sein Streben nach
Oberherrlichkeit und Gewalt.
Der König von Tsi, der diesen Rath gut fand, schickte Leute
an die Grenze des Reiches mit dem Aufträge, auf die Ankunft des
Gesandten von Thsin zu warten. Als daher der fremde Gesandte mit
seinen Wagen die Grenze überschritt, kehrten die Leute eiligst
nach Tsi zurück und meldeten es dem Könige. Dieser berief den
Landesherrn von Meng-tschang zu sich und übertrug ihm von Neuem
die Stelle eines Reichsgehilfen. Ebenso gab er ihm das Gebiet der
früher von ihm besessenen Städte zurück, indem er das Lehen noch um
tausend Häuser des Volkes vermehrte. Als der Gesandte von Thsin
erfuhr, dass der Fürst von Sie von Neuem zum Reichsgehilfen ernannt
worden , liess er seine Wagen umkehren und zog aus dem Lande.
Als der Landesherr von Meng-tschang durch den König von
Tsi abgesetzt worden, hatten alle Gäste dessen Haus verlassen. Nach
dem ihn der König zu sich berufen und wieder eingesetzt hatte,
fuhr Fung-hoan dem Reichsgehilfen in einem Wagen entgegen,
während von den übrigen Gästen noch Niemand angekommen war.
Der Fürst seufzte und sprach zu seinem Gaste: Ich war immer ein
Freund meiner Gäste. Indem ich meine Gäste empfing, wagte ich
*) Lin-thse war die Hauptstadt des Reiches Tsi, Tse-me eine sehr feste Stadt im
äussersten Osten desselben.
Dr. P f i 7. in a i e r
nicht, es an etwas fehlen zu lassen. Die Gäste, für deren Unterhalt
ich sorgte, waren mehr als dreitausend an der Zahl. Dieses ist dir t
bekannt, o Meister. Als die Gäste sahen, dass ich eines Tages ab
gesetzt wurde, kehrten mir alle den Rücken und entfernten sich.
Keiner blickte zurück auf mich. Jetzt da ich durch deine Hilfe,
o Meister, wieder eingesetzt wurde in mein Amt, welches Antlitz,
welche Augen müssten da die Gäste haben, wenn sie mich wieder
sollten besuchen? Wenn sie mich wieder besuchen sollten, spucke
ich ihnen in's Gesicht und überhäufe sie mit grosser Schande.
Fung-hoan band jetzt die Zügel an den Wagen, stieg aus und
verbeugte sich vor dem Landesherrn von Meng-tschang , was als
ein Zeichen galt, dass er eine Entschuldigung Vorbringen wolle. Der
Landesherr von Meng-tschang stieg ebenfalls aus dem Wagen , ge
sellte sich zu seinem Gaste und fragte ihn: Willst du dich, o Meister,
wegen der Gäste entschuldigen?
Fung-hoan erwiederte: Ich entschuldige mich nicht wegen der
Gäste, sondern weil du, o Herr, in deinen Worten gefehlt. Die
Dinge haben etwas wohin sie gewiss gelangen. Die Umstände haben
etwas was ihre nothwendige Folge. Ist dies, o Herr, dir bekannt?
Der Landesherr von Meng-tschang erwiederte: In meiner Un
wissenheit ist mir nicht bekannt, was du meinst.
Fung-hoan fuhr fort: Das Leben hat gewiss den Tod. Dies
ist etwas wohin die Dinge gewiss gelangen. Die Reichen und Vor
nehmen haben um sich viele Staatsdiener, die Armen und Niedrigen
haben wenig Freunde. Dies ist etwas was von den Umständen die
nothwendige Folge. Bist du denn, o Herr, der Einzige der nicht
sieht, wie die Menschen des Morgens auf den Markt eilen? Wenn
die Sonne aufgegangen, stemmen sie die Schultern und wetteifern
miteinander, einzutreten beiden Thoren. Wenn die Sonne unter
gegangen, gehen sie vorüber an dem Markte den sie besucht
am Morgen, und lassen schlenkern die Arme, ohne umzublicken. Es
geschieht nicht, weil sie am Morgen liehen und am Abend hassen
dasjenige wo sie sich versammelt. Die Dinge werden vergessen
mitten in ihrem Bestehen. Indem jetzt, da du, o Herr, der Würde
verlustig geworden, alle Gäste sich von dir entfernten, hast du keinen
hinreichenden Grund, einen Groll zu fassen gegen die Staatsdiener
und einfach abzuschneiden den Weg der Gäste. Ich wünsche, dass
du, o Herr, den Gästen begegnest wie früher.
Zur Geschichte des Entsatzes von Hnn-tan.
87
Der Landesherr von Meng - tschang verbeugte sich hierauf
zweimal und sprach: Ich richte mich in Ehrfurcht nach deinen Be
fehlen. Ich habe gehört, o Meister, deine Worte; sollte ich es
wagen, die Lehre nicht anzuuehmen?
Als der Verfasser des Sse-ki zu seiner Zeit das alte Sie
besuchte, fand er, dass man daselbst in den Häusern und auf den
Strassen viele gemeinschädliche und gefährliche Menschen zu Dienst
leistungen verwendete, was in den übrigen Gegenden der früheren
Reiche Tseu und Lu nicht der Fall war. Als er um die Ursache
fragte, antwortete man ihm, dass der Landesherr von Meng-tsehang
einst alle Verbrecher der Welt in Schutz genommen und ihnen in
Sie eine Freistätte gewährt habe. Dieselben hätten sich auf die be
deutende Zahl von sechzig tausend Familien belaufen. Hieraus wird
geschlossen, dass die nachfolgenden Geschlechtsalter, indem sie die
Gastfreundschaft des Landesherrn von Meng-tschang fortsetzten,
selbst sich etwas zu Gute thaten, dass der Ruf dieser Tugend bei
demselben kein eitler gewesen.
Her Landesherr von Ping-yuen.
Der Landesherr von
Sching von Tschao , ein Sohn des Königs Wu - ling und Bruder des
Königs Hoei-wen von Tschao. Derselbe ward gleich beim Regierungs
antritte des letztgenannten Königs (298 vor Chr.) zum Reichs
gehilfen ernannt und mit dem Gebiete Ping-yuen 1 ) belehnt. Bis zum
Regierungsantritte des nächstfolgenden Königs Hiao-tsching (265 vor
Chr.) legte er dreimal seine Stelle als Reichsgehilfe nieder und
ward eben so oft wieder zu derselben erhoben. Prinz Sching war
in der früheren Zeit seines Lebens durch seine Verstandesgaben so
wie durch die Gastfreundschaft bekannt, in der er mit seinen Zeit
genossen, den Landesherren von Meng - tschang , Sin - ling und
Tschün-schin wetteiferte. Auch in seinem Hause betrug die Zahl der
angekommenen Gäste oft mehrere Tausende.
Als ein Beweis, wie viel dem Landesherrn von Ping-yuen daran
gelegen war, eine möglichst grosse Menge von Gästen um sich ver
sammelt zu sehen, dient eine in dem Sse-ki erzählte Begebenheit aus
) Uei' heutige gleichnamige Oisli'icl des Kreises Thsi-uau, l'rovinz Schan-tung.
88
Dr. P f i z ra a i e r
dem Leben dieses Fürsten, an deren Wahrheit übrigens von Nie
manden gezweifelt wurde. Das Stockwerk in dem Hause des Prinzen
Sching hatte die Aussicht auf die Häuser des Volkes. Eines Tages
kam ein lahmer Manu aus einem dieser Häuser und begab sich
hinkend an den Brunnen, woselbst er Wasser schöpfte. Eine Schöne
des Prinzen, welche in dem Stockwerk wohnte und eben herabsah,
verlachte diesen Mann mit lauter Stimme. Den nächsten Tag erschien
der Lahme an dem Thore des Prinzen und trug diesem folgende
Bitte vor: Ich habe erfahren, dass du, o Herr, Freude hast an den
Staatsdienern. Die Staatsdiener halten tausend Meilen für keine zu
grosse Entfernung und kommen zu dir, weil du, o Herr, im Stande
bist hoch zu schätzen die Staatsdiener und gering zu schätzen die
Kebsweiber. Ich bin so unglücklich, dass ich leide an dem Ge
brechen des Alters; aber an der Bückseite deines Palastes blickte man
hernieder und verlachte mich. Ich wünsche zu erhalten den Kopf
derjenigen die mich verlacht hat.
Der Landesherr von Ping-yuen antwortete lachend: Ich werde
es thun.
Nachdem der Lahme sich entfernt, rief der Fürst neuerdings
lachend aus: Seht diesen Burschen! Er will, weil sie ihn ein ein
ziges Mal verlacht, tödten lassen meine Schöne. Ist dies auch nicht
zu arg? — Der Prinz dachte«in Folge dessen gar nicht daran, die
Schöne tödten zu lassen.
Nach einem Jahre hatte mehr als die Hälfte der Gäste und der
unter dem Thore wohnenden Hausgenossen allmählich den Palast des
Landesherru vou Ping-yuen verlassen. Der Prinz wunderte sich hier
über und sprach zu seinen Gästen : In dem Umgänge mit euch habe
ich es noch niemals gewagt, die Gebräuche ausser Acht zu lassen.
Wie kommt es aber, dass so viele sich entfernen?
Einer der unter dem Thore wohnenden Menschen trat vor und
sprach: Weil du, o Herr, nicht tödten liessest diejenige die den
Lahmen verlachte, glaubten sie, dass du, o Herr, eingenommen hist
für die Schönheit und geringschätzest die Staatsdiener. Die Staats
diener haben sich darum entfernt.
Der Landesherr von Ping-yuen liess jetzt die Schöne welche
den Lahmen verlacht, enthaupten. Hierauf begab er sich in eigener
Person zu dem Thore, liess den Beleidigten eintreten und ent-
Zur Geschichte des Entsatzes von Han-tan. 89
schuldigte sich bei ihm. Nach diesem Vorfall fanden sich die Gäste
allmählich wieder unter seinem Thore ein.
Wie später der Landesherr von Ping-yuen auf die Einladung
des Königs Tschao (265 vor Chr.) sieh nach Thsin hegab und da
selbst so lange zurückgehalten werden sollte, bis er den Kopf seines
Gastes, des Prinzen Wei-tsi von Wei, nach Thsin geschickt haben
würde, und wie er nur dadurch , dass dieser Prinz auf eine andere
Weise seinen Tod fand, die Freiheit erlangte, ist in dem „Leben des
Redners Fan-hoei“ erzählt worden. Eben so ist der Beziehungen
des Prinzen Sching zu dem Prinzen Wu-ki, Landesherrn von Sin-
ling, in dem „Leben des Prinzen Wu-ki von Wei“ Erwähnung
geschehen.
Der Landesherr von Ping-yuen war es, der (262 vor Chr.)
nebst Tschao-yü dem Könige Hiao-tsching von Tschao rieth, das
verhängnissvolle Geschenk welches das Reich Han diesem Könige
mit dem Gebiete Schang - thang machte, anzunehmen. Derselbe
ward im Aufträge seiner Regierung nach Schang-thang entsendet,
um dieses Gebiet welches ihm Fung-ting, der bisherige Statthalter
desselben, übergab, in Besitz zu nehmen. Der Landesherr von
Ping-yuen wird von mehreren Stimmen beschuldigt, durch seine
Handlungen das beispiellose Unglück welches bald hierauf die
Heere von Tschao in Tschang-ping traf, verschuldet zu haben,
wogegen von anderer Seite eingewendet wird, dass die Schuld des
Unglücks Niemand trage, als König Hiao-tsching selbst, der den
Einflüsterungen der vorgeblichen Überläufer aus Thsin Glauben
geschenkt und den fähigen Lieu-pho durch den unfähigen Tschao-
ko in der Feldherrnstelle ersetzt habe. Dass der Landesherr von
Ping-yuen das Land in Besitz genommen, sei von keinem Einfluss
auf die Ereignisse gewesen.
Nach dem Untergang der Hunderttausende die König Hiao-
tsching in den Kampf geschickt, schritt Thsin (257 vor Chr.) zur
Belagerung von Han-tan, der Hauptstadt von Tschao. Der Landes
herr von Ping-yuen ward nach Tsu entsandt, um von diesem Reiche
Hilfe zu begehren und einBiindniss mit demselben zu bewerkstelligen.
Zu diesem Zwecke sollte er sich von zwanzig starken und muthigen
Männern welche sowohl dem Gelehrten- als dem Kriegerstande an
gehörten, und die zugleich als seine Gäste unter dem Thore seines
Hauses wohnten, begleiten lassen. Dabei äusserte er sich: Ist es
00
Dr. I* f i z in oier
möglich, dass ich Menschen niitnelnne aus dem Stande der Gelehrten,
so stehen meine Sachen gut. Kann ich aber keine Menschen nehmen
aus dem Stande der Gelehrten, so trinke ich das Blut unter dem
blumigen Dache 1 ). Hierdurch wird es mir gewiss möglich, den An
schluss zu bewirken und zurückzukehren. Die Staatsdiener mögen
nicht auswärts gesucht werden. Es genügt, wenn ich sie nehme unter
dem Thore, aus der Zahl der Gäste, für deren Unterhalt ich sorge.
Er fand in der That neunzehn brauchbare Männer. Unter den
Übrigen befand sich jedoch keiner den er mitnehmen konnte, so
dass die Zahl der Zwanzig unvollständig blieb.
Unter den Personen welche unter dem Thore des Prinzen
wohnten, befand sich ein Gast Namens Mao-sui. Derselbe
trat vor den Landesherrn von Ping-yuen und empfahl sich diesem
mit folgenden Worten: Ich habe erfahren, dass du, o Herr, ein Bünd-
niss bewerkstelligen willst mit Tsu, und dass du dich willst begleiten
lassen von zwanzig Männer aus der Zahl der Gäste die leben unter
deinem Thore, und dass du auswärts Niemand suchst. Jetzt fehlt
noch ein einziger Mann. Ich wünsche, dass du, o Herr, durch mich
vervollständigest die Zahl und die Reise antretest.
Prinz Selling fragte: Wie viele Jahre sind es bis zum gegen
wärtigen Augenblick, dass du, o Meister, wohnst unter meinem
Thore ?
Mao-sui erwiederte: Es sind bis zu dem gegenwärtigen Augen
blick drei Jahre.
Der Prinz bemerkte hierauf: Ein weiser Staatsdiener wohnt in
der Welt, wie ein Bohrer sich in einem Sacke befindet. Seine
Spitze wird sogleich sichtbar. Jetzt wohnst du, o Meister, unter
meinem Thore bis auf den gegenwärtigen Augenblick drei Jahre.
Die Leute meines Gefolges haben dich noch nicht gepriesen, ich
habe von dir noch nichts gehört. Es ist daher, o Meister, an dir
nichts zu entdecken. Du, o Meister, besitzest nicht die Fähigkeiten.
Mögest du , o Meister, hier Zurückbleiben.
Mao-sui erwiederte: Ich bitte heute, dass man mich nur wohnen
lassen möge in einem Sacke. Hätte man mich hei Zeiten in einem
') Das blumige Dach heisst der Wohnsitz des Königs von Tsu, woselbst Prinz Selling
den Vertrag zu beschwören gedenkt.
Zur Geschichte des Entsatzes von Ilan-tan. 91
Sacke wohnen lassen, so wäre der Stachel vollkommen heraus
getreten und nicht hlos die Spitze sichtbar geworden.
Der Landesherr von Pinz-yuen nahm jetzt Mao-sui unter die
Zahl seiner Begleiter auf. Als die übrigen neunzehn Begleiter ihn
sahen, warfen sie einanderBlicke zu und verlachten ihn, ohne jedoch
ihren Gedanken durch Worte Ausdruck zu verleihen.
Unterdessen war Mao-sui in Gesellschaft der Übrigen in Tsu
angekommen. In den verschiedenen Berathungen welche er daselbst
mit seinen Gefährten hielt, hatten diese immer seiner Meinung bei
gestimmt. Der Landesherr von Ping-yuen begab sich alsbald an den
Hof und hatte mit dem Könige von Tsu eine lange Unterredung über
den Gegenstand, oh das Bündniss mit Tschao von Nutzen oder von
Schaden sei. Nachdem die Unterredung vom frühesten Morgen bis
Mittag gewährt hatte, ohne dass ein Beschluss gefasst worden wäre,
ermahnten die neunzehn Begleiter Mao-sui, in den Berathungssaal
hinauf zu gehen.
Mao-sui legte die Hand an sein Schwert, stieg die zu dem
königlichen Saale führenden Stufen hinan und sprach zu dem Landes
herrn von Ping-yuen: Über den Nutzen oder Schaden des Anschlus
ses kann mit zwei Worten entschieden werden. Jetzt spricht man
über den Anschluss seit Sonnenaufgang, und am Mittag ist noch
nichts entschieden. Wie kommt dieses?
Der König von Tsu fragte den Landesherrn von Ping-yuen,
was der Gast hier zu thun habe. Der Prinz gab zur Antwort: Es ist
mein Hausgenosse.
Der König schrie jetzt Mao-sui an: Warum steigst du nicht
hinab? Wir haben mit deinem Gebieter zu reden, was hast du hier
zu thun?
Auf diese Worte trat Mao-sui, die Hand an sein Schwert gelegt,
vor den König und sprach: Dass du, o König, mich anschriest, es
geschah wegen der Heeresmenge des Reiches Tsu. Jetzt innerhalb
eines Raumes von zehn Schritten, kannst du, o König, dich nicht
verlassen auf die Heeresmenge des Reiches Tsu. Dein Leben, o Kö
nig, ist in meiner Hand. Warum hast du mich in Gegenwart meines
Gebieters angescbrieen ? Auch habe ich gehört: Thang hat mit einem
Lande das im Umfange hatte siebzig Meilen, geherrscht als König
über die Welt. König Wen hat mit Hilfe eine Erde die im Umfange
hatte hundert Meilen, sich zu Dienern gemacht die Fürsten der
9 2 Dr. P f i z m a i e r
Reiche. Wie wären ihre Staatsmänner und Krieger eine grosse Menge
gewesen? Sie konnten aber in Wahrheit sich verlassen auf ihre
Macht und voranstellen ihre Hoheit. Jetzt hat das Land von Tsu im
Umfange fünftausend Meilen. Die in den Händen halten Lanzen, sind
eine Million. Dies sind Dinge, mit denen handeln oberherrliche
Könige. Aber Tsu, das Gewalt anthut der Welt, ist nicht einmal
gewachsen dem kleinen Wichte Pe-klii. Dieser stellte sich an die
Spitze einer Menge von einigen Zehntausenden und führte das Heer
vorwärts, um zu kämpfen mit Tsu. Er kämpfte ein einziges Mal, und
er nahm hinweg Yen sammt Ying. Er kämpfte ein zweites Mal, und
er verbrannte I-ling. Er kämpfte ein drittes Mal, und er beschimpfte
die Vorfahren des Königs 4 ). Dies sind Dinge die ein Gegenstand des
Grolles für hundert Geschlechtsalter und deren Tschao sich schämt.
Du aber, o König, magst nicht wissen, dass dies abscheulich. Das
Biindniss wird geschlossen zu Gunsten von Tsu, nicht zu Gunsten
von Tschao. Warum hast du mich in Gegenwart meines Gebieters
angeschrieen?
Der König von Tsu erwiederte: Ich willige ein. Es verhält sich
in Wahrheit so, wie der Meister gesagt. Ich biete euch in Ehrfurcht
meine Landesgötter und scldiesse mich an.
Mao-sui fragte noch: Ist der Anschluss entschieden?
Der König von Tsu antwortete: Er ist entschieden.
Mao-sui wandte sich jetzt an die Umgebung des Königs und
hiess dieselbe das Blut eines Hahnes, eines Hundes und eines Pferdes
herbeischallen. Nachdem eine kupferne Schüssel mit dem Blute
gefüllt worden, ergriff Mao-sui diese Schüssel und reichte sie dem
Könige knieend mit den Worten: Du, o König, musst von dem Blut
kosten und dich für den Anschluss entscheiden. Der nächste ist dann
mein Gebieter. Diesem zunächst folge ich.
Nachdem man hierauf durch den auf diese Art geleisteten Eid
das Bündniss geschlossen, hielt Mao-sui in seiner linken Hand die
mit Blut gefüllte Schüssel, während er mit der rechten die übrigen
neunzehn Begleiter des Prinzen herbeiwinkte. Zu diesen sprach er :
Möget ihr, o Herren, mit einander kosten dieses Blut an dem Fusse
der Halle. Ihr, o Herren, seid von einander nicht verschieden. Dies
•) Nach der Einnahme von Yen und Ying - (278 vor Ohr.) verbrannte Pe-klii die Grab
stätten der Könige von Tsu.
Zur Geschichte des Entsatzes von Han-tan. 93
ist, was man heisst: mit Hilfe anderer Menschen eine Sache
vollenden.
Der Landesherr von Ping-yuen, der somit den Zweck seiner
Sendung erfüllt sah, trat den Rückweg in die Heimath an. ln Tschao
angekommen, äusserte er sich: Ich wage es nicht, mir wieder zur
Seite die Staatsdiener zu stellen. Ich stellte mir zur Seite Staatsdiener,
wenn es viele waren, tausend, wenn es wenige waren, hundert an
der Zahl. Ich hielt dafür, dass ich nicht verlieren werde die Staats
diener der Welt. Jetzt habe ich durch den Meister Mao sie verloren.
Der Meister Mao kam ein einziges Mal nach Tsu, und er bewirkte
dass Tschao schwerer von Gewicht als die neun Dreifiisse, die grosse
Glocke •). Der Meister Mao mit einer Zunge die lang drei Zoll, war
stärker als ein Heer von einer Million. Ich wage es nicht, mir wieder
zur Seite die Staatsdiener zu stellen. — Mao-sui ward hierauf von
dem Prinzen zu dem Range des ersten Gastes erhoben.
Sobald der Landesherr von Ping-yuen nach Tschao zurückge
kehrt war, entsandte Tsu den Landesherrn von Tschün-schin an der
Spitze einer Kriegsmacht, die sogleich dem bedrängten Reiche zu
Hilfe eilte. Zu gleicher Zeit setzte sich Prinz Wu-ki, Landesherr
von Sin-ling, durch Überlistung des Feldherrn Tsin-pi in den Be
sitz der Kriegsmacht des Reiches Wei und richtete ebenfalls seine
Schritte nach Tschao. Ehe jedoch dieser doppelte Entsatz angelangt
war, hatte Thsin der Stadt arg zugesetzt, und Han-tan stand auf
dem Puncte, sich zu ergeben, was den Landesherrn von Ping yuen
mit der grössten Besorgniss erfüllte.
Unter diesen Umständen näherte sich j|jj Li-tung, der
Sohn des Richters über die „zu wechselnden Häuser“ in Han-tan,
dem Prinzen und fragte ihn: Bist du, o Herr, nicht bekümmert
wegen des Unterganges von Tschao ?
Der Landesherr von Ping-yuen erwiederte: Wenn Tschao zu
Grunde geht, werde ich gefangen. Warum sollte ich nicht beküm
mert sein?
Li-tung sprach weiter: Das Volk von Han-tan heizt mit Gebeinen
die Kessel, es vertauscht die Kinder und verzehrt sie. Es lässt sich
*) Hiermit ist die grosse Glocke in dem Ahnentempel des H:\nses der Tseheu gemeint.
Eben so galten die neun Dreifiisse, damals noch im Besitze des Hauses der
Tseheu, für die Unterpfänder der Weltherrschaft.
CT
94 Dr. Pfizmai er
sagen: es ist in Bedrängniss. Aber an der Rückseite deines Palastes,
o Herr, kleiden sich Sclavinnen und Nebengemahlinnen hundert an der j
Zahl in gestickte und durchsichtige Seide. Es ist Überfluss an Ge
treide und Fleisch. Aber für das Volk sind hänfene Kleider nicht bei
der Hand. Es kann sich nicht sättigen mit Weinhefen und Kleien.
Das Volk ist erschöpft, seine Waffen sind zu Ende. Einige spitzen
Hölzer und gebrauchen sie als Lanzen und Pfeile. Aber deine Ge-
räthschaften, oHerr, die Glocken und Musiksteine, sind unversehrt.
Wenn Thsin zertrümmert Tschao, wie könntest du, o Herr, diese
Dinge besitzen? Bleibt Tschao unversehrt, wie solltest du, o Herr,
dich betrüben, dass du sie nicht besitzest? Wenn du, o Herr, in
Wahrheit heissen könntest deine Gemahlinnen herabsteigen, ihren
Platz einnehmen unter den Kriegern, betheilen die Verdienstvollen
und zubereiten, was vorrätbig in dem Hause, es insgesammt heraus
geben, um Speise zu bieten den Kriegern, so würden die Krieger
zur Zeit der Gefahr und der Leiden dafür nur Dankbarkeit zeigen.
Der Landesherr von Ping-yuen befolgte diesen Rath, worauf
dreitausend zum Tode entschlossene Krieger ihm ihreDienste anboten.
Li-tung stürzte sich mit diesen Kriegern auf das Heer von Thsin,
das auf einer Strecke von dreissig Li zurückgeworfen wurde. Als
unterdessen auch die zum Entsatz bestimmte Kriegsmacht von Tsu
und Wei herbeigekommen war, erlitt das Heer von Thsin eine
grosse Niederlage, und Han-tan war gerettet. Li-tung war jedoch
in dem Kampfe geblieben. Tschao lohnte die That des Sohnes in dem
Vater, indem es diesen zum Fürsten von Li ernannte.
Nach dem Entsätze von Han-tan ging der Reichsminister von
Yü mit dem Gedanken um, für den Landesherrn von Ping-yuen, weil
dessen Verwandter Prinz Wu-ki, Landesherr von Sin-ling, das
Reich gerettet, um ein neues Lehen zu bitten. Der Fürstenenkel
Hj= Lung, der dies erfuhr, begab sich noch in der Nacht zu dem Prin
zen und sprach zu ihm: Ich habe in Erfahrung gebracht, dass der
Reichsminister von Yü, weil der Landesherr von Sin-ling gerettet
hat Han-tan, für dich, o Herr, um ein Lehen bitten will. Ist dieses
wahr?
Der Landesherr von Ping-yuen bejahte dieses, worauf der Für
stenenkel Lung fortfuhr: Dies ist im höchsten Grade unausführbar.
Dass der König, o Herr, dich erhob und dich Reichsgehilfe werden
Zur Geschichte des Entsatzes von Han-tan.
95
Hess in Tschao, geschah nicht, weil du, o Herr, durch deinen Ver
stand bewirken konntest, dass das Reich Tschao ohne ßetrübniss.
Dass man lostrennte die östliche Feste Wu 1 ) und dich, o Herr,
belehnte, es geschah nicht, weil man glaubte, dass du, o Herr, dir
Verdienste erworben und dass die Menschen des Reiches keine Ver
dienste haben um den König. Es geschah, weil du, o Herr, ein naher
Verwandter des königlichen Hauses. Dass du, o Herr, empfingst das
Siegel des Reichsgehilfen und dich nicht entschuldigtest, weil du ohne
Gaben, dass du, als man das Land lostrennte, nicht sagtest, dass du
ohne Verdienste, es geschah auch, weil du selbst dich hieltest für
einen nahen Verwandten des königlichen Hauses. Wenn man jetzt,
da der Landesherr von Sin-ling gerettet hat Han-tan, bitten würde
um ein Lehen, so würde der nahe Verwandte empfangen die festen
Städte, aber die Menschen des Reiches würden berechnen dfe Ver
dienste. Dies ist in hohem Grade unausführbar. Auch hält der Reichs
minister von Yii fest an den beiden Wagschalen. Gelingt die Sache,
so hält er fest an der Schuldverschreibung zur Rechten und fordert
sie ein. Gelingt die Sache nicht, so ist er dir, o Herr, dankbar durch
einen leeren Namen. Du, o Herr, darfst ihm kein Gehör schenken.
— Der Prinz achtete auf diese Vorstellungen und schenkte dem
Reichsminister von Yü kein Gehör.
Der Landesherr von Ping-yuen starb im fünfzehnten Jahre des
Königs Hiao-tsching von Tschao (2S1 vor Chr.). Seine Söhne und
Enkel herrschten in dem Lehen Ping-yuen fort, bis auch sie bei
dem Untergange von Tschao (228 vor Chr.) des Landes verlustig
wurden.
Was den oben genannten Fürstenenkel Lung betrifft, so stand
er seiner Redekunst wegen eine Zeitlang bei dem Landesherrn von
Ping-yuen in hohem Ansehen. Als jedoch das Reich Tsi einen
Gesandten Namens ^'JJ Tseu-yen nach Tschao schickte, zeigte
dieser in einer Unterredung mit dem Landesherrn von Ping-yuen,
dass die Kunst des Fürstenenkels Lung für den grossen Weg des
Gesetzes von Nachtheil sei, worauf der Prinz den Fürstenenkel
Lung aus seiner Nähe verbannte.
Die feste Stadt
Wu, war der Mittelpunct des Lehens Ping-yuen.
96
Dr. P f i z in a i e r
Der Reichsniinister von Yü.
Der Reichsminister von Yü war ursprünglich ein wan
dernder Redner. Derselbe trat mit Strohschuhen bekleidet und in
der Hand einen Sonnenschirm vor den König Hiao-tsching von Tschao
und hielt vor diesem eine Rede. Bei diesem ersten Besuche schenkle
ihm der König tausend Pfund Goldes und ein Paar kostbare aus einem
weissen Edelsteine verfertigte Rundtafeln. Bei dem zweiten Besuche
ward er zum ersten Reichsminister von Tschao ernannt, wobei er
den Titel „Reichsminister von Yii“ J ) erhielt.
Um die Zeit, als der neue Reichsminister angestellt wurde, wqr
Tschao mit Thsin auf dem Gebiete Tschang-ping in Kampf ver
wickelt. Die Heere von Tschao konnten nichts ausrichten und ver
loren den Befehlshaber einer Stadt. Der König von Tschao berief den
Minister |§| Leu-tschang, so wie den Reichsminister von Yü
zu sich und sprach zu ihnen: Das Heer richtet im Kampfe nichts
aus, ein Befehlshaber hat wieder den Tod gefunden. Wie wäre es,
wenn ich meine Leute hiesse die Panzer anlegen und in Eile sich
dorthin begeben?
Leu-tschang antwortete: Es ist von keinem Nutzen. Man muss
abschicken einen Gesandten mit schweren Geschenken und um Frie
den bitten.
Der Reichsminister von Yü entgegnete hierauf: Indem der
Minister Tschang spricht, dass man solle um Frieden bitten, hält er
dafür, dass, wenn man nicht um Frieden bittet, das Heer werde zer
trümmert werden. Ob aber der Friede zu Stande kommen werde,
hängt ab von Thsin. Auch wenn du, o König, nachdenkst, ob Thsin
zertrümmern wolle das Heer von Tschao, ist dies dann etwa nicht
der Fall?
Der König erwiederte: Thsin hat nicht entsandt den Überfluss
seiner Macht. Gewiss will es unterdessen zertrümmern das Heer
von Tschao.
Der Reichsminister von Yü sprach ferner: Mögest du, o König,
meinen Rath befolgen und schicken einen Gesandten mit vielen Kost-
l ) Pie Städte, von denen er seine Einkünfte bezog, lagen in der Gegend des alten
Deiches Yii. Der eigentliche Name dieses Mannes wird übrigens in den Quellen
nicht genannt.
Zur Geschichte des Entsatzes von Han-tan.
97
barkeiten, damit er sie zukommen lassen den Reichen Tsu und Wei.
Tsu und Wei werden erhalten wollen die vielen Kostbarkeiten des
Königs und gewiss aufnehmen unsern Gesandten. Wenn der Gesandte
von Tschao eingetreten in Tsu und Wei, wird Thsin gewiss Verdacht
haben, dass die Welt mit uns im Bündnisse und dann auch sich fürch
ten. Ist dies der Fall, so mag der Friede auch zu Stande gebracht
werden.
Der König verschmähte diesen Rath. Er beauftragte den Lan
desherrn von Ping-yang, einen Prinzen von Tschao, mit
Thsin wegen des Friedens zu unterhandeln und schickte zugleich
einen Gesandten NamensTsching - tschii nach diesem
Reiche. Thsin nahm den Gesandten wirklich an, worauf der König
von Tschao den Reichsminister von Yü zu sich berief und zu ihm
sprach: Ich hiess den Landesherrn von Ping-yang um Frieden
bitten in Thsin. Thsin hat Tsching-tschü bereits angenommen. Was
hält davon der Reichsminister?
Der Reichsminister antwortete: Wenn du, o König, den Frie
den nicht absehliessen kannst, so sind deine Heere zertrümmert. Die
Welt die darbringt ihre Glückwünsche dem Sieger in dem Kampfe,
steht insgesammt auf der Seite von Thsin. Tsching-tschü ist ein
angesehener Mann, und er ist eingetreten in Thsin. Der König von
Thsin und der Fürst vonYing 1 ) werden gewiss öffentlich ihn auszeich
nen, damit die Welt es merke. Tsu und Wei werden glauben, dass Tschao
Friede geschlossen und werden dir, o König, nicht zu Hilfe kommen.
Wenn Thsin einmal weiss, dass die Welt dir, o König, nicht zu
Hilfe kommt,so kann auch derFriede nicht zuStande gebracht werden.
Der Fürst von Ying zeichnete den Gesandten Tsching-tschü
wirklich auf eine augenfällige Weise aus, so dass die Staaten
welche dem Sieger in dem Kampfe ihre Glückwünsche darbringen
wollten, es merken konnten. Zuletzt aber weigerte sich Thsin, den
Frieden abzuschliessen. Die Folge davon war der Untergang der
Heere von Tschao in Tschang-ping (260 vor Chr.) und die äusserste
Gefahr für die Selbstständigkeit des Reiches.
Nachdem durch den Entsatz von Han-tan (257 vor Chr.)
diese äusserste Gefahr abgeweudet worden, versammelte der König
*) Der Redner Fan-hoei, damals Reichsgehilfe in Thsin.
Sitzb. d, phil.-hist. CI. XXXI. Bd. 1. Hft.
7
Dr. P fi /. m a i p r
von Tschao wieder die Minister an seinem Hofe und erklärte ihnen,
dass er einen Gesandten Namens Tschao-scln nach Thsin
mit dem Aufträge schicken wolle, dieses Reich der Anhänglichkeit
des Reiches Tschao zu versichern und um den Preis von sechs
Bezirken welche an Thsin abgetreten werden sollten, den Abschluss
des Friedens zu bewirken.
Der Reichsminister von Yii stellte dagegen dem Könige vor:
Thsin hat dich, o König, angegriffen; zieht es sich jetzt zurück
aus Ermüdung? Wird es, weil du, o König, mit deiner Kraft noch
immer im Stande bist vorzurücken, lieben dich, o König, und dich
nicht angreifen?
Der König erwiederte: Indem Thsin mich angriff, hat es nicht
hervorgeschickt seinen Überfluss an Kraft. Es zieht sich gewiss zu
rück aus Ermüdung.
Der Reichsminister sprach weiter: Wenn Thsin mit seiner
Kraft überfallen hat, was es nicht im Stande war zu erobern, und
sich zurückzieht aus Ermüdung, wenn du dann, o König, noch mit
demjenigen was es mit seiner Kraft nicht im Stande war zu erobern,
entgegenkommst, so unterstützest du dadurch Thsin in seinen An
griffen. Im künftigen Jahre wird Thsin von Neuem dich, o König,
angreifen und dir, o König, wird dann Niemand zu Hilfe kommen.
Der König erzählte dem zur Gesandtschaft bestimmten Tsehao-
sehi, was der Reichsminister gesprochen. Tschao-scln sprach hier
auf: Ist denn der Reichsminister von Yü wirklich im Stande, voll
ständig zu erfahren, bis wohin reicht die Kraft von Thsin, da er
in Wahrheit weiss, bis wohin Thsin mit seiner Kraft nicht im Stande
ist vorzurücken? Dies sind Gebiete, auf welche niederfällen die Ku
geln der Armbrust. Wenn man sie nicht hergibt, so heisst man Thsin
im künftigen Jahre nochmals angreifen dich, o König. Ohne dass
du, o König, etwas abtrittst, werde ich wohl angenommen werden
und Friede schliessen können?
Der König entgegnete: Ich bitte, dir Gehör schenken zu dür
fen und das Land abzutreten. Bist du dann auch im Stande, mit
Sicherheit zu bewirken, dass im künftigen Jahre Thsin mich nicht
wieder angreift?
Tschao -sehr antwortete: Dies wage ich nicht zu verbürgen.
In früheren Tagen hatten die drei Reiche von Tsin Gemeinschaft mit
Thsin und standen mit ihm auf gutem Fusse. Jetzt steht Thsin auf
Zur ft Schichte des Entsatzes von TIan-fnn.
99
gutem Fusse mit Han und Wei und riehtet Angriffe gegen dich,
o König. Dasjenige womit du, o König, dienen kannst Thsin, kommt
gewiss dem nicht gleich, womit es thun Han und Wei. Wenn ich
jetzt für dich, o König, ein Ende mache den Angriffen die du zu
erdulden hast von Seite der verwandten Reiche, wenn ich eröffne
die Pässe für den Verkehr, erniedrige Tsi, in Gemeinschaft trete
mit Han und Wei, und bis zu dem künftigen Jahre du, o König,
allein angegriffen werden solltest von Thsin, so geschieht es, weil
du, o König, in demjenigen womit du dienen kannst Thsin, gewiss
nachstehst den Reichen Han und Wei. Dies wage ich nicht zu ver
bürgen.
Der König hinterbrachte diese Worte wieder dem Reichs
minister von Yü. Dieser entgegnete: Schi sagt: wenn man nicht
Friede schliesst, so wird Thsin im künftigen Jahre von Neuem dich,
o König, angreifen, er fragt, wenn du, o König, kein Gebiet los
trennst, ob er dann werde angenommen werden und den Frieden
schliessen können. Wenn man aber jetzt Frieden schliesst, so kann
Schi noch immer nicht gewiss sagen, ob Thsin nicht von Neuem
angreifen werde. Wenn man jetzt auch lostrennt sechs feste Städte,
was kann uns dieses nützen? Im künftigen Jahre werden wir von
Neuem angegriffen. Wenn wir noch dazu abtreten, was die Kraft
des Feindes nicht im Stande war zu erobern, und dann Friede
schliessen, so ist dies die Kunst, sich selbst zu Grunde zu richten.
Wir dürfen keinen Frieden schliessen. Ist Thsin auch geübt in
Überfällen, es ist nicht im Stande zu erobern die sechs Rezirke. Ist
Tschao auch unfähig, sein Land zu bewahren, es wird zuletzt nicht
verlieren sechs feste Städte. Thsin wird ermüden und sich zurück
ziehen, seine Streitkräfte werden sich gewiss auflösen. Wenn wir
mit Hilfe der sechs festen Städte an uns ziehen die Welt, wenn wir
überfallen und zur Erschöpfung bringen Thsin , so hätten wir die
Städte verloren an die Welt, aber von Thsin müssten wir den Lohn
dafür erhalten. AVas ist wohl besser, wenn unser Reich noch immer
Gewinn hat, oder wenn wir ruhig sitzen bleiben, das Gebiet los
trennen und uns schwächen, um Thsin erstarken zu machen? —
Schi sagt ferner: Thsin steht auf gutem Fusse mit Han und Wei,
und indem es Tschao angreift, hält es dafür, dass Han und Wei dem
Reiche Tschao nicht zu Hilfe kommen werden. Dass aber dein Heer,
o König, vereinzelt, soll desswegen sein, weil du , o König, Thsin
7*
100
Dr. P f i i m n i e r
nicht dienst gleichwie Han und Wei. Dies ist so viel, als er hiesse
dich, o König , alljährlich mit sechs festen Städten dienen Thsin.
Indess du unthätig verweilst, werden dann die festen Städte zu Ende
gehen. Wenn in den kommenden Jahren Thsin nochmals begehren
sollte die Abtretung von Land, wirst du, o König, es ihm gehen?
Gibst du es ihm nicht, so würdest du hierdurch zu nichte machen das
frühere Verdienst und hervorrufen das Unglück durch Thsin. Gibst
du es aber, so hast du kein Land das du ihm könntest schenken.
Das Sprichwort sagt: Der Starke ist geübt in Angriffen, der
Schwache ist nicht im Stande zu bewahren. — Wenn man jetzt
unthätig bleibt und dem Reiche Thsin Gehör schenkt, so werden
die Streitkräfte von Thsin nicht aufgerieben und gewinnen vieles
Land. Hierdurch würde man erstarken machen Thsin und schwächen
Tschao. Zwischen Thsin dessen Stärke immer zunimmt, und
Tschao das durch Abtretungen immer schwächer wird, würde die
Rechnung desshalh zu keinem Abschluss gelangen. Wenn ferner
dein Land, o König, zu Ende geht und das Begehren Thsin’s ohne
Aufhören , so würde man dadurch mit einem Lande , das zu Ende
geht, beschenken Jemand dessen Begehren ohne Aufhören. Die
Gewalt dieser Umstände muss bewirken, dass Tschao nicht mehr
vorhanden.
Ehe der König noch einen festen Entschluss gefasst, kam der
Minister j>rj| Leu-hoan aus Thsin zurück. König Hiao-tsching
berieth mit dem Angekommenen diese Angelegenheit und fragte ihn,
was für das Reich heilbringender wäre, wenn man das Gebiet ab
träte oder nicht. Leu-hoan ertheilte eine ausweichende Antwort, in
dem er sagte, dass er von dieser Sache keine Kenntniss besässe.
Der König entgegnete hierauf: Versuche es dennoch und sage mir
deine besondere Meinung.
Leu-hoan sprach jetzt: Hast du, o König, auch gehört von der
Mutter Kung-fu-wen-pe’s 1 ). Kung-fu-wen-pe war angestellt in Lu
und starb an einer Krankheit. Der Weiber die sich seinetwegen
tödteten in dem Gemache, waren zwei. Seine Mutter hörte es und
•> 16 £ ft Kung-fu-wen-pe war ein Schüler Confucius', der jedoch
in dem Verzeichniss dieser Schüler nicht enthalten ist, obgleich Männer mit dem
Familiennamen Kung in demselben allerdings Vorkommen.
Zur (jeschichte des Entsatzes von Hau-tan.
101
beweinte ihn nicht. Die mit ihr wohnten in dem Hause, sprachen:
Wie kommt es, dass dir ein Sohn gestorben und du ihn nicht be
weinst? — Seine Mutter sprach: Khung-tse war ein weiser Mann.
Er ward vertrieben aus dem Reiche Lu, aber dieser Mensch folgte
ihm nicht nach. Jetzt ist er gestorben, und der Weiber die sich
seinetwegen tödten, sind zwei. Da es sich so verhält, so liess er es
gewiss gegen seinen Vorgesetzten an Achtung fehlen, die Weiber
jedoch schätzte er hoch. — Sagt diese Worte die Mutter, so heisst
sie eine weise Mutter. Sagt sie aber dieGattinn, so wird diese gewiss
nicht anders heissen , als eine eifersüchtige Gattinn. Aus diesem
Grunde sprechen sie ein und dasselbe. Ist das was man spricht,
verschieden, so sind die Herzen der Menschen auch verändert. Jetzt
bin ich erst unlängst angekommen aus Thsin , und wenn ich sagte,
man solle das Land nicht geben, so wäre dies kein guter Rath. Sagte
ich aber, man solle es geben, so fürchte ich, der König werde von
mir glauben, dass ich halte zu Thsin. Desswegen wagte ich nicht zu
antworten. Wäre es mir aber vergönnt, einen Rath zu ertheilen zum
Besten des grossen Königs, so würde ich sagen: man muss das
Land geben.
Der König zeigte sich mit diesem Rathe einverstanden. Als der
Reichsminister von Yii dies hörte, begab er sich zu dem Könige
und sprach : Dies sind geschmückte Worte. Mögest du, o König,
darüber wachen, dass man das Land nicht gebe.
Leu-hoan, der seinerseits diese Worte hörte, begab sich eben
falls zu dem Könige. Als dieser ihm wieder mitgetheilt, was der
Reichsminister gesprochen, entgegnete Leu-hoan: Dem ist nicht so.
Der Reichsminister von Yii erreicht wohl das Eine, aber er erreicht
nicht das Zweite. Dass der Friede zwischen Thsin und Tschao
unmöglich gewesen, und die Welt insgesammt hiermit einverstanden,
woher kommt dieses? Ich antworte: Wir wollen Gebrauch machen
von der Stärke, und machen uns zu Nutzen die Schwäche. Wenn
jetzt die Kriegsmacht von Tschao zur Erschöpfung gebracht wird
durch Thsin und die Welt ihre Glückwünsche darbringt dem Sieger
in dem Kampfe, so werden auch alle stehen auf der Seite von Thsin.
Desswegen kann man nicht anders als wiederholt lostrennen Land
und sich verstehen zum Frieden, um mit Zweifel zu erfüllen die
Welt und zu besänftigen den Sinn von Thsin. Timt man dieses nicht,
so wird die Welt, sich haltend an die Stärke von Thsin, zürnen, sich
102
U r. P f i l ui a i e r
zu Nutzen machen die Erniedrigung von Tschau und wie eine Melone
es theilen. Wenn Tschao dann zu Grunde geht, wie wäre dies so
veranstaltet worden durch Thsin? Desswegen sagte ich: Der Reichs
minister von Yü erreicht wohl das Eine, aber er erreicht nicht das
Zweite. Ich wünsche, dass du, o König, hiernach einen Beschluss
fassest und die Sache nicht mehr berathest.
Als der Reichsminister von Yü von dem Inhalt dieser Worte
wieder in Kenntniss gesetzt wurde , begab er sieh unverzüglich zu
dem Könige und sprach zu diesem: Wie gefährlich die Art und
Weise, mit der Leu-tse hält zu Thsin! Er wird hierdurch noch
mehr mit Zweifeln erfüllen die Welt; wie aber wird er besänftigen
den Sinn von Thsin? Hat er denn allein nicht gesagt, dass er der
Welt zeigt die Schwäche? Auch indem ich sage, dass man das Land
nicht geben solle , bin ich nicht der Meinung, dass man auf keinem
Fall Land geben solle und sonst nichts thun. Thsin begehrt sechs
feste Städte von dir, o König, doch du, o König, mögest die sechs
festen Städte zum Geschenke machen Tsi. Tsi ist der ärgste Feind
von Thsin. Wenn es, o König, deine sechs festen Städte erhält, so
wird es zusammenraffen seine Kraft und im Westen angreifen Thsin.
Tsi wird dir, o König, Gehör schenken, ohne zu warten, bis du das
Wort zu Ende gesprochen. Dann verlierst du, o König, die Städte
an Tsi, aber du erhältst dafür einen Ersatz von Thsin. An dem
ärgsten Feinde von Tsi und Tschao kann man zugleich Rache nehmen,
und du zeigst auch der Welt, dass du im Stande bist Thaten zu
verrichten. Hierdurch erwirbst du dir, o König, einen Namen; ehe
die Krieger noch hinausgeblickt über die Grenze, sehe ich schon,
wie Thsin mit schweren Geschenken kommt nach Tschao und wie
es im Gegenlheil den Frieden erbittet von dir, o König. Ist es Thsin
das bittet um Frieden, und Han und Wei hören dieses, so werden
sie gewiss auf alle Weise dich werthschätzen, o König. Wenn sie
dich, o König, werthschätzen, so werden sie gewiss absenden
schwere Geschenke und den Vorzug geben dir, o König. Dann
hättest du, o König, verrichtet eine einzige That und dadurch die
Freundschaft befestigt mit drei Reichen. Aber mit Thsin wäre dann
leicht zu verkehren.
Der König fand jetzt diesen Rath vortrefflich und beauftragte
den Reichsminister von Yü, sich selbst nach Osten zu hegeben , um
den König von Tsi zu besuchen und mit ihm das Weitere zu verab-
Zur Geschichte des Entsatzes von Han-Ian.
103
reden. Der Erfolg dieses Schrittes war ein überaus günstiger. Ehe
noch der Reichsminister von Yü in seine Heimath zurückgekehrt,
erschien schon ein Gesandter von Thsin in Tschao. Leu-hoan je
doch, als er dies hörte, ergriff die Flucht aus dein Reiche. Tschao
verlieh hierauf dem Reichsminister von Yü zum Lohne für sein e
Dienste eine feste Stadt als Lehen.
Um diese Zeit bat das Reich Wei um ein Bündniss mit Tschao.
König Hiao-tsching berief den Reichsminister von Yü zu sich, wobei
auch der Landesherr von Ping-yuen um Rath gefragt wurde. Dieser
Prinz sagte jedoch: Ich wünsche, dass der Reichsminister über
den Anschluss spreche.
Als der Reichsminister sich jetzt zu dem Könige begab, sprach
dieser: Wei bittet, sich uns anschliessen zu dürfen.
Der Reichsminister erwiederte: Wei hat Unrecht.
Der König bemerkte hierauf: Ich werde die Bitte auf keinen
Fall gewähren.
Der Reichsminister sprach jetzt: Du, o König, hast Unrecht.
Der König sprach: Wei bittet, sich anschliessen zu dürfen.
Der Reichsminister sagt dazu: Wei hat Unrecht. — Ich will die
Bitte nicht gewähren. Da sagst du ferner, ich habe Unrecht. Auf diese
Weise darf der Anschluss wohl niemals zu Stande kommen?
Der Reichsminister von Yü erwiederte: Ich habe gehört: wenn
ein kleines Reich und ein grosses Reich sich gegenseitig anschliessen
in einer Sache, so geschieht wie folgt. Erreichen sie einen Vortheil,
so hat das grosse Reich davon das Glück. Erleiden sie einen
Schaden, so hat das kleine Reich davon das Unglück. Jetzt stellt
Wei, das ein kleines Reich, die Bitte um Unglück, doch du, o König,
der du besitzest ein grosses Reich, weigerst dich anzunehmen das
Glück. Desswegen sagte ich: Du, o König, hast Unrecht, W r ei hat
ebenfalls Unrecht. Ich vermesse mich, den Anschluss für vortheilhaft
zu halten. — Der König zollte diesen Worten seine Bewunderung,
worauf das Bündniss mit Wei zu Stande kam.
Wie der Reichsminister von Yü sich später des von Thsin ver
folgten Wei-tsi, Prinzen von Wei, angenommen, ist in dem „Leben
des Redners Fan-hoei“ ausführlich erzählt worden. Von seltener Un
eigennützigkeit erfüllt, legte er keinen Werth auf den Rang eines
Lehensfürsten, dessen Besitzthum zehntausend Häuser des Volkes,
nicht auf das Siegel eines Reichsministers und Reichsgehilfen , er
104
Dr. P f i 7. m a i e r
begab sieb mit Wei-tsi allein auf den Weg, verliess Tschao und
gelangte in einem erschöpften Zustande nach Ta-Iiang, der Haupt
stadt des Reiches Wei. Nachdem Prinz Wei-tsi den Tod gefunden,
kehrte der Reichsminister von Yü, der sich in seinen Erwartungen
getäuscht fand, nicht mehr nach Tschao zurück. Er schrieb in den
letzten Jahren seines Lebens ein Buch in zwei Theilen. Der erste
Theil besteht aus Sätzen in der Weise des bekannten Werkes von
Confucius „Frühling und Herbst“, der zweite enthält Betrachtungen
über die Zeit seines Verfassers. Er gab ihm den Titel: „Gedanken
über die Regierung in Abschnittstafeln für die Namen der Lauterkeit
und Gerechtigkeit“. Es sind im Ganzen acht Abschnitte, die eine
Satyre auf die regierenden Häuser der damaligen Zeit. Das Werk
ist noch vorhanden und heisst insgemein: „Der Frühling und Herbst
des Geschlechtes Yü“.
Der Landesherr von Tschün-schin,
Der Landesherr von Tschün-schin hiess ursprünglich
Hoarig-hö, wobei Hoang der Familienname, Ho derKinder-
name. Derselbe war ein Eingeborner des Reiches Tsu und hatte
einen grossen Theil seines Lebens mit Reisen zu dem Behufe , sich
Kenntnisse zu erwerben, zugebracht, wodurch er sich auch in der
That reiche Erfahrungen sammelte. Hierauf trat er in die Dienste des
Königs Khing-siang von Tsu und ward von diesem der den von ihm
Angestellten für einen scharfsinnigen Redner hielt, als Gesandter
nach Thsin geschickt.
König Tschao von Thsin hatte um eben diese Zeit die Reiche
Han und Wei durch Pe-khi angreifen lassen. Dieser Feldherr schlug
(273 vor Ohr.) die feindliche Macht in Hoa-yang und nahm Mang-
mao, Feldherrn von Wei 1 )» gefangen. Han und Wei weichein dieser
Schlacht hundertfünfzigtausend Krieger verloren, kündigten hierauf
ihre Unterwerfung an und versprachen, ihre Dienste dem Reiche
Thsin widmen zu wollen. In Folge dessen beauftragte König Tschao
den Feldherrn Pe-khi, in Gemeinschaft mit den Reichen Han und
Wei das Reich Tsu anzugreifen. Die Heere waren noch nicht auf
gebrochen, als Hoang-ho, der Gesandte von Tsu, in Thsin ankam
und von diesem Vorhaben des Königs Kenntniss erhielt.
*) Nach einer andern Nachricht ward Mang-mao in die Flucht geschlagen.
Zur Geschichte des Entsatzes von Han-lan.
105
Die damaligen Verhältnisse waren übrigens für Tsu ungünstig.
Schon früher (278 vor Chr.) hatte Thsin die Stadt Yen, ferner
Ying, die Hauptstadt von Tsu, so wie grosse Gebietsstrecken im
Osten dieses Reiches erobert, in Folge dessen König Khing-siang
die Flucht ergreifen und den Sitz seiner Regierung in dem Districte
Tschin, der das ehemalige gleichnamige Reich, aufschlagen musste.
Zwar war es Tsu gelungen, im nächstfolgenden Jahre (277 vor
Chr.) den grössten Theil des verlorenen Gebietes wieder zu er
obern, aber der Gesandte zog in Erwägung, dass einst König Hoai,
der Vater des gegenwärtigen Königs, nach Thsin gelockt und da
selbst bis zu seinem bald nachher (296 vor Chr.) erfolgten Tode
zurückgehalten wurde. Thsin verachtete daher dessen Sohn und
glaubte noch immer, in einem einzigen Feldzuge das Reich erobern
zu können. In Rücksicht dieser Verhältnisse übersandte Hoang-ho
dem Könige Tschao von Thsin das folgende Schreiben:
In der Welt gibt es keine Reiche die mächtiger als Thsin und
Tsu. Jetzt aber höre ich, dass der grosse König angreifen will Tsu.
Dies ist so viel als wenn zwei Tiger mit einander lägen im Streite.
Zwei Tieger liegen mit einander im Streite, und Klepper und Hunde
ziehen Vortheil von ihrem Falle. Du musst auf gutem Fusse stehen
mit Tsu. Ich bitte, meine Rede Vorbringen zu dürfen. Ich habe ge
hört: Wenn die Dinge das Ziel erreicht haben, so gehen sie rück
wärts. Dies ist der Fall bei Sommer und Winter. Wenn die Bestre
bungen das Ziel erreicht haben, so schwebt man in Gefahr. Dies
ist der Fall bei dem Anhäufen im Bretterspiele. Jetzt hat das Gebiet
deines grossen Reiches rings die Welt zu seinen beiden Schössen.
Dies ist, seit man anwachsen liess das Volk bis zu der Zeit, wo man
es bereits gebracht zu einem Lande von zehntausend Wagen, noch
nicht vorgekommen. Die Vorfahren unseres Königs, die KönigeWen
und Tschuang selbst haben drei Geschlechtsalter hindurch nicht
vergessen, Land zu vereinigen mit Tsi, um den Weg abzuschneiden
dem Begehren der Anhänger und Verwandten. Jetzt hiessest du,
o König, Schiug-khiao *) als Statthalter dienen in Han. Sching-
Des Statthalters Sching-khiao wird sonst in der Geschichte der ver
schiedenen Reiche nicht gedacht, daher sich auch die Zeit dieses Ereignisses
nicht bestimmen lässt.
106
Dr. P f i z m a i e r
kliiao überlieferte sein Land an Thsin. Hierdurch hast du, u König,
ohne verwendet zu haben die gepanzerten Krieger, ohne geweckt
zu haben den Glauben an deine Macht, gewonnen ein Land iin Um
fange von hundert Meilen. Es lässt sich von dir, o König, sagen, dass
du im Stande bist Dinge auszuführen. Du, o König, hast ferner aus
gesandt die gepanzerten Krieger und überfallen Wei. Du ver
schlössest die Tliore von Ta-liang, du nahmst hinweg das Land
innerhalb des Flusses!). Du entrissest Yen die Gebiete Suan-ke 3 ),
Hiü 3 ) und Thao 4 ). Du drangst in Hing 5 ). Die Kriegsmacht von
Wei flog umher gleich Wolken, und wagte es nicht, Hilfe zu bringen.
Deiner kriegerischen Verdienste, o König, sind auch viele. Du,
o König, liessest ruhen die gepanzerten Krieger, liessest zu Athern
kommen die Menge des Heeres durch zwei Jahre, hierauf ver
wendetest du sie von Neuem. Du hast ferner einverleibt deinem
Reiche Pu, Yen und Scheu-yuen 6 ). Du blicktest hernieder auf die
Erdhügel Jin und Ping 7 ), auf die festen Städte Hoang, Thsi, Yang
und Ying 8 ), und das Geschlecht Wei unterwarf sich dir, o König.
Es trat dir ferner ab das Land im Norden des Pö-mo 9 ), es erfüllte
den Wunsch von Tsi und Thsin und zerbrach das Rückgrat der
Reiche Tsu und Tschao. Die Welt schloss sich fünfmal fest zusammen,
Dies geschah im vier und zwanzigsten Jahre des Königs Tschao von Thsin
(283 vor Chr.).
2* I7ÜISuan-ke.
3) /S hiü -
4 ) ^ Thao.
•> ffll Hing ist der heutige Kreis Schün-te in Pe-tschi-li.
6 ) Die Gebiete Pu, ^jJp Yen und Scheu-yuen lagen in dem heuti
gen Kreise Khai-fung, Provinz Ho-nan.
'>£ f= Jiu-khieu und £ ¥ Ping-khieu gehörten zu dem heutigen Di-
stricte Tschin-lieu, Kreis Khai-fung, Provinz Ho-nan.
8 > j|f Hoang, Thsi, Yang, 1||1 Ying.
9 ) IW' 71 dE Pö-mo steht f
Thsi ergiessl.
für / j^ZP(),
den Namen eines Flusses , der sich in den
Zur Geschichte des Entsatzes von Han-tan.
107
sechsmal versammelte sie sich in Schaaren und wagte es nicht,
zu Hilfe zu kommen. Deine Macht, o König, zeigt sich dabei auch
einzig. Wenn du, o König, im Stande bist festzuhalten an deinen
Verdiensten, zu bewahren deine Macht, fahren zu lassen den Sinn
für Angriffe und Eroberungen, dafür aber zu bebauen das Land der
Menschlichkeit und Gerechtigkeit, so wirst du bewirken, dass du
später keine Ursache hast zu bereuen. Die drei Könige wären dann
nicht würdig des vierten. Die fünf Oberherren wären dann nicht
würdig des sechsten. Wenn du aber, o König, den Rücken kehrst
der Menge der Menschen, dich stützest auf die Stärke der Angriffs-
waflfen und Panzer, dich bedienst der Macht, mit der du zu Grunde
richtest Wei, und durch Gewalt zu deinem Diener machen willst
den Gebieter der Welt 1 ), so fürchte ich, dass du später Ursache
haben wirst zu bereuen. In einem Gedichte heisst es:
Der Anfang Jedem wird zu Theil,
Doch Wen’gen wird ein gutes Ende.
Das Buch der Verwandlungen sagt: „Der Fuchs der setzt über
einen Fluss, taucht in das Wasser den Schweif“. — Dieses bedeu
tet: Der Anfang ist leicht, das Ende schwer. Wie solltest du wissen,
dass dem so ist?
Einst erkannte das Geschlecht Tschi 2 ) den Nutzen eines An
griffs auf Tschao, aber es sah nicht vorher das Unglück von Yü-
thse 3 ). U erkannte die Vortheile eines Angriffs aufTsi, aber es sah
nicht vorher die Niederlage von Kan-sui 4 ). Diesen beiden Reichen
fehlte es nicht an grossen kriegerischen Verdiensten. Sie versenkten
sich in den Nutzen in der früheren Zeit und machten einen Tausch
mit der Reue in späterer Zeit. U vertraute auf Yue, dass es sich an-
schliesse, und machte einen Angriff auf Tsi. Nachdem es besiegt
die Menschen von Tsi in Ngai - ling, kehrte der König zurück und
*) Gen Himmelssohn.
2 ) Der in der „Geschichte des Hauses Tschao“ vorgekommene Tschi-pe, d. i. Fürst
von Tschi.
3 ) Der heutige gleichnamige District des Kreises Thai-yuen, Provinz Schan-si. An
diesem Orte ward der Fürst von Tschi durch die Macht der Häuser Tschao, Wei
und Han angegriffen und getödtet.
4 ) In Kan-sui ward , wie in der „Geschichte des Reiches U“ erzählt worden, zuletzt
das Heer von U durch Yue geschlagen.
108
Dr. I* f i z in a i e r
ward von dem König von Yue gefangen an dem Seitenarme der drei
Inseln. Das Geschlecht Tschi vertraute auf Han und Wei, dass sie
sich auschliessen, und machte einen Angriff auf Tschao. Es hatte
bestürmt die Feste von Tsin - yang und gesiegt schon vor Tagen.
Han und Wei fielen von ihm ab. Sie tödteten Yao 1 ), Fürsten von
Tschi, unter der behauenen Terrasse 3 ). Jetzt bist du, o König, un
gehalten, dass du nicht zu Grunde gerichtet hast Tsu, uud vergissest,
dass du, wenn du zu Grunde richtest Tsu, erstarken machst Han und
Wei. Ich überlege deine Sache, o König, aber ich fasse keinen
Beschluss. In einem Gedichte heisst es:
Die grosse Kriegskunst fern’ den Wohnsitz hat,
Man setzt zu ihm nicht über.
Betrachtet man es demgemäss, so ist das Reich Tsu der Leiter,
die benachbarten Reiche sind die Feinde. Ein Gedicht sagt ferner:
Bald hier bald dort der list’ge Hase hüpft,
Trifft er auf einen Hund, ist er gefangen.
Die andern Menschen haben einen Sinn,
Ich will durch Überlegung es erlangen.
Jetzt bist du, o König, mitten auf dem Wege und vertraust
darauf, dass Han und Wei dir in Freundschaft zugethan, o König.
Gerade so vertraute U auf Yue. Ich habe gehört: Von dem Feinde
darf man nichts borgen. Die Zeit darf man nicht verlieren. — Ich
fürchte, dass Han und Wei durch demüthige Worte bannen wollen
deine Sorge und in Wahrheit betrügen wollen dein grosses Reich.
Wie könntest du dann, o König, dem ausweichen, dass dn keinen
Werth legest auf die Dankbarkeit des Zeitalters gegen Han und
Wei, und dass du dir zuziehest den Hass der fortgesetzten
Geschlechtsalter?
In Han und Wei haben Vater und Söhne, ältere und jüngere
Brüder, indess die einen traten in die Fussstapfen der anderen, den
Tod gefunden durchThsin, es werden sein bereits zehn Geschlechts
alter. Ihre Reiche sind verdorben, die Landesgötter zu Grunde
gegangen, die Ahnentempel zerstört. Ringsauf gespaltene Leiber, zer-
*) Yao ist der Name fies Fürsten von Tschi.
2 ) Die „behauene Terrasse“ befand sich auf dem oben erwähnten Gebiete Vii-lhse.
Zur Geschichte des Entsatzes von Han-tan.
109
rissene Eingeweide, gebrochene Nacken, zerriebene Kinne, Häupter
von dem Rumpfe getrennt, bleichende Gebeine inmitten der Gräser
und an den Sümpfen. Schädel umherliegend auf dem Boden blicken
auf einander an den Grenzen. Väter und Söhne, Greise und Schwache
mit zusammengebundenen Hälsen und gefesselten Händen, die
gemacht wurden zu Gefangenen, begegnen einander auf den Wegen.
Götter und Geister sind verlassen, verletzt, es gibt nichts, das sie
speisen könnte mit Blut. Menschen und Volk wachsen nicht an im
Geringsten, Seitenlinien und Verwandte trennen sich. Diejenigen
die ziehen in die Verbannung, die Knechte werden und Kebsweiber,
erfüllen Alles was innerhalb der Meere. Desswegen sind Han und
Wei, wenn sie nicht zu Grunde gehen, ein Gegenstand des Kummers
für die Landesgötter von Thsin. Wenn du jetzt, o König, ihnen in
Tausch gibst und mit ihnen gemeinschaftlich angreifst Tsu, ist dies
nicht auch ein Fehler ?
Dann auch, wenn du, o König, angreifst Tsu, auf welche
Weise wirst du hinüber senden die Kriegsmacht ? Wirst du, o König,
den Weg zu leihen nehmen von dem feindlichen Han und Wei? An
dem Tage wo die Kriegsmacht auszieht und du, o König, darüber
trauern würdest, dass sie nicht mehr zurückkehrt, würdest du, oKönig,
die Kriegsmacht in Tausch gegeben haben dem feindlichen Han und
Wei. Nimmst du, o König, den Weg nicht zu leihen von dem feind
lichen Han und Wei, so musst du angreifen das Land an den Wassern
des Sui *) und die Erde zur Rechten. Dort wo das Land an den
Wassern des Sui und die Erde zur Rechten, sind überall breite
Ströme, grosse Gewässer, Berge und Wälder, tiefe Thäler und
Strecken die keine Nahrung bieten. Wenn du, o König, sie auch
besitzest, hast du doch nicht das Land gewonnen. Auf diese Weise
hättest du, o König, den Namen, dass du zerstört hast Tsu, aber die
Wirklichkeit wäre, dass du kein Land gewonnen. Auch würden von
dem Tage wo du, o König, Tsu angreifst, die vier Reiche insge-
sammt greifen zu den Waffen, um dir, o König, hieraufzu antworten.
Wenn die Streitkräfte von Thsin und Tsu Zusammentreffen, ohne
von einander abzulassen, wird das Geschlecht Wei ausrücken und
1 ) Der Fluss Sui befindet sich in dem Itenlig-en gleichnnmigen nistriete Sui,
Kreis Te-ngan, Provinz Hu-kuang.
110
Dr. P f i z m a i o r
angreifen die übrigen Gegenden sammt Sein 1 )»Hu a ),Ling*)»Thang 4 ),
Siao 5 ) und Siang 6 ). Das alte Sung wird zu Grunde gehen. Die
Menschen von Tsi werden, das Gesicht gekehrt nacli Süden, angrei
fen Tsu an den Ufern des Sse. Sie werden das Land gewiss nehmen.
Dies sind durchaus ebene Flächen, nach allen Seiten fette Land
striche, und du würdest bewirken, dass jene allein sie angreifen. Du,
o König, würdest zertrümmern Tsu, um zu vergrössern Han und
Wei auf Kosten des mittleren Reiches und bringen Han und Wei zu
einer Stärke, dass sie gewachsen sind dem Reiche Thsin. Tsi wird
im Süden die Wasser des Sse sieb setzen zur Grenze, im Osten den
Rücken lehnen an das Meer, im Norden sich stützen auf den Fluss 7 ),
und es hat später nichts zu besorgen. Unter den Reichen der Welt
ist keines stärker als Tsi und Wei. Wenn Tsi und Wei gewinnen das
Land, wenn sie sich zudecken mit dem Nutzen und berathen die
Angelegenheiten mit den untergeordneten Anführern, so werden
nach einem Jahre deren Herrscher auftreten als Kaiser. Sie können
es aber noch nicht dahin bringen, dass sie besitzen einen grösseren
Überfluss an Macht, als der König von Tsu, wenn er aufträte als
Kaiser. Wenn du, o König, mit dem Umfange deines Landes, mit der
Menge deiner Menschen, mit der Stärke deiner Waffen ein einziges
Mal unternehmen würdest eine Sache und dadurch Hass pflanzen bei
Tsu, so würdest du heissen Han und Wei überlassen die Kaiserwürde
und alles Ansehen an Tsi. In diesem Falle hättest du, o König, dich
verrechnet.
Wenn ich deinetwegen, o König, nachdenke, so geht nichts
über das gute Einverständnis mit Tsu. Wenn Thsin und Tsu sich
vereinen und ein Ganzes bilden, wenn sie herniederblicken auf Han,
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Schi, der heutige District So-tscheu, Kreis Fung-yang in Kiang-nan.
Hu, die Gegend des gleichnamigen Sees in Ho-nan.
Ling, der heutige gleichnamige District des Kreises Thsi-nnn in Schan-tung.
Thang, der heutige District Ning-ling in dem Kreise Kuei-te, Provinz Ho-nan.
5 ) Siao, der heutige gleichnamige District des Kreises Siü-tscheu in Kiang-nan.
•>$ Siang, der heutige District Ngan-yang, Kreis Tschang-te , Provinz Ho-nan.
7 ) Dies der Fluss des Nordens (der Pe-ho).
ft
Zur Geschichte des Entsatzes von Han-tan.
111
so wird Han gewiss, indem es die Hand reicht, zur Linken zum Geschenk
machen die steilen Abhänge der östlichen Berge, es wird sich umgürtcn
mit dem Nutzen des gekrümmten Flusses *). Der Herrscher von Han ist
dann ein Lehensfürst diesseits des Grenzpasses. Nachdem dies ge
schehen, legst du, o König, eine Besatzung von hunderttausend Strei
tern nach Tsching und den Ländern des Geschlechtes Liang, erfüllst
mit kaltem Schauer Hiü, Yen-ling, die Feste von Ying 2 ), und in dem
oberen Tsai, in Schao-ling zieht man nicht mehr des Weges. In diesem
Falle ist auch der Herrscher von Wei ein Lehensfürst diesseits des
Grenzpasses. Stehst du, o König, einmal auf gutem Fusse mit Tsu,
und die zwei Gebieter von zehntausend Wagen, die diesseits des
Grenzpasses, wenden sich um Land nach Tsi, dann kann, während
man niederhängen lässt die Arme, die Erde zur Rechten von Tsi
erobert werden. Zieht sich dein Land, o König, einmal bis zu den
Ufern der beiden Meere 3 ), bindest du durch Verträge die Welt, so
sind Yen und Tschao ohne Tsi und Tsu, Tsi und Tsu sind ohne Yen
und Tschao. Dann bringst du in Gefahr und erschütterst Yen und
Tschao, du bringst ohne Weiteres zum Schwanken Tsi und Tsu.
Diese vier Reiche werden nicht warten bis sie Schmerz empfinden,
sondern sogleich sich unterwerfen.
Der König von Thsin fand den in diesem Schreiben ertheilten
Rath vortrefflich. Er gab sofort dem Fcldherrn Pe-khi Gegenbefehl
und sagte Han und Wei ab. Zugleich schickte er einen Gesandten
mit Geschenken nach Tsu, um mit diesem Reiche in Betreff eines
Anschlusses zu unterhandeln. Hoang-hö empfing noch während seiner
Anwesenheit in Thsin die Bedingungen des Anschlusses und kehrte
hierauf nach Tsu zurück.
Später ward Hoang-hö in Begleitung des Prinzen Hoan,
Thronfolgers von Tsu, der von diesem Reiche als Geisel gestellt
ward, nach Thsin geschickt. Thsin hielt den Thronfolger durch
mehrere Jahre zurück und ertheilte ihm auch dann nicht die Erlaub-
1 ) Die Krümmung des gelben Flusses an der Stelle, wo er seinen Lauf nach Osten
nimmt.
ag
2 ) Die feste Stadt Ying ist dieselbe, welche in dem früheren Theile dieses
Schreibens vorgekommen.
:{ ) Der nördliche und der südliche Theil des im Osten liegenden Meeres, beut zu Tage
das „gelbe“ und das „östliche Meer“.
112
Dr. P f i z m a i e r
niss zur Rückkehr, als sein Vater, der König Khing-siang, schwer
erkrankte. Der Prinz von Tsu stand übrigens mit dem Fürsten von
Ying, dem damaligen Reichsgehilfen von Thsin, auf gutem Fusse.
Hoanar-hö suchte von diesem Umstande Nutzen zu ziehen und liess
sich mit dem Fürsten von Ying in eine Unterredung ein, indem er
ihn fragte: Steht der Reichsgehilfe in Wahrheit auf gutem Fusse mit
dem Thronfolger von Tsu?
Als der Reichsgehilfe dies bejahte, fuhr Hoang-ho fort: Da jetzt
zu fürchten, dass der König von Tsu nicht genesen werde von seiner
Krankheit, muss Thsin heimkehren lassen seinen Sohn, den Thron
folger. Wenn der Thronfolger zur Regierung gelangt, wird er Thsin
dienen gewiss auf ausnehmende Weise und seine Dankbarkeit gegen
den Reichsgehilfen wird keine Grenzen haben. Er würde in Freund
schaft anhängen mit seinem Reiche, und es würde euch gedient sein
mit zehntausend Wagen. Lässt man ihn aber nicht heimkehren, so
hätte Hien-yang nur die Kleidung aus grobem Stoffe. Tsu wird einen
Anderen erheben zum Thronfolger und gewiss nicht dienen Thsin.
Verlieren ein ergebenes Reich und zerreissen ein Ründniss von zehn
tausend Wagen, ist keine gute Berechnung. Ich wünsche, dass der
Reichsgehilfe dieses reiflich überlege.
Der Fürst von Ying trug den Gegenstand dem Könige von
Thsin vor. Dieser sprach: Man heisse den Stellvertreter des Thron
folgers von Tsu früher abreisen und sich nach der Krankheit des
Königs von Tsu erkundigen. Erst wenn er zurückgekehrt sein wird,
möge man die Sache berathen.
Unter diesen Umständen traf Hoang-hö mit dem Thronfolger
eine Verabredung, indem er zu ihm sprach: Thsin hält den Thron
folger zurück, weil es von ihm Nutzen ziehen will. Jetzt war der
Thronfolger durch seine Kraft noch nicht im Stande, Thsin Nutzen
zu schaffen. Ich bin darüber höchst bekümmert, und die beiden
Söhne des Landesherrn von Yang-wen *) befinden sich in dem Lande.
Wenn der König sterben sollte und das Reich übergeht an den
Thronfolger, dieser aber nicht anwesend ist, so wird ein Sohn des
Landesherrn von Yang-wen zum König erhoben. Es wird geschehen,
dass der Thronfolger später nicht mehr darbringen kann das Opfer
Yang-wen, ein sonst nirgends genannter Prinz des
l ) Der Landesherr von
Reiches Tsu.
Zur Geschichte des Entsatzes von Han-tan.
113
in dem Ahnentempel. Du musst fliehen aus Thsin und mit dem Abge
sandten zugleich hinaustreten. Ich bitte, hier verweilen zu dürfen
und dafür zu sterben.
Der Thronfolger verkleidete sich hierauf und gelangte als
Wagenführer des nach Tsu reisenden Abgesandten über die Grenze,
während Hoang-ho zurückblieb und , ein Unwohlsein vorschützend,
sein Haus nicht verliess. Erst als er glaubte, dass der Thronfolger
sich weit genug von Thsin entfernt habe, um nicht mehr eingeholt
werden zu können, meldete er dem König Tschao von Thsin: Der
Thronfolger von Tsu ist bereits heimgekehrt und befindet sich in
weiter Entfernung. Mir kommt es zu, dass ich sterbe, und ich wün
sche, dass man mich beschenke mit dem Tode.
Der König gerieth auf diese Worte in heftigen Zorn und wollte
die Bitte Hoang-lm’s erhören, der in Folge dessen gezwungen gewe
sen wäre, sich das Lehen zu nehmen. Der Fürst von Ying stellte
jedoch vor: Ho als Minister unter den Menschen hat blossgestellt
seinen Leib, um zu umwandeln seinen Gebieter. Wenn der Thron
folger die Regierung antritt, wird er gewiss verwenden wollen Hö.
Desswegen muss man ihn, ohne dass er eines Verbrechens geziehen
wird, heimkehren lassen, um sich zu befreunden mit Tsu.
Thsin schickte jetzt Hoang-ho zurück. Drei Monate nach dessen
Ankunft in Tsu starb König Ivhing-siang (263 vor Chr.), und der
Thronfolger Wan, genannt König Khao-lie, ward zum Könige er
hoben. Der neue König ernannte lloang-lm gleich in seinem ersten
Regierungsjahre (262 vor Chr.) zum Reichsgehilfen und verlieh ihm
den Titel eines Landesherrn von Tschün-schin. Das Land welches
der neue Lehensfürst zum Geschenk erhielt, lag im Norden des
Flusses Hoai und umfasste zwölf Bezirke. Fünfzehn Jahre später
(248 vor Chr.) erklärte sich Hoang-ho gegen den König von Tsu:
Das Land im Norden des Hoai grenzt an Tsi. Seine Sachen stehen
gefährlich. Ich bitte, daraus eine Landschaft zu bilden.
Hoang-ho machte hierauf dein Reiche die zwölf Bezirke im
Norden des Hoai zum Geschenk und bat, dass er mit dem im Osten
des Stromes 4 ) gelegenen Lande belehnt werde. König Khao-lie
gewährte die Bitte, worauf der Landesherr von Tschün-schin den
*) Das Land an der Mündung des Stromes Yang-tse , welches das frühere Reich ü.
Sit/.h. d. phil.-hist. CI. XXXI Bd. I. Hit. 8
114
Dr. Pfizmnier
alten Herrschersitz des früheren Reiches U mit Mauern umziehen
liess und denselben zu der Hauptstadt seines Lehens erhob.
Zur Zeit als der Landesherr von Tschün-schin in Tsu Reichs
gehilfe war, lebten in fremden Reichen drei bekannte Prinzen
welche es sich zur Ehre rechneten, eine grosse Menge von Gästen
um sich versammeln zu können. Dieselben waren der Landesherr von
Meng-tschang in Tsi, der Landesherr von Ping-yuen in Tschao und
der Landesherr von Sin-ling in Wei. Durch den Ruf dieser Männer
welche zugleich auch grossen Einfluss in Regierungsangelegenheiten
hatten, ward der Landesherr von Tschün-schin bestimmt, ebenfalls
eine Menge von Gästen an sich zu ziehen.
Während der Landesherr von Tschün-schin das Amt eines
Reichsgehilfen in Tsu bekleidete, erlitt Tschao (2G0 vor Chr.) die
Niederlage von Tschang-ping, wobei vierhundert tausend seiner
Krieger den Tod fanden. Als die Heere von Thsin hierauf (257 vor
Chr.) Han-tan belagerten und Tschao, wie in dem Leben des Lan
desherrn von Ping-yuen erzählt worden, sich nach Tsu um Hilfe
wandte, war es der Landesherr von Tschün-schin, der, von dem
Könige von Thsin an die Spitze eines Heeres gestellt, die Haupt
stadt von Tschao entsetzen half.
Eben so war es der Landesherr von Tschün-schin, der (255
vor Chr.) als Feldherr von Tsu das Reich Lu angriff und eroberte.
Fürst Khing von Lu ward zuerst mit der Stadt Khiü belehnt, später
jedoch in das Innere von Tsu versetzt, worauf (249 vor Chr.) dessen
Reich gänzlich vernichtet und er selbst zu einem Untergebenen des
königlichen Hauses von Tsu gemacht wurde. Das Reich Tsu war in
Folge dieser Vorgänge allmälig wieder zu seiner früherenMacht gelangt.
Von der Art und Weise, wie dieser Mann seine Vorliebe für die
ihn besuchenden Gäste zur Schau stellte, wird folgendes Beispiel
erzählt. Ein Abgesandter des Landesherrn von Ping-yuen erschien
bei dem Landesherrn von Tschün-schin und ward von diesem in
einem Wohngebäude ersten Ranges aufgenommen. Der Fremdling
aus Tschao, der hei dieser Gelegenheit gegen Tsu prahlen wollte,
trug grosse zum Schmucke dienende Haarnadeln aus sogenannten
Schildkrötenschuppen *), während die Scheide seines Schwertes
Tai-mei heisst ein einer Schildkröte ähnliches Seethier, dessen Schup
pen von der Grösse eines Fächers, glänzend und dabei weich wie Haut sein sollen.
Zur Geschichte des Entsatzes von Han-tan.
115
reich mit Perlen und Edelsteinen besetzt war. Er bat, unter die Zahl
der Gäste des Landesherrn von Tschün-schin aufgenommen zu
werden. Dieser stellte jetzt seine Gäste vor, deren über drei tausend
waren und von denen die im Range höher stehenden insgesammt mit
Perlen besetzte Schuhe trugen. Der Abgesandte von Tschao, der den
Aufwand in seiner Kleidung zur Schau stellen wollte, ward dadurch
in hohem Grade beschämt.
In späterer Zeit gestalteten sich die Verhältnisse wieder
ungünstiger für Tsu. Tschuang-siang, der neue König von Thsin,
ernannte gleich nach seiner Thronbesteigung (249 vor Chr.) den
bekannten Liü-pü-wei zum Reichsgehilfen und verlieh demselben den
Titel eines Fürsten von Wen-sin, worauf auch das östliche Tscheu
erobert und somit der Dynastie dieses Namens ein vollständiges
Ende gemacht wurde. Nachdem der Landesherr von Tschün-schin
zwei und zwanzig Jahre Reichsgehilfe gewesen, vereinigten sieh die
meisten der noch unabhängigen Reichsfürsten, der unaufhörlichen
Angriffe welche sie von Seite des Reiches Thsin zu erdulden hatten,
endlich müde, ihrerseits (241 vor Chr.) zu einem Angriffe auf Thsin.
Bei diesem Angriffe, an dem die Reiche Tschao, Wei, Han, das
kleine Wei und Tsu theilnahmen und der von Tsu in der Person des
Landesherrn von Tschün-schin geleitet wurde, drangen die Heere
der Verbündeten bis zu dem weit im Westen gelegenen Passe Han-
kö, der Grenze des eigentlichen Thsin. Durch die schnell hervor
brechende Kriegsmacht von Thsin erlitten jedoch sämmtliche Ver
bündete eine schwere Niederlage und wurden zur Flucht genöthigt.
König Khao-lie von Tsu schob die Schuld des Misslingens dieser
Unternehmung auf den Landesherrn von Tschün-schin, der hierdurch
dem Könige immer mehr entfremdet wurde.
Unter diesen Umständen ertheilte Tschü-ying, ein
Eingeborner von Kuan-tsin, der ein Gast des Landesherrn von
Tschün-schin, seinem Gebieter folgenden Rath: Die Menschen ins
gesammt hielten Tsu für stark, doch als du, o Herr, von seiner Macht
Gebrauch machtest, erwies es sich schwach. Dies scheint mir daher
zu rühren, dass die Dinge sich anders verhalten. Früher standest du,
o Herr, lange Zeit auf gutem Fusse mit Thsin, und dieses hat durch
zwanzig Jahre Tsu nicht angegriffen. Was davon die Ursache? Dass
Thsin hätte überschreiten sollen die Versperrungen von Ming-
8*
116
Dr. P f i z in a i e r
yai') und angreifen Tsu, war nicht leicht. Zn leihen nehmen den Weg
von den beiden Tscheu, im Rücken lassen Han und Wei und angreifen
Tsu, liess sich nicht ausführen. Jetzt aber verhalten sich die Dinge
anders. Wei geht zu Grunde zwischen Morgen und Abend, es ist
nicht im Stande zu schonen Hiü und Yen-ling. Wird Hiü abgetreten
von Wei und gehört es zu Thsin, so ist die Streitmacht von Thsin
entfernt von Tschin hundert sechzig Meilen 2 ). Wenn ich dies
betrachte, so kann ich Voraussagen, dass Thsin und Tsu täglich
mit einander streiten werden.
Tsu gab jetzt, als dieser Rath geltend gemacht wurde,
Tschin als Hauptstadt auf und verlegte den Sitz der Regierung nach
dem noch weiter südöstlich jenseits des Flusses Hoai gelegenen
Scheu-tschün 3 ), während Thsin den Fürsten des kleinen
Reiches Wei nach Ye-wang 4 ) versetzte und aus dem Reiche selbst
eine neue Provinz, die östliche Landschaft genannt, bildete. Im
Zusammenhänge mit diesen Veränderungen stand die schon früher
erwähnte Relehnung des Landesherrn von Tschiin-schin mit dem
Gebiete des ehemaligen Reiches U.
Der Landesherr von Tschiin-schin, der die erste Stelle in Tsu
bekleidete und seinen Namen zu grosser Berühmtheit gebracht hatte,
sollte gleichwohl, da er sich in späteren Jahren in arge Ränke ein-
liess, ein klägliches Ende nehmen. König Khao-lie von Tsu hatte
nämlich keine Söhne, ein Umstand, in dem der Reichsgehilfe für sich
keinen Vortheil sah. Er suchte daher Weiber welche zur Empfäng-
niss geeignet schienen, und hatte deren schon eine grosse Menge,
ohne dass jedoch der Zweck erreicht worden wäre, bei dem Könige
eingeführt. Ein Eingeborner von Tsehao, Namens | f*r| Li-yuen
hatte eine Schwester welche er bei dem Könige einzuführen
wünschte. Da er jedoch in Erfahrung gebracht hatte, dass dieselbe
zur Empfängniss nicht geeignet sei, so fürchtete er, dass sie lange
Ming-yai ist in einer anderen Schreibart schon in dem „Lehen des
Prinzen Wu-ki von Wei“ vorgekommen.
2 ) Tschin, die damals gewählte Hauptstadt von Tsu, lag in der hier angegebenen
Entfernung südöstlich von Hifi.
3 ) Der heutige District Scheu-tscheu, Kreis Fung-yang, Provinz Kiang-nan.
4 ) Das heutige Ho-nei, Kreis Hoai-khing, Provinz Ho-uan.
Zur Geschichte des Entsatzes von Han-tan.
117
Zeit Her Gunst des Königs nicht theilhaftig werden würde. Li-yuen,
seine eigenen Pläne verfolgend, bewarb sich jetzt bei dem Landes
herrn von Tschün-schin um einen Platz als Hausgenosse. Nachdem er
diesen erhalten und einst von seinem Gebieter zu einer Botschaft
verwendet wurde, versäumte er absichtlich die Zeit und richtete den
Auftrag später aus. Von seinem Gebieter darum befragt, antwortete
er verstellter Weise: Der König von Tsi hat durch einen Abge
sandten meine Schwester begehrt. Ich trank mit dem Abgesandten
Wein, desswegen versäumte ich die Zeit. — Der Landesherr von
Tschün-schin fragte, ob der Brautwerber schon angekommen. Nach
dem er gehört, dass dieses noch nicht geschehen, fragte er, ob er
das Mädchen sehen könne. Li-yuen bejahte dies und führte seine
Schwester bei dem Landesherrn von Tschün-schin ein, der dieselbe
auch seiner Gunst würdigte.
Als es gewiss war, dass dieselbe von dem Landesherrn von
Tschün-schin empfangen, traf Li-yuen mit seiner Schwester eine
Verabredung, der zu Folge diese dem Fürsten folgenden Vorschlag
machte: Der König von Tsu schätzt dich hoch und beglückt dich,
o Herr, auf eine Weise, wie dies selbst bei seinen Brüdern nicht
der Fall. Jetzt hist du, o Herr, Beichsgehilfe in Tsu zwanzig Jahre,
aber der König besitzt keinen Sohn. Nach hundert Jahren wird man
wohl einsetzen andere Brüder, und dann wird auch Tsu einsetzen
andere Nachfolger, o Herr, als die deinen. Eben so wird jeder hoch
schätzen diejenigen, mit denen er von jeher befreundet. Wie wäre
es dir dann, o Herr, noch möglich, lange in Gunst zu stehen? Dies ist
aber nicht alles. Du, o Herr, hist hochgeehrt, hast die Geschäfte
geführt lange Zeit und dabei oft verstossen gegen die Gebräuche im
Verkehr mit den Brüdern des Königs. Wenn einer der Brüder in
Wahrheit sollte eingesetzt werden als König, so wird das Unglück
nahe rücken deinem Leibe. Wie könntest du dann noch bewahren
das Siegel des Beichsgehilfen und das Lehen im Osten des Stromes?
Jetzt ist mir bekannt, dass ich von dir empfangen; aber Niemand
weiss dieses. Dass ich beglückt wurde durch deine Gunst, o Herr,
ist noch nicht lange. Wenn in Wahrheit durch deinen Einfluss, o
Herr, du mich einführen möchtest bei dem König von Tsu, so wird
der König mich gewiss durch seine Gunst beglücken. Erhalte ich,
indem ich mich verlasse auf den Himmel, ein Kind, und ist dieses
ein Knabe, so wird dein Sohn, o Herr, der König, und das Beich
118
Dr. Pfiz m aier
Tsu kann vollständig durch dich in Besitz genommen werden. Ist
dies nicht besser, als mit dem Leibe stehen an dem Rande einer
unergründlichen Schuld?
Der Landesherr von Tschün-schin schenkte diesem Rathe seine
volle Zustimmung. Er entfernte die Schwester Li-yuen’s aus seinem
Hause, stellte sie in einem anderen Wohngebäude unter Aufsicht
und sprach ihretwegen mit dem Könige. Dieser liess sie hierauf zu
sich berufen und schenkte ihr seine Gunst. Die Schwester Li-yuen’s
gebar nach einiger Zeit einen Knaben. Dieser ward zum Thronfolger
von Tsu, dessen Mutter zur Königinn ernannt, während Li-yuen durch
die Gunst des Königs zu grossem Ansehen gelangte.
Li-yuen, dem somit sein Wagniss gelungen, indem seine
Schwester zur Königinn, deren Sohn zum Thronfolger von Tsu
erhoben worden, fürchtete jetzt, dass der Landesherr von Tschün-
schin das Geheimniss verrathen könne und dass der Stolz desselben
unter solchen Verhältnissen noch mehr überhand nehmen werde. Er
hielt sich daher im Geheimen eine Anzahl todesmuthiger Krieger
und ging damit um, den Landesherrn von Tschün-schin zu tödten.
Er hoffte hierdurch vor einem Verrathe um so sicherer zu sein, als
unter den Bewohnern des Reiches kaum irgend Jemand von dem
Geheimniss wusste.
Der Landesherr von Tschün-schin war bereits fünf und zwanzig
Jahre Reichsgehilfe gewesen, als König Khao-lie von Tsu schwer
erkrankte. Der Gast Tschü-ying, der schon früher einmal seinem
Gebieter einen sehr nützlichen Rath gegeben, wandte sich neuerdings
an den Reichsgehilfen mit folgenden Worten: In dem Zeitalter gibt
es unverhofftes Glück. Es gibt aber auch unverhofftes Unglück. Jetzt
lebst du, o Herr, in einem unverhofften Zeitalter und dienst einem
unverhofften Gebieter; solltest du wohl entbehren können einen
unverhofften Menschen?
Der Reichsminister fragte: Was nennst du ein unverhofftes
Glück?
Tschü-ying erwiederte: Du, o Herr, bist Reichsgehilfe in Tsu
durch mehr als zwanzig Jahre. Du führst zwar den Namen eines
Gehilfen des Reiches, aber in Wirklichkeit bist du der König von
Tsu. Jetzt ist der König von Tsu schwer erkrankt, zwischen dem
Morgen und Abend erwartet man, dass er sterbe, und du, o Herr,
stehst dann zur Seite als Reichsgehilfe einem jungen Gebieter.
Zur Geschichte des Entsatzes von Han-tan.
l! 9
Hierauf gestützt, lassest du dich einsetzen an seine Stelle und bist
für das Reich, was gewesen 1-yün *) und der Fürst von Tscheu.
Nachdem der König erwachsen, bist du mit dem Zurückgeben der
Regierung in dessen Hände nicht pünctlieh. Hierauf sitzest du mit
dem Gesicht gekehrt nach Süden, nennst dich den Verwaisten 2 )
und besitzest das Reich Tsu. Dieses lässt sich nennen ein unver
hofftes Glück.
Der Reichsgehilfe fragte wieder: Was nennst du ein unver
hofftes Unglück:
Tschü-ying erwiederte: Li-yuen regiert kein Reich, aber er
ist, o Herr, dein Feind. Er übt nicht das Handwerk der Waffen, aber
er hält sich Krieger des Todes schon seit langen Tagen. Wenn der
König von Tsu stirbt, wird Li-yuen gewiss früher eintreten, sich
bemächtigen der Gewalt und dich, o Herr, tödten, um gewiss zu
sein deines Schweigens. Dieses lässt sich nennen ein unverhofftes
Unglück.
Der Landesherr von Tsehün-schin fragte noch einmal: Was
nennst du einen unverhofften Menschen?
Der Gast antwortete: Mögest du, o Herr, mir einen Platz ver
schaffen in der Umgebung des Königs. Wenn der König von Tsu
stirbt, wird Li-yuen gewiss früher eintreten. Ich werde zu deinem
Resten, o Herr, Li-yuen tödten. Dieses lässt sich nennen: ein unver
hoffter Mensch.
Der Landesherr von Tschün-schin schenkte jedoch den Worten
seines Gastes keinen Glauben. Er meinte: Ich habe ihn an einen
Platz gestellt. Li-yuen ist ein schwacher Mensch, die Diener stehen
auch mit ihm auf gutem Fusse; wie sollte er da noch einen solchen
Schritt wagen?
Als Tschü-ying sah, dass sein Rath nicht angenommen wurde,
fürchtete er, in das Unglück das nach seinem Dafürhalten den
Reichsgehilfen treffen würde, hineingezogen zu werden und floh aus
dem Lande. Siebzehn Tage später starb König Khao-lie von Tsu
(238 Yor Chr.). Li-yuen begab sich wirklich, wie Tschü-ying vor-
hergesagf hatte, früher an den Hof und legte seine todesmuthigen
" f I-yün, ein Minister des Königs Thang von Yin.
2 ) »Oer Verwaiste“ ist der Name den ein Reichsfürst sich seihst heilegt, wenn er
Unglück hat oder in der Trauer sich befindet.
120
Di*. P f i z m a i e r
Krieger innerhalb des Thores pfj jpjjl Ke-men in einen Hinter
halt. Als der Landesherr von Tschiin-schin ebenfalls durch dieses
Thor eintrat, erstachen ihn die daselbst im Hinterhalte liegenden
Krieger, schlugen ihm das Haupt ah und warfen es vor das Thor.
Hierauf sandte man Leute aus welche das ganze Haus des
Landesherrn von Tschün-schin vernichteten, während der Sohn
der Schwester Li-yuen's, derselben welche der Landesherr von
Tschün-schin früher seiner Gunst gewürdigt und, nachdem sie von
ihm empfangen, bei dem Könige von Tsu eingeführt hatte, zum
Könige von Tsu erhoben wurde. Derselbe heisst in der Geschichte
König Yen. In demselben Jahre, in welchem dies geschah, dem
neunten des späteren Kaisers Schi von Thsin, suchte Lao-ngai, ein
Geschöpf des Reichsgehilfen Liü-pu-wei, in Thsin ebenfalls eine
Empörung zu erregen, ward jedoch daran verhindert und fand sammt
den drei Seitenlinien seines Geschlechtes, welche ausgerottet wurden,
den Untergang.
Der Weltbürger Iiu-tschung-lien.
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Lu-tschung-lien war ein Eingeborner des Reiches
Tsi. Derselbe war ein Freund von ungewöhnlichen, weitgehenden
Berechnungen und wollte nicht unter den Obrigkeiten dienen. In dem
Amte welches er früher bekleidete, hatte er eine Vorliebe für alles
Grossartige gezeigt. Ohne irgend ein Amt zu bekleiden, unternahm
er jetzt eine Reise nach Tschao. In diesem Reiche herrschte eben
König Hiao-tsching, zu dessen Zeit Pe-khi, Feldherr von Thsin, die
Heere von Tschao in Tschang-ping vernichtete und Han-tan, die
Hauptstadt des Reiches, belagert ward. Der König von Tschao hatte
bereits mehrere Reiche um Hilfe gebeten, aber Niemand wagte einen
Angriff auf das Heer von Thsin. Rlos Ngan-li, König vonWei, liess
den Feldherrn Tsin-pi an der Spitze eines Heeres von hunderttausend
Manu zum Entsätze vorrücken, schickte jedoch, durch die Drohungen
von Thsin eingeschüchtert, Gegenbefehl, worauf das Heer an der Grenze
Halt machte und unbeweglich in ^Spt. Thang-yin lagerte <)•
*) Der noch heute diesen Namen führende District des Kreises Tschang-le in Ho-nan.
In dem Lehen des Prinzen VVu-ki von Wei wird die Stadt Nie als der Ort angegeben,
an welchem Tsin-pi sein Lager aufschlug.
Zur Geschichte des Entsatzes von Han-tnn.
121
Unterdessen entsandte der König von Wei den „gastenden
Feldherrn“ ^'jj ig Sin-yuen-yen, der Mittel fand nach Han-
tan zu gelangen, woselbst er durch den Landesherrn von Ping-yuen
dem Könige von Tschao folgenden Vorschlag machte: Dass Thsin
mit solcher Eile betreibt die Belagerung von Tschao, hat seinen
Grund darin: Einst wetteiferte es mit Min, König von Tsi, in Stärke
und sein Herrscher ward Kaiser. Hierauf legte er wieder ab den
Titel des Kaisers. Jetzt, nachdem Min, König von Tsi, nur noch
schwächer geworden, ist Thsin allein der Stärkere in der Welt.
Dieses Reich hat gewiss keine Begierde nach Han-tan. Seine Absicht
ist: sein Herrscher will wieder trachten zu werden der Kaiser.
Wenn Tschao in Wahrheit ausschickt einen Gesandten, wenn es
ehrt den König Tschao von Thsin und ihn betrachtet als Kaiser, so
wird Thsin sich gewiss freuen, dem Kriege ein Ende machen und
abziehen.
Der Landesherr von Ping-yuen war über den von ihm einzu
schlagenden Weg im Zweifel und hatte noch nichts entschieden, als
Lu-tschung-lien auf seiner Reise nach Tschao gelangte. Nachdem
derselbe erfahren, dass der Feldherr von Wei der Regierung von
Tschao gerathen, den König von Thsin als Kaiser anzuerkennen,
besuchte er den Landesherrn von Ping-yuen und fragte ihn: Was
wird sich bei der Sache thun lassen?
Der Prinz erwiederte: Wie sollte ich mich getrauen über die
Sache zu sprechen? Früher haben wir verloren eine Menge von
vierhunderttausend Kriegern in den auswärtigen Gebieten. Jetzt
belagert man wieder Han-tan im Innern, und wir sind nicht im Stande
den Feind von uns fern zu halten. Wei hat entsandt den gastenden
Feldherrn Sin-yuen-yen, es heisst Tschao anerkennen als Kaiser den
Herrscher von Thsin. Jetzt ist dieser Mensch bei uns anwesend; wie
sollte ich mich da getrauen über die Sache zu sprechen?
Lu-tschung-lien entgegnete: Früher hielt ich dich, o Herr, für
den weisesten Prinzen der Welt. Von heute an weiss ich jedoch,
dass du, o Herr, nicht hist der weiseste Prinz der Welt. Wo befindet
sich Sin-yuen-yen, der Gast aus Liang? Ich werde ihn in deinem
Namen, o Herr, zur Rede stellen und ihn zur Heimkehr bewegen.
Der Landesherr von Ping-yuen sprach: Ich werde bitten, dass
du mir der Gehilfe sein dürfest und werde ihn dir, o Meister, vor
stellen.
122
Dr. Pf izmaie r
Der Prinz begab sieb hierauf zu Sin-yuen-yen und sprach zu
ihm: In den östlichen Reichen lebt ein Meister Namens Lu-tschung-
lien. Dieser Mann befindet sich jetzt hier. Ich bitte, ihn als Gehilfen
zu dir, o Feldherr, gesellen zu dürfen.
Sin-yuen-yen entgegnete: Ich habe gehört, der Meister Lu-
tschung-lien ist ein hochfahrender Staatsdiener des Reiches Tsi.
Ich bin ein Minister unter den Menschen, ich ward geschickt in einer
Angelegenheit und habe ein bestimmtes Geschäft. Es ist nicht mein
Wunsch, dass ich den Meister Lu-tschung-lien sehe.
Der Prinz erwiederte, dass er die Sache dem Fremdling bereits
mitgetheilt, worauf der Feldherr in das Regehren willigte. Lu-
tschung-lien erschien jetzt, ohne ein Wort zu sprechen, vor Sin-
yuen-yen. Der Feldherr von Wei ergriff daher zuerst das Wort und
sprach: Ich habe bemerkt, dass Alle welche wohnen in dieser be
lagerten Stadt, ein Ansuchen zu stellen haben an den Landesherrn
von Ping-yuen. Indem ich jetzt, o Meister, dein kostbares Antlitz
betrachte, finde ich, dass du kein Ansuchen zu stellen hast an den
Landesherrn von Ping-yuen. Wie kommt es, dass du so lange ver
weilst in dieser belagerten Stadt und dich nicht entfernest?
Lu-tschung-lien antwortete: Das Zeitalter welches glaubte,
dass Pao-tsiao ‘) nicht gestorben mit Ruhe, war durchaus im Unrecht.
Wenn sämmtliche Menschen etwas nicht wissen, so bilden sie einen
einzigen Leib. Jenes Thsin ist ein Reich das verwirft die Gebräuche
und die Gerechtigkeit, das aber voranstellt das Verdienst der
Köpfe a ). Wenn es durch seine Gewalt verhängen sollte die Gefan
genschaft über diese Krieger, wenn es bringen sollte die Erniedri-
*) Über 'm ög Pao-tsiao hat der Verfasser bisher nichts Näheres gefunden. Bios
in einer Note zu dein Sse-ki wird gesagt, dass derselbe ein Gehilfe bei der Regie
rung von Tscheu gewesen und sich dem berühmten Weisen Tschuang-tse, einem
Zeitgenossen des Königs Hoei von Liang, vorgestellt habe.
2 ) Thsin führte auf den Rath des Prinzen Yang von Weizwanzig Rangstufen ein, welche
nach Verhältniss denjenigen zu Theil wurden, welche die Köpfe von Feinden abge
schlagen. Daher geschah es, dass sooft die Heere von Thsin in einem Kampfe
siegten, selbst Greise, Schwache und Weiber dem Tode geweiht wurden und dass die
Belohnungen für das nach einem solchen Massstabe geschätzte kriegerische Ver
dienst in einem solchen Falle oft nach Zehntausenden gerechnet wurde. Die Zeit
genossen nannten daher Thsin „das Reich welches das Verdienst der Köpfe voran-
steHt“, eine Bezeichnung, wodurch sie ihrem Abscheu vor der hier erwähnten Ein
richtung Ausdruck gaben.
Zur Geschichte des Entsatzes von Han-tan.
123
gung über dieses Volk, wenn in seiner Ungebundenheit sein Herr
scher sich aufwirft zum Kaiser, wenn es dann weiter gehen sollte
und führen die Regierung über die Welt, so brauche ich nur den
Fuss zu setzen auf das Ostmeer und zu sterben. Ich würde es nicht
ertragen, dass diese Menschen sein Volk. Was mich bewog, dich,
o Feldherr, zu besuchen, ist der Wunsch, Tschao zu helfen.
Sin-yuen-yen fragte: Welcher Mittel gedenkst du, o Meister,
dich zu bedienen, damit du ihm helfest?
Lu-tschung-lien antwortete: Ich werde Liang und Yen bewegen,
Hilfe zu senden, dann werden auch Tsi und Tsu ihm Hilfe leisten.
Der Feldherr entgegnete: Das Reich Yen werde ich bitten um
den Anschluss. Was aber Liang betrifft, so bin ich ein Mensch aus
Liang. Wie hist du, o Meister, im Stande, Liang zur Hilfeleistung
zu bewegen?
Lu-lien sprach: Liang sieht nur noch nicht ein, aus welchem
Grunde ihm Schaden erwächst, wenn der Herrscher von Thsin sich
Kaiser nennt. Kann ich es dahin bringen, dass Liang einsieht den
Schaden der ihm erwächst, wenn der Herrscher von Thsin sich
Kaiser nennt, so wird Liang auch Tschao zu Hilfe kommen.
Der Feldherr fragte: In wie fern bringt es Schaden, wenn der
Herrscher von Thsin sich Kaiser nennt?
Lu-lien erklärte sich wie folgt: Einst hatte Wei, König von
Tsi, geübt Menschlichkeit und Gerechtigkeit. Er stellte sich an die
Spitze der Fürsten der Welt und erschien an dem Hofe von Tsclieu.
Tsclieu war arm und auch unansehnlich, von den Fürsten der Reiche
erschien keiner an dessen Hofe, aber Tsi erschien allein an dem
Hofe. Nach einem Jahre starb König Lie von Tscheu *). Der Herr
scher von Tsi begab sich zu spät auf die Reise, ln Tscheu zürnte
man und schickte in Eile einen Abgesandten nach Tsi, der sprach:
Der Himmel ist eingestürzt, die Erde gespalten. Der Himmelssohn
ist herabgestiegen von seinem Teppich. Wenn der Minister des öst
lichen Geheges, der Vertreter von Tsi, zu spät kommt, so wird er
enthauptet. — König Wei von Tsi gerieth ausser sich vor Zorn und
schrie: Pfui! deine Mutter war eine Sclavinn! — Zuletzt ward er ver
lacht von der Welt. Als der König lebte, erschien er an dem Hofe von
Tscheu, nachdem der König gestorben, schrie er es an. Desswegen
\) Dies geschah im zehnten Jahre des Königs Wei von Tsi (369 vor Ohr.).
124
Dr. Pfiz ma ie r
lässt sicli in Wahrheit nicht erlragen, dass man hiernach strebe.
Jener Himmelssohn ist noch immer derselbe, und hierüber braucht
man sieb nicht zu verwundern.
Sin-yuen-yen erwiederte hierauf: Bist du denn, o Meister der
Einzige der nicht sieht diese Diener? Zehn Menschen sind es, die
folgen einem Einzigen. Sie thuen besser, wenn sie vor demjenigen
den sie an Stärke nicht übertreffen, an Verstand nicht erreichen, ein
fach Ehrfurcht haben.
Lu-tschung-lien bemerkte: Wehe! Soll denn Liang sich ver
halten zu Thsin wie ein Diener? — Nachdem er von dem Feldherrn
eine bejahende Antwort erhalten, setzte er hinzu: So werde ich be
wirken, dass der König von Thsin sieden lässt den König von Liang.
Der Feldherr von Wei ward durch diese Worte betroffen und
erwiederte mit sichtbarem Missbehagen: Bah! das ist auch zu arg,
was du, o Meister, sprichst! Wie solltest du, o Meister, bewirken
können, dass der König von Thsin sieden lässt den König von Liang?
Lu-tschung-lien sprach: Dies ist ganz gewiss, ich werde es
erklären. Einst waren die Fürsten von Khieu und Ngo, ferner König
Wen die drei Fürsten des Königs Tschheu *)• Der Fürst von Khieu
hatte eine Tochter, die vortrefflich. Er machte sie zum Geschenk
Tschheu. Tschheu hielt sie für böse und liess sieden den Fürsten
von Khieu. Der Fürst von Ngo stritt mit ihm darüber. Der König
entschied den Streit schnell durch Gewalt und liess desswegen
trocknen das Fleisch des Fürsten von Ngo. König Wen hörte dieses
und seufzte darüber laut. Desswegen hielt ihn der König gefangen
in der Rüstkammer von Yeu-li durch hundert Tage. Er wollte ihn
heissen sterben. Warum nannten sie gemeinschaftlich mit den Men
schen jenen einen König? Zuletzt gelangten sie zu dem Lande, wo
getrocknet wird das Fleisch und gesotten werden die Leiber.
Min, König vonTsi, wollte sich begeben nach Lu. lr-wei-t.se 4 )
hielt in den Händen die Schreibtafel und begleitete ihn. Er sprach
zu den Menschen von Lu: Wie werdet ihr empfangen unseren Lan
desherrn?— Die Menschen von Lu sprachen: Wir werden mit zehn
*) Die drei Fürsten heissen die drei Vorsteher der Regierung in dem Reiche des
Himmelssohnes.
1-wci-tse bekleidete das Amt eines Hofgeschichtschreibers.
Zur Geschichte des Entsatzes von Han-tan.
125
grossen Opferspenden *) empfangen euren Landesherrn. — I-wei-
tse sprach: Woher solltet ihr nehmen die Gebräuche, dass ihr
kommen lassen könntet unseren Landesherrn. Dort unser Landesherr
ist der Himmelssohn. Wenn der Himmelssohn Rundreisen macht,
wohnen die Fürsten der Reiche in niedrigen Häusern, sie bringen
ihm dar Flöten, tragen Teppiche, halten in den Armen Bänke und
blicken auf das Opferfleisch an dem Fuss der Halle. Nachdem der
Himmelssohn Speise genossen, zieht er sich zurück und hört die
Meldungen an dem Hofe. — Die Menschen von Lu warfen ihre Flöten
weg und reichten sie in der That nicht dar. Der König konnte nicht
eintreten in Lu.
Er wollte sich begeben nach Sie und den Weg nehmen durch
Tseu. Um diese Zeit war der Landesherr von Tseu gestorben. König
Min wollte eintreten und um ihn trauern. I-wei-tse sprach zu den
Verwaisten von Tseu: Wenn der Himmelssohn erscheint bei der
Trauer, muss das Haupt der Trauer den Rücken kehren dem Sarge
des Leichenzuges und die nördliche Seite stellen nach der Gegend
des Südens. Dann erst erscheint der Himmelssohn mit dem Antlitz
gekehrt nach Süden und trauert. — Die Minister von Tseu sprachen:
Wenn dies geschieht, so werden wir uns stürzen in unsere Schwerter
und sterben. — Man getraute sich nicht, einzutreten in Tseu. Die
Minister von Tseu und Lu konnten im Leben nicht dienen mit den
Ehrengeschenken. Im Tode konnten sie nicht blicken auf das Leichen
kleid. Gleichwohl wollte jener üben lassen die Gebräuche für den
Himmelssohn in Tseu und Lu. Die Minister von Tseu und Lu nahmen
ihn in Wirklichkeit nicht auf.
Jetzt ist Thsin ein Reich von zehntausend Wagen. Liang ist
ebenfalls ein Reich von zehntausend Wagen. Wenn gleichmässig
gestützt auf ein Reich von zehntausend Wagen, deren jedes für seinen
Herrscherin Anspruch nimmt den Namen eines Königs, man sieht,
dass das eine von ihnen siegt im Kampfe, und man begehrt, dass das
andere sich anschliesse und dessen Herrscher erkenne als Kaiser, so
würde man bewirken, dass die grossen Minister der drei Reiche von
Tsin weniger gelten als die Knechte und Kebsweiber von Tseu und
i ) Eine grosse Opferspende ist ein Rind, eine kleine ein Schaf. Der ersteren bediente
man sich für die Landesgötter des lliinmelssohnes, der letzteren für diejenigen
der Reichsfürsten.
126
Dr. P f i z m a i e r
Lu. Wenn ferner Thsin ohne Aufhören seine Herrscher anerkennen
lässt als Kaiser, so wird es Veränderungen einführen unter den
grossen Ministern der Fürsten der Reiche. Es wird entreissen das
Amt denjenigen die es hält für entartet, und es verleihen denjenigen
die es hält für weise. Es wird auch bewirken, dass seine Töchter
und verleumderischen Kebsweiber an der Stelle der Königinnen und
der Gemahlinnen der Fürsten der Reiche wohnen in dem Palaste von
Liang. Wie könnte da der König von Liang weilen heiteren Sinnes,
ohne sich um etwas anderes zu kümmern? Wie könntest du, o Feld
herr, dann noch theilhaftig werden der alten Gunst?
Nachdem Sin-yuen-yen diese Worte gehört, stand er auf, ver
beugte sich zweimal und entschuldigte sich, indem er sprach:
Früher hielt ich dich, o Meister, für einen gewöhnlichen Menschen.
An dem heutigen Tage jedoch erfuhr ich, dass du, o Meister, ein
Staatsdiener der Welt. Ich bitte, aus dem Lande ziehen zu dürfen,
denn ich wage es nicht, noch einmal davon zu sprechen, dass man
den Herrscher von Thsin als Kaiser anerkenne.
Als die Heerführer von Thsin diesen Vorgang erfuhren, zogen
sie sich fünfzig Li zurück 1 ). Zu gleicher Zeit rückten auch Prinz
Wu-ki von Wei und der Landesherr von Tschün-schin, Feldherr von
Tsu, an der Spitze ihrer Heere zum Entsätze heran, was die Nieder
lage und den gänzlichen Rückzug des Heeres von Thsin zur Folge
hatte.
Der Landesherr von Ping-yuen wollte hierauf Lu-tschung-lien
für die Verdienste welche dieser sich um Tschao erworben, zum
Lehensfürsten erheben. Der Fremdling sprach sich jedoch gegen
drei Abgesandte welche in dieser Angelegenheit bei ihm erschienen,
ablehnend aus und weigerte sich zuletzt beharrlich, die ihm zuge
dachte Ehre anzunehmen. Der Landesherr von Ping-yuen veran
staltete hierauf ein Fest. Als alle sich des Weines freuten, stand
er auf, trat vor den gleichfalls anwesenden Lu-tschung-lien und
machte ihm ein Geschenk von tausend Pfund auf dessen Gesundheit.
l ) Diese rückgängige Bewegung des Heeres von Thsin war eigentlich die Folge
eines von dem Anführer Li-tung unternommenen kühnen Ausfalles. Au der Spitze
des Belagerungsheeres standen die Feldherren Wang-ki und Tsching - ngan - ping,
von denen der letztere , wie in dem „Lehen des Redners Fan-hoei“ erzählt wurde,
sich später mit zwanzigtausend Mann an Tschao ergab.
Zur Geschichte des Entsatzes von Han-tan.
127
Lu-tschung-lien enviederte jedoch lächelnd: Was kostbar genannt
wird von den Staatsdienern der Welt, ist: für die Menschen Zurück
schlagen die Sorge, befreien von den Leiden, lösen die Verwirrung
und dafür nichts nehmen. Wenn einer von ihnen etwas annimmt, so
ist dies ein Geschäft der Kaufleute, und ich bringe es nicht über
mich, dies zu thun. — Hierauf nahm er von dem Landesherrn von
Ping-yuen Abschied, verliess das Land und liess sich in seinem ganzen
Leben nicht mehr in Tschao sehen.
Zwanzig Jahre später (237 vor Chr.) hatte ein Feldherr des
Reiches Yen , dessen Name nicht genannt wird, die feste Stadt
Jjifjj Liao l ) angegriffen und zur Unterwerfung gebracht. Einige
Bewohner der Stadt verleumdeten ihn bei der Regierung von Yen,
worauf der Feldherr, die Strafe fürchtend, sich in der eroberten
Stadt festsetzte und die Übergabe verweigerte. Nach einiger Zeit
schritt Tien-tan, Feldherr von Tsi, zum Angriffe der abgefallenen
Stadt. Derselbe verlor jedoch nach einjähriger Belagerung eine grosse
Menge Krieger durch den Tod, ohne dass die Stadt sich zur Über
gabe bereit erklärt hätte. Unter diesen Umständen schrieb Lu-
tschung-lien, der sich in jener Gegend aufhielt, einen Brief, band
ihn an einen Pfeil und liess diesen in die belagerte Stadt ab-
schiessen. Der Brief, an den Feldherrn von Yen gerichtet, lautete:
Ich habe Folgendes erfahren: Ein Verständiger handelt nicht
zuwider der Zeit und setzt nicht hintan den Nutzen. Ein muthiger
Krieger stirbt nicht den Tod eines Feigen und bringt sich nicht um
seinen Namen. Ein redlicher Minister setzt nicht voran sich selbst
und setzt nicht zurück seinen Landesherrn. Dass du jetzt, o Herr,
ausliessest den Unmuth eines Morgens und keine Rücksicht nahmst,
dass der König von Yen beraubt seines Ministers, ist keine Redlich
keit. Tödten dich selbst, verlieren die Feste von Liao, indessen an
deine Macht nicht geglaubt wird von Seite des Reiches Tsi, ist kein
Muth. Bewirken, dass deine Verdienste vergessen werden, dass du
um deinen Namen gebracht werdest, dass du von den nachfolgenden
Geschlechtsaltern nicht gepriesen werdest, ist kein Verstand. Bei
wem diese drei Dinge der Fall, den nehmen die Gebieter des Zeitalters
nicht zum Minister, die redenden Staatsdiener führen ihn nicht im
) Das heutige Liao-tsehing, Kreis Tung-tschang hi Schan-tiing. Die Stadt lag an
der Westgrenze des Reiches Tsi.
128
Dr. P f i z in a i e r
Gedächtniss. Desswegen berechnet der Verständige nicht zum zweiten
Male, der muthige Krieger stirbt nicht den Tod des Feigen. Jetzt
kommen Leben und Tod, Ehre und Schande, vornehmer und geringer
Stand, Ansehen und Niedrigkeit in dieser Zeit nicht zum zweiten
Male. Ich wünsche, dass du, o Herr, es überlegest und nichts gemein
habest mit der Gewöhnlichkeit.
Auch hat Tsu überfallen Nan-yang 1 ) in Tsi, Wei hat über
fallen Ping-lö a ), und Tsi hat keine Lust, das Gesicht zu kehren
nach Süden. Es hält den Schaden den es erlitten durch den Ver
last von Nan-yang, für klein und nicht für so gross, als den Nutzen
der ihm erwächst, wenn es gewinnt den Norden des Thsi 3 ). Es
hat grosse Ursache, zu bestimmen, zu berechnen, zu untersuchen
und die Sache zu ordnen. Jetzt haben die Menschen von Thsin her
nieder gesandt Streitkräfte. Wei wagt es nicht, das Gesicht zu
kehren nach Osten. Dass man die Kraft von Thsin sich ausbreiten
lässt gleich Wagebalken, kommt zu Stande 4 ), die Gestalt des Reiches
Tsu wird überhängend, Tsi setzt hintan Nan-yang, es schneidet ab
die Erde zur Rechten und befasst sich mit dem Lande im Norden
des Thsi: einen solchen Rathschluss wird es wohl fassen. Auch wird
dieses Tsi gewiss entscheiden über die Feste von Liao; mögest du
dann, o Herr, nicht zum zweiten Male berechnen.
Jetzt ziehen Tsu und Wei, die vereint, sich zurück aus Tsi,
aber von Yen kommt keine Hilfe, so dass man unversehrt lässt die
Streitkräfte von Tsi. Ist es nicht nach dem Ermessen der Welt, dass
sie gemeinschaftlich mit der Feste von Liao sich widersetzt der
Zerstörung die erfolgen wird nach einem Jahre, so erkenne ich,
dass du, o Herr, nicht im Stande sein wirst, deinen Zweck zu er
reichen. Auch ist das Reich Yen in grosser Unordnung, Landesherr
und Minister werden irre in ihren Rerechnungen, Höhere und Nie
dere sind in Bestürzung, Li-fö ward mit einer Menge von hundert-
Nan-yang 1 ist das heutige Sieu-wu, Kreis Hoai-khing , Provinz Ho-
nan. Dasselbe liegt jedoch zu weit im Westen, als dass es das liier gemeinte sein
könnte. Ein anderes Nan-yang, welches noch heute diesen Namen führt, liegt
noch weiter im Südwesten.
2 ) Ping-Iö ist das heutige Wen-schang, Kreis Yen-tscheu in Schan-lung.
3 ) Der Fluss Thsi.
4 ) Die Reiche Wei, Han, Tsu, Yen, Tseliao und Tsi gestatteten Thsin, sein Gebiet
in der Länge zu erweitern, wodurch dasselbe die Gestalt von Wagebalken erhielt
und diese Reiche an ihren Seiten bedroht wurden.
Zur Geschichte des Entsatzes von Han-tan.
129
tausend Kriegern fünfmal geschlagen in dem fremden Lande. Die
Hauptstadt des Reiches von zehntausend Wagen ward belagert von
Tschao. Die Erde ist zerstückt, der Landesherr ermattet, von der
Welt wird er beschimpft und verlacht. Das Reich ist gesunken und
des Unglücks viel. Das Volk hat nichts, wohin es wenden könnte
seinen Sinn. Wenn du, o Herr, jetzt noch mit dem Volke des
gesunkenen Liao Widerstand leisten wolltest der Kriegsmacht des
unversehrten Tsi, so wäre dies eine Vertheidigung des Feldherrn
MethT 1 ). Wenn man verzehrte Menschen, heizte mit Gebeinen die
Kessel, ohne dass die Krieger den Gedanken hätten, sich zu kehren
nach aussen, so wäre dies eine Kriegsthat des Feldherrn Sün-pin 2 ).
Du könntest dich dann sehen lassen in der Welt.
Wäre dies auch der Fall, wenn du, o Herr, einen Entschluss
fassen willst, so musst du, so lange deine Wagen und Panzer
noch unversehrt, die Meldung bringen nach Yen. Wenn du, so
lange deine Wagen und Panzer noch unversehrt, zurückkehrst nach
Yen, wird der König von Yen sich freuen, dass du mit unver
sehrtem Leibe zurückgekehrt bist in das Reich. Staatsdiener und
Volk werden, als sähen sie Vater und Mutier, vereint wandeln,
die Arme drehen und von dir sprechen in dem Zeitalter. Deine
Verdienste lassen sich dann in’s Licht stellen. Nach oben unter
stützest du einen verwaisten Gebieter und bringst Ordnung unter
sämmtliche Minister. Nach unten ernährst du die hundert Fami
lien und berathschlagst mit den redenden Staatsdienern. Indem
du aufrichtest das Reich, veränderst die Gewohnheiten, können
Verdienst und Name begründet werden. Oder begibst du dich auf
die Flucht, ist es deine Absicht, ferner zurückzusetzen Yen, zu ver
lassen das Zeitalter, im Osten zu wandern nach Tsi? Liessest du
zerreissen das Land, bestimmen das Lehen, wärest an Reichthum
zu vergleichen mit Tliao und Wei, nenntest dich die Geschlechtsalter
hindurch den Verwaisten und bliebest zugleich mit Tsi lange Zeit am
Leben, so wäre dies ebenfalls ein Entschluss. Diese zwei Entschlüsse
machen berühmt den Namen , bringen reiche Frucht. Ich wünsche,
dass du, o Herr, es überlegest und bei einem von ihnen bleibest.
‘) 312
mä
Me-tln war ein Feldherr der Dynastie Tscheu.
'j/jj Siin-pin war ein Feldherr zur Zeit des Königs Hoei von Wei.
Sitzb. d. phil.-hist. CI. XXXI. Bd. I. Hft.
9
Auch habe icli gehört: Wer bemisst eine kleine Uneigennützig
keit, ist nicht im Stande, sich zu erwerben Ruhm und Namen.
Wer zurückschreckt vor einer kleinen Schande, ist nicht im Stande
zu begründen grosse Verdienste. Einst schoss Kuan-J-ngu 1 ) nach
dem Fürsten Hoan. Er traf dessen Panzergürtel. Er verliess den
Prinzen Khieu 2 ) und war nicht im Stande zu sterben. Dies ist Feig
heit. Er ward gefesselt mit Handfesseln und Fussringen. Dies ist
Schande. Was diese drei Dinge betrifft, die Gebieter des Zeitalters
würden ihn ihretwegen nicht ernennen zum Minister, und in den
Bezirken und Strassen würde man mit ihm nicht verkehren. Gesetzt
Kuan-tse halte nicht verlassen sein düsteres Gefärigniss , er selbst
wäre gestorben und wäre nicht zurückgekehrt nach Tsi, so wäre es
auch nicht ausgeblieben, dass mit seinem Namen in Verbindung
gebracht würde ein Mensch der Schande, eine niedrige Handlung.
Selbst Sclaven hätten sich geschämt, mit ihm gemein zu haben den
Namen, um wie viel mehr das Zeitalter mit seinen Gewohnheiten?
Desswegen schämte sich Kuan-tse nicht, dass er geschlagen ward in
Bande, sondern er schämte sieh, dass die Welt nicht geordnet in
ihrer Regierung. Er schämte sich nicht, dass er nicht gestoi'ben mit
dem Prinzen Khieu, sondern er schämte sich, dass auf die Macht
kein Vertrauen gesetzt ward von Seite der Fürsten der Reiche.
Desswegen fasste er zusammen das Fehlerhafte jener drei Hand
lungen, und ward dadurch das Haupt der fünf Oberherren. Sein
Name ragte durch die Welt und sein Glanz war eine Leuchte den
benachbarten Reichen.
Tsao-tse 3 ) war Feldherr von Lu. ln drei Kämpfen ergriff er
dreimal die Flucht und verlor Land fünfhundert Meilen. Gesetzt
Tsao-tse hätte in seiner Berechnung nicht geblickt nach rückwärts,
in seiner Berathung sich nicht gekehrt nach den Fussstapfen, gesetzt
er hätte sich abgeschnitten den Hals und wäre gestorben , so wäre
es auch nicht ausgeblieben, dass mit seinem Namen in Verbindung
gebracht würde ein geschlagenes Kriegsheer, ein gefangener Feld-
l ) Der Reiehsg-ehilfe Kuan-tschung- von Tsi.
Prinz Khieu von Tsi, in dessen üienslen Kuan- tschung sich befand, ward auf
das Begehren des Fürsten Iloan von Tsi in Lu getödtet.
*) “p Tsao-tse ist Tsao-mü, der Feldherr des Fürsten
Tschuang von Lu.
Zur Geschichte des Entsatzes von ITan-tan.
131
—
herr. Tsao-tse setzte hintan die Schande einer dreimaligen Flucht
und zog sich zurück, um zu berathen mit dem Landesherrn von Lu.
Fürst Hoan berief an seinen Hof die Welt, versammelte um sich die
Fürsten der Reiche. Tsao-tse, mit dem Vertrauen auf ein einziges
Schwert, bewirkte dass sich zertheilte das Herz des Fürsten Hoan
auf der Höhe des Altares 1 ). Seine Miene war nicht verändert, seine
Rede war nicht verwirrt. Was er verloren in drei Kämpfen, brachte
er an einem einzigen Morgen wieder ein. Hie Welt zitterte, die
Fürsten der Reiche erschracken, von Ehrfurcht wurden selbst erfüllt
U und Yue.
Was diese zwei Männer betrifft, so war es nicht der Fall, dass
sie nicht im Stande gewesen, es zu bringen zu einer kleinen Ent
haltsamkeit und an den Tag zu legen eine kleine Mässigung , sie
hielten vielmehr dafür, dass wenn sie tödteten sich seihst, verlören
den Leih, zerrissen das Geschlechtsalter, vernichteten die Nach
folger, wenn Verdienste und Namen nicht begründet, dies von ihrer
Seite nicht verständig. Desswegen hielten sie von sich fern der
Unzufriedenheit Groll, erwarben sich einen Namen durch das ganze
Leben, setzten hintan das Mass des Zornes, bestimmten die Verdienste
der fortgesetzten Geschlechtsalter. Desswegen wetteiferten sie in
ihrer Beschäftigung mit den drei Königen in Ausbreitung, und ihr
Name geht mit Himmel und Erde zugleich zu Grunde. Ich wünsche,
dass du, o Herr, Eines wählest und demgemäss handlest.
Nachdem der Feldherr von Yen dieses Schreiben Lu- tschung-
lien’s gelesen, weinte er und war durch drei Tage nicht im Stande,
einen Entschluss zu fassen. Wählte er die Rückkehr nach Yen , so
hatte er mit der Regierung dieses Reiches ein Zerwürfniss, und er
fürchtete, dass er, daseihst angekommen, sofort hingerichtet werde.
Zog er aber vor, sich dem Heere von Tsi zu ergehen, so gab es
viele Beispiele, dass Personen in seiner Lage durch die Kriegsmacht
dieses Reiches getödtet oder zu Gefangenen gemacht wurden. Jeden
falls war zu besorgen, dass er, nachdem er sich ergeben , eine
Schande erfahren werde. Zuletzt sprach er zu sich selbst seid-
*) Tsao-mö bedrohte den Fürsten Hoan mit einem verborgenen Schwerte aut dem
Altäre, wo der Vertrag mit Lu beschworen werden sollte, und erhielt von ihm
das Versprechen, an Lu die fünfhundert Meilen Landes, welche in den früheren
Kämpfen verloren gegangen waren, zurück zu geben.
9°
132 Pr. Pfizraaier Zur Geschichte des Entsatzes von Ilan-tan.
zend: Statt dass die Menschen mich verletzen mit dem Schwerte,
verletze ich lieber mit dem Schwerte mich selbst! — In Folge dieses
Entschlusses tödtete er sich, worauf in der Stadt grosse Verwirrung
entstand. Tien-tan, Feldherr von Tsi, die günstige Gelegenheit
benützend, eroberte alsbald lind verwüstete die Feste Liao.
Nach der Rückkehr in die Heimath, wurden die Verdienste
welche sich Lu-tschung-lien um die Eroberung der Stadt erworben,
der Regierung von Tsi gemeldet. Man wollte ihn hierauf mit Land
und Würden belohnen. Lu-tschung-lien entfloh jedoch und verbarg
sich an den Ufern des Meeres , indem er sprach: Anstatt reich zu
sein und vornehm, und dabei bezichtigt von den Menschen, bleibe
ich lieber arm und niedrig, und verachte das Zeitalter, indem ich
handle nach meinem Willen.
W o I f. Beiträge, zur spanischen Volkspocsie etc.
133
SITZUNG VOM 27. APRIL 1859.
Gelesen:
Beiträge zur spanischen Volkspoesie aus den Werken Fernan
Caballero's.
Mitgetheilt von Ferdinand Wolf.
Bei der Aufmerksamkeit welche die jüngst bekannt gemachten
Proben (in den „Sitzungsberichten“ 1856, Bd. XX, S. 17 ff.) von der
Volkspoesie der pyrenäischen Halbinsel in der gelehrten Welt erregt
haben ‘), halte ich es für gerechtfertigt und dieses Ortes nicht unwür
dig, eine Nachlese dazu aus den unter dem Namen Fernan Caba
llero in den letzteren Jahren zu Madrid erschienenen Werken zu
geben, um so mehr, als auch diese Werke unter uns wenig verbrei
tet sein dürften, und man in ihnen kaum neues und echtes Material
für den wissenschaftlichen Forscher auf dem Gebiete der Volkspoesie
zu finden vermuthen würde.
Denn diese Werke bestehen aus Romanen und Erzählungen und
rühren von einer Dame her 2 ). Sie hat sich aber die Schilderung des
Volkes, besonders Andalusiens, zur Hauptaufgabe gemacht, und dazu
die noch im Volke fortlebenden Lieder, Sagen, Legenden und Mär-
J ) Statt vieler genüge es das Urtheil eines der grössten Kenner der Volkspoesie,
Wilhelm Grimm’s, anzuführen (in Haupt’s Zeitschrift für deutsches Alter
thum, Bd. 11, S. 210 ff.).
2 ) Ich habe mich über diese Werke und deren Verfasser in dem Artikel: „Über den
realistischen Roman und das Sittengemälde bei den Spaniern in neuester Zeit,
mit besonderer Beziehung auf die Werke von Fernan Caballero“, im 3. Hefte des
Jahrbuches für romanische und englische Literatur (Berlin
1839, S. 247 — 297) ausführlich ausgesprochen; hier aber auch die noch nicht
gesammelten, in der Zeitschrift: „Semanario pintoreseo espanol“ abgedruckten
Aufsätze desselben Verfassers berücksichtigt.
134
W o I f
chen auf das sorgfältigste gesammelt lind mit solcher Treue w ieder
gegeben, dass an ihrer Echtheit nicht gezweifelt werden kann <).
Ich glaubte daher den Mitforschern auf diesem Gebiete einen
Dienst zu erweisen durch Zusammenstellung der in diesen Werken
gelegentlich angebrachten und zuerst bekannt gemachten kostbaren
Reste der Volkspoesie, und zwar durch Mittheilung der Romanzen,
Lieder und Singstrophen (Coplas) im Original, der prosaischen
Beiträge aber in treuer Übersetzung oder etwas freierer Bearbeitung.
I. Romanzen, Lieder und Singstrophen.
Von bekannten alten Volksromanzen fanden sich hier folgende
Versionen.
1. De Blanca-Nina.
(Primavera y Flor de rom... . Por F. Wolf y C. Hofmann, Berlin 1856, 8.
Tom. II. p. 52, Nr. 156.)
Zu dieser weit verbreiteten Romanze ~) wird iu dein Romane:
„La Gaviota“ (Madrid 1886, 8. Tomo 1, p. 128 —131) nachstehende
modernisirte und mit einem Estribillo versehene Version mitgetheilt:
Esiando un caballerflo
en la isla de Leon,
se enainoro de una dama,
y ella le correspondio.
Que con el aretin, que con el arelon.
*) Obwohl das innere, in der Sache seihst liegende Zeugniss immer das sicherste
Kriterium ist, so wird es auch durch die ausdrückliche Angabe der Verfasserinn
bestätigt, und Herr Anton de Latour sagt in Beziehung auf ihr Beachten und
Sammeln von Volkspoesien (in seinem Artikel: „ Fernan Caballero“ im Corre
spond auf, nouv. serie, Tome V, 4. livr. 25 Aoüt, 1857, p. 600): „Fernan
Caballero (Cäcilie v. Arrom, geborene Böhl de Fab er) possede dans ee
genre des archives non inoins riehes; ä tout ee que sou pere, l’erudit passionne,
Don Juan Nicolas Böhl de Faber, avait amasse pendant sa vie, il a ajoute, ses
propres trouvailles, et il n'epargne rien pour les augmenter. S’il entend un
aveugle cbanter dans la rue quelque romance qu’il ne connaisse pas, il Karrete
aussitdt, et tout ee qu’il recueille ainsi ä tout vent se classe dans sa memoire,
pour se retrouver, ä l’occasion, sous sa plnme“.
2 ) Zu den in der Primavera (II. adiciones etc. al Nr. 136) und in dem Vorwort
zu „Schwedische Volkslieder der Vorzeit“ , übertragen von R. Warrens (Leipzig
1857, 8. S. XXXV—XXXVI) gegebenen Naebweisungen über die bei verschiede
nen Völkern Europa's erhaltenen Versionen von dieser Sage, kann ich nun noch
hinzufügen die von Sophus Bugge, „Carole norske Folkeviser“ (Christiania 1858,
8. Seite 115 — 122) gegebenen norwegischen und faröiscben Versionen (Nr. XXIV.
1< araa dotter, indem hier die Scene zwischen Vater und Tochter vorgeht).
Beiträge zur spanischen Volkspoesie etc.
— Senor, quedese una noche,
quedese una noche 6 dos ;
que mi marido estsi fuera
por esos montes de Dios.
Que con el aretin, que con el areton.
Eständola enamorando,
el marido que llego:
— Abreme la puerta, Cielo,
abreme la puerta, Sol.
Que con el aretin, que con el areton.
Ha bajado la escalera
quebradita de color;
— I 11 as tenido calentura?
^0 bas tenido nuevo araor?
Que con el aretin, que con el areton.
— Ni he tenido calentura
ni he tenido nuevo amor.
Me se ha perdido la llave
de tu 1 ) rico tocador.
Que con el aretin, que eon el areton,
— Si las tuyas son de acero,
de oro las tengo yo.
De quien es aquel caballo
que en la cuadra relinchö?
Que con el aretin, que con el areton.
— Tuyo, tuyo, dueno mio,
que mi padre lo mando,
por que vayas d la boda
de mi hermana la mayor.
Que con el aretin, que con el areton.
— Viva tu padre mil anos,
que caballos tengo yo.
^De quien es aquel trabuco
que en aquel clavo colgö?
Que con el aretin, que con cl areton.
— Tuyo, tuyo, dueno mio,
que mi padre lo mando,
1 3ß
Wolf
para llevarte *) :i la lioda
de mi hermana la mayor.
Que con el aretin, que con el areton.
— Viva tu padre mil aiios,
que trabucos tengo yo.
^Quien ha sido e] atrevido
que en mi cama se acostö ?
Que con el aretin, que con el areton.
— Es una liermanita mia,
que mi padre la mando,
para llevarme a la boda
de mi hermana la mayor.
Que con el aretin, que con el areton.
La ha agarrado de la mano,
al padre se la llevo:
— Torna alla, padre, tu hija,
que me ha jugado traicion.
Que con el aretin, que con el areton.
-— Llevatela tu, my yerno,
que la iglesia te la diö. —
La ha agarrado de la mano,
al campo se la llevö.
Que con el aretin, que con el areton.
Le ti.ro tres punaladas,
y alli muerta la dejö.
La dama murio ä la una,
y el galan murio a las dos.
Que con el aretin, que con el areton,
2. Silvaninlin.
(Proben portugiesischer und eatalanischer Volksromanzen, Wien 1856, 8. S. 66—7t.)
Dass von dieser im Portugiesischen am besten erhaltenen
Romanze auch eine castilisehe Version (wahrscheinlich die
ursprüngliche) existirt habe, beweist die in der dialogisirten Rah
menerzählung: „Cosa eumplida . .. solo en otra vida. Diälogo entre
la juventud y la edad madura“ (Madrid 1857, 8. p. l(i—18) mit-
l ) sie; unliezweifelt zu lesen: llevarle.
Beiträge zur spanischen Volkspoesie efc.
137
getheilte, allerdings noch mehr verdunkelte und verstümmelte, als
die catalanische; denn hier ist schon das eigentliche Motiv von der
Tochter Verfolgung und Tod, ihr Widerstand gegen des Vaters ver
brecherische Liebe zu ihr, in das einer vom Vater nicht gebilligten
Liebe abgeschwächt, wodurch zwar das Revoltante der Situation
gemildert, aber der Opfertod der Tochter, als einer Märtererinn der
Tugend nicht mehr erkennbar wird; auch sind die Personen schon
märchenhaft verallgemeint.
Tenia una vez un Rey
tres hijas como una ptata;
ta mas chiea de las tres
Delgadina se llamaba.
, Un dia estando comiendo,
dijo al Rey que ]a miraba:
— Delgada estoy, padre mio,
porque estoy enaniorada.
— Venid, corred, mis criados,
ä Delgadina encerradla:
si os pidiese de comer,
dadte la carne salada;
y si os pide de beber,
dadte la hiel de retama. —
Y la encerraron al punto
en una torre muy alta.
Delgadina se asomo
por una estrecba ventana,
y a sus hcrmanas ha visto
cosiendo ricas tohallas.
— i Hermanas! jsi sois las mias ....
dadme un vasito de agua,
que tengo el corazon seco,
y ä Dios entrego mi alma!
— Yo te la diera, mi vida,
yo te la diera, mi alma;
mas si padre Rey lo sabe,
nos ha de matar ä entrambas.
Delgadina se quitö
muy triste y desconsolada.
A la manana siguiente
asomöse si la ventana,
por la que vio a sus hermanos
jugando un juego de canas.
W o I f
— [Hermanos ! j si sois los mios....
por Dios, por Dios, dadmo agua,
cjue el corazon tengo scco
y a Dios entrego mi alma!
— Quitate de abi, Delgadina,
que eres una descastada:
si mi padre el Rey te viera,
la cabeza te cortara. —
Delgadina se quitö
muy triste y desconsolada.
A otro dia apenas pudo
llegar hasta la ventana,
por la que ha visto ä su madre ')
bebiendo en vaso de plata.
—;Madre! ;si es que sois mi madre.
dadme un poquito de agua!
que e] corazon tengo seeo
y d Dios entrego mi alma.
— Pronto, pronto, mis criados,
d Delgadina dad agua,
unos en jarros de oro,
otros enjarros de plata. —
Por muy pronto que aeudieron,
ya la hallaron muy postrada.
A la cabeeera tiene
una fuente de agua clara;
los dngeles la rodean
encomendandole el alma,
la Magdalena d los pies 2 )
cosiendole la mortaja:
') Das Verhältnis« zur Mutter ist hier ebenfalls schon ganz verdunkelt; denn statt
des Vaters der hei dem herannahenden Tode der Tochter, seine verbrecherische
Liehe nun zu spät bereuend, Alles aufbietet sie zu retten, ist es liier die Mutter
liebe die dies versucht; während nach der älteren Tradition die Tochter von der
Mutter als Nebenbuhlerinn betrachtet und ihrem Schicksal überlassen wird.
2 ) Die heil. Magdalena ist nach dem spanischen Volksglauben die Patroninn der Lie
benden (vgl. Antonio de Trueba, El libro de los cantares, 4. ed. Madrid
1858, 12. p. 364). — Dieses „Liederbuch“ enthält zwar keine eigentlichen tra
ditionellen Volkslieder, sondern von Herrn Trueba selbst, dem Sohne vizeay-
scher Landleute, verfasste Gedichte, Romanzen , Letrillen u. s. w. , in welchen
aber der Volkston so gut getrolTen ist, dass viele davon schon zu Volksliedern
geworden sind, und sie haben auch in literarischen Kreisen solchen Beifall gefun
den, dass seit dem Jahre 1852 vier Auflagen nötliig wurden.
Beitrüge zur spanischen Volkspoesie etc.
1 39
el dedal era de oro,
y la aguja ora de plata.
Las campanas de la gloria
ya por ella repicaban:
los cencerros del infierno
por el mal padre doblaban.
3. De una gcntil dam», y un rüstico pastor.
(Primavera, Vol. II. p. G4, Nr. 145.)
Diese schon im Cancion ero de obras de burlas (1519)
vorkommende Romanze wurde von Alonso de Alcaudete (oder Alcab-
dete), einem ebenfalls noch dem 16. Jahrhundert angehörigen Dich
ter, in einer noch ganz im Volkston gehaltenen Letrilla überarbeitet:
„Llamabale la doncella y dijo el vil. Entre una doncella
y un pastor“ (s. meine Abhandlung über die Prager Romanzen
sammlung, S. 115); sie hat sich aber auch im Munde des Volkes
selbst bis auf den heutigen Tag erhalten, wie die nachstehende, in
der Erzählung: ;Pobre Dolores! (Madrid 1857, p. 210—11)
mitgetheilte „Cancion“ beweist.
— Pastor, que estäs en el campo
de ainores tan retirado,
yo te vengo ä proponer
si quisieres ser casado.
— Yo no quiero ser casado,
responde el villano vil:
tengo el ganado en la Sierra:
ä Dios, que me quiero ir.
— Tu, que estas acostumbrado
ä ponerte esos sajones;
si te casdrns conmigo,
te pusieras pantalones.
— No quiero tus pantalones,
responde el villano vil:
tengo el ganado en la Sierra :
:i Dios, que me quiero ir.
— Tu que estäs acostumbrado
ä ponerte cbamarreta:
si te casäras conmigo,
te pondrias tu chaqueta.
140
Wolf
— Yo no quiero tu chaqueta,
responde ei villano vil:
tengo el ganado en la Sierra:
ä Dios, que me quiero ir.
— Tu. que estäs acostumbrado
ä comer pan de centeno;
si te casäras conmigo,
Io comieras blanco y bueno.
— Yo no quiero tu pan blanco,
responde el villano vil:
tengo el ganado en la Sierra:
ä Dios, que me quiero ir.
— Tu, que estäs acostumbrado
ä dormir entre granzones;
si te casäras conmigo,
durmieras en mis colchones.
— Yo nn quiero tus colchones,
responde el villano vil:
tengo el ganado en la Sierra:
ä Dios, que me quiero ir.
— Si te casäras conmigo,
mi padre te diera un coche,
para que vengas ä verme
los säbados por la noche.
— Yo no quiero ir en coche,
responde el villano vil:
tengo el ganado en la Sierra:
ä Dios, que me quiero ir.
— Te he de poner una fuente
eon cuatro canos dorados,
para que vayas ä ella
ä dar agua ä tu ganado.
— Yo no quiero tu gran fuente,
responde el villano vil:
ni mujer tan amorosa
no quiero yo para mi.
ßeitriige zur spanischen Volkspoesie etc.
141
Dass unter einem Volke, bei dem die Religion recht eigentlich
zur Poesie des Lebens geworden ist, religiöse Lieder und nament
lich biblische Traditionen auch jetzt noch sehr verbreitet sind,
lässt sich voraussetzen; aber immerhin bleibt es interessant, aus den
hier davon mitgetheilten Proben zu ersehen, in welch einfach-kind
lichem Tone sie noch gehalten sind, wie z. B. die nachstehenden
legendenartigen Romanzen beweisen.
1. lielitcion del Calvario.
(Aus: „Cosa euniplida“ etc. p. 95—96.)
Yendo por un caminito,
fln postigo me he encontrado,
abierto siempre al que llaina,
a] que no llama cerrado.
Paso alli la Virgen
toda vestida de blanco,
y cuando volviö d pasar
traia el vestido manchado
con la sangre que su Hi jo
en la cruz ha derramado.
Venid, christianos, venid,
eaminemos al Calvario,
que por pronto que lleguemos,
le estarän crucificando.
Ya le hincan las espinas;
ya le remachan los elavos;
ya le hincan la lanzada
en su divino costado.
Vinieron las tres Marias
eon los tres caliz dorados
para recoger la sangre
quejesusha derramado.
— Al pie de la cruz estaba
un rosal de blaneas rosas ;
de la sangre de Jesus
hase caido una gota.
La rosa compadecida
al punto la recogiö,
por eso es tan purpurina
la rosa de Jericö.
Y'a vienen las golondrinas
a quitarle las espinas;
W o i f
m
ya vienen los gilgueritos
ä quitarle los davitos;
ya vienen las tortnlitas
ä llorar tan tristoeitas! *)
2. Rclacion de Vcrönica.
(Kl ultimo Consuelo. Madrid 1857, p. 283— 284.)
Kn la gran Jerusalen
caminaba liacia el Calvario
una afligida mujer
vestida de azul y blanco.
— ^Ha visto usted por aqui
al hijo de mis entranas?
— Por aqui paso, sefiora,
antes que el gallo eantara,
con una cruz en sus hombros
i) An einem anderen Orte (La Gaviota, I, p. 79) wird folgende Strophe eines
Kinderliedes mitgetheilt:
Al la arriba, en el monte Calvario,
matita de oliva, matita de olor,
arrullaban la muerte de Cristo
cuatro jilgueritos y un ruisefior.
Ebenda (p. 80) werden von dieser im Volksglauben noch fortlebenden Verbindung
der Thier- und Pflanzenwelt mit der Lebens- und Leidensgeschichte Jesu fol
gende Züge angeführt: der Weidenbaum ist desshalh von übler Bedeutung , weil
sich Judas an einem solchen erhenkt hat; — der Rosmarin hat besondere Wun
derkräfte, weil auf dessen Zweigen die Mutter Gottes die Wäsche ihres Kindes
getrocknet hat , wie es z. II. in einer anderen Copla heisst:
Lavando estaba la Vir gen,
y tendiendo en el romero;
los pajaritos cantaban;
adoremos el misterio!
Ein Haus das in der Christnacht mit Rosmarin durchräuchert wird, bleibt vor
Unglück bewahrt. Der Rosmarin gedeiht in dem Wohnplatz der Armen viel besser
und üppiger, als unter der sorgfältigsten Pflege in den Gärten des Reichen. Dort
kann nichts ihn beschädigen oder verderben, weder das Benagen der Thiere,
noch das Abreissen der Kinder, noch der häufige Gebrauch den man von ihm zu
Räucherungen gegen Krankheiten oder zu Kränzen hei geistlichen und weltlichen
Festen macht.
In einigen Gegenden Andalusiens nennt man das Käuzlein (mochuelo) Krähe
(corneja) ; denn nach dem Glauben des dortigen Landvolkes war die Krähe der
Vogel der unter allen erschaffenen am schönsten sang, und der welcher beim
Verscheiden Christi am Kreuze sich gegenwärtig befand. Seitdem aber vergass er
den Gesang und kann nur mehr seufzen: „cruz, cruz, cruz“ (d. i. Kreuz). —
(Callar en vida y perdonar en muerte. Madrid 1856, 8. p. 22.)
Beiträge zur spanischen Volkspoesie etc.
143
de madera niuy pesada,
y una eorona de espinas
que el cerebro le traspasa.
Como el madero le abruma,
trcs veees ha arrodillado;
jTres veees toeo la tierra
eon sus santisimos Idbios!
Alli saliö una mujer
que Veronica la llaman,
con un pano que traia
limpia aquella hermosa eara.
Ti es doblec.es tiene el pano,
tres caras alli estampadas:
la primera cslä en Jaen,
la segunda en Roma estalia,
y la tereera en la mar
para consagrar las aguas.
3. Romancc del pan de Dios ').
Aas: „ Cuailros de coslnmbres populäres andaluces “. Sevilla 18i>2. 8, p. 182 183)
Santo Cristo de la Luz.
ensenad la lengua mia,
para que referir pueda
lo que sueedio en Sevilla
con una buena mujer
la eual dos hijas tenia.
Kra la una muy buinilde,
era la otra muy altiva,
se casan eon dos hermanos
que nada se parecian.
El chieo es un haragan
que todo juega y vendia,
el grande un trabajador
que al arado se ponia.
Llegan los alios fatales,
‘J Im Original hat die Romanze, wie die meisten übrigen, keinen Titel; ich habe ihr
den obigen gegeben, weil sie mit der „Kinderlegende, Nr. S. Gottes Speise“,
in Grimm, „Kinder- und Hausiniircheu “ und den dort, ßd. III, 3. Aufl. S. 264,
dazu angeführten Traditionen ollenhar eine gemeinsame Quelle bat. — Vgl. auch
die Nachträge zu Grimm von F. Liehrecht, in Pfeifl'er’s „Germania“,
II. Jahrg. I8S7, S. 247.
144
Wolf
y el mas chico se moria;
quedö su pobre viuda,
muy triste, muy afligida.
Los liijos le piden pan,
y ella que no lo tenia
se tue eil ca *) de su hermana;
de esta suerte le decia:
— Por Dios te lo pido, hermana, t
por Dios y Santa Maria,
que me des una limosna
que Dios te la pagaria.
— Anda, se la dijo, hermana,
anda, alejate, Maria;
cuando nos casamos ambas
no me dieron mejoria. —
Se fue la hermana llorando
muy triste, tiiuy afligida ;
a los sollozos que daba
aeudieron las vecinas, *
le preguntan que tiene;
dice que nada tenia.
Se ha encerrado en una sala
do un oratorio tenia
de la Virgen del Rosario
nuestra princesa Maria.
Vamos ahora al cunado
que del arado venia;
hallaba la mesa puesta,
dice que comer queria.
Tomd un pan y lo parlio,
hallo que sangre vertia;
solto ese y tomö otro,
lo mismo le sucedia.
— £ Que es aquesto, mi mujer,
que es aquesto, esposa mia?
— Ilazte cuenta, dijo esla,
que contarlo no queria;
estuvo aqui esta manana
Maria, la hermana mia;
me ha pedido una limosna
y yo se la negaria.
— ;Quien niega el pan a una hermana,
ese entranas no tenia;
l ) d. i. casa.
Beiträge zur spanischen Volkspoesie etc.
145
; quien niega e] pan a su hermana,
ese lo niega ä Maria! —
Agarrö el raozo seis panes,
en cä de la cunada iba;
hallo las puertas cerradas,
ventanas y celosfas;
viö por entre unos resquicios
muchas luees eneendidas,
en torno de seis difuntos
seis dngeles de rodillas.
Era su pobre cunada
y los hijos que tenia.
— Adios, cunada del alma,
con lägrimas le decia,
Adios, cunada del alma
y sobrinos de mi vida,
aunque oro tengo de sobra
con vosotros trocaria:
pues dejasteis los trabajos
por la eterna mejorla 1 ).
In zwei Sittengemälden: „La noche de Navidad (auch Noclie
buena genannt)“, und „El Dia de Reyes“ ~) (Madrid, 1857, 8.,
{). 323—365) wird die in Spanien, wenigstens bei dem Landvolke
Andalusiens noch fortbestehende Sitte geschildert, die Weihnacht
auch im häuslichen Kreise zu feiern.
1 ) Die Verfasserinn macht dazu die Anmerkung: „Este precioso romance de que
Schiller 6 Bürger habrian hecho una de sus rnas hermosas baladas, ha sido reco-
gido en un pueblecito pequeno de la Sierra, y es, al decir de las gentes de alli
sumamente antiguo: creemos que asi lo manifiesta el lenguaje.“ — Den Sprach-
uml Assonanzformen nach könnte diese Romanze in der That noch aus dem
16. Jahrhundert stammen.
2 ) An der kirchlichen Feier des heil. Dreikönigs-Tages nimmt hier auch das Volk
Theil, indem um die auf einem Allare aufgeslellten Bilder der heil. Familie Kin
der, als Engel gekleidet, und Hirten welche Opfergaben gebracht, einen feier
lichen Tanz aufführen; dann kommen die heiligen drei Könige die auf festlich
geputzten Pferden mit Gefolge und unter Vortragung eines Sternes bis zur Kirche
geritten und vor derselben abgestiegen waren, und bringen die bekannten Opfer
gaben: Weihrauch, Myrrhe und Gold. — In der Domkirche von Sevilla werden
die Tänze von den Chorknaben (Danza de los Seises) aufgeführt. — Vgl. über
diese „Seises“ und ihre kirchlichen Tänze: B interim, de saltatoria, quae
Epternaci quolannis celebratur, supplicatione. Cum praeviis in choreas sacras
Stizb. d. phil.-hist. CI. XXXI. Bd. I. Hit. 10
146
Wolf
Am Weihnachtsabend werden Krippen, vorzüglich zur Belusti
gung der Kinder errichtet, und die Hausgenossen singen unter
Begleitung der Trommel (zambomba), des Tamburins (pandereta)
und anderer ländlicher Instrumente bald einzeln, bald im Chor
Bomanzen, Villancicos, Coplas u. s. w. Von diesen Volksliedern zum
Weihnachtsfeste werden folgende Proben mitgetheilt:
1. Relacion.
(Von einer Person gesungen.)
Cuando et Eterno se quiso hacer nino
le dijo ä un angel con mucho carino :
— Anda, Gabriel, vete a Galilea,
alli veras una pequena aldea ;
es Nazaret su gracioso apellido;
unto ä una easa hay un ramo florido;
en esa casa, que de David vienc ,
hay una nina que quince aiios tiene:
esta easada con un carpintero
y, aun cuando es muy pobre, asi yo la quiero.
Dile que quiero en ella hospedarme,
y en su seno puro tomar cuerpo y sangre.—
Fue el Santo ängel bebiendo los vientos
hasta llegar al humilde aposento,
y cuando viö a la bermosa Maria,
le ha dado el encargo con que Dios le envia:
— Dios te salve, dice, con gran alegi'ia,
Dios te salve, rcina y dichosa Maria,
el Senor es contigo y bendita tu eres,
ünica escogida entre las mujeres,
y bendito el fruto que bas de dar ä luz
el rey de los cielos y tierra, Jesus. —
animadversionibus. Düsseldorf, 1848, 8. p. 10—lä (wo aber fehlerhaft Seises
statt Seises, von seis [sechs] gedruckt ist).
Von Dreikönigsliedern sind aber hier nur die nachstehenden Coplas als Motto
des oben erwähnten Sittengemäldes mitgetheilt:
Los tres Reyes del Oriente
caminan con agua y frio,
hasta llegar al portal
d ver al recien nacido.
Los Reyes mag'os caminan
guiados por una estrella,
hasta llegar al portal
domle hallaron la mas'bella.
Beiträge zur spanischen Volkspoesie etc.
147
2. Otra Rclacioii.
Hacia Belen caminando
iba una nina prenada *),
moutuda en un jumentillo,
de un anciano aeompanada.
— Vamos, vamos de prisa
porque ya la noche viene,
y quizas no encontraremos
casa donde nos alberguen:
Abre, abre, mesonero,
la puerta de tu ineson,
que esta Maria de parto,
la traigo en el corazon. —
Saliö al punto el mesonero
diciendo: — ^Quien es quien llama
con tanta prisa ä mi puerta,
en una hora tan mala ?
— Yo soy, le respondiö el Santo,
que vengo ä pedir posada
para un pobreeito aneiano
y una doncella prenada. —
El mesonero responde:
— Vaya San Jose eon Dios,
que yo no quiero esta noche
mas ruido en mi meson.
— j Ay! Danos albergue,
liazlo en caridad.
j Que el vernos tan pobres
te mueva ä piedad!
— No doy posada ninguna
si no me aprontan la paga;
que con recoger ä pobres
mi bolsa no gana nada. —
El mesonero era tuerto,
y al cerrar el aldabon,
’) Joseph’s eifersüchtiges Bedenken über die Schwangerschaft Maria’s, dessen manch
mal in Weihnachtsspielen (wie z. B. in den „Towneley-Mysteries“ , vgl. Ebert:
„die englischen Mysterien“ in dem Jahrbuch f. rom. und engl. Literatur, Bd. I,
S. 131) erwähnt wird, findet sich auch in einer hier (in dem Roman: Elia.
Madrid 1857, 8. p. 146) mitgetheilten Gopla kindlich-zart ausgedriickt :
San Jose tenia celos
del preuado de Maria,
y en el vientre de su madre
el Nino se sonreia.
10*
148
W o I 1
se le saltö el otro ojo,
que fue castigo de Dios:
y bien merecido;
por tan temerario:
ya puede vepder
eoplas y rosarios 1 ).
3. Otrn Relacion.
; Alegria, alegria, alegria!
Que ha parido la Virgen Maria,
sin dolor ni pena,
a las doce de la Noehe-Buena,
un infante tierno,
en la fuerza y rigor del invierno.
¥ los angelitos,
cuando vieron a su Dios chiquito
metido entre pajas,
le bailaban haciendose rajas.
Se asombra el ganado;
los pastores bajaron al prado,
y ven de repente
unas luees muy resplandecientes,
y luego, al momento,
por quitarse de ese pensamiento,
si era cosa mala,
nn mocito de aquellos con alas
les diee: — Zagales,
arrimäos aqul ä estos portales;
ninguno se asombre
que esta fiesta se haee por el hombre, —
Con este consuelo
los pastores bajaron de un vuelo.
Llegan al establo,
y en el de los eielos hallan un retablo:
en un pesebrito
ven d un nino eon su refajito;
y por todos lados
!) Der Wirth, als Repräsentant der unbarmherzigen Bethiehemiten, ist bekanntlich in
den ausgebildeteren volksinässigen Weihnachtsspielen eine typische Figur (vgl.
Wein hold, Weihnachtsspiele und Lieder ans Siiddeutschland und Schlesien,
Grätz, 1853, 8. S. 110 ff.), und es ist bemerkenswerth , dass auch in dem obi
gen spanischen Weihnachtsliede die Scene mit dein Wirthe noch ganz in drama
tischer Form gehalten ist.
Beiträge zur spanischen Volkspoesie etc.
149
angelitos van arracitnados
ä la dulce Madre,
y a su esposo, que nunca fue padre.
Ven dos animales
reeostados sobre los umbrales:
pidiendo Iiceneia
se entraron con gran reverencia ;
Ilegan a la Virgen,
se arrodillan y humildes le dicen:
— Senora del cielo,
l cömo ;i Dios ahi teneis por el suelo?
j Misferio profundo!
en buen hora paristeis al mundo.
Mi nino, no llores,
que nos quemas eon agua de amores i).
A Dios, gran Senora,
padre Pepe, ä Dios por ahora;
que vamos ä casa,
ä ofreceroslas todas sin tasa.
A Dios, mi ninito,
descansad, y dormid un poquito.
A Dios, senor buey,
senor malo, con Dios os quedeis. —
Y asi van saliendo
los pastores, y d Dios bendiciendo.
4. Coplas.
(Mit Chor gesungen 2J.)
Ha nacido en un portal,
Jlenito de telaranas,
entre la mula y el buey
el Redentor de las almas; —
y dicho Melchor:
— Toquen, toquen esos instrumentos,
y alegrese el mundo que ha nacido Dios.
') Mit Beeilt sagt die Verfasserinn: „i Que poeta calificu jamas ma's bellamente las
lagrimas?“. Wie denn überhaupt diese spanischen zu den schönsten Weih
nachtsliedern gehören! —
2 ) Es werden nämlich die vierzeiligen Strophen (Coplas), die oft durch neue inipro-
visirte vermehrt werden , von Einem nach dem Anderen gesungen, und der drei
zeilige Refrain (Estrihillu) dazu vom Chor wiederholt, wozu auch manchmal die
Kinder tanzen.
150
Wolf
Esta nocbe nace el nino
entre la paja y el hielo,
i quien pudiera, nino mio,
vestirte de terciopelo!
En el portal de Belen
hay estrella sol y luna:
la Vi'rgen y San Jose
y el nino que estä en la cuna.
En Belen tocan a fuego,
del portal sale la llama,
es una estrella del cielo,
que ha caido entre la paja.
Yo soy un pobre gitano
que vengo de Egipto aqui,
y al nino de Dios le traigo
un gallo quiquiriqui.
Yo soy un pobre gallego
que vengo de la Galicia,
y al nino de Dios le traigo
lienzo para una camisa.
Al nino recien nacido
todos le traen un don ;
yo soy cbico y nada tengo ;
le traigo mi corazon.
5. Otras.
(Vom Chor der Weiber gesungen.)
La Vi'rgen lava panales,
y los tiende en un romero *),
los pajaritos cantaban,
el agua se iba riendo.
LaVirgen lavando estaba
las pobreeitas mantiilas,
y San Jose las tendia
al sol, en las maravillas,
l ) Vgl. oben die Anmerkung- zur „ Relacion del Calvario
vom Rosmarin.
über den Volksglauben
Beiträge zur spanischen Volkspoesie etc.
151
mientras eortaba la tela
y hacia las eamisitas,
i cuantas lägrimas de amor
corrian por sus mejillas!
6 Villancico.
Pues la noehe estä fria
y esta serena,
canten los villancieos
de Noche-Buena (bis).
El ninio ya ba nacido;
venid, pastores,
no le temais al frio
ni ä sus rigores (bis).
A un portalito pobre
se hau retirado,
donde el buey y la mula
lo han albergadp (bis).
En ese portalito
su cama ha sido
una poca de paja
que han recogido (bis).
Aunque en Belen te vea
tan pobrccito (bis),
te creo rey poderoso,
pero inuy rico,
que a conquistar bajastes
todas las almas,
pero sin armas (bis).
Von weltlichen, in neuerer Zeit entstandenen Volksromanzen
wird nur eine satyrisch-politische aus der Zeit des Unabhängigkeits-
Krieges in den „Cuadros de costumbres populäres andaluces“ p. 171
bis 175 mitgetheilt, worin sich das Andenken, in welchem noch jetzt
die Usurpation Napoleon’s in Spanien steht, auf folgende bitter-
burleske Weise ausspricht.
152
Wolf
Ronianceqne rcficrc una plätica cntrc Malaparte y el indlno de Munra *).
Napoleon. ^ Que es esto, amigo M u n rä ?
I que novedad grande es csla?
cömo has dejado a Madrid?
porque de Espana te ausentas?
Habla, que solo deseo
saber con palabras ciertas
cuanto ha pasado, y asi
ni un instante te detengas.
Murat. Senor, varaos poco a poco,
y le dire cuanto sepa,
pero antes, que me traigan
a este sitio una silleta,
para poder descansar,
porque me duelen las piernas.
Napoleon. Dices bien; con gusto advierto
que una gordura te cerca
bastante eonsiderable,
prueba la mas verdadera
de lo bien-que te han pintado
los aires de aquella tierra.
Murat. Senor, estais enganado
si es que de esta suerte piensas;
dejemos esos principios
que no vienen aqul ä cuenta,
y vamos ä lo que vamos,
pues que corre mucha priesa
el desenganar a usia;
creame 6 no me crea.
l ) d. i. Gespräch zwischen Napoleon und Murat: indino für indigno, heisst
auch : kleiner Strolch, Tagdieh, Herumtreiber. — Hie Verfasserinn bemerkt dazu :
„Hie Romanze wird dadurch noch ergötzlicher, dass das Volk nicht daran dachte
die Helden derselben als Caricaturen darzustellen, sondern nur das was sich
ereignet, in seiner Weise schlicht berichten wollte, und dass die ihnen am Schlüsse
der Romanze in den Mund gelegte Verzweiflung ganz ernst gemeint war, als eine
voraus zu sehende natürliche Folge ihrer völligen Besiegung“. — Sie bedauert,
dass sie jenen Tlieil der Romanze nicht erhallen konnte, der sich auf Castilien
insbesondere bezog, und mit den Worten anfängt: „Fue Castilla la primera, etc.“
Auch in dem oben erwähnten „Liederbuche“ von Antonio de Tr ne ha ist
in den Romanzen von „La vida de Juan soldado“ (Nr. 27, p. 165 •—187) dem
über die aufgedrungene Fremdherrschaft empörten Nationalgefühl der gebührende
Ausdruck ganz im Volkstone gegeben.
Reil rüge zur spanischen Volkspoesie etc.
153
Napoleon. £Pues, que tenemos de nuevo ?
habla y no te suspendas ;
l pues que vistes en Espana
para hablar de esa manera?
M u rat. Gran emperador de Francia,
no ha servido vuestra fuerza
a conquistar d la Espana,
ni sirvieron las promesas
que d todos generalmente
tu magestad les hiciera,
que les darias deseanso,
empleos, cruces, pesetas,
toros para divevtirse,
porque aficionados eran;
y de todas estas mandas
ni caso hicieron siquiera.
Napoleon. Pues dime, iy mis soldados
no estdn en Sierra Morena?
Murat. Si senor; pero Dupon
con las dguilas francesas
y toda la tropa suya
ba quedado prisionera,
y los fusiles y alfanges
t'ueron trocados en rueeas,
porque el general Castanos
supo ajustarles las cuentas.
Napoleon. Solo porque tii Io diees
es preciso que lo crea ;
que si no, yo aseguro
nadie haeermelo creyera.
en Zaragoza, quien gana?
^Se humillö al fin la cabeza
del valor aragones
desistiendo de su empresa?
Mu r a t. Toda fuerza serd inutil,
para obligarle d que ceda.
Y si quieres acabar
con toda la Francia entern,
enviala d Zaragoza
que hallard alli la cierta *)
l ) Ln linierte.
154
Wolf
y en profunda sepultura
toda enterrada se queda.
Napoleon. ^Y no hay medio de aeabar
con lo tropa aragonesa?
Murat. Todo esfuerzo serä inütil;
no hay soldado quc la venza.
Napoleon. Moncey, no csta triunfante
en el reino de Valencia?
Murat. No seiior, porque le han puesto
agachadas las orejas;
y lo que mas le asombro
fue la suma ligereza
con que muchos valencianos
dan una corta carrera,
montdndose en los caballos,
y echando abajo el ginete,
eilos montados se quedan.
Napoleon. Con que todas nuestras mäximas,
nuestra traicion y cautela
nos han salido al contrario,
i Munra, quien nos lo dijcra!
que la arrogancia espanola
abatira la francesa!
Dime, pues, £que eslo que haceinos
en tan lastimosa escena?
Escribire a Portugal,
dire ä Funesto ') que venga.
Murat. ^Mas por dönde ha de pasar,
si las tropas portuguesas,
unidas eon los paisanos,
tienen una cerca hecha
y no lo dejan pasar
por las muchas centinelas,
y se voran precisados
ä rendirse cuando vean
que los comestibles faltan
y llevärselos no puedan?
Pero lo mas acertado
es que ä su rey les devuelvas
J ) Jiinot.
Beiträge zur spanischen Volkspoesie etc.
155
por el que su pueblo clama
y todo espanol venera;
pues asi que Io envieis
puede ser que se adoleczan,
y que se apiaden, senor,
de nuestras tropas francesas;
que si no, de Io contrario,
os arrojarän del trono,
y cortarän la cabeza,
v a mi me despojardn
del ducado de la Versa 4 )>
y si eseapamos, primero
que estas cosas nos sucedan,
nos tendremos que poner
a limpiar las chimeneas:
ä mf ya se ha olvidado;
pero V., que maestro era,
se acordara de la mana
para subir con destreza.
Napoleon, j Que pensamientos tan ruines !
^Quien lo pasado recuerda?
Murat. Pues si esto no le acomoda,
vamos a lejanas tierras
a ejercer otra oficina
de otra mas brillante esfera,
pregonando por las calles,
^quien quiere amolar tijeras?
Die beiden nachstehenden komischen Romanzen (aus Cosa cuin-
plida etc. p. 97—98; und: La familia deAlvareda, Madrid, 1856,
8. p. 44) können eben so gut zu den Kinderreimen gerechnet
werden:
1. Relation famosa del gato.
Estaba senor don gato
en silla de oro sentado,
calzando media de seda
y zapatito picado.
Liege su compadre y dijo
D Berg-.
W o I f
si queria ser casado
con una gata morisea
que andaba por los tejados.
El gato por verla pronto,
cayö del tejado abajo:
se ha rompido tres costillas,
se ha descoyuntado un brazo;
venga, venga presto el medico,
sangrador y cirujano,
y sobre todo que venga
el doctor senor don Carlos.
El senor don Carlos manda,
despues de baberle pulsado,
que maten a una gallina
y que le den buenos caldos.
Al otro dia de mahana
amaneciö muerto el gato:
los ratones de alegria
se visten de Colorado;
las gatas se ponen de luto,
los gatos capotes largos,
y los gatitos cbiquitos
dicen miau, miau , miau.
2. Romnnce de interminable testo.
(Neck-Romanze.)
Las dos de la noche eran
cuando senti ruido en casa:
subo la escalera ansioso,
saco la brillante espaila;
toda la casa registro
y en ella no encuentro nada;
y por ser cosa curiosa,
voy a volvcr ii contarla.
Las dos de la noche eran etc.
ln der Form der Cancion sind die folgenden vier höchst
anmuthigen Liebeslieder:
Beiträge zur spanischen Volkspoesie etc.
157
1. El retrato.
(Aus der Erzählung:: „Callar en vida y perdonar eil muerte.“ Madrid 1856, 8., p. 23—2!>.)
Tiene tu cabeza
hermoso peinado;
con hebras de oro
Io tienes formado.
Tienes una freute
que es plaza de guerra,
donde amor triunfante
puso su bandera.
Tienes unas cejas
muy bien dibujadas,
no hay pincel que pueda
tan bien colocarlas.
Tienes unes ojos,
luceros del alha;
que apagan sus luces
a la luna clara.
Es tu nariz, fina,
eual filo de espada,
que a los corazones
todos los traspasa.
Tienes unos labios .. .
son dos coralitos;
ya eseonden, ya ensenan
tus dientes bonitos.
Tienes una barba,
con un hoyo en medio;
si en el me enterrasen,
quisiera haber muerto.
Tienes la garganta
tan clara, tan bella,
que basta lo que bebes
se trasluce en ella.
Tienes unos brazos
tan bien torneados ...
no los tuvo Eva
mejor aeabados.
158
Wolf
Tienes, nilia, el falle
como hermosa palina,
que airosa deseuella
por entre las plantas.
Tienes unos pies,
pisas tan airosa,
que por donde pasas
florecen las rosas.
Ya esfa'n dibujadas,
niiia, tus facciones;
ahora viene mayo,
que te de eolores.
2. Dos lauces cu uu dia.
(Aus dem Roman: „Una en otra“, Madrid 18S6, 8. p. 101—102.)
Me han dieho de que te casas,
y asi lo publica el tiempo:
dos lanees habra en un dia :
mi linierte y tu casamiento.
i Ay de mi'l
Primera amonestacion
que la iglesia te leyera,
ha de ser dolor de muerte
que ä mi corazon se diera.
;Ay de nu'l
Segunda amonestacion;
que te lo voy ä advertir:
que tu te vas ä Casar,
y yo me voy ä morir.
i Ay de mi!
Tercera amonestacion;
päsate por san Antonio :
por caridad, dile al cura,
que me traiga el Santo öleo.
jAy de mi!
Beiträge zur spanischen Volkspoesie etc.
159
En el dia que a ti te digan:
„^Recibe usted pnr esposo?“
a mi me estardn cantando
los clerigos el responso.
; Ay de mi 1
Aquel dia te pondran
tu vestido eolorado,
mientras que d mi me pondran
un habito franciscano ').
;Ay de mi!
Te estaras todo aquel dia
en compana de tu gente;
ä mi me acompanaran
euatro cirios solamente.
; Ay de mi!
A ti te estardn eehando
ricas sdbanas de olan;
d mi me estardn eehando
unas espuertas de cal.
;Ay de mi!
Iras a misa de novia
eon tu maridito al lado,
no seras para deeir:
„jDios le haya perdonado!“
;Ay de mi!
Si pasas por mi sepulcro
tres anos despues de muerto,
y me nombras por mi nombre,
te responderan mis huesos:
[Ay de mi!
3. Las mugercs de Aracena 2 ).
(Ebenda, p. 174.)
Es cl cielo de Aracena
el mas puro y mas azul;
y por eso las mugercs
tienen el mirar de luz.
Bekanntlich wurden in Spanien die Leichen in Mönchskleidern von den Bruder
schaften begraben.
2 ) Aracena, reizendes Städtchen (villa) in der Provinz von Huelva.
160
W o I f
En cl sol estan sus rayos;
en la mar, perla y coral ;
en las flores, la hermosura;
y todo en tu cara estä.
Trabaron rosa y jazmin
por tu cara una pendeneia:
acudiö al Amor la rosa,
triunfö el jazmin con la auseneia.
4. La rosa entre las llores.
(Aus „Cosa cuinplida“ etc. p. 83.)
Los cipreses de tu huerta
estan vestidos de luto,
y es porque no tienen flores
que ofrecerte por tributo.
El naranjo de tu patio
cuando te aeercas ä el,
se desprende de sus flores
y te las echa a los pies.
Tus colehones son azahares,
y tus sabanas mosquetas,
tus almohadas jazmines,
y tu, rosa que te acuestas.
„Unter dem andalusischen Volke“, sagt die Verfasserinn („La
familia de Alvareda“, p. 101), „bewahrt ein Jeder ein solches Archiv
von Sprue hgedi eilten und Singstrophen (Coplas) in seinem
Gedächtnisse, und von so mannigfaltigem Inhalte, dass es kaum etwas
geben dürfte, was man nicht schon in einer solchen Copla ausge
sprochen fände“.
Bekannt ist der reiche Vorrath an Coplas, die als Texte zu den
nationalen Tanzliedern dienen und schon zu Anfang dieses Jahrhun
derts erschien eine: „Coleccion de coplas de seguidillas boleras, y
tiranas.“ Barcelona. En la imprenta de Agustin Roca. s. a., ein
Bändchen in 12. und eine grössere Sammlung hat Zamäcola unter
Beiträge zur spanischen Volkspoesie etc.
161
dem Namen: „Don Preciso“ in 2 Bändchen herausgegeben ! ), wozu
in neuester Zeit E. Boelim er durch seine in Malaga aufgezeichneten
eine interessante Nachlese gegeben hat (in Herrig’s Archiv für das
Studium der neueren Sprachen und Literatur, XIII. Jahrg., 24. Bd.,
Braunschweig, 18b8, 8., S. 1G7—184, unter dem Titel: „Spanische
Volkspoesie“).
Aus den in den Werken unserer Verfasserinn angebrachten Co
plas ersieht man aber erst ihre Mannigfaltigkeit, und wie sie, bald nur
„gesagt“, und bald auch „gesungen“, in allen Lagen und Verhält
nissen des Volkslebens ihre Entstehung und Anwendung finden.
Wiewohl sie daher nicht immer leicht zu elassificiren sind, so
habe ich sie doch der Übersichtlichkeit wegen unter einige Haupt-
rubriken zusammen geordnet, wobei natürlich die Einreihung des
Einzelnen nicht von Willkürlichkeit frei blieb.
a) Belehrende (Volksweisheit).
1.
(La Gaviota. Tomo I. p. 54.)
Quedate eon Dios y a Dios,
dice ia comun sentencia;
que el pobre puede ser rico,
y pl rico no eompra ciencia.
2.
(Ebenda, p. 179.)
Mira, hombre, lo que haces
casandote con bonita;
hasta que llegues a viejo,
el susto no te se quita.
l ) Coleccion de las mejores coplas de seguidillas, tiranas, polos , que se han com-
puesto para canlar ä la guitarra. Por D. Preciso, Madrid 1799, 1805 und öfter
(die mir vorliegende Ausgabe ist von Madrid, imprenta de Repulles, 1816) 2 Bde.
in 12. —Er sagt unter anderem in der Vorrede zum ersten Bändchen, p. XLII!—XLIV:
„Casi todas las coplas que incluyo han sido compuestas, no por aquellos grandes
ingeniazos atestados de griego y latin, y que imitando ä los antiguos y moder
nus nacionales y eslrangeros, forman tonos de poesias que serän sin duda muy
sublimes, muy beilas, muy estupendas, pero que muy pocos las leen y menos las
entienden, maguer que esten en verso altisonante-rftmico-filosöfico. Los autores
de estas coplas vulgares son gentes que no han andado ä honelazos por esas uni-
versidades, y que sin inas reglas que su ingenio v huen natural, sahen espresar
8itzb. d. phil.-hist. CI. XXXI. Bd. I. 11ft. 11
162
YV o 1 f
3.
(Ebenda, p. 184.)
Mas facil es apagarle
sus rayos al sol que abrasa,
que atajarle la sin bueso *)
a una muger enojada.
No sirve el halago,
ni tampoeo el palo;
ni sirve ser bueno,
ni sirve ser malo.
4.
(Belaciones. La estrella de Vandalia. — ; Pobre Dolores ! —• Madrid 18ä7, 8., p. ß9.)
Un rosal cria una rosa
y una maceta un elavel;
y un padre eria una hija ....
jsin saber para quien es S )1
(Ebenda, p. 132.)
En el cielo no hay faroles
que todas son estrellitas.
iQue bien pareee, senores,
la bonestidä en las niocitas,
y la razon en los hombres!
0.
(Ebenda, p. 193.)
Ni fies ni desconfies,
ni hijos agenos eries;
ni pongas vina, ni doraes potros,
ni tu muger ensenes a otros.
en cuatro versitos pensamientos muy finos , con una concision y gracia que a
todos deleita.“ — Vgl. auch die spanische Übersetzung B o u t e r w e lt’s ,
Tom. I, p. 219—229, wo auch Proben von solchen Coplas mitgetheilt sind.
*) D. i. die Zunge.
a ) Die Verfasserinn bemerkt mit Hecht zu dieser Copla , die sie einen Bauer zu sei
ner zärtlich geliebten Tochter sagen lässt: Paede darse un seutimiento mas
tierno y paternal, y mas poetieamente expresado ?“
Beiträge zur spanischen Volkspoesie etc.
16
7.
(Ebenda, p. 219.)
Con saber y no teuer,
no prevalece ninguno;
que lo que le sobra al sabio,
son niuchos dias de ayuno.
8.
(Ebenda, p. 237.)
Dejad llorar ä las nubes,
dejad alumbrar al sol;
dejad al viejo quejarse,
y al mozo gozar su amor.
b) Satyrisch-epigrainmatisch.
1.
(l.a famillia de Alvareda, p. 103.)
iQuien tuviera la dicha
de Ad an y Eva,
que jamas eonoeieron
suegro ni suegra!
2.
(Ebenda.)
De suegras y eunadas
va un carro lleno:
jque lindo cargamento
para el infierno!
3.
(Una en otra, p. 89.)
De la costilla de Ada»
eriö Dios ä la mugcr,
para dar asi a los hombres
ese bucso que roer.
4.
(Ebenda >).)
Cuando Dios criö al erizo,
le eriö de mala gana:
por eso el animalilo
tiene tan suave la lana !
egen einen eigensinnigen Widerspreche!’.
164
W o I f
(Clemencia. Madrid 1857, 8., T. 1. p. 111.)
Para no llegar ii viejo,
^que remedio me daräs?
— Metete d servil - ä un anio,
y sienipre moio >) senis.
6.
(Ebenda, p. 217.)
Pajaros eun muchas plumas
no se pueden mantener;
los escribanos con una
inantienen mo/.a y muger.
7.
(Un verano en Börnos. Madrid 1858, 8., p. 172.)
Medicos y cirujanos
no van ii inisa mayor ,
porque les gritan los muertos:
j Ahi pasa el que me nialö!
8.
(Ilelaciones. La estrella de Vandalia etc. p 81 2 ).)
Limes y martes de chispa;
miercoles la estiin durniiendo,
jueves, viernes, mala gana,
y sabado cntra ei estruendo.
9.
(Cosa ciimplidn ete. p. 192.)
Los gallegos de Galicia
por mayo y por san Miguel
se despiden de sus amos
y se van eon su muger.
10.
(Relaeiones. j Pobre Dolores ! p. 158.)
Uua seiiora fue il Rota 3 )
para buscar cocinera,
>) In der doppelten Bedeutung des Wortes m o /. o von ,j n n g und Diener liegt der Witz..
2 ) (legen die Arbeitsscheu der Schuster.
3 ) Diese und die folgenden satyrischen Coplas sind gegen die Einwohner von [Iota
gerichtet; einem Flecken zwischen Cadiz und Sanlucar de Bnrranieda; sie sind
ein arbeitsames Volk von Acker- und Gartenbauern, aber meist in ärmlichen Ver-
Beiträge zur spanischen Volkspoesie etc.
165
y la encontrö desde luego ;
pero le advertia el!a,
que no sabia guisar
con tocino ia puchera,
sino con pringue de olivo
y con salsa tomatera.
1 1.
(Ebenda, p. 159 )
Un roteno, de los listos,
sobre Canastas queria
subir al eielo, por ver
si tomates allf habia ;
mäs para llegar al eielo
una canasta falto,
agarrö la de debajo .. .
y junto ä Londres cayo!
12,
(Ebenda.)
No se ha podido saber,
ni se sabrä a punto fijo
los borricos que hay enRota,
porque llega a lo infinito.
Los rotenos a sus novias
acostumbran regalar
pepitas de calabaza
que son confites alla.
Un hombre sabio de Rota
estaba pensando un dia,
que si no hubiese tomates,
el mundo se acabaria.
13.
(Ebenda, p. 160.)
Si a Rota le apuntüran
las baterias,
ella con sus tomates
las hundiria.
hältnissen; besonders beschäftigen sie sich mit der Cultur von Kürbissen und
Liebesäpfeln (tomates) , zu deren Einsammhtng sie eine grosse Menge von Kör
ben gebrauchen , daher sie den Spitznamen „Tomateros“ bekommen bähen, und
wegen ihrer Vorliebe l’iir diese Frucht und ihres Schildbürgerthuins zur Ziel
scheibe des Witzes der Andalusier dienen, die den guten „Rotenos“ eine Menge
Schwänke im Style unseres Lalen-Buehes aufgebracht liab eu, wovon die in Nr. 10
und 11 gegebenen Beispiele sind.
166
Wolf
c) Erotische.
1.
(La Gaviota. Tom. 1, p. 138.)
; Vale nias lo moreno
de mi morena,
que toda la blancura
de una azucena ! *)
2.
(Ebenda.)
Nina, cuando vas a misa
la iglesia se resplandece:
la yerba seca que pisas,
al verte, se reverdece.
3.
(Ebenda, p. 139.)
Asomate a esa ventana,
esos bellos ojos abre;
nos alumbraräs eon ellos,
porque cstä oscura lacalle 2 ).
4.
(Ebenda, p. 172—173.)
Dicen que tu no me quicres,
no me da pena maldita;
que la maneha de la mora
con otra verde se quita.
Si no me quieres ä mi,
se me da tres caraeoles;
con ese mismo dinero
compro yo nuevos amores.
S.
(Ebenda, p. 178.)
Parabien a la novia
le rindo y traigo:
pero al novio no puedo
sino envidiarlo.
*) Vgl. dazu die von Bo eh in er a. a. 0. S. 172—174 gegebenen Coplas Nr. 24,
26, 27, 37, 38, 39, 40, 41, 42, 43.
2 ) Vgl. dazu bei Boehmer, Nr. 31.
Beiträge zur spanischen Volkspoesie etc.
167
6.
(Ebenda.)
Por el si que dio la nina
a la entrada de la iglesia,
por el si que diö la nina,
entrö libre, y saliö presa.
7.
(Ebenda, Tomo II, p. 178.)
Una rauger andaluza
tiene en sus ojos el sol;
una aurora en su sonrisa,
y el paraiso en su araor.
8.
(Ebenda.)
Mas quiero un jaleo pobre,
y unos pimientos asados,
que no tcner un usia
desaborio *) ä mi lado.
ü.
(La familia de Alvareda, p. 17.)
Cuando voy a la easa
de mi Maria,
se me hace cuesta abajo
la cuesta arriba.
Y cuando salgo,
se me hace cuesta arriba
la cuesta abajo 3 ).
10.
(Ebenda, p. 102.)
Lograr es lo que inlento,
no perder ticmpo;
ui dar suspiro al aire,
ni queja al viento.
11.
(Una en otra, p. 99.)
A un alto pino lo troncho,
ä un älaino lo blandeo,
li un toro bravo lo amanso,
;y ä ti, muchacha, no puedo!
1 ) Oesaborido.
2 ) Vgl. bei Bo eh in er, Nr. Bl.
168
W o I f
12.
(Relaciones. La estrella de Vandatia, p. 102.)
Oprimeme el corason
verte vestida de negro;
quc la sombra de tu pena *)
;! m! me da sentimiento.
i Mal haya la ropa negra,
y el sastre que la eortö!
que mi nina tiene luto
sin haberme muerto yo.
13.
(Ebenda, ji. 246.)
Fd bablar quiere gracia,
el cantar brio;
y el pelar la pavita 2 )
quiere sentido.
14.
(Clemencia. 'l'oino I, p. 236.)
La de mi casamiento
pareee cosa de cuento ;
mientras mtis se trata,
mas se desbarata.
15.
(Un verano en Bornos. Madrid 1858, 8., p. 240.)
En teniendo yo un cigarro,
y seguro mi jornal,
y ii mi morena en la reja,
^que mtis puedo desear?
l ) Dieser Vergleich der Trauerkleider der Geliebten mit dem „Schatten ihres Schmer
zes“ ist, wie die Verfasserinn mit Itecht bemerkt, gewiss sehr zart und poetisch.
3 ) Vgl. über den Ausdruck: pelar la pava oder pavita, eigentlich die Truthenne
rupfen , womit man die abendlichen Zusammenkünfte und Gespräche der Lieben
den am Gitter (reja) bezeichnet: Boehmer a. a. 0. S. 182; — und Salvä's
Ausgabe des Wörterbuches der Akade’mie von 1854, s. v. Pava, der es erklärt
durch: „murmurar por pasatiempo“.
Beiträge zur spanischen Volkspoesie.
169
d) Kinder-Rcime >).
1.
(Cosa cumplida etc. p. 11.)
Cuando salgo de la amiga,
me dan gana de beber
en el jarrito de oro,
en que behid San Jose.
Me fue por un eaminito
y me encontre ä Jesucristo,
y la Vi'rgen que es mi Madie.
Los ängeles, mis hermanos,
me cogieron por la mano;
me llevaron ä Belen
sin tropezar ni caer.
En Belen hay una fuente
que corre tan trasparente
de noche como de dia!
A rezar el Ave Maria.
2.
(Ebenda, p. 96.)
Leväntate, Pedro,
endende eandela
y mira quien anda
por la eabecera.
Los ängeles son
que vienen al huerto
y llevan ä Cristo
el ealiz acerbo.
San Pedro tiene dos Uaves,
una con que cierra, y otra con que abre:
yo tengo otras dos, el Credo y la Salve.
3.
(Elia, p. 285.)
Virgen santi'sima,
vuestra esclava soy;
con vuestra licencia
a jugar me voy.
*) (>er inehrerwähnte Antonio de Trueba hat auch eine Sammlung von Kinder-
Heimen „Cantos infantiles“ (Madrid 1858) herausgegeben, die mir aber nur dern
Titel nach bekannt geworden ist, daher ich nicht weiss, ob sie aus dein Munde
des Volkes gesammelte oder eigene Compositionen enthält.
170
VV o 1 f
Con vüestra mano bendita,
jMadre de mi corazon,
aunque soy pecadorcita,
dadme vuestra bendicion!
4.
(Relaciones. Justa y Rufiua etc. p. 13.)
A acostarme voy
sola sin eompaüa :
la Vfrgen Maria
esta junto ä mi cama *);
me diee de quedo:
— Mi nina , reposa,
y no tengas miedo
de ninguna cosa.
5.
(Elia, p. 286.)
Me acuesto eon mi Sonor,
quc no hay otro mcjor,
ni lo ha habido, ni !o habrä,
ni naeio, ni nacerä.
j Senor,
si me duermo, despertadme;
si me muero, perdonadme!
6.
> (Le familia de Alvareda, p. 78.)
; Agua, Dios de los cristianos,
que se mojen los sembrados.
A la puerta del meson
sale la inadre de Dios
en un caballo blaneo,
alumbrando lodo el campo.
Campo bendito, eampo de Dios ;
que rcpique, repique la iglesia mayor.
7.
(Ebenda.)
Agua, Dios mio,
con el corazon lo pido;
tened piedad,
que soy chiquito, y pido pan.
1 ) Die Verfassei'inn bemerkt dazu , dass das Versmass allerdings zu lesen forderte :
„junto esta a mi caina“, aber sie wollte das Liedchen treu wiedergeben, wie sie
es vom Volke singen gehört hat.
Beiträge zur spanischen Volkspoesie etc.
171
8.
(Cosa cumplida etc. p. 103.)
Las flores son para el suelo,
y los ninos para el cielo,
ä donde si Dios van ä vor,
y ya no quiercn volver.
Que echen las campanas a vuelo
que hoy hay un ängel mas en el cielo.
9 i).
(Cosa cumplida etc. p. 91.)
El sermon del peregrino
cuando Jesuc.risto vino
y se puso en el altar
con los pies Ilenos de sangre
y las manos enclavas 2 ).
En Jerusalen estaba
y asi se puso ä decir:
— Que vengan a nn los ninos
que los quiero bendecir.
Limpia, limpia, Magdalena,
y no dejes de limpiar;
ä los cliicos darles teta,
y a los grandes darles pan.
10.
(Itelaciones. Justa y Rufina etc. p. 242.)
Fuf il la mar, vine de la mar,
y labre mi casa sin piedra ni cal,
sin aznda ni azadon,
y sin ayuda de varon.
Cbicurrl, chicurri,
comadre Beatriiiiiiiz 3 )1
*) Eine von einem Kinde im Spiele gehaltene Predigt, der es folgende Apostrophe
in Prosa vorrausschickt: „— Ea! cnllaos la boca, pajnros, y vosotras, abispas,
ipie pareceis abejorros; acudid, lagartos , vossotros que sois buenos y humildes,
a oir a este preicaor (predicador) que os va a decir“.
2 ) cnclavadas.
' ) »Comadre ßeatriz“ ist der Kindername der Schwalben, und dieses Liedchen,
worin das Zwitschern der Schwalben nachgealnnt wird, erinnert an das '/X^onnjui.
der Griechen.
172
W o I f
II.
(Cosa cumplida etc. p. 93.)
Cigüena, cigüena,
tu casa te se queina,
(us hijos te se van:
por cuaresrna volverän.
Säcate una pluma.
dala al saeristan,
que eseriba una carla
que ellos llevarän,
y al rey de los moros
se la entregarän.
12.
(Ebenda, p. 94.)
Cigüena, cigüena,
dame un cuarto para lena
y otro para jabon,
para lavarte el camison.
13.
(Clemencia. Tomo I, p. 197.)
Los pdjaros son clarines
entre los eanaverales,
que le dan los buenos dias
al sol de Dios euando sale.
14.
(Relaciones. Justa y Itullna etc. p. 241.)
Duermen:
Una hora el gallo,
dos el caballo,
tres el Santo,
cuatro el que no Io es tanlo,
cinco el peregrino,
seis el teatino,
siete el caminante,
oeho el estudiante,
nueve el caballero,
die/, el majadero,
once el muchacho,
doce el borracho.
3
m
s
Beiträge zur spanischen Volkspnesie etc.
173
IS.
(Cosa cumplida etc. p. 97.)
En e] hospital del rey
liay un raton con tercianas;
y una gatita morisea
le esti! encomendando e] alma.
IC.
(Relaciones. Justa y Rufina etc. p. i2.)
Aqui vengo no se a que
con mi barlia de concjo:
j ay! quien se comiera un viejo
que fuera de mazapan!
ehe, aha!
como soy tan chiquila, ya no se nias.
17.
(Ebenda.)
Yo soy Dona Ana de Chayes,
)a de los ojos hundidos,
casada con tres maridos;
todos fueron capitanes:
inurieron en las milieias
donde mui'ieron mis padres,
dejändome por herencia
manos blaneas, y ojos negros:
beso ii Vd. las suyas, senior Caballero.
18.
(La Gaviota. Tomo I, p. 71.)
j Que lindas manitas 4 )
que tengo yo!
;Que chicas ! jque blaneas!
• Que monas que son!
19.
(Cosa cumplida etc, p. 93.)'
A la flor de la petiflor
ti la verde oliva,
a los rayos del sol
se pema im nma.
) Indem siefi die Kinder beim Spiel oder Tanz an den Hiindeben fassen.
174
Wolf
e) Studcntcnliedcr ').
(Relaciones. La estrelia de Vandallia, p. 107 )
Cuando un estudiante llega
a la esquina de una plaza,
dicen los revendedorcs:
jfuera ese perro de eaza!
— Anda,vida mia, no comas tomates;
que esa es la comida de los estudiantes.
2.
(Ebenda.)
Un pobrecito estudiante
se puso a pintar la luna,
y del hambre que tenia
pinlö un plato de aceitunas.
— Anda, vida mia, siibete al tejado ;
veräs una vieja peinando un lagarlo.
3.
(Ebenda.)
Si en el libro hubiese damas
como las que estoy mirando....
toda la nocbe de Dios
me la llevara esludiando.
— Anda, nina mia, sübete a la torre;
mira la veleta, y el aire que corre.
*) Bekanntlich zogen, wenigstens bis vor kurzem noch, die spanischen Studenten,
besonders die nicht in Collegien wohnenden (los manteistas), als fahrende Schü
ler (tunantes) im Lande umher, in ihrer eigenen Tracht, aus einem Unterkleid
und Mantel von grobem schwarzen Wollzeug und einem Baret bestehend („loba
ö sotana y capa larga o in a n t e o , de bayeta negra, con gorro d birrete Cas
tellano“), die sie geflissentlich zerrissen oder beschmutzten, um sich das Ansehen
von Bettelstudenten zu geben, — denn auch Söhne angesehener und wohlhaben
der Familien machten diesen Spass mit — tolle Streiche zu machen , Possen zu
treiben, und vorzüglich durch Absingen von Liedern (estudiantinas) ihr Brot sich
zu erbetteln (daher estudiantes de la sopa oder de la tuna genannt). Seit dem
im Jahre 1845 eingeführten Studienplane und der Reform der Universitäten wird
diese Unsitte allerdings abgenommen haben , dass sie aber noch nicht ganz aus
gerottet ist, bezeugt, ausser unserer Verfasserinn, auch B oe h me r, a. a. 0. S. 174
bis 175, wo auch ein paar solcher Studentenlieder, Nr. 44, 45, milgelheilt sind.
— Vgl. I). Antonio (J i I de Za rate, De la instrucciun publica en Espana.
Madrid 1855, 8. Tomo II, p. 264—266 und 321.
Beiträge zur spanischen Volkspnesie etc.
4.
(Ebenda, p. 108.)
; Caballero generoso!
denos Vd. una peseta;
que tenenios la barriga
como canon de escopeta
5.
(Ebenda.)
Vamos, companeros,
larguemonos presto;
que en aquel baleon
estii mi maestro.
I) Soldatenlieder.
1.
(Cosa cumplida etc. p. 142.)
Soldado soy de ä caballo:
lo que quieras te dare;
pero en tocando a easaca,
no quiere mi coronel.
2.
(Ebenda.)
Cuatro cuartos ine da el rey,
y con ellos como y bebo,
le pago ä la lavandera,
y siempre tengo dinero.
3.
(Ebenda, p. 143.)
Pensamiento tuve, nina,
de servil’ al rey Fernando;
desde que vi tu bermosura,
dije: que le sirva el diablo!
4.
(Ebenda.)
Con un pie en el estribo
y olro en el aire,
se despide un soldado
de su comadre.
176
W o 1 f
Mano ä la rienda,
se despide un soldado
de su morena.
5 ')•
(Elia, p. 18.)
Que no quiere a dos tirones
sei' franeesa la Giralda;
que diee que es espaiiola,
y andaluza, y sevillana.
0.
(Ebenda.)
I, a Virgen del Pilar diee,
que no quiere ser franeesa;
pero si la Capitana
de su tropa aragonesa.
7.
(Ebenda.)
La castellana arrogancia
siempre ha tenido pur punto
reeordar lo de Sagunlo,
no olvidar lo de Numancia.
Franceses, Idos ä Franeia,
y dejadnos nuestra ley;
queen toeando ä Diosy al rey
y nuestras casas y hogares..
todos somos militares,
y formamos una grey !
8.
(Helaciones. La estrella de Vandalia, p. 212.)
Mueliachas, si quereis novios
pintadlos en la pared ;
que Ins mocitos de Espaiüa
son de la reina Isabel.
*) Aus dem Unabhängigkeitskriege gegen Napoleon; ebenso Nr. 6 und 7.
177
Beiträge zur spanischen Volkspoesie etc.
9.
(Clemencia. Tomo I, p. 14.)
Manila al diublo los paisanos;
que te prometo, morena,
que en siendo yo coronel,
tu seras la coronela.
10.
(Ebenda, p. 219.)
jNo hay remedio! ser soldado
y marchar al batallon,
en que avivan ä los flojos
con el pan de municion.
Rrrrrran, tan, plan, plan:
un cabo loco te amansara.
11.
(Cuadros de costumbres etc. p. 201.)
Si el garbo de tu persona J )
se ganara peleando,
vieras un hombre en la guerra
con una espada en la mano.
12.
(Ebenda.)
Si por querer d un paisano
olvidas a un militar,
liazte cuenta que bas cambiado
oro lino por metal.
13.
(Ebenda, p. 202.)
El cielo nos de paciencia
con estos hombres de campo,
que son estripa-terrones,
sepulturas de gazpacho.
*) Diese und die folgende Copla sind Soldatenständchen am Gitter der Schönen,
worauf Nr. 13 die Antwort der Mädchen, in der sie ihre Verachtung: der Bauern,
der „ Erdzerklopfer und Gazpacho - Verschlingen “, den Soldaten gegenüber aus
sprechen.
Sitzh. d. phil.-hist. CI. XXXI. Bd. I. Hft.
12
178
Wolf
14.
(Ebenda, p. 206.)
Que bonito estd un soldado
en la puerta del cuartel,
con eorbatin estirado
y sin tener que comer.
Por un pan de municion
que el rey de Espana me da,
me tiene toda la noclie :
— Centinela, alerta estd! —
La vida de los soldados
es andar por los lugares,
dormir en camita agena,
morir en los hospitales.
g) Schilffirliedcr *).
1.
(Un verano en Bornos, p. 233.)
Moza 8 ) eon la entena rota,
no hayinas que tezar la escota
y poner la proa al viento
mas pronto que el pensamiento;
y aunque el prdctieo lo impia 3 )
y me coma el oleaje....
yo me voy al abordaje,
y salga el sol por la ria.
2.
(Ebenda.)
Concha llena de colores 4 ),
olita del mar en calma,
arrepara estos sudores
que estd derramando el alma
por toitos 5 ) esos primores.
*) Vgl. die von Boehmer a. a. 0. S. 178—179 gegebenen, Nr. 63—66.
2 ) Anrede des Seemannes an seine Barke.
3 ) impida.
4 ) An die Geliebte gerichtet.
5 ) toditos.
Beiträge zur spanischen Volkspoesie etc.
179
Eres tu mas hechicera
que el capricheo *) en ei mar.
Iza, iza esa bandera 3 );
dejame, nina, llegar
a tu costado siquiera.
3.
(Ebenda, p. 234.) 3 )
Eilos.
Toda mi vida en el mar,
no me han cautivado moros;
y una vez que entre eil tu casa,
me cautivaron tus ojos.
Ellas.
Un marinerito, madre,
me tiene robada el alma;
si no me caso con el
muero moza, y llevo palma.
El amor y las olas
del mar son unas ....
que parecen montanas,
y son espuma.
(Ebenda, 233—236.)
Las olitas de la mar
unas vienen, otras van,
dejan espuma en la playa.
En las redes cogen rayas,
entre las rocas cangrejos,
los navfos van muy lejos! ....
Madre, yo quiero embarcarme,
que va en la pareja la Vlrgen del Carmen.
1 ) Capricheo, das sieh nicht in den Wörterbüchern findet, heisst, nach der
Erklärung der Verfasserinn, die unruhig-funkelnde Zurückstrahlung des Mondlichts
aus der schwankenden Oberfläche des Meeres.
a ) Um anzuzeigen, dass sie ausser Communication gesetzt seien und Niemand an
Bord nehmen, ziehen die Barken die in Quarantäne liegen , eine Flagge (bandera)
in der Mitte einer Stange auf.
3 ) Wechselgesang zwischen den Seeleuten und ihren Schönen.
12*
180
Wolf
Noch will ich das Gebet eines Zigeuner-Mädchens anführen,
das in dem ersten Bande des Romanes: „Clemencia“, p. 182 mit-
getheilt wird, weil es zugleich einen nicht uninteressanten Beitrag
zum Volks-Aberglauben abgibt. Das Mädchen erzählt nämlich, wenn
es auf einsamer Haide unter freiem Himmel übernachten müsse, so
lege es sich eine Knoblauchwurzel unter das Haupt, um das giftige
Gewürm abzuhalten, und spreche dazu folgendes Gebet:
A la cabecera pongo la luz,
ä los pies de la Santa Cruz,
al lado derecho ä Adan,
al lado izquierdo ä Eva,
para que no lleguen sapos ni culebras,
ni sarabandija ni sarabandeja;
sino que vayan donde va esta piedra.
Worauf es einen Stein so weit als möglich von sich schleudert.
II. Legenden und Märchen.
a) Legenden *).
1.
Marien - Legenden.
(La Gaviota. Tomo I, p. 113—115.)
Es war einmal ein armer Mann, der war so arm, dass er seinen
sieben Kindern nichts mehr zu essen geben konnte, und nicht
wusste, wie er das achte, das er zu erwarten hatte, kleiden würde.
Eines Tages verliess er seine Hütte, denn das Weinen und um Brot
Bitten der Kinder zerriss ihm das Herz. Er machte sich auf den
Weg, ohne zu wissen wohin, und nachdem er gegangen, den gan
zen Tag fortgegangen war, kam er um Naehtszeit zu dem Eingänge
einer Räuberhöhle. Der Hauptmann trat ihm entgegen — der war
einer der grössten Wütheriche — und fragte ihn mit seiner Donner
stimme, wer er sei und was er wolle? — „Herr“, antwortete der
arme Mann auf die Knie fallend, „ich bin ein Unglücklicher der
1 ) Die im ersten Bande der „Gaviota“, p. 73, stehende „Rosenkranz-Legende“
habe ich in meinem Eingangs erwähnten Aufsatze im Jahrbuch für roman.
und engl. Lit., S. 269 bereits in Übersetzung mitgetheilt.
Beiträge zur spanischen Volkspoesie etc.
181
Niemanden was zu Leide gethan, und ich habe meine Hütte verlassen,
weil ich nicht mehr hören konnte, wie meine armen Kinder um Brot
Heilten, was ich ihnen nicht mehr zu verschaffen vermochte.“ —
Der Hauptmann hatte Mitleid mit dem Armen, gab ihm zu essen,
schenkte ihm einen Beutel Geld und ein Pferd, und sagte zu ihm:
„Ziehe heim, und wenn dir das achte Kind geboren wird, mache es
mir zu wissen, ich will dessen Taufpathe sein.“ — Da trat der arme
Mann sogleich den Heimweg an und war so zufrieden, dass ihm vor
Freude das Herz im Leibe hüpfte. „Was für vergnügte Tage wer
den meine Kinder haben!“ dachte er. Bei seiner Heimkunft fand er
aber auch das achte Kind schon geboren. Er kehrte also wieder zur
Höhle zurück, um den Räuberhauptmann davon zu benachrichtigen.
Dieser versprach ihm, sich noch heute Nacht in der Kirche einzufin
den und sein Wort zu erfüllen. Das that er auch, hielt das Kind zur
Taufe und gab ihm einen Sack voll Gold zum Pathengeschenk.
Kurze Zeit darnach starb aber dieses Kind und kam zum Him
melsthor. St. Peter der davor stand, rief ihm zu, es möge nur
hereinhuschen. Aber das Kind erwiederte: „Ich trete nicht ein, wenn
nicht auch mein Taufpathe mit hinein kommt.“ — „Und wer ist dein
Taufpathe?“ — fragte der Heilige. — „Ein Räuberhauptmann,“
entgegnete das Kind. — „Dann kannst du wohl eintreten, mein
Kind,“ sagte St. Peter, „aber nimmer dein Pathe.“ — Da setzte
sich das Kind am Thore nieder, gar traurig und nachdenklich, die
Wange in die Hand stützend.
Zufällig kam die heilige Jungfrau herbei und redete das Kind
an: „Warum trittst du nichtein, mein Kind?“ — Das Kind wieder
holte, dass es nur mit seinem Taufpathen zusammen eintreten wolle,
und St. Peter bemerkte dagegen, das hiesse Unmögliches verlangen.
Aber das Kind warf sich auf die Knie, kreuzte seine Händchen und
weinte so bitterlich, dass die Jungfrau die eine Mutter voll Barm
herzigkeit ist, sich auch seines Schmerzes erbarmte.
Die Jungfrau entfernte sich, kam aber bald wieder mit einem
goldenen Becher in den Händen zurück und sprach zum Kinde: „Geh'
und suche deinen Taufpathen auf und sag’ ihm, er möge diesen
Becher mit Thränen der Reue füllen; dann kann er mit dir in den
Himmel kommen. Nimm diese silbernen Flügel und fliege zu ihm.“
Der Räuber lag schlafend auf einem Fels, in einer Hand seine
Büchse, in der andern einen Dolch haltend. Als er erwachte,
182
Wolf
erblickte er sich gegenüber, auf einer Lavendelstaude sitzend, ein
schönes nacktes Kind, mit Flügeln von Silber, schimmernd im Son
nenlicht, und mit einem goldenen Becher in der Hand.
Der Räuber rieb sich die Augen, denn er glaubte zu träumen;
aber das Kind sprach ihn an: „Glaube nicht, dass dies ein Traum
sei. Ich bin das Kind das du zur Taufe gehalten.“ — Und es
erzählte ihm darauf den ganzen Hergang. Da öffnete sich das Herz
des Räubers wie ein Granatapfel, und seinen Augen entströmte
Wasser, wie einer Quelle. Sein Schmerz war so heftig und seine
Reue so lebendig, dass sie ihm die Brust durchbohrten, wie zwei
Dolche, und er fiel todt zur Erde. Da nahm das Kind den Becher
mit Thränen gefüllt und flog mit der Seele seines Pathen zum Him
mel zurück, wo sie nun beide eintreten durften.
(Relaciones. La Estrella de Vandalia etc. p. 56—57.)
Ein armes Mädchen das frühzeitig eine Waise geworden war,
hatte bei barmherzigen Gartenbauern eine nothdürftige Unterkunft
gefunden. Jeden Morgen musste es Kohl nach dem Markte tragen
und, nachdem es diesen an den Gemüsehändler abgesetzt hatte,
ging es jedesmal in die Kirche des dortigen Klosters. Da warf es
sich mit gläubiger Inbrunst auf die Knie vor einem Bilde der heiligen
Jungfrau und legte einige Blätter des Kohls den es gebaut, als
Opfergabe auf den Altar, denn eine andere konnte es nicht darbrin
gen. Die Mönche hatten mit Verwunderung dieses sonderbare Opfer
bemerkt, das ihnen fast eine Missachtung schien, und riefen eines
Tages das Kind zu sich, um es zu fragen, warum es das thue? —
Das Kind antwortete, es thue es aus grosser und zärtlicher Liebe
die es für die heilige Mutter Gottes fühle, und die es auch für die
seinige ansehe, da es keine andere habe. — „Wohl,“ entgegneten
die Patres, „aber weisst du das nicht auf eine andere Weise zu
bezeugen? Kannst du nicht beten?“ — Das Kind verneinte es.
Da hiessen sie es jeden Morgen in’s Kloster kommen, sie würden es
ihm lehren. Das geschah auch, und das Kind lernte in kurzer Zeit
beten, lesen, schreiben und noch viele andere Sachen, brachte
aber keine Kohlblätter mehr als Opfergabe der heiligen Jungfrau,
denn nun schämte es sich dessen.
Dabei wurde das Kind jedoch mit jedem Tage trauriger. Das
fiel auch den Vätern auf und sie fragten es, warum es immer trau-
Beiträge zur spanischen Volkspoesie etc.
183
riger werde. „Ach!“ antwortete das Kind, „weil mich die Jungfrau
nicht mehr so lieb hat wie früher.“ — „Und woher weisst du das?“
— „Ich weiss es, ich weiss es wohl!“ rief das Kind. — „Seit
wann aber hast du bemerkt, dass Sie dich nicht mehr so lieb hat
wie früher?“ fragte der Prior. — „Seitdem ich so viel gelernt habe,“
entgegnete das Kind. — „Und seitdem,“ forschte der Prior weiter,
„zeigt sich dir die Jungfrau böse, oder wendet sich von dir ab,
wenn du zu Ihr betest oder Ihr Loblieder singst?“ — „Nein, nein,
d a*s nicht!“ rief das Kind. — „Warum also sagst du, dass Sie
dich früher lieber hatte?“ — „Weil Sie früher, als ich Ihr nur
meine Kohlblättchen darbringen konnte, mir zulächelte; .... jetzt
lächelt Sie nicht mehr“.
2.
Von der Barmherzigkeit Christi.
(Un verano eil Bornos, p. 253—254.)
Als Christus der Herr vom Grabe wieder auferstanden war,
erschien er seinen vier Jüngern, dem heil. Johannes, dem heil.
Jakob, dem heil. Diego J ) und dem heil. Petrus. Er zeigte ihnen
seinen zerfleischten Körper, sein von den Dornen wundes Haupt und
seine von der Lanze durchbohrte Seite, und frug den heil. Johan
nes: „Was verdienen die welche mir all dies zugefügt haben?“ —
„Die ewige Verdammniss!“ rief der heil. Johannes, und auf dieselbe
Frage gaben die heil. Jakob und Diego dieselbe Antwort. Da wandte
sich Christus an den heil. Petrus und frug auch ihn: „Was ver
dienen die welche mich also behandelt haben?“ — „Verzeihung
verdienen sie,“ antwortete der Apostel. — „Wie können sie Ver
zeihung verdienen?“ frug der Herr entgegen. •—■ „Weil Ihr sie für
sie erbeten, als Ihr am Kreuze hinget,“ erwiederte der Heilige. —
„Petrus!“ rief da Christus, „du sollst das Haupt meiner Kirche
sein; was du thun wirst, werde ich bestätigen im Himmel und auf
der Erde.“
A ) Der heil. Jakob der Ältere heisst im Spanischen Santiago, und der Jüngere San
Diego.
184
W o I f
3.
Christus, St. Peter und der Spieler.
(Clemencia. Toino I, p. 275—277.)
Als unser Herr einmal wieder auf dieser Erde umherwandelte
mit seinen Aposteln, überfiel ihn die Nacht auf freiem Felde. —
„Meister, wollen wir nicht in jener Hütte eine Herberge suchen?“
fragte St. Peter. — „Ich bin’s zufrieden," antwortete Jesus.
Sie traten in die Hütte, in welcher sie einen alten Mann fan
den; der war sehr bereitwillig, ihnen Herberge zu geben und auch
ein Nachtmahl bot er ihnen an. Während sie heim Nachtessen sassen,
trat einer der übrigen Jünger ein. — „Was beliebt?“ frug ihn der
Alte. — „Seid unbesorgt,“ rief ihm St. Peter zu, „es ist einer der
unseren.“ — „Dann sei er ebenfalls willkommen,“ sagte der Alte
der gute Lebensart erlernt hatte, „beliebt es mitzuspeisen?“ —
Dabei schnitt er ihm ein Stück Brot ab, und der Apostel setzte sich
an den Tisch. Gleich darauf kam aber noch einer und dann wieder
einer der Jünger, bis sie alle zwölf beisammen waren, und mit
jedem Neueintretenden wiederholte sich dasselbe. „Ei!“ dachte der
Alte von der Hütte, „das muss man sich schon gefallen lassen, wenn
es nicht anders sein kann. Ein Gast zieht hundert nach.“ — Des
andern Morgens sprach St. Peter zum Alten: — „Der den du
beherbergt hast, ist unser Herr. Bitte dir nun eine Gnade aus; ich
will in deinem Namen Ihn darum bitten.“ — Der Alte von der Hütte
war aber ein erpichter Kartenspieler; er bedachte sich daher nicht
lange und erbat sich, dass er im Spiel immer gewinne. Die Bitte
wurde ihm auch bewilliget.
Als des Alten Zeit um war, befahl unser Herrgott dem Tode,
den Alten zu holen. Wie der den Tod kommen sah, war er auch
gleich bereit ihm zu folgen; denn er war stets ein resoluter Geselle.
Auf der Fahrt mit ihm durch jene Lüfte sah er ein paar Teufel nach-
kommen, welche die Seele eines Schreibers (escribano) mit sich
führten. — „Armes Kerlchen!“ dachte der Alte der weichherzig
war, „unser Herr hat ja für uns alle gelitten, die Schreiber auch
nicht ausgenommen. — Hört mal, ihr gehörnten Zierbengel (cor-
nudos galanes),“ rief er den Teufeln zu, „beliebts etwa ein bis
chen zu karniffeln?“') — Die Teufel die sich heiser jubeln, wenn
1 ) Im Original steht: ^se quiere echar una manita de tute? Ich habe für das mir
unbekannte Spiel „tute“ (in den Wörterbüchern habe ich es vergeblich gesucht,
Beiträge zur spanischen Volkspoesie etc.
185
sie von Karten hören — denn sie haben sie ja erfunden *) — liefen
ihm zu, wie die Hühner den Weizenkörnern. — „Aber um was geht
es?“ fragten sie, „denn du hast ja kein Geld.“ — „Das ist wahr,“
versetzte der Alte, „aber ich mache meine Seele zum Einsatz, und
das ist eine von den guten, gegen die welche ihr hier führt, und die
ohnehin keinen Pfifferling werth ist; ihr könnt nur dabei gewinnen.“
— „Es mag gelten!“ riefen die Teufel, und sie begannen das
Spiel. Natürlich gewann der Alte von der Hütte und trug die
Schreiberseele als Preis davon.
Als sie oben am Himmel anlangten, begrüsste ihn St. Peter:
„Alter von der Hütte, dich kenne ich wohl, du kannst schon herein
kommen. Aber, was soll das? du kommst ja nicht allein; was hast
du für eine schwarze Seele da bei dir?“ — „Wahr, Herr, ich
komme nicht allein; aber auch unser Herrgott hat ja, wie man sagt,
die Gesellschaft geliebt. Diese Seele aber ist von Tinte so schwarz,
denn sie ist die eines Schreibers.“ — „Eine Schreiberseele kommt
nicht io den Himmel. Schleich dich allein durch.“ — „Wie Euer
Gnaden in meine Hütte kamen, schwärzten Sie mir noch zwölf ein,
ohne mich um Erlaubniss zu fragen; da ist es mir wohl mit Einem
erlaubt, denn Ein Gast zieht hundert nach!“ sagte der Alte von der
Hütte, und trat rasch mit seinem Schützling ein 3 ).
4.
Jesus, der Arme und der Reiche.
(Semanario pinloresco espanol. ano de 1850, p. 359.)
Es waren einmal zwei Brüder, von denen der eine arm, der
andere reich war. Oftmals bat der Arme seinen reichen Bruder um
'Unterstützung. Eines Tages war dieser darüber ungeduldig gewor
den und, weil er ein böses Herz hatte und ein Gibnichtgern war,
warf er seinem Bruder ein Stück Geld in's Gesicht; dieser der gut
und demüthig war, nahm es auf, brachte es seinem Weibe und
die Verfassenmi aber erklärt es in dem beigegebenen kleinen Glossar andalusischer
Idiotismen blos durch: „juego de naipes ordinario“) das in unseren Volksbüchern
den Teufeln als Lieblingsspiel zugeschriebene: „Karniffeln oder Karnöffeln,“
ein Bauernspiel mit 48 Karten, substituirt.
v ) Vgl. .1. Grim m, Deutsche Mythol. 2. A., I. 136.
2 ) Diese Legende hat viele Züge gemeinsam mit dem deutschen Märchen vom
„ Spielhansl Nr. 82 bei Grimm; vgl. ebenda die Nachweisungen dazu,
ßd. III, S. 131 ff.
186
Wolf
sagte: „Nimm dieses Geld, das letzte worum ich meinen Bruder
gebeten; kaufe dafür Alles was du brauchst, um uns ein Fleisch
süppchen (ollita) zu kochen, und da dieses wohl das letzte sein wird,
das wir zu essen bekommen, so will ich unseren Vater Jesus von
Nazareth einladen, es mit uns zu verzehren."
Darauf begab er sich in die Kirche, kniete vor dem Gekreuzig
ten nieder und sprach: „Herr, ich bin nicht würdig, dass Du ein
gehest in meine arme Behausung; aber trotzdem komme ich Dich
zu bitten, dass Du durch Deine Gegenwart sie heiligen mögest.
Ich kann Dir freilich nur Wenig anbieten, Herr; aber wer das
Wenige gibt, würde das Mehrere geben, wenn er es hätte.“
Christus neigte das Haupt, zum Zeichen, dass er die Bitte
gewähre. Da kehrte der Arme heim, solche Wonne im Herzen,
dass er erst vor Freude nicht sprechen, sondern nur weinen konnte.
Dann aber rief er seinem Weibe zu: „Jesus, mein süsser Jesus
wird in das Haus des Armen kommen! Bereite es vor, und dass es
vor Allem reinlich sei.“
Das Weib tliat dies auch nach besten Kräften. Kurz vor Mittag
pocht es an der Thiire. Es war — ein Armer der um Almosen bat
und dessen auch sehr bedürftig schien. — „Ich habe selbst nichts,“
sagte das gute Weib, „aber unser bischen Essen ist seit kurzem
bereitet, und ich will meinen Theil davon diesem Dürftigen geben.“
— Damit nahm es das Brot, schnitt ein Stück davon ab, füllte eine
Schale mit Suppe und gab das dem Bettler. Der ass es und segnete
das Haus.
Der Mann aber wartete mit dem Essen, bis längst die Mittags
stunde vorüber war; und Jesus von Nazareth wollte noch immer
nicht kommen. Er ging wieder in die Kirche und erinnerte unsern
Herrn an das ihm gegebene Versprechen. — „Ich war ja in deiner
Behausung,“ entgegnete Jesus, „man hat mich dort wohl aufge
nommen und mir zu essen gegeben, und ich habe das Haus gesegnet.“
Wie freudig ermuthigt kehrte da der Arme nach Hause und
theilte seinem Weibe mit, was der Herr zu ihm gesprochen! — Von
diesem Tage an zeigte sich in der That der Segen des Herrn in dem
Hause dieser beiden guten Leute; Alles gedieh, Alles wandte sich
zum Glücke.
Ihre Schwägerinn die sehr neidisch war, brannte vor Begierde,
die Ursache ihres plötzlichen Glückes zu erfahren; sie begab sich
Beiträge zur spanischen Volkspoesie etc.
18T
daher zu ihnen, heuchelte ihnen freudige Theilnahme und rückte
endlich mit der Frage heraus, die ihr so sehr am Herzen lag. Die
guten Leute die kein Arg und kein Hehl hatten, erzählten ihr, wie sie
den Herrn Jesus von Nazareth zu sich geladen hätten, wie der Herr in
seiner Barmherzigkeit in ihr Haus gekommen und es gesegnet habe.
Als die Schwägerinn wusste, was sie erfahren wollte, theilte
sie es ihrem Manne mit, und alsbald Hessen sie ein festliches Mahl
bereiten und dann ging der Mann auch in die Kirche, Jesus einzu
laden. Dieser wies ihn nicht ab, denn der Herr weist Niemand ab.
Während sie ihn nun erwarteten, kam ein Bettler an ihre Thüre
und bat um Almosen; sie verweigerten es ihm, und als er wieder
und wieder darum bat, nahm das Weib eine Stange und schlug ihn
damit auf den Kopf, so heftig, dass sie ihn verwundete. Da ent
fernte sich der Bettler.
Vergeblich warteten sie aber auf das Kommen des Herrn. Der
Mann ging daher nochmals in die Kirche und kniete sich vor dem
Gekreuzigten nieder, und da bemerkte er, dass dieser nun um eine
Wunde mehr am Haupte habe. — „Herr," sprach er ihn an, „hast
Du mir nicht versprochen, in mein Haus zu kommen?"— „Und ich
war auch dort," enviederte der Herr, „aber ihr habt mich nicht
aufnehmen wollen; ihr habt mich fortgejagt und habt mich verwundet,“
Der Mann war trostlos als er dies hörte. Wie er zu seinem
Hause zurückkehrte, fand er nichts als Trümmer; das Haus war vom
Feuer ergriffen und ganz niedergebrannt worden *).
5.
Von Juan Espcra-cn-Dios, dem ewigen Juden 2 ).
(Relaciones. La Estrella de Vandaiia etc. p. 6‘i—64.)
Es war einmal ein Schuster, der zu Jerusalem in der Kummer
strasse (calle de la Amargura) wohnte. Als unser Herr, das Kreuz
1 ) Auch von dieser Legende findet sich ein damit verwandtes deutsches Märchen,
Nr. 87 hei Grimm, „Der Arme und der Reiche“, wovon ich ihr auch den Titel
gegolten habe (im Original hat sie den Titel „El convidado“, der zu Gast Ge
ladene); doch ist im Spanischen noch nicht das Wunschm.ärchen damit verschmol
zen; dafür findet sich darin der schöne eigentümliche Zug, dass Gott als ihm
selbst erzeigt betrachtet, was man den Armen thut.
2 ) Diese spanische, dem VoJksmunde nacherzählte Version der Legende vom „ewigen
Juden“ ist um so interessanter, als trotz der vielen darüber erschienenen Schriften
188
w o i r
schleppend, zur Thüre seines Hauses gelangte, war er so ermüdet
und erschöpft, dass er dort etwas ausruhen wollte; er rief dem
Hausherrn zu: „Juan! ich leide viel!“ — Juan aber erwiederte:
„Wandere fort, wandere fort; denn noch mehr leide ich, hier an
der Ruderbank der Arbeit angefesselt.“
Da sagte der Herr, als er sich so schnöde abgewiesen sah,
zum Schuster: „Nun so wandere auch du, wandere, bis an der
Welt Ende!“ — Und sogleich setzten sich des Mannes Füsse in
Bewegung, ohne dass er es wollte oder sie zurückzuhalten ver
mochte; und seitdem begann er seine Wanderung, und wandert
seitdem fort und fort, ohne jemals zu rasten, und wird wandern
bis an der Welt Ende, auf dass sich der Fluch des Herrn erfülle,
den er durch seine Bosheit auf sich geladen hatte.
(inan findet sie am vollständigsten verzeichnet und benützt in dem Artikel:
„Le Juif-errant“ des „Dictionnaire des Legendes du Christianisinepar M. le
comte de Douhet, Paris 1855, gr. 8., des 14. Theils der „Troisieme et derniere
Encyelopedie theologique“ redigirt vom Abbe Migne) nirgends dieser eigenthüm-
lichen Auffassung der Legende erwähnt worden ist, wodurch erst der spanische
Name des ewigen Juden erklärbar wird. Vgl. die von F. W. V. Schmidt (die
Schauspiele Calderon's. Elberfeld 1857, 8., S. 152) nachgewiesenen Stellen und
Stücke, worin des Juan de Espera en Dios, oder wie er hier auch heisst:
Juan de los Tiempos, gedacht wird. Wenn aber ebenda das Stück des Anto
nio de Huerta: „Las cineo blancas de Juan de Espera en Dios“, als ein „treff
liches Schauspiel“ aufgeführt wird, so kann ich kaum glauben, dass es dem sonst
so richtig urtheilenden Schmidt aus eigener Lesung bekannt geworden sei. Es ist
im 32. Bande der: „Comedias.... escogidas“ (Madrid 1669, 4., p. 145—179)
abgedruckt und vielmehr ein elendes Machwerk , in welchem die schöne Sage
gänzlich verballhornt ist, indem Juan als ein gewöhnlicher Komödien - Galan
erscheint, in Libia, die Tochter des Kaisers Tiberius, verliebt und aus Eifersucht
toll geworden; daher erklärt der Gracioso, dessen Diener, den Namen also:
Pues cuando en Dios desesperas,
Juan de Espera en Dios te llaman.
Siendo (bien lo sabes tu,
y lo sabemos los dos)
mas que Juan de Espera en Dios,
Juan de Espera en Bereebu.
Erst im letzten Act sind einige Anspielungen auf die Sage, wie der toll gewor
dene Juan vom Hofe fliehen muss, Schuster wird, Christus beleidigt, dafür ver
flucht wird, unsichtbar die Welt zu durchwandern, und nur um seine Nahrung
zu kaufen sich sichtbar machen kann, wozu er immer fünf Stücke der klein
sten Münzsorte des Landes, wo er sich eben aufhält, in seiner Tasche findet (die
cinco blancas). — Den Namen „Johann“ führt der ewige Jude übrigens auch
nach der englischen Volkssage; vgl. Brand, Observations on populär antiquities.
London 1842, 8., Vol. III, p. 192—193.
Beiträge zur spanischen Volkspoesie etc.
189
Nun erkannte der Ruchlose wohl, dass dies eine Züchtigung
des Himmels sei für seine Härte und wegen jenes grausamen: „Wan
dere, wandere fort,“ das er dem Dulder höhnisch zugerufen, als
er bei ihm ausruhen wollte; und tief in der Seele reute ihn, es
gethan zu haben, und er beweinte bitterlich seine Schuld und
begann zu verzweifeln.
So wanderte er fort bis zum Jahre, wo an einem Charfreitag,
in der dritten Nachmittagsstunde, am äussersten Horizonte, hoch
in den Lüften über den Wolken ein Calvarienberg mit drei Kreuzen
ihm erschien. Am Fusse des höchsten das in der Mitte war, stand
eine Frau die sehr schön war, aber auch sehr traurig und doch
auch sehr sanftmüthig. Diese Frau wandte ihr bleiches, thränen-
volles Antlitz gegen ihn und rief ihm zu: „Juan, hoffe auf Gott
(espera en Dios)!“
Da fühlte er grossen Trost; setzte aber seine Wanderung fort,
und wandert fort ohne je zu rasten, seit achtzehn Jahrhunderten.
Und wenn er sich so verlassen sieht und ungekannt von den Gene
rationen die er entstehen und vergehen sah, seine Freunde todt,
seinen Stamm ausgestorben, sein Vaterland, einst das des Gottes
Israel’s, in der Gewalt der Mauren (moros), sein Volk verflucht,
zerstreut, verachtet und gemieden, und trotzdem reuelos und
ungläubig geblieben, mit dem Kainszeichen im Angesicht; — da
ergreift ihn die Angst und sein Herz wird muthlos.
Dann aber kommt wieder die heilige Zeit und mit ihr der
geheiligte Freitag (el viernos Santo, Charfreitag), und in der
dritten Nachmittagsstunde erscheint ihm wieder der Calvarienberg
am äussersten Horizonte, und die Frau die mit ihrer süssen Stimme
ihm zuruft: „Juan, hoffe auf Gott!“ Da fasst er wieder Hoffnung
und mit ihr den Muth, seinen Fluch bis an’s Ende zu tragen, und
er wandert wieder fort und fort ohne Rast; und desshalb nennt man
ihn Juan Espera-en-Dios und den „Ewigen Juden“ (Judio errante).
b) Märchen.
Wir haben schon unter vorstehenden Legenden ein paar gefun
den, die auf Verwandtes in deutschen Volksmärchen hinwiesen und
zu dem Schlüsse berechtigten, dass die allgemein europäischen
190
W o I f
Volksmärchen auch in Spanien, wenn auch erst in späterer Zeit,
Eingang gefunden und auch dort eine eigenthümliche Gestaltung
bekommen haben, die bei einem so frommen gläubigen Volke natür
lich meist einen legendenartigen Charakter annehmen musste *).
Die nachfolgenden, ihrem ursprünglichen Charakter noch treuer
gebliebenen Märchen werden dies noch mehr bestätigen und den
Beweis liefern, dass es auch hierin nur der rechten Forscher und
Sammler bedurfte, um den im Munde des spanischen Volkes noch
fortlebenden Antheil an dem grossen, ganz Europa gemeinsamen
Märchenschatze über jeden Zweifel zu erheben; so wird, was die
Brüder Grimm (a. a. 0. Th. III, S. 309) nur aus spärlichen Prä
missen scldiessen konnten, nun durch immer zahlreicher aufgefun
dene Belege documentirt, und schon durch das Vorliegende ist ein
schöner Anfang zu dem gemacht worden, was W. Grimm auch
damals (1856) nur noch als Wunsch aussprechen konnte, indem er
sagt (a. a. 0. S. 399): „Sammlungen von Märchen aus Spanien und
Portugal sind mir nicht bekannt geworden, und doch kann es
daran dort nicht fehlen, wenn man sie nur aufsuchen und
vor dem Untergange bewahren will“ 2 ).
[. Thiermärchen,
l.
Tom halben Bähnchen (Medio-Pollito).
(La Gaviota. Tomo I. p. 104—111.)
Es war einmal eine schöne Henne, die lebte ganz vergnügt
in einem Hofe, umgeben von ihren zahlreichen Jungen, unter
1) Vgl. darüber meine: „Studien zur Geschichte der spanischen und portugiesischen
National-Literatur“ Berlin 1859, 8., S. 513—514 und 547—548, wo mehrere Bei
spiele von der Umgestaltung solcher Märchen in Volksromanzen, besonders in
moderne Vulgärromanzen mit Hinweisung auf ihre nächsten Quellen gegeben
sind, — und die in den „Proben“ und von W. Grimm, in Haupt’s Zeitschrift,
Bd. 11, S. 210 ff., nach Milä y Fontanals catalanischen Versionen mitgetheilten
Märchen. — Dass übrigens schon viel früher manch märchenhafter Stoff, namentlich
in den mit den Apologen so nahe verwandten Thiermärchen, unmittelbar aus orienta
lischen und altclassischen Quellen in die spanische Literatur übergegangen sei, ist
aus den Werken des Infanlen D. Juan Manuel, der Erzpriester von Mita
und Ta lavera, u. A. bekannt (vgl. meine „Studien“; S. 89 ff., 109 ff., 234).
2 ) Hiezu gibt auch folgende Stelle eines Artikels von S. de la Selva über Dur an's
Bearbeitung des Märchens aus dem Pentamerone (V. 9, Le tre cetre) unter dem Titel:
Beitrüge zur spanischen Y r olkspoesie etc.
191
welchen jedoch ein Hähnchen durch seine Verstümmelung und Miss
gestalt auffiel. Und gerade dieses war der Mutter Liebling. Es war
eigentlich nur die Hälfte eines Hahnes, denn es hatte nur ein Auge,
einen Flügel und einen Fuss; dabei aber war es viel stolzer und auf
geblasener als sein Vater, der doch auf zwanzig Meilen in der Runde
der schönste, tapferste und galanteste Hahn war. Ja in seinem
Dünkel sah es sich für den Phönix seines Geschlechtes an, und hielt
es für Neid, wenn die anderen jungen Hähne sich über ihn lustig
machten, und für Rache verschmähter Liebe, wenn die Hühnchen es
auslachten.
Eines Tages sagte dieses Hähnchen zur Mutter: — „Hört "mal,
Frau Mutter, ich langweile mich hier auf dem Lande. Ich habe den
Vorsatz gefasst in die Residenz zu gehen; ich will den König und
die Königinn sehen.“ —
Die arme Mutter fing an zu zittern, als sie dies hörte. —
„Söhnchen“, rief sie, „wer hat dir solchen Unsinn in den Kopf
gesetzt? Dein Vater hat in seinem ganzen Leben nicht dieses Gehöfte
verlassen, und ist doch die Zierde seines Geschlechtes geblieben.
Wo wirst du einen Hof wie diesen finden? Wo einen ansehnlicheren
Düngerhaufen? Wo eine gesündere und reichlichere Nahrung, einen
besser geschützten Stall, eine Familie die dich mehr liebt?“ —
— „Nego“, erwiederte das halbe Hähnchen auf Latein, denn
es tliat sieh was darauf zu Gute, ein paar Worte Latein krähen und
kratzen zu können, „meine firüder und Vettern sind mir einmal zu
dumm und zu unwissend!“ —
„Aber Söhnchen“, entgegnete die Mutter, „hast du dich nie im
Spiegel erblickt? Hast du nicht da bemerkt, dass ein Auge und ein
Fuss dir fehlt?“ —
„Und das wollt ihr mir Vorhalten“, rief das Hähnchen, „ihr, die
ihr vor Scham vergehen sollet, in einem solchen Zustande mich in
die Welt gesetzt zu haben. Ja, ihr allein seid Schuld daran. Aus
„Leyendade las tres toronjas del vergel de amor“ (Madrid 1856, 8.), Hoftnung (in der
ft e v i s t a peninsular. Tomo I. Lisboa 1856, 8., p. 568—575) : „ Breton de los
Herreros, Cervino y Fernandez Guerra se han reunido ahora , para escribir el libro
(de leyendas esp.) que el primo (el estudiante que acompano a D. Quijote st la cueva
de Montesinos, y trataba de coleecionar estos cuentos eil un libro de invencion
n u e v a y rara, titulado Metamo rloseos ti 0 v i d i o es p.) habia pensado
escribir y ya tienen compuestos varios cuentos etc.“
192
Wolf
was für einem Ei bin ich gekrochen? War es etwa ein von einem
alten Hahne gelegtes?“ 1 ) —
— „Nein, nein, mein Söhnchen“, rief die Mutter, „aus solchen
Eiern kriechen ja nur Basilisken heraus. Du aber bist aus dem
letzten Ei gekrochen, das ich selbst gelegt habe, und eben weil es
mein letztes und ich schon erschöpft war, hist du so unvollkommen
und schwächlich zur Welt gekommen. Du siehst wohl, dass dies
nicht meine Schuld war.“ —
— „Vielleicht“, versetzte das halbe Hähnchen, und dahei
schwoll ihm der Kamm roth wie ein Granatapfel, „vielleicht kann ich
einen Chirurgen finden, dem es gelingt, die fehlenden Glieder mir
anzusetzen. Kurz, da hilft keine Widerrede; ich ziehe fort.“ —
Als die arme Mutter sah, dass nichts vermochte, ihn von seinem
Vorsatze abzubringen, sprach sie zu ihm:
— „So höre wenigstens, mein Söhnchen, auf die klugen Ratli-
schläge einer guten Mutter. Vermeide die Kirchen, wo ein Bildniss
des heil. Petrus aufgestellt ist; denn dieser Heilige ist den Hähnen
nicht sehr geneigt und noch viel weniger ihrem Rufe. Fliehe auch
gewisse Menschen die man Köche nennt, die sind unsere geschwornen
Feinde, sie drehen uns den Hals um, bevor man noch Amen ausge
sprochen hat (en un santi-amen). Und nun, mein Söhnchen, möge
dich Gott geleiten und der heilige Raphael, der Schutzpatron der
Reisenden. Gehe und bitte deinen Vater um seinen Segen.“ —
Das halbe Hähnchen ging zu seinem Vater, küsste ihm den Fuss
und erbat sich seinen Segen. Der ehrwürdige Hahn gab ihm diesen
mit mehr Würde als Zärtlichkeit, denn er hatte keine grosse Zunei
gung zu diesem Söhnchen wegen dessen Hocbmuth und Widerspän-
stigkeit. Die Mutter aber ward so weiehmüthig, dass sie sich die
Thränen mit einem dürren Laube abtrocknen musste.
Das halbe Hähnchen setzte seinen einen Fuss in Reiseschritt,
schlug mit seinem einzigen Flügel und krähte dreimal zum Zeichen
des Abschiedes.
Als es an das Ufer eines fast ausgetrockneten Baches kam —
denn es war im Hochsommer — traf es sich, dass gerade der
*) Nach dem Volksglauben sollen die alten Hähne ein Ei legen, aus welchem nach
sieben Jahren ein Basilisk hervorkriecht. Dieser tödtet mit seinem Blicke die Per
son, die er zuerst sieht, wird aber von ihr getödtet, wenn sie ihn zuerst ange-
hlickt hat.
Beiträge zur spanischen Volkspoesie etc.
193
schwache Wasser-Faden von Zweigen noch aufgehalten wurde, und
als der Bach unseren Wanderer ersah, rief er ihm zu: „Du siehst,
Freund, wie schwach ich nun bin, ich kann kaum noch fortkommen
und habe nicht mehr Kraft genug, um diese lästigen Zweiglein weg
zudrängen, die meinen Lauf hindern. Noch weniger vermag ich es,
sie durch einen Umweg zu vermeiden; denn dies würde mich allzu
sehr erschöpfen. Du aber kannst mir leicht aus dieser Noth helfen,
wenn du mit deinem Schnabel sie zurückbiegst. Zum Lohne kannst
du nicht nur deinen Durst in meinem Wasser löschen, sondern auch
sonst auf meine Dienste zählen, wenn des Himmels Wasser meine
Kräfte wieder hergestellt haben wird.“
Das Hähnchen erwiederte darauf: „Ich könnte dir wohl helfen,
aber ich will nicht. Sehe ich etwa darnach aus, der Diener arm
seliger schmutziger Bächlein zu sein?“
— „Du wirst an mich denken eher als du glaubst!“ — murmelte
der Bach mit schwacher Stimme.
— „Nun das fehlte noch, dass du mir drohtest!“ — rief erbost
das Hähnchen, — „du rechnest wohl schon auf die nächste Sünd-
fluth.“
Als es etwas weiter gegangen war, traf es mit dem Winde zu
sammen; der lag ausgestreckt und fast athemlos am Boden.
— „Liebes Hähnchen,“ sprach er „in dieser Welt bedürfen wir
alle bald einer des anderen. Komm her und schau mich an. Siehst
du, wie mich die Sommerhitze zugerichtet hat, mich, den sonst so
starken, so mächtigen, mich, der ich die Wellen aufwühle, die Fel
der verwüste, dessen Anfalle nichts widersteht? Diese Hundstage
haben mich so herabgebracht; berauscht von dem Duft der Blumen,
mit denen ich tändelte, schlief ich ein, und nun findest du mich hier
bis zur Ohnmacht ermattet. Wenn du mit deinem Schnabel mich
nur ein paar Zoll über den Boden erheben und mit deinem Flügel
mich anfächern wolltest, so würde es hinreichen, mich wieder in
Flug zu bringen und die Höhle erreichen zu lassen, wo meine Mutter
und meine Schwestern, die Windsbräute, beschäftigt sind, einige
alte Wolken auszubessern, die ich zerrissen habe. Dort werden sie
mir schon ein Süppchen kochen, dass ich wieder zu Kräften komme“.
— „Caballero“, entgegnete das böswillige Hähnchen, „oft ge
nug hat sich Euer Gnaden mit mir einen Spass gemacht, mich in den
Bücken geblasen und mir den Schweif wie einen Fächer auseinander
Sitzb. d. phil.-hist. CI. XXXI. Bd. I. Hft. 13
194
VV o I f
getrieben, zum Spotte Aller die mich sahen. Nein, Freund, jede Sau
hat ihren Martinstag; auf Wiedersehen, Herr Possenreisser!“
So sprach das Hähnchen, krähte dreimal mit heller Stimme und
sich gewaltig aufblähend, setzte es seinen Weg fort.
Da kam es zu einem geschnittenen Getreidefeld; die Schnitter
hatten die Stoppel ausgebrannt, und es stieg noch eine kleine Rauch
säule davon auf. Als Halb-Hähnchen näher hinzutrat, sah es noch ein
kleines Fünkchen das nahe daran war, unter der Asche zu ver
löschen.
„Geliebtes Halb-Hähnchen,“ rief der Funke, als er es ersah,
„zu guter Stunde hist du gekommen, um mir das Leben zu retten.
Aus Mangel an Nahrung bin ich im Verlöschen. Ich weiss auch nicht,
wo mein Vetter der Wind sich herumtreibt, der mir sonst in solchen
Nöthen immer beistand. Bring' mir einige Strohhälmchen, um mich
wieder zu beleben“.
— „Was geht mich dein Nothgeschrei (jura del Rey) an!“ —
entgegnete das Hähnchen, „zerplatze, wenn es dich freut; denn es
stünde schlimm mit mir, sollte ich je deiner Hilfe bedürfen!“ —
— „Wer weiss, ob du nicht eines Tages meine Hilfe brauchst?“
versetzte der Funke; „Keiner kann sagen: von diesem Wasser trinke
ich nicht!“
— „Oho!“ rief das böse Thier, „wie, du willst noch prahlen?
Da, nimm das!“ und damit überdeckte es den Funken mit Asche und
begann seiner Gewohnheit nach zu krähen, als wenn es eine Helden-
that verübt hätte.
Endlich langte Halb-Hähnchen in der Residenz an; es kam zu
einer Kirche, die man ihm als die Petrus-Kirche nannte. Da pflanzte
es sich der Pforte gegenüber auf und krähte bis es heiser wurde,
und zwar gerade dem Heiligen zum Possen und aus Lust, der Mutter
ungehorsam zu sein.
Ais es sich dem Palaste nahte, wo es den König und die Köni-
ginn sehen wollte, riefen ihm die Schildwache zu: „Zurück!“ Das
verscheuchte es, und es schlich sich durch eine Seitenthüre in ein
grosses Gemach, wo es viele Leute aus- und eingehen sah. Auf seine
Frage, was das für Leute seien, sagte man ihm, das seien die Köche
des Königs. Aber statt diese zu fliehen, wie ihm seine Mutter empfoh
len, ging es mit emporgerichtetem Kamm und Schweif auf sie los.
Da erfasste es einer der Küchenjungen und im Nu hatte er ihm den
Beiträge zur spanischen Volkspoesie etc. 195
Kragen umgedreht. Dann rief er nach Wasser, um ihm die Federn
abzubrühen.
— „Ach, Wasser, mein liebes krystallreines Wasser (Dona
Cristalina)“ schrie nun Halb-Hähnchen, „hilf mir, verbrühe mich
nicht, erbarme dich meiner!“ —
— „Hast du dich meiner erbarmt, als ich dich um Hilfe bat?“
entgegnete das Wasser, vor Zorn glühend, und brühte es ab von
oben bis unten, so dass die Küchenjungen keine Mühe mehr hatten,
ihm all seine Federn abzustreifen.
Dann steckte der Koch Halb-Hähnchen an den Bratspiess.
— „Feuer, goldenes Feuer“, schrie das Ungltickskind, „du, das
du so mächtig und so leuchtend bist, habe Mitleid mit meiner trau
rigen Lage, zähme deine Gluth, dämpfe deine Flammen, verbrenne
mich nicht!“ —
— „Unverschämter Schlingel,“ versetzte das Feuer, „wie, du
hast noch den Muth, dich an mich zu wenden , nachdem du mich zu
ersticken gesucht, unter dem Vorwände, dass du meine Hilfe nie
benöthigen würdest. Komm nur her, und du wirst sehen, was
gut ist.“ —
Und in der That begnügte sich das Feuer nicht damit, das
Hähnchen goldgelb zu braten, sondern verbrannte es, dass es
schwarz wie Kohlen wurde.
Wie es der Koch in diesem Zustande sah, ergriff er es bei sei
nem einen Fusse und warf es zum Fenster hinaus. Da bemächtigte
sich der Wind desselben.
— „Wind,“ schrie das Hähnchen, „mein geliebter, verehrter
Wind, du, der du über Alles Macht hast und Niemanden gehorchest,
Gewaltigster unter den Gewaltigen, habe Mitleid mit mir, lass mich
zur Buhe kommen auf diesem Düngerhaufen.“ —
— „Dich zur Ruhe kommen lassen!“ — schnaubte der Wind,
indem er es im Wirbel herumdrehte und in den Lüften hin- und
herwarf wie einen Kreisel, „nimmermehr!“ —
Endlich setzte der Wind Halb-Hähnchen auf der Spitze eines
Glockenthurmes ab. St. Peter erfasste es und nagelte es dort fest.
Seitdem nimmt es diesen Posten ein, schwarz, fleischlos und entfie
dert, vom Regen gepeitscht und vom Winde gedreht, dem es immer
den Schweif nachtragen muss. Nun heisst es nicht mehr Halb-Hähn-
chen, sondern Wetterfähnchen.
13 s
Wolf
196
2.
Warum die Hiilinc krähen, wann sie Franzosen sehen.
(Relaciones. Jusfca y Rußna etc. p. 239—240.)
Es sind wohl schon mehr als tausend Jahre, dass in Spanien
Feinde einfielen; die waren bösartiger als Arrancao 1 ), hässlicher
als Geta 3 ) und ruchloser als Judas, sie nannten sich Franzosen
(franceses). Sie entführten den König von Spanien durch Verrath,
ohne dass sein Volk darum wusste, das ihn nicht ziehen lassen wollte.
Sie machten ihn zum Gefangenen, diese Strolche (indinos), legten
ihn in Fesseln und gaben ihm nichts als Wasser und Brot.
Dann plünderten diese Wütheriche die Ortschaften, zündeten
das Getreide auf den Feldern an und tödteten Alles was ihnen unter
kam, besonders aber die Kinder und — die Hähne. Daher fürchte
ten sie die Kinder und die Hähne mehr, als den Wauwau (que al Bu).
Wann ein Hahn mit seinen Augen, so gelb wie die Sterne, wrn-
mit er bei Tag und bei Nacht auf zehn Meilen weit sehen kann,
irgendwo die Franzosen erspähte, mit einem schielenden, betrun
kenen König, den sie vor sich hertrieben, so begann er zu krähen,
um seine Brüder zu warnen:
„Die Franzosen kommen!
— Wie viel sind ihrer, sag?
■—• Mehr denn tausend!
— Weh uns Armen!“ s ).
Seitdem schlafen die Hähne nicht mehr als eine Stunde.
A ) Arrancado; — im Originale heisst es: „mas inalos que Arrancao“, ausser
der Bedeutung des von arrancar gebildeten Mittel- und Beiwortes, aus
gerissen, entwurzelt, finde ich bei Salva nur noch die provinziell Amer. :
„Miserable, el que no tiene blanca“, egentissimus. Hier ist es aber wie ein
Eigenname gebraucht ?
2 ) Auch dieser Vergleich ist mir unverständlich , und nur als einen Einfall will ich
anführen, dass nach einer Notiz bei Cassius Dion (LXXVII, 12): Geta ein
alter Sklavenname des Lustspiels war, z. B. Terentius, Adelphi, Phormio; —
Plautus, Truculentus; und daher bei den romanischen Nationen vielleicht
spriichwörtlich sich erhalten haben könnte, wie z B. die Redensart: „mas ladron
que caco“, von Cacus, dem berüchtigten Rinderdiebe (Livius, 1. 7, etc.)
bekanntlich abgeleitet wird.
3 ) j Franceses vienen !
— I Cuäntos son, di ?
— j Son mas de mil !
— j Triste de mi!
Beiträge zur spanischen Volkspoesie etc.
197
3.
Das eitle Vögclein, das gewitzigt ward.
(Cosa cumplida etc. p. 14—15.)
Es war einmal ein Vögelein, das ging zu einem Schneider und
verlangte, dass er ihm ein wollenes Kleidchen mache. Der Schnei
der nahm ihm das Mass und versprach das Kleidchen binnen drei
Tagen fertig zu machen. Dann ging das Vögelein zu einem Hut-
macher und bestellte ein Hütchen. Der Hutmacher versprach es
auch binnen drei Tagen fertig zu bringen. Endlich ging das Vöge
lein zu einem Schuster, liess sich das Mass nehmen und erhielt auch
vom Schuster das Versprechen, am dritten Tage darnach die Schüh-
chen fertig zu bekommen. Am dritten Tage ging das Vögelein zuerst
wieder zum Schneider und als es das wollene Kleidchen fertig fand,
sagte es zu ihm: „Legt es mir nur auf den Schnabel, dann werde
ich euch bezahlen“. Aber anstatt dies zuthun, flog das saubere
Vöglein mit dem Kleidchen davon. Dasselbe that es beim Hutmacher
und beim Schuster. Mit diesen neuen Kleidungsstücken putzte es
sich nun auf, begab sich in den Garten des Königs und setzte sich
auf einen Baum, gerade vor dem Speisesaale des Königs, wo es,
während der König speiste, also sang:
„Bin ich schöner nicht im wollnen Kleide,
Als der König in der Purpur-Seide?
Bin ich schöner nicht im wollnen Kleide,
Als der König in der Purpur-Seide? 1 ).
Und das sang es so lange wieder, bis sich der König darüber
ärgerte und befahl, das Vöglein zu fangen und es ihm gebraten vor
zusetzen. Das geschah auch, und nachdem man es gerupft und
gebraten hatte, war es so klein geworden, dass der König es ganz
auf einen Schluck verschlang.
Die Nachahmung- des Hahnenrufes durch die Assonanz (auf i) lässt sich im Deut
schen kaum wiedergeben. Überhaupt ist dieses Märchen etwas dunkel gehalten in
den Eigennamen und historischen Anspielungen und hat dadurch seinen wahren
Charakter eingebüsst. Doch schien es mir beachtenswert!), wenn auch nur als
Volkswitz.
A ) Mas bonito estoy yo con mi vestido de lana,
que no ei Itey con su manto de grana.
Mas bonito estoy yo con mi vestido de lana,
que no el Rey con su manto de grana.
198
Wolf
Als das Vöglein nun in den Magen des Königs hinabkam, glaubte
es in eine stockfinstere Höhle gefallen zu sein und begann bald
rechts, bald links zu picken und rastlos einen Ausweg zu suchen. Da
fing der König an zu jammern und zu klagen, diese Speise habe ihm
übel bekommen und er fühle heftige Schmerzen im Magen. Man
holte die Ärzte herbei und diese gaben dem König ein Brechmittel.
Das wirkte, und das erste was herauskam war das Vöglein, das im
Nu davon flog.
Wie es wieder im Freien war, tauchte es sich in eine Quelle,
eilte dann in eine Zimmermannswerkstätte und bestrich sich den
ganzen Körper mit Leim. Dann begab er sich in die Versammlung
der übrigen Vögel und erzählte ihnen, was ihm widerfahren; bat
jeden um ein Federchen und, nachdem ihm seine Bitte gewährt wor
den, klebte es sich dieselben auf seinen mit Leim bestrichenen Kör
per auf. Da aber jede Feder von anderer Farbe war, so erhielt das
Vöglein ein Gefieder so bunt wie ein Blumenstrauss und kam sich
schöner als je vor.
Nun flog es gerade wieder auf den Baum vor des Königs Speise
saal und sang aus Leibeskräften:
Wem ging’s wohl wie mir so kraus?
War im König, kam heraus 4 )-
Der König rief: „Fangt mir dieses spitzbübische jVöglein!“
Aber dieses war nun gewitzigt; husch, flog es fort mit Windeseile,
und ruhte nicht eher, bis es sich dem Monde auf die Nase gesetzt
hatte.
II.
Juan Dolgado -) und der Tod,
(Scmanario pint. esp. 1850, p. 337—359.)
Es war einmal ein Mann, Juan Holgado geheissen, aber in der
That passte der Name für Niemand weniger als für den Armen, der
nichts sein nennen konnte, als 24 Stunden täglich; darunter zwölf
voll Mühen und zwölf voll Hunger, und dazu ein Schock Kinder
mit Mägen wie Siebe.
4 ) —iA quien paso Io que a mi?
En el Rey me entre, del Rey me sali.
2 ) Holgado, d. i. der sein reichliches Auskommen hat.
Beiträge zur spanischen Volkspoesie etc.
199
Eines Tages sagte Juan Holgado zu seinem Weihe: „Die Crea-
turen hier sind ein Pack Vielfrasse; sie verschlingen, was sie finden,
und schnappen einem den Bissen vor dem Munde weg. Ich will mir
aber auch einmal einen guten Tag machen, bereite mir einen Hasen
zu, den will ich allein, von ihnen unbehelligt verzehren.“ Sein
Weib, das um des Hausfriedens Willen Alles that, was er wollte,
kaufte für ein Dutzend Eier welche ihre Hühner eben gelegt hatten,
einen Hasen, bereitete ihn zu nebst einer Brotbrühe und sagte des
anderen Tages zum Manne: „In diesem Zecker hier hast du den
zubereiteten Hasen und einen halben Laib Brot; gehe und verzehre
dies in Ruhe auf dem Felde, und möge es dir wohl bekommen.“
Juan Holgado liess sich das nicht zweimal sagen, hing den
Zecker auf die Schulter und lief was er laufen konnte bis zu einem
Felde, ganz abseits von jedem Wege. Da setzte er sich unter einen
Olivenbaum, vergnügter als ein König, empfahl sich dem Schutze
unserer lieben Frau von Einsiedeln (de la Soledad), nahm Hasen,
Brot und Brühe aus dem Zecker und fing an zu essen. Aber im Auf
schauen sah er plötzlich, wie vom Himmel herabgefallen, sich gegen
über sitzen einen schwarz gekleideten alten Mann »), hässlicher als der
Gott sei bei uns, vergilbt und dürr wie eine Pergamenturkunde, mit
eingefallenen abgestorbenen Augen, wie ein Docht ohne Ol, mit
einem Munde, wie ein Korb, und statt der Nase ein Ausrufungszei
chen, dass hier eine sein sollte. So unlieb ihm auch dieser Gast
freund war, lud er ihn doch ein, mitzuessen. Der liess sich nicht
lange dazu bitten; aber vom Mitessen konnte man nicht reden, denn
er verschlang Hasen, Brot und Brühe mit solcher Hast, dass Juan
Holgado nur das Zusehen hatte und sich gestehen musste, dass es
ihm seine Kinder auch nicht ärger hätten machen können, und da
wäre es doch in der Familie geblieben. Als der Alte alles rein auf
gegessen hatte, sprach er:
„Juan Holgado, der Hase hat mir trefflich geschmeckt.“—„Das
habe ich bemerkt!“ meinte Juan Holgado. „Ich will dich für deine
Gastfreundschaft belohnen.“ —„Belohnen!“ brummte Juan Holgado
halb vor sich, mit einem verächtlichen Seitenblick auf des Alten
wenig versprechendes Aussehen, „lieber mich in Zukunft ver
schonen.“
*) Im Original ist es ein Weib, weil muerte weiblichen Geschlechtes ist.
200
Wolf
„Und auch damit wärst du gewiss zufrieden, denn ich bin —
der Tod.“ Als Juan Holgado erschreckt aufsprang, beruhigte ihn
der Tod, indem er fortfuhr: „Nicht nur will ich dich noch lange
verschonen, sondern auch zu einem reichen angesehenen Manne
machen. Merke auf das was ich dir nun sage, und du wirst bald
der gesuchteste berühmteste Arzt sein.“ Als Juan Holgado einwarf,
er sei ja ganz ungelehrt, könne nicht einmal lesen und schreiben,
enviederte der Tod: „Du weisst gerade so viel als die gelehrtesten
Arzte, wenn es sich darum handelt gegen mich zu schützen, der ich
all ihre Weisheit zu Schanden mache. Sie sehen mich nicht, wenn
ich ihnen auch vor der Nase stehe; aber du sollst mich jederzeit
am Bette des Kranken sehen. Siehst du mich zu dessen Häupten
sitzen (sentada ä la cabecera del enfermo), so zucke die Achseln
und sage, da ist nicht mehr zu helfen; siehst du mich aber nicht
dort sitzen (si por el contrario yo no estoy alli), so versichere, er
werde nicht sterben und gib ihm nur gewöhnliches Wasser, wie man
es in den Krügen hat (agua de la tinaja), und er wird genesen“.
Als der Tod hierauf ihn verlassen wollte, hielt Juan Holgado
ihn zurück und sagte: „Gnädigster Herr, lassen Sie uns nicht mit
dem gewöhnlichen: Auf baldiges Wiedersehen! (hasta mas ver)
scheiden; ich wenigstens trage gar kein Verlangen darnach und
auch Euer Gnaden werden es nicht wünschen, denn ich kann nicht
alle Tage mit einem Hasen aufwarten“.
„Sei ohne Sorge, Juan Holgado“, enviederte der Tod, „du
sollst mich nicht eher sehen dich zu holen, bevor du nicht deine
Behausung sich abdecken siehst“ (mientras no veas tu casa descon-
charse).“
Juan Holgado kehrte nun zu seinem Weibe zurück und erzählte,
was ihm mit dem Tode begegnet war. Das Weib, das findiger war
als er, meinte, er solle nur thun, wie der Tod ihm gesagt; auf den
könne er sich verlassen, denn nichts sei gewisser als der Tod. Dar
auf verbreitete sie überall, ihr Mann sei ein Arzt wie wenige, er
brauche den Kranken nur zu sehen, und wisse gleich, ob er sterben
oder genesen werde.
So geschah es eines Sonntags, dass Juan Holgado an einem
Hause vorbeikam, unter dessen Thore ein Rudel junger Mädchen
mit einander schäckerten und in toller Lust lärmten wie die
Schellen.
Beiträge zur spanischen Volkspoesie efe.
201
„Da geht Juan Holgado,“ rief eines der muthwilligen Mädchen,
„der bildet sich ein, er dürfe nur den Doetorhut aufsetzen, um ein
Arzt zu sein und die Leute es glauben zu machen, er passt ihm aber
wie dem Esel die Perrücke. Mit dem Quacksalber wollen wir uns
einen Spass machen. Ich will mich krank stellen, vielleicht glaubt
er es!“
Gesagt, gethan. Sie holten einen Korb herbei, der mit Feigen
gefüllt gewesen war, die sie verspeist hatten; schnell legte sich die
Rädelsführerinn hinein und fing an zu ächzen, wie eine schwer
Leidende. Die anderen liefen Juan Holgado nach und, während sie
kaum das Lachen verhalten konnten, baten sie ihn um schleunige Hilfe.
Er folgte ihnen und als er unter das Thor trat, bemerkte er einen
grossen Haufen von Feigenschalen. Kaum war er zu dem Korbe
gekommen, worin das Mädchen lag, so ist das erste was er sieht, der
Tod, der zu dessen Häupten sitzt. — „Dieser Kranken ist nicht mehr
zu helfen“, sagte Juan Holgado, und wollte sich entfernen. „Was
fehlt ihr denn?“ riefen kichernd die anderen Mädchen. „Sie leidet
an einer Anschoppung von Feigen, und die Feigen sind wie die Wei
ber in der Messe, sie gehen eine nach der anderen hinein, und
wollen alle zugleich hinaus“, antwortete Juan Holgado. Zwei Stun
den darnach war das Mädchen eine Leiche.
Da war Juan Holgado’s Ruf begründet. Weit und breit wurde
er nun zu allen Kranken geholt und dadurch ein angesehener und
reicher Mann. Nun war er, was sein Name sagte, er hatte sein
reichliches Auskommen und liess sich auch nichts abgehen ;
das schlug ihm so trefflich an, dass er von Gesundheit strotzend
aussah.
Dabei aber trug er die grösste Sorge für sein Haus; wie nur
das Mindeste an der Dachung fehlte, liess er es gleich wieder her-
steilen und hielt sich einen eigenen Dachdecker, der darauf Acht
haben musste; denn er blieb der Abschiedsworte des Todes einge
denk, dass er ihn nicht eher abholen werde, bevor er nicht seine
Rehausung sich abdecken sehe.
So gingen Juan Holgado die Jahre immer schneller dahin und
er sah ihrem Scheiden mit immer verdriesslicherer Miene nach; denn
sie Hessen ihm auch immer üblere Andenken zurück. Das eine liess
ihn kahl, das andere zahnlos, das dritte mit einem Rücken wie eine
Sichel, und das vierte mit Füssen die den Dienst versagten.
202
Wolf
Da wurde er eines Tages ernstlich krank und eine Fledermaus
zeigte sich in seinem Hause, um ihn an den Tod zu mahnen; aber
Juan Holgado wusste es ihr schlechten Dank und verachtete die
Mahnung. Später überfiel ihn ein Sclileimfieber und ein Käuzlein
krächzte ihm eine neue Todesbotschaft zu; aber Juan Holgado Hess
das Käuzlein verjagen und achtete nicht seiner Botschaft. Später
erkrankte er noch viel gefährlicher und ein Hund heulte vor seinem
Thore ihm die Kunde zu, dass der Tod schon unterwegs zu ihm sei.
Juan Holgado warf dem Hunde zum Danke seine Krücke an den Kopf
und trotzte der Kunde. Aber er wurde immer schlechter und endlich
pochte der Tod selbst an seine Thüre. Juan Holgado Hess sie ver
riegeln und verbot ihn hereinzulassen. Aber gegen den Tod schützt
nicht Thür, nicht Riegel, er stand plötzlich an seiner Seite. —- „Ei,
Herr Tod,“ fuhr ihn Juan Holgado trotzig an, „ihr sagtet mir ja, dass
ihr nicht eher mich zu holen kämet, bevor ich nicht meine Behau
sung sich abdecken sehen würde. Daher habe ich trotz aller neuen
Botschaften und Mahnungen euch noch nicht erwartet.“—„Und doch“,
entgegnete der Tod, „haben deine Kräfte dich nicht verlassen? Sind
dir nicht Haare und Zähne ausgefallen? Dein Körper ist ja deine
Behausung.“—„Da sehe ich leider zu spät, dass ich euch missverstan
den!“ rief Juan Holgado, „drückt euch ein anderesmal nicht so räth-
selhaft aus, wenn ihr einem was versprecht, dann wird er sich nicht
so überraschen lassen, wie ich. Nun muss ich euch freilich folgen“ *).
III.
Juan Soldado ~).
(Semanario pint. esp. 1852, p. 53—55.)
Juan war ein armer Bauernbursche, den das Loos traf Soldat
zu werden. Als er seine Capitulationszeit ausgedient hatte, blieb er
dennoch Soldat, weil er keinen anderen Erwerb hatte, und so diente
1 ) In diesem spanischen Märchen sind olFenbar die beiden deutschen: „Der Gevat
ter Tod“ und „die Boten des Todes“ (bei Grimm, a. a. 0., Nr. 44 und
177; dazu die Anmerkung Band III, S. 69 ff. und 249; und die Nachträge von
Liebrecht, a. a. 0., S. 241 und 246) verschmolzen, aber dadurch schon einige
schöne Züge verdunkelt. Ich habe auch den allzu humoristischen Ton des Origi
nals mildern und manches allzu moderne Beiwerk weglassen zu müssen geglaubt.
2 ) Dies ist unter dem Volke der generische Name für einen gemeinen Soldaten.
Beiträge zur spanischen Volkspoesie etc.
203
er so lange, bis er alt und untauglich wurde. Da erhielt er als Inva
lide seinen Abschied und zum Lohne nichts als ein Pfund Brot und
sechs Maravedi’s (etwa Pfennige). „Da hab’ ieh's getroffen,“ dachte
Juan Soldado, „nach 24 Dienstjahren nichts als ein Pfund Brot und
sechs Maravedi’s! Aber wie Gott will! Verzweifeln macht nur böses
Blut.“ So zog er seines Weges, singend:
Nach Commissbrot riecht der Mund mir,
Und mein Hals nach Bindetragen,
Meine Schultern nach Tornister
Und die Hände nach der Flinte *).
Da begegnete er eines Tages zwei Männern. Das waren aber
Jesus und Petrus in Bettlerkleidern, die eben damals wieder einmal
die Welt durchwandelten. Petrus sprach ihn um ein Almosen an.
„Was hab ich zu geben?“ entgegnete Juan Soldado, „ich, der nach
24 Jahren im Dienste des Königs nun selbst nichts habe, als ein
Pfund Brot und sechs Maravedi’s!“ Als aber Petrus nicht nachliess
ihn anzubetteln, rief er: „Nun ihr habt gehört, was ich habe, das
will ich mit euch theilen“. Nahm dann sein Messer, schnitt das Brot
in drei gleiche Theile, gab den beiden Bettlern jedem einen Theil
und behielt den dritten für sieb.
Nachdem er ein paar Stunden weiter gegangen war, traf er
wieder mit den beiden Bettlern zusammen, und wieder sprach ihn
Petrus um ein Almosen an.
„Es will mich bedünken,“ sagte Juan Soldado, „als hätte ich
euch erst vor kurzem betheilt: doch es sei darum wie Gott wolle,
und wenn ich auch nach 24 Jahren im Dienste des Königs nur ein
Pfund Brot und sechs Maravedi’s habe, und von diesem einen Pfund
Brot mir nur dieses eine Stück geblieben ist, so will ich es doch mit
euch theilen.“ Das that er denn auch; verzehrte aber diesmal sei
nen Theil sogleich, damit sie ihm den nicht auch noch abbettelten.
Beim Sonnenuntergang traf er zum drittenmal mit unserem
Herrn und St. Petrus zusammen, und nochmals sprach ihn letzterer
um ein Almosen an.
A ) La boca me huele a rancho
y el pescuezo a corbatin,
las espaldas a mochila
y las manos a fusil.
204
Wolf
„Ich wollte schwören“, rief da Juan Soldado, „dass ich euch
schon wiederholt betheilt habe. Aber es sei darum, wie Gott wolle
und wenn ich auch nach 24 Jahren im Dienste des Königs nichts
habe, als ein Pfund Brot und sechs Maravedi’s, so will ich auch diese
mit euch theilen, wie ich das Brot mit euch getheilt habe.“ Er holte
vier Maravedi’s hervor, die er dem Petrus gab, und behielt nur die
zwei noch übrigen.
„Was fange ich nun mit diesen beiden noch mir gebliebenen
Maravedi’s (con un ochavo) an?“ dachte Juan Soldado bei sich, „da
bleibt mir nichts übrig, als mich in’s Joch zu spannen und bis zum
letzten Athemzug zu arbeiten, wenn ich was zu essen bekommen
will.“
„Meister,“ sprach da St. Petrus zu unserem Herrn, „thue doch
Euere Majestät etwas für diesen Unglücklichen, der 24 Jahre dem
Könige gedient und nichts davon hat, als ein Pfund Brot und sechs
Maravedi’s und die mit uns getheilt hat!“
„Das will ich auch; rufe ihn und frage ihn, was ihm am lieb
sten wäre“, sagte der Herr.
Petrus that so und Juan Soldado, nachdem er sich ein Weil
chen bedacht hatte, antwortete, es wäre ihm am liebsten, wenn
Alles was er in den Ranzen wünsche, den er nun leer auf dem
Rücken trage, auch darin sein müsse. Dieser Wunsch wurde ihm
gewährt.
Bald darauf kam Juan Soldado in einen Ort und sah dort in
einer Bude Laibe Brotes aufgeschichtet, so weiss wie Jasminblüthe,
und Würste die ihn anzurufen schienen „speis mich“.
„In den Ranzen!“ commandirte da Juan Soldado, und wie im
Nu waren Brot und Würste darin. Juan Soldado machte sich damit
aus dem Staube und liess den Verkäufern das Nachsehen. Da konnte
er seinen Hunger nach Herzenslust stillen — und er hatte gerade an
diesem Tage einen Hunger der grösser war, als Gottes Geduld —
und er ass, bis er nicht mehr konnte.
Als es Nacht wurde, kam er in einen andern Ort und da er als
Beurlaubter ein Recht auf Einquartierung hatte, so begab er sich zum
Ortsrichter, um einen Quartierzettel zu erhalten.
Der Ortsrichtep sagte, er wolle ihm wohl ein Quartier anwei-
sen in einem nahen Dorfe das ganz verlassen sei, weil man dort einen
Ahgeurtheilten aufgehängt habe und seitdem Niemand mehr sich dort
Beitrüge zur spanischen Volkspoesie etc.
205
aufhalten wolle; aber wenn er Mutli habe und sich vor nichts fürchte,
so möge er hingehen, er werde dort Alles in Überfluss finden, denn
der Gehängte sei sehr reich gewesen.
„Herr Ortsrichter, Juan Soldado schert sich um nichts und
fürchtet nichts“, antwortete dieser, „und dort will ich mich einquar
tieren, gesagt, gethan!“
Dort fand Juan Soldado in der That Alles in Überfluss, gefüllte
Keller, volle Speisekammern und alle Räume vollgestopft mit Früchten.
Das erste was er that, um für alle Fälle sich vorzusehen, war,
einen Krug mit Wein zu füllen, denn er dachte: Wein im Blut gibt
gegen Alles Mutli; dann zündete er eine Kerze an, setzte sich zu
Tische und machte sich über einige Schinkenschnitte her. Kaum aber
sass er dabei, so hörte er eine Stimme die vom Rauchfang herabkam
und rief: „Falleich?“
„Falle, wenn es dir beliebt“, antwortete Juan Soldado, der
schon den Wein in seinem Blute spürte, „wer dem Könige 24 Jahre
gedient und nichts davon hat als ein Pfund Brot und sechs Mara-
vedi’s, der schert sich um nichts und fürchtet nichts.“
Noch hatte er nicht ausgesprochen, so fiel ein Menschenfuss
ihm vor der Nase nieder; Juan Soldado fuhr auf und seine Haare
sträubten sich empor vor Entsetzen; aber er goss sich neuen Mutli
ein und fragte laut: „Soll ich dich vielleicht begraben?“ Der Fuss
machte mit den Zehen ein verneinendes Zeichen.
„Nun so verfaule hier!“ sagte Juan Soldado.
Bald darauf rief dieselbe Stimme: „Falle ich?“
„Falle, wenn es dir beliebt“, antwortete wieder Juan Soldado
und stärkte neuerdings seinen Muth mit einem tüchtigen Zug aus dem
Kruge. Da fiel der andere Fuss zu seinem Kameraden herab. Auf
dieselbe Weise fielen nach und nach alle übrigen Theile eines mensch
lichen Körpers herab und zuletzt der Kopf, der sich mit ihnen ver
einte, so dass endlich eine ganze Menschengestalt dastand, zwar kein
ordentlicher Christenmensch, sondern die Schreckgestalt eines Ver-
urtheilten wie er leibte und lebte. Der redete nun Juan Soldado mit
einer hohlen Grabesstimme an: „Juan Soldado, ich sehe, dass du
Muth hast.“
„Das will ich meinen“, antwortete dieser. „Daran ist nicht zu
zweifeln, Juan Soldado hat in seinem ganzen Leben eben so wenig
Furcht gekannt als Überfluss; denn er hat 24 Jahre dem Könige
206
w o i r
gedient und nichts davon gehabt als ein Pfund Brot und sechs
Maravedi's.“
„Kümmere dich nicht weiter darum“, erwiederte die Spuk
gestalt, „denn thust du, wie ich dir sage, so wirst du meine Seele
erlösen und dich glücklich machen. Willst du das?“
„Ja Herr, ja Herr, und sollte ich euch jedes Glied einzeln ver
nieten müssen, damit ihr nicht wieder zerfallet“, rief Juan
Soldado.
„Aber das ist vom Übel, dass du mir betrunken zu sein scheinst“,
sagte bedenklich der Geist.
„Nein Herr, nein Herr, ich bin nur etwas angestochen. Denn es
gibt vier Grade der Trunkenheit: den ersten, in dem man sich Alles
doppelt sagen lassen muss; den zweiten, wenn man seinen Mantel
am Boden nachzieht; den dritten, wenn man sich die Beinkleider
beschmutzt, und den vierten, wenn man die Erde seiner ganzen Länge
nach misst. Ich bin aber noch immer am ersten Grade, Herr.“
Darauf befahl ihm die Gestalt, ihr zu folgen. Juan Soldado, der
in der That etwas stark geladen hatte, schickte sich an, ihr nachzu
wackeln und ergriff das Licht; aber der Geist verlöschte es und
sagte, es sei nicht nöthig, denn seine beiden Augen leuchteten wie
Schmiedeöfen.
Als sie in den Keller kamen, sagte der Geist: „Juan Soldado,
nimm eine Haue und grabe hier ein Loch.“
„Grabt es selbst, wenn es euch danach verlangt; ich habe
24 Jahre dem Könige gedient und nichts davon gehabt als ein Pfund
Brot und sechs Maravedi's, und nun soll ich etwa noch einem Andern
dienen, der mir vielleicht noch weniger gibt“, erwiederte trotzig Juan
Soldado,
Da nahm der Geist selbst eine Haue und grub, bis drei grosse
Krüge (tinajas) zum Vorschein kamen; dann sprach er zu Juan Sol
dado: „Dieser Krug ist voll Kupfergeld, das vertheile unter die
Armen; der zweite voll Silber, das opfere den Kirchen zum Heil
meiner Seele, und dieser dritte ist voll Gold, das soll dir gehören,
wenn dü mir versprichst, mit dem Inhalte der ersten beiden nach
meinem Gebote zu verfahren“.
„Seid ohne Sorgen“, betheuerte Juan Soldado, „24 Jahre habe
ich mit der grössten Pünctlichkeit dem Könige gedient, ohne dafür
mehr zu erlangen als ein Pfund Brot und sechs Maravedi's, wie könnt
Beitrage zur spanischen Volkspoesie etc. 20?
ihr zweifeln, dass ich euch nicht eben so dienen werde, da ihr mir
eine so gute Belohnung versprecht.“
Juan Soldado vollzog auch pünctlich, was der Geist ihm aufge
tragen, und wurde durch das Gold das er in dem ihm bestimmten
Kruge fand, ein reicher Mann.
Aber wer das auch sogleich inne wurde, war Lueifer; denn nun
verlor er die Seele des Verurtheilten durch die vielen Gebete der
Kirche und der Armen für deren Erlösung; er sann desshalb auf ein
Mittel, sich an Juan Soldado zu rächen. In seinem höllischen Hof
gesinde war ein Teufelchen (Satanasillo), gewandter und verschmitz
ter als irgend Einer, das bot sich an, ihm den Juan Soldado einzu
liefern. Wenn es das thue, werde er es reich belohnen, versprach
Lueifer hocherfreut dem Teufelchen.
Juan Soldado sass behaglich in seinem Hofe, als der Kleine sich
ihm vorstellte und ihn mit Droh- und Schmeichelworten aufforderte,
ihm zu folgen.
„I, warum denn nicht! den Gefallen will ich dir schon thun.
Ich habe nicht 24 Jahre dem Könige gedient, um nun vor der Her
ausforderung eines solchen Knirpses, und wenn er auch noch so übel
mir mitspielen wollte, Retirade zu blasen. Juan Soldado schert sich
um nichts und fürchtet nichts. Verstehst du? Aber steig unterdess
auf diesen Feigenbaum, der Früchte hat so gross wie Brotlaibchen,
die lass dir schmecken, während ich meinen Ranzen holen will;
denn mir scheint, wir werden eine längere Reise zu machen
haben.“
Das Teufelchen das sehr naschhaft war, stieg auf den Feigen
baum und liess sich die Früchte schmecken. Unterdess hatte Juan
Soldado seinen Ranzen geholt und umgehängt, und als er mit dem
zurückkehrte, rief er dem Teufelchen zu: „In den Ranzen!“
Das Teufelchen, so sehr es sich sträubte und an jedem Aste sich
anklammerte, musste in den Ranzen kriechen.
Da nahm Juan Soldado einen Schmiedehammer und schlug
damit auf seinen Gefangenen los, bis er ihn fast zu Brei zerklopft
hatte, und dann hiess er ihn sich packen.
Als Lueifer seinen Benjamin in so jämmerlichem Zustande
zurückkehren sah, schwur er bei den Mondhörnern, Juan Soldado
solle ihm nun erst die ganze Zeche bezahlen und er wolle in eigener
Person ihn holen.
208
w o i r
Aber Juan Soldado batte diesen Besuch erwartet, sich darauf
vorgesehen und den Ranzen umbehalten.
Als daher Lucifer zu ihm kam, vor Zorn Feuer und Flamme
sprühend, trat ihm Juan Soldado mit der grössten Unbefangenheit
entgegen und sagte: „Gevatter Lucifer, Juan Soldado schert sich
um nichts und fürchtet nichts. Das dient zur Nachricht!“ — Und
dann rief er ihm den Befehl zu: „In den Ranzen!“ — Und auch
Lucifer musste hinein, er mochte sich auch noch so winden und
wenden, aufblasen und klein machen; im Ranzen war er von den
Hörnern bis zum Schwänze. Nun nahm aber Juan Soldado eine Keule
und schlug auf den Ranzen los, dass er ihn fast durchhaut hätte und
Lucifer so dünn wurde wie ein Blatt Papier. Endlich konnte er nicht
mehr und sagte zu dem Gefangenen: „Nun scher’ dich; für dies
mal lass’ ich’s dabei bewenden; wagst du es aber nochmals, mir
unter die Augen zu treten, werde ich dir, so wahr ich 24 Jahre dem
Könige gedient und nicht mehr davon habe als ein Pfund Brot und
sechs Maravedi’s, Schwanz, Hörner und Klauen ausreissen, dann wirst
du Niemand mehr fürchten machen. Das merk' dir!“
Als auch Lucifer so übel zugerichtet in die Hölle zurückkehrte,
entsetzten sich die Teufel und heulten, dass Schlangen und Kröten
aus ihrem Munde herausfuhren. Dann fragten sie: „Was nun thun,
Herr?“
„Lasst Schlosser kommen und alle Thore und Thüren verrie
geln, lasst Maurer kommen und alle Löcher und Spalten vermachen,
dass jener Frechste aller Frechen, jener Juan Soldado auch nicht
den kleinsten Zugang offen finde, um in die Hölle einzudringen oder
einzuschleichen“, befahl Lucifer; welcher Befehl auch alsbald voll
zogen wurde.
Endlich merkte Juan Soldado, dass seine Todesstunde bald
schlagen werde. Er nahm daher seinen Ranzen und machte sich auf
den Weg nach dem Himmel. Am Thore fand er St. Petrus, der ihn
sogleich ansprach: „Ei willkommen! Wie geht es, Freund?“ —
Juan Soldado aber wollte ohne Weiteres eintreten. Da rief St. Petrus:
„Gemach, Gevatter, gemach! In den Himmel tritt nicht Jeder ein
wie der Bauer in’s Wirthshaus. Lasst einmal hören, was habt ihr für
Ansprüche darauf? “
„Wie“, entgegnete trotzig Juan Soldado, „gibt das etwa keinen
Anspruch, dass ich dem Könige 24 Jahre gedient und nichts davon
Beiträge zur spanischen Volkspoesie etc. 209
gehabt habe als ein Pfund Brot und sechs Maravedi’s! Scheint das
Euer Gnaden so eine Kleinigkeit?"
„In der That nicht genug!“ rief St. Petrus, und vertrat Juan
Soldado den Weg, als er trotzdem eindringen wollte.
Da rief dieser dem Petrus zu: „In den Ranzen!“ — Und auch
St. Petrus, er mochte wollen oder nicht, musste in den Ranzen hinein.
St. Petrus gab ihm nun gute Worte und stellte ihm vor, dass, wäh
rend er ihn hier zuriickhalte, die Himmelsthore ohne Wächter offen
stünden, und daher jeder Einfaltspinsel hineinkommen könne.
„Das gerade will ich ja!“ erwiederte Juan Soldado, indem er
sich in die Brust werfend hineinschritt, „denn sagt doch, Herr Petrus,
fänden es Euer Gnaden etwa in der Ordnung, dass, nachdem ich
24 Jahre dem Könige gedient, ohne mehr davon gehabt zu haben als
ein Pfund Brot und sechs Maravedi’s, ich hier oben nicht einmal mein
Invaliden-Quartier bekäme!?“!).
IV.
Bas Ohr des lucil'er.
(Semanario pint. esp. 1852, p. 165 — 167.)
Es war einmal ein reicher Kaufherr, der hatte einen Sohn, ein
wahres Sonntagskind, schön, klug und tapfer. Doch war er unruhi
gen Sinnes und wollte durchaus in die weite Welt wandern. Er lag
seinem Vater so lange in den Ohren, bis er ihn endlich ziehen liess.
Nachdem der Jüngling drei Tage gewandert war durch Felder und
Wälder, traf er einen Mann, der trug auf seinem Rücken eine solche
Last Reisig, dass man sie kaum auf zwei Wägen hinaufgebracht hätte.
„Mann“, sprach ihn der Jüngling an, „du trägst ja mehr als das
stärkste Maulthier; wie nennst du dich?“
*) Wie die verschiedenen Versionen der deutschen Märchen: „Von einem, der aus
zog das Fürchten zu lernen“, „Bruder Lustig“ und „der Spielhansl“ (bei Grimm,
a. a. 0., Nr. 4, 81 und 82) in einander übergehen und sich verbinden, so hat
auch dieses spanische Züge aus ihnen allen entlehnt und auf eine eigenthiimliche
Weise zu einem Ganzen verschmolzen, das immerhin interessant genug ist. Ich
habe nur ein paar allzu wortreiche Dialoge im Komödienton gekürzt, und einige
Überladungen in Beschreibungen und Vergleichen weggelassen, die mir zu dem
einfachen Märchenton nicht zu passen schienen.
Sitzb. d. phil.-hist. CI. XXXI. Bd. 1. Ilft.
14
210
Wolf
„Ich heisse Ladauf Tragschwer, und bin der Sohn des
tüchtigen Lastträgers“ J ), antwortete der Mann. .
Der Jüngling forderte ihn auf, ihm zu folgen, und der Mann
war’s zufrieden.
Als sie eine Weile gegangen waren, sahen sie einen Mann, der
aus vollen Backen blies, womit er mehr Wind machte als ein Blase
balg in. einer Schmiede.
„Was machst du hier?“ frug ihn der Jüngling.
„Stört mich nicht“, antwortete der Mann, „ich darf nicht auf
hören zu blasen, denn ich treibe damit 4S Windmühlen.“
„Und wie heissest du?“ frug der Jüngling wieder.
„Blasestark Fachan, der Sohn des tüchtigen Bläsers“*),
erwiederte der Mann.
Und auch dieser liess sich von dem Jüngling bewegen, mit ihm
zu gehen.
So gingen sie wieder eine Weile, da trafen sie einen Mann, der
stand und horchte.
„Was machst du hier?“ frug der Jüngling.
„Ich muss horchen, damit ich höre, wann ein Schwarm Mücken i
dort am Meere auffliegt“, antwortete der Mann.
„Aber das Meer ist ja an die hundert Meilen weit von hier!“
rief der Jüngling.
„Ich hör’ es doch“, entgegnete der Mann.
Als der Jüngling auch diesen frug, wie er heisse, sagte er:
„Feinohr Hörweit, Sohn des guten Horchers 3 )“.
Auch dieser folgte dem Jüngling auf seine Einladung.
Diese vier zogen nun als gute Cameraden mit einander fort, bis
sie zu einem Schlosse kamen, das lag ganz einsam und sah sehr
unheimlich und unbewohnt aus. Je mehr sie sich dem näherten, desto
mehr umzog sich der Himmel mit Gewitterwolken, und als sie vor
demselben anlangten, zerplatzten sie unter Donner und Blitz in
Wasserströmen.
„Lasst euch das nicht anfechten, Herr“, rief Blasestark, „ihr
werdet gleich sehen, wie ich das Unwetter wegfege." — Und nun
*) Im Original ein unübersetzbares Wortspiel: „Me llamo Carguin, Cargon, bijo del
bueu cargador“.
2 ) „Soplin, Soplon, hijo del buen soplador“.
3 ) „Oin, Oidon, hijo del buen oidor“.
Beiträge zur spanischen Volkspoesie etc.
211
fing er an zu blasen, und Wolken, Donner, Blitz und Regen fortzu
jagen, dass die Sonne ihnen nachschielte und der Mond mit vor
Erstaunen weit aufgerissenem Munde aufging.
Aber das war noch nicht das Schlimmste; denn als sie nun in
das Schloss hinein wollten, konnten sie weder Thor noch Thiirchen,
noch die mindeste Spur eines Einganges finden.
„Dacht’ ieh’s doch“, sagte Feinohr, der mehr Furcht als Scham
hatte, „dieses Schloss das einen so unheimlich ansieht, ist wohl nur
ein Eulennest und eine Fledermausherberge! “
Aber der Jüngling der sehr ermüdet war und nach Ruhe ver
langte, wollte dennoch hinein.
„Da will ich Hilfe schaffen“, rief Ladauf, und schleppte einen
Fels herbei, den sie an die Mauer des Schlosses anlehnten, so dass
sie durch die Fensteröffnungen hineinsteigen konnten.
Dort fanden sie schon die Tafeln gedeckt, mit den köstlichsten
Speisen und ausgesuchtesten Weinen in Hülle und Fülle. Sie liessen's
sich auch trefflich schmecken, bis sie nicht mehr konnten. Dann aber
sagte der vorsichtige Feinohr: „Es ist immer gut, wenn man in
einem fremden Hause ist, sich vorzusehen, dass man wieder mit guter
Art hinauskommt“. — Wiewohl nun Ladauf meinte, wir führen ja
nichts Übles im Schilde, und nur wer auf üblem Wege ist, hat Noth
davonzukommen, fuhr Feinohr, dem das Hemd vor Furcht in der Hose
schlotterte, fort zu warnen und den Jüngling zu beschwören, dieses
Schloss zu verlassen, das sichtlich nicht unter Gottes Schutz stehe;
ja er vernehme unterirdisches Gestöhne und Klagerufe. Aber der
Jüngling hörte nicht auf ihn, sondern bestand darauf, das Schloss in
allen seinen Theilen kennen zu lernen.
So trat er in Begleitung seiner drei Diener die Wanderung au
durch all’ die Räume, Gemächer und Gänge, bis sie endlich in einen
Hof kamen, so gross wie ein Stiergefeehtsplatz.
Kaum aber hatten sie denselben betreten, als ihnen eine Schlange
entgegen sprang, mit sieben Köpfen, einer scheusslicher als der
andere, sieben Zungen wie Lanzen und vierzehn Augen wie Pfeile.
Ladauf, Blasestark und Feinohr nahmen vor Schreck das Fersengeld,
aber der Jüngling, der tapfer war wie Cid und beherzt wie Bernardo,
zog sein Schwert, und mit vier Kreuzhieben schlug er der Schlange
ihre sieben Köpfe ab wie man Amen sagt. Der grösste dieser
sieben Köpfe, nachdem er den Jüngling noch mit seinen Feuer und
14*
212
Wolf
Flammen sprühenden Augen angestiert hatte, sprang in die Mitte
des Hofes, wo sich ein Loch öffnete, in dem er verschwand.
Der Jüngling rief nun seine Gefährten herbei, die sehr erstaunt
waren über dessen Heldenthat. Er zeigte ihnen dann das Loch,
durch das der Kopf der Schlange verschwunden und das so tief
war, dass sich gar kein Ende davon absehen liess, und sprach:
„Kommt, wir wollen Palmen und Spartgras sammeln, um ein Seil
daraus zu drehen, das bis an den Grund dieses Brunnens reicht“.
Das thaten sie auch, und so brachten diese vier vier Jahre
zu, das Seil zu drehen. Endlich war es so lang, dass es bis an
den Grund reichte. Da hiess der Jüngling den Feinohr, sich an
dem Seile hinablassen, um zu sehen, was es dort unten gebe,
und ihm darüber zu berichten. Aber Feinohr war nicht dazu zu
bewegen. Der Jüngling befahl daher dem Blasestark hinabzusteigen;
der that es auch, brauchte aber viele Tage und Nächte, bis er
auf den Grund kam. Dort fand er einen überaus herrlichen Palast
und in demselben eine Prinzessinn; die lag auf einem Bette und
vergoss Thränen so gross wie Erbsen. Sie klagte, Lucifer habe
ihr nachgestellt und weil sie ihm kein Gehör gegeben, halte er
sie hier gefangen und verzaubert, bis Jemand sich finde, der, um
sie zu erlösen, ihn bekämpfe und besiege. Der habe sich gefunden,
sagte Blasestark und fing an zu blasen; wie er aber Lucifer in
eigener Person kommen sah, blieb ihm vor Schreck der Atheru
aus und er suchte die Thüre. Da schlug Lucifer mit seinem grossen
Schweife nach der Thüre, dass sie einstürzte und den Blasestark
niederwarf, der sich dabei einen Fuss brach.
Wie Blasestark so lange nicht zurückkehrte, wurde dem Jüng
ling bange, und er befahl dem Feinohr zu horchen, um zu ver
nehmen, was im Innern der Erde vorgehe. Das that auch Feinohr
und berichtete, wie er den Blasestark über seinen gebrochenen
Fuss klagen höre. Der Jüngling schickte daher den Ladauf nach,
der versicherte, er werde den Lucifer aufpacken und forttragen,
sollte er auch schwerer sein als alles Blei der Sierra Almagrera.
Aber es ging dem Ladauf nicht besser als dem Blasestark; nur
dass er statt des Fusses den Arm brach.
„Nun will ich selbst hinunter“, rief der Jüngling, als er von
Feinohr diesen neuen Unfall vernommen hatte. Wie er in den Palast
trat und die Prinzessinn ansichtig wurde, entzückte ihn ihre grosse
Beiträge zur spanischen Volkspoesie etc.
213
Schönheit dermassen, dass sich sein Muth verdoppelte, und auch
er beschloss, den Kampf mit Lucifer zu bestehen.
Es war aber ein harter, schrecklicher Kampf, und nur weil
der Jüngling sich bekreuzt und Gott empfohlen hatte, gelang
es ihm endlich, dem Lucifer ein Ohr abzuhauen. Darüber stiess
Lucifer ein so fürchterliches Geheul aus, dass es den aufhorchen
den Feinohr zurückschleuderte und dessen wiederholte Stösse ihn
umspringen machten, als wenn er von der Tarantel gestochen wor
den wäre.
„Gieb mir mein Ohr wieder“, schrie Lucifer dem Jüngling zu.
Dieser aber erwiederte, nur wenn er ihm als Lösegeld dafür drei
Bedingungen erfüllen wolle, werde er es zurückerhalten. Zuerst
verlange er, Lucifer solle die Prinzessinn frei geben und an den
Hof ihres Vaters zurückbringen; — dann solle er ihn nebst seinen
Gefährten auch dahin führen und mit Allem reichlich ausstatten,
dass er als Freier der Prinzessinn geziemend erscheinen könne; — die
dritte Bedingung aber behalte ersieh vor, ihm seiner Zeit aufzuerlegen.
Lucifer musste, so sehr er sich sträubte, diese Bedingungen
eingehen, wollte er nicht zu seiner Schande als Besiegter mit Einem
Ohre sich auch dem Spotte aussetzen.
Als daher der Jüngling in prachtvollem Aufzuge und mit glän
zendem Gefolge am Königshofe erschienen war und die Prinzessinn in
ihm ihren Retter erkannt hatte, erbat und erhielt sie von ihrem Vater
die Einwilligung, sich mit ihm zu vermählen, und sie feierten mit
grosser Freude und herrlichen Festen die Hochzeit.
Aber diese Freude dauerte nicht lange; denn bald nach der
Hochzeit zeigte sich die Königstochter immer boshafter und wider
spenstiger, so dass der Jüngling wohl merkte, sie habe sich bei ihrem
langen Aufenthalt bei den Teufeln so viel von deren bösem Wesen
angewöhnt, dass ein Mensch es mit ihr nicht länger aushalten könne.
Da rief er den Lucifer und sagte, nun wolle er ihm die dritte
Bedingung aufgeben, erfülle er auch die, so solle er sein Ohr zurück
erhalten: er möge nämlich ihn von der Prinzessinn befreien und sie
wieder mit sich nehmen, da sie und Lucifer doch am besten für
einander passten 4 ).
*) Dieses Märchen enthält in seinem Eingänge unbezweifelt echte, mit dem deut
schen: „Sechse kommen durch die ganze Welt“ (hei Grimm, Nr. 71) offenbar
übereinstimmende Züge. Aber von dem Auftreten des Lucifer an verliert es immer
214
Wolf
V.
Das Glück und das Inglück.
(Semanario pint. esp. 1852, p. 283.)
Es waren einmal ein Reicher und ein Armer. Dem Reichen
waren nämlich alle seine Unternehmungen zum grössten Vortheil
ausgeschlagen, und er fand sich vom Glücke so begünstigt, dass er
mehr als genug und ihm selbst schon zu viel hatte. Doch ward er
dadurch nicht übermüthig noch geizig, sondern suchte sich seines
Überflusses durch Freigebigkeit zu entledigen.
Dem Armen hingegen war Alles misslungen, er blieb arm, ja
sank immer tiefer in’s Elend; denn das Unglück hatte bei seiner
Taufe Gevatter gestanden und ihm seinen Fluch eingebunden.
Dadurch wurde er verbittert, habsüchtig und neidisch.
mehr den Charakter der Echtheit, und obwohl ich die lange satyrisehe Beschrei-
bung, wie Lucifer aus Wuth über den Verlust seines Ohres bis zu dessen Wieder
erlangung die ganze Welt in Verwirrung gebracht und Alles von oberst zu unterst
gekehrt habe, ohnehin als eine dem naiven Geiste des Märchens völlig fremd
artige Zuthat weggelassen habe , so verräth doch schon der epigrammatisch
abrupte Schluss auch die moderne Erlindung.
Noch mehr entstellt durch moderne Einkleidung und selbsterfundene Zusätze
ist das von unserer Verlasserinn erzählte Märchen : „Los Caballeros del pez“ (im
Semanario pint. esp. 1850, p. 242—244), wesshalb ich mich begnüge, auf die
Grundlage aufmerksam zu machen, die cs mit unserem deutschen: „Die zwei
Brüder“ (Grimm, Nr. 60) gemein, und auf die paar echten Züge die es bewahrt
hat, wie gleich im Eingänge: ein armer Fischer fängt im Meere einen Peters
lisch (pez de San Pedro, so geheissen, weil diese Art seit dem Wunder mit den
Broten und Fischen zwei grosse schwarze Flecken trägt als Maalzeichen von den
Fingern des Apostels), der sagte ihm , er solle ihn in acht gleiche Theile zerlegen,
zwei seinem Weibe, zwei seiner Stute, zwei seiner Hündinn geben und die übrigen
zwei in seinem Garten eingraben; da bringt ihm sein Weib männliche Zwillinge,
die Stute zwei Füllen, die Hündinn zwei junge Hunde und der Garten zwei Bäume;
wie die Söhne erwachsen, ziehen sie aus auf den beiden Hengsten, begleitet von den
beiden Hunden und bewaffnet mit Lanzen aus den beiden Baumstämmen. Die Brüder
sahen sich so zum verwechseln ähnlich , dass man sie den caballero dohle nannte.
Der eine zieht nach Westen, der andere nach Osten. — Ferner ist ein bemerkens-
werlher echter Zug : «lass der eine der Brüder , um die Königstochter von dem Dra
chen zu befreien, sich dazu eines Spiegels bedient, in welchem der Drache sich sicht,
in Wuth geräth, auf sein Bild das seine drohenden und wiithenden Gebärden abspie
gelt, losstürzt, durch Zertrümmerung des Spiegels betäubt und dann von dem Fischers
sohne erschlagen wird. Endlich ist von dem echten Märchen auch der Zug bewahrt
worden, dass der andere Bruder, als er sich mit der Frau seines im Schlosse der
Hexe (die hier die Mutter des erschlagenen Drachen ist) gefangenen Bruders zu Bette
begiht, das Schwert inzwischen legt.
Beiträge zur .spnnischeti Volkspoesie eh;.
21!)
Eines Tages liess der Reiche den Armen rufen und sagte zu
ihm: „Freund, geh' hin zum Palaste des Glückes und sage ihm, ich
hätte nun mehr als zur Genüge und bedürfe seiner Gaben nicht mehr.
Für diesen Botengang will ich dir 200 Realen geben“.
Statt sich über diesen unerwarteten, ihm so nöthigen Verdienst
zu erfreuen, fühlte der Arme durch diesen Anbot seine Habsucht auf
geregt, und er entgegnete: „Ei Herr, der Weg zum Glücke ist sehr
weit und überaus schwer zu fiuden, vollends für mich, der ich ihn
stets vergeblich gesucht. Euch scheint das freilich ein Leichtes, denn
das Glück ist euch nachgelaufen. Darum gebt mir wenigstens
300 Realen“.
Der Reiche, obwohl ärgerlich über die Unverschämtheit des
Armen, verstand sich dazu, ihm zwölf Duros zu geben, womit der
Arme befriediget schien. Aber an der Thüre kehrte er um und meinte,
zwölf Duros seien noch immer zu wenig.
„So wirst du wohl nun für neun gehen müssen“, erwiederte der
Reiche, seinen Ärger bezwingend.
„Wie, Herr“, rief der Arme, „das ist wohl ein schlechter Spass;
wenn ich für zwölf nicht gehen will, bietet ihr mir nun neun! “
„Ei so lass es bleiben“, sagte der Reiche. Das machte den
Armen der sich trotzig entfernt hatte, mürbe; er kehrte um und
erbot sich nun für neun zu gehen.
„Aber jetzt geb’ ich nur mehr sechs“, entschied der Reiche fest,
aber gelassen.
„Ihr setzt Einem das Messer an die Kehle, für sechs gehe ich
nimmer“, schrie der Arme und entfernte sich abermals noch trotziger.
Aber kaum war er aus dem Hause, so fiel es ihm schwer auf's
Herz, wie gut ihm auch die sechs Duros thäteri. Er kam daher viel
demüthiger zum Reichen zurück und erbot sich, für sechs zu gehen.
„Du willst wohl sagen: drei; denn mehr gebe ich nun nicht“,
erwiederte der Reiche.
„Wie, drei!? damit bezahlt ihr ja die Schuhe nicht, die ich
dabei zerreisse. Gott befohlen, Herr, die elenden drei Duros mag
verdienen wer will!“ Und empört lief der Arme zum Hause hinaus.
Doch unterwegs kam er zur Besinnung und dachte, ich, der ich keinen
Cuarto mein nennen kann, muss auch den Verdienst von drei Duros
für ein unverhofftes Glück ansehen. Er kehrte daher eilig um zum
Reichen und rief zur Thüre hinein: er gehe schon für die drei Duros.
216
Wolf
„Von dreien ist keine Hede mehr; Einen gebe ich dir, das ist
mein letztes Wort“, sagte der Reiche.
„Nun, so sei es für den Einen! “ rief der Arme diesmal schnell
entschlossen, und lief, was er laufen konnte, damit der Reiche nicht
auch dieses Anbot zurücknehme.
Nur nach vielen Mühen und Beschwerden konnte der Arme
endlich den ihm so fremden Weg zum Palaste des Glückes finden.
Ganz geblendet von der Pracht desselben, pochte er an die goldenen
Pforten, und nur weil er im Namen des Reichen Einlass begehrte,
wurden sie ihm geöffnet.
Da trat ihm das Glück, ein üppiges, reich gekleidetes Weib,
entgegen und fragte, was er bei ihm wolle? Als er die ihm aufge
tragene Rotschaft des Reichen ausgerichtet, erwiederte das Glück:
„Sage dem Reichen, ich werde fortfahren, ihn mit meinen Gaben zu
überhäufen, so lange ich dazu gelaunt bin, er mag sie wollen oder
nicht. Du aber mache, dass du fortkommst, denn ein Armer verpestet
meinen Palast“. — Als der Arme nun flehentlich bat, das Glück möge
doch auch ihn einmal günstig anlächeln, wies ihn das stolze Weib an
seine Nachbarinn das Unglück, das in einer an der Rückseite des
Palastes angebauten, in Trümmer zerfallenden Hütte wohne, dahin
gehören Menschen wie er, auf welchen dessen Fluch laste.
Der Arme wollte die Urheberinn seines Geschickes doch auch
sehen. Er schlich sich in ihre Hütte und fand darin ein ausgehun
gertes, in Lumpen gehülltes Weib, das eben schlief. Da brach der
Arme in Verwünschungen aus, so dass das Weih darüber aufwachte
und ihn fragte, was er wolle.
„Dir deinen Fluch zurückgeben“, schrie der Arme.
„Gemach! “ erwiederte die Alte, „du hast ja so eben Einen Duro
gewonnen, und das wäre dir nicht gelungen, hätte mich der Schlaf
nicht zu frühe überfallen“! 1 )
D Diese Antwort des Unglücks kommt fast wörtlich vor in dem serbischen Märchen:
„Das Schicksal“ (Volksmärchen der Serben. Gesammelt und herausg'egeben von
Wuk S t e p h an o wi ts c h Ka ra d sch i ts ch. In’s Deutsche übersetzt von dessen
Tochter Wilhelmine. Berlin 1834. 12° Nr. 13, S. 106— 118), womit also das
spanische offenbar dieselbe echte Quelle gemein hat, wiewohl ihm die weitere Aus
führung des serbischen fehlt, und es überhaupt schon mehr im Tone der Allegorie
gehalten ist.
Beiträge zur spanischen Volkspoesie etc.
217
Nicht als Märchen, sondern als eine der wenigen Proben von
dem Portleben classischer Mythen und ihrer Umgestaltung im Volks
aberglauben will ich die Sage von der Sirena noch hersetzen, wie
sie unsere Verfasserinn (in den Relaciones. La Estrella de Van-
dalia etc., pag. 182) dem Volksmunde nacherzählt hat.
„Sirenita war ein sehr schamloses Mädchen, das an den
Meeresküsten sich aufhielt und durch sein hübsches Aussehen und
seinen Gesang die Seeleute in sich verliebt zu machen suchte, bis es
der eigene Vater verfluchte mit dem Wunsche, es möge in einen Fisch
verwandelt werden. Und das geschah auch, die untere Hälfte seines
Leibes wurde in Fischgestalt verwandelt. Nun schämte es sich und
flüchtete sich bis weit in die Mitte des Meeres; aber auch von hier
aus, wie früher an den Ufern, sucht es noch immer durch seinen
Gesang die Männer in’s Verderben zu verlocken. Daher heisst es
von ihm:
Die Sirene in dem Meere
Ist ein Weib fünvahr sehr reizend;
Weil der Vater sie verfluchte,
Gab sie Gott der Fluth zu eigen *).
Dieser Glaube an Wassergeister findet sich nicht blos in Anda
lusien, sondern auch in anderen Gegenden Spaniens. So theilt J. M.
Quadrado in den „Recuerdos y bellezas de Espaiia. Asturias y Leon“
(Madrid, 1856, 4., pag. 236—237) mit, dass in Asturien sich Wun
dersagen von der Schönheit und Macht der Xanas im Volksmunde
erhalten haben, einer Art kleiner Sylphiden (diminutas silfides), die
den Quellen entsteigen und an den Mondstrahlen ihre zarten Schleier
trocknen a ). Derselbe berichtet ebenda auch von Feuergeistern,
*) La Sirenita del mar
Es una pulida dama;
Por maldecirla su padre,
La tiene Pios en el agua.
2 ) Vgl. die über die Wassergeister und insbesondere die Sirenen unlängst erschienene
Monographie: LesSirenes. Essai sur les principaux mythes relatifs a l’incan-
tation, les enchanteurs, la musique magique, le chant du Cygne, etc. Par Georges
Kästner. Paris, 1858, in 4°. Mit vielen Abbildungen und Musikbeilagen.—
Bass übrigens die im spanischen Volksaberglauben vorgenommene realistische Meta
morphose des Sirenen - Mythus keine moderne sei, beweist folgende Stelle des dem
13. Jahrhundert angehörenden prosaischen „Tresor“ des bekannten Lehrers Dante’s,
Brunetto L atini:
Chapitre 132. „Bes seraines dist li auctors que il en i a de 3. manieres. mies
qui ont samblance de feines dou chief jusqnes auz cuisses, mais de la en aval ont
218
W o I f, Beiträge zur spanischen Volkspoesie etc.
Huestes oder Giiestes genannt die lautlos und langsam durch die
Schatten hinter einander herziehen (que callada y lentamente al tra-
ves de las sombras van desfilando) und für Vorboten des Todes
oder eines Unglücks gehalten werden.
semblance de poissons et avoent eles et ongles dont la premiere cliantoit merveillou-
sement de sa bonce, et l'autre de tleute et de chaleiuel, la tierce de citole. Et par lour
douc chans faisoient perir le neis qui parmi la mer aloent. inais selonc la veri-
teit les seraines furent III. ineretrix qui de voroient tous les
t r e spa s s a n s e les in e t o e u l eil p o u r e t e i t“ (Le Tresor d e P i e r r e de
C o r 1) i ac en vers prorenpaux, pulilie’ en entier avec une introduetion et des extraits
du Breviaire d'ainour de Matfre Errnengau de Beziers, de l’Iinage du monde de
Gautier de Metz et du T res o r deBrunetto Latiui, par le Dr. S ae hs. Bran
denburg, 18S9, in 4"., p. S).
1» rück p. Über die Aussprache der Aspiraten im Hindustani.
219
Über die Aussprache der Aspiraten im Hindustani.
Von dem w. M. Ernst Brücke.
Die abendländischen Grammatiker beschreiben die Aussprache
der Aspiraten im Hindustani ganz so wie die jetzige Brahminenaus-
sprache der Sanskritaspiraten. Es heisst einfach, man solle an die
entsprechenden tonlosen und tönenden Verschlusslaute (Tenues und
Mediae) ein h hängen. Bisweilen wird noch hinzugefügt, dasselbe
solle möglichst eng mit der Tenuis oder Media verbunden werden.
Dies lässt sich in Rücksicht auf die Tenuesaspiraten leicht ausführen.
Sie explodiren hei nicht tönender Stimmritze: sollen sie nicht
aspirirt werden, so verengt man diese sofort zum Tönen, damit so
gleich nach Durchbrechung des Mundhöhlenverschlusses der fol
gende Vocal anklingt; sollen sie aspirirt werden, so zögert man mit
dieser Verengerung, lässt die Luft einen Augenblick frei aus der
offenen Stimmritze herausstürzen und erhält dadurch das h, an das
sich nun, indem man die Stimmritze zum Tönen verengt, der nächst
folgende Vocal anschliesst. Anders verhält es sich mit den Medien
aspiraten l ). Die Medien werden hei zum Tönen verengter Stimm-
*) Über den physiologischen Unterschied zwischen Tenues und Mediae vergleiche
Kein pe len, Mechanismus der menschlichen Sprache und Beschreibung seiner
sprechenden Maschine. Wien 1791, 8°.
E. Brücke: Untersuchungen über die Lautbilduug und das natürliche System
der Sprachlaute. Sitzungsberichte der mathein.-naturw. Classe der kaiserlichen
Akademie. März 1849. — Grundzüge der Physiologie und Systematik der
Sprachlaute für Linguisten und Taubstummenlehrer. Wien bei Gerold 1856.
— Phonetische Bemerkungen. Zeitschrift für österreichische Gymnasien,
.lahrgang 1857, S. 756. — Nachschrift zu Professor Kudelka’s Abhand
lung etc. Sitzungsberichte der mathern.-naturw. Classe der kaiserl. Akademie,
Bd. XXVIII (1858), S. 63.
220
Brücke.
ritze gebildet, das li bei offener; beide lassen sich also nicht so
unmittelbar wie Tenuis und h an einander schweissen. Soll ein li
nach einer Media ausgesprochen werden, so existiren im Ganzen
drei mögliche Fälle.
1. Man lässt die Media tönend explodiren und bildet erst dann
das h, indem man die Stimmritze weit öffnet und die Luft hinaus-
stösst. In diesem Falle hängt sich an die Media ein kurzer unbe
stimmter Vocal, der sich mehr oder weniger deutlich hervortretend
zwischen sie und das h einschiebt, bha lautet fast wie be ha, dlia
fast wie de ha etc.
2. Man erweitert die Stimmritze schon unmittelbar vor der
Durchbrechung des Muudhöhlenversehlusses und macht dadurch
die Explosion tonlos. Dann explodirt der als Media, d. h. mit tönen
der Stimme angefangene Verschlusslaut nicht als solche, sondern
als die entsprechende Tenuis, mit der sich nun das h leicht ver
bindet. Man muss für diese Aussprache bha phonetisch schreiben
bpha, ebenso muss man dha schreiben dtlia etc.
3. Wenn die Durchbrechung des Mundhöhlen-Verschlusses
weder tönend gehört werden soll, noch auch tonlos, d. h. als
blosses Hervorbrechen der Luft (Tenuis explosiva), so bleibt als
drittes nichts anderes übrig, als dass sie gar nicht gehört werde;
also dass man den Mundhöhlenverschluss lautlos öffne. Da bei der
Media die Luft in der Mundhöhle nur unter einen schwachen Druck
gesetzt wird, so gelingt dies leicht. Man sistirt den Ton der Stimme
und öffnet den Mundhöhlenverschluss geräuschlos, indem man zu
dem Ende das Ausströmen der Luft aus der Stimmritze verhindert.
Man kann dies letztere durch eine blosse Discontinuität in der Ex
spirationsbewegung thun, sicherer aber und wohl in der Regel
geschieht es dadurch, dass man in dem Augenblicke, wo man den
Verschluss lösen will, den Kehlkopfausgang mittelst des Kehldeckels
und der Giesbeckenknorpel verschliesst '). Ist der Mundhöhlenver
schluss einmal gelöst, so kann man, indem man den Kehlkopf so
gleich wieder öffnet, nun das h frei herausstossen; aber man sieht
leicht ein, dass es nicht mit der Media verbunden ist, sondern dass
*) Über die Art und Weise, wie dies geschieht, vergleiche .1. Czerinak: Physio
logische Untersuchungen mit Gar cia’s Kehlkopfspiegel. Sitzungsberichte der math.-
naturw. Classe der kaiserl. Akademie. Bd. XXIX, S. 1)57.
r
s
Über die Aussprache der Aspiraten im Hindustani. 221
sieh zwischen beide die lautlose Eröffnung des Verschlusses als eine
wenn auch noch so kleine Pause einschiebt.
Welcher dieser drei Modi wird nun bei der Aussprache der
Medienaspiraten thatsächlich angewendet?
Wenn man die englischen Beispiele durchgeht, vermittelst
welcher Max Müller (Languages of the seat of the war in the east
London 18SS) die Aussprache der Medienaspiraten veranschaulicht,
so findet man, dass in ihnen allen der Übergang zum h durch Sylben-
trennung bewirkt wird. Sie sind: spring-head *), bridge-house,
land-holder, club-house.
Hierdurch könnte man veranlasst sein, ohne weiteres anzuneh
men, dass die Medien-Aspiraten des Sanskrit in der Brahminenaus-
sprache allgemein nach dem von mir unter Nr. 3 aufgestellten
Modus gebildet werden, und dass dies im Hindustani eben so der
Fall sei. In Rücksicht auf das letztere hat mich aber die Erfahrung
belehrt, dass diese Annahme unrichtig sein würde; indem hier ent
schieden auch der Bildungsmodus Nr. 2, niemals aber, wie es scheint,
der Bildungsmodus Nr. 1 vorkommt.
Im vorigen Spätherbste passirte Said Mohammed hier durch
Wien, ein Munschi von Calcutta, den die Gebrüder Schlagintweit
von ihrer Reise mitgebracht hatten und der nun in seine Heimat zu
rückkehrte. Ich hatte ihn schon kennen gelernt als er nach Berlin
ging, und war durch meinen geehrten Freund Herrn H. Schlagint
weit nun von seiner Durchreise benachrichtigt worden. Da er fertig
englisch sprach und sich fast zwei Tage lang hier aufhielt, so konnte
ich mich ausführlich mit ihm besprechen und ihm eine Reihe von
Fragen vorlegen, die er mit viel Intelligenz und sichtlich gutem
Willen mich zu belehren beantwortete. Er schrieb mir sogar eine
Reihe von Beispielen auf, in denen Tenues- oder Medienaspiraten im
An-, In- oder Auslaute Vorkommen, er übte mir die Aussprache der
selben ein und nachdem ich sie ihm zu seiner Zufriedenheit vorge
lesen hatte, transscribirte ich sie phonetisch durch ein Zeichensystem,
das auf den von mir in meinen Grundzügen der Physiologie und
*) Ich muss bemerken, dass dies Beispiel unglücklich gewählt ist, da das y darin
in der Aussprache nicht die Media y ist, sondern vielmehr das ny zusammen
ei n e n Laut bezeichnet, nämlich den Resonanten meiner dritten Reihe, gerade so
wie das ny in thiny, doiny etc. oder das n vor dem k im deutschen Worte
sinken.
a
222
B r ü c k e.
Systematik der Sprachlaute aufgestellten Grundsätzen basirt ist, und
das ich später veröffentlichen werde. So bin ich im Stande ge
nauere Auskunft über den Mechanismus zu geben, durch welchen
im Hindustani die Aspiraten hervorgebracht werden.
Die Tenuesaspiraten wurden so gebildet, wie es die Beschrei
bung der Grammatiker erwarten iiess. Hier war in der oben ge
schilderten Weise die Aspiration in Gestalt eines h mit der Tenuis
verbunden, das heisst die Tenuis explodirte bei weit offener Stimm
ritze , aus der man dann um das li zu bilden, den Hauch frei heraus
liess. Selbst im Auslaute ward dieser Hauch fast immer deutlich ge
hört und in der Palatalreihe folgte er auch in der Regel, ganz wie
es die Grammatiker beschrieben, dem sch der sogenannten Tenuis
tscii, von dem er sich durch Sylbentrennung scheinbar ablösen
konnte, z. B. in dem Worte das in seinen Sylben zerlegt
bitscli-ha-na *) lautete. In manchen Beispielen dieser Reihe war
jedoch das He unhörbar; so konnte liund l<p=>- einfach
v • v
bitschnu, kutsch und atscha transscribirt werden. Rücksichtlich der
Medienaspiraten muss ich näher auf die einzelnen Beispiele ein-
gehen.
i r das Wort wurde begonnen mit einem g, das man aber
nicht tönend explodiren liess, sondern nachdem der sogenannte Pur-
kyne’sche Blählaut (der Ton der während des Mundhöhlenver
schlusses tönenden Stimme) deutlich gehört war, wurde plötzlich
mit oder richtiger vor der Lösung des Mundhöhlenverschlusses die
Stimmritze weit geöffnet, so dass nun der tonlosen Explosion Ic das
h folgte, dann ein langes a und ein gewöhnliches tonloses s. Die
Aussprache müsste phonetisch transscribirt werden gkhas. Die
Medienaspirate war also nach dem zweiten der drei oben aufge
stellten Modi gebildet worden.
Eben so wurde 1)^4’ ausgesprochen gkliora. Das r darin gehört
der Cerebralreihe an.
V) Hier und in den folgenden Transscriptionen habe ich die Quantität der Vocale
nicht bezeichnet, weil die arabisch - persisch - indische Schrift darüber keinen
Zweifel aufkommen lässt. Die Buchstaben haben . wo nicht das Gegentheil ange
geben ist, denselben Lautwerth wie iin Deutschen.
Über die Aussprache der Aspiraten im Hindustani.
223
Hier wurde die Medienaspirate durch Sylbentrennung ge
bildet. Das Wort lautete in seinen Sylben zerlegt pig-häl-na.
Wh Hier wurde das He wie deutsch ch gesprochen und das
Wort lautete in seinen Sylben zerlegt pig-chla-na. Die Aspiration
war also hier repräsentirt durch das der Media entsprechende, d. h.
mit ihr derselben Articulationsstelle angehörende Reibungsgeräusch,
wie dies wahrscheinlich dei den Sanskritaspiraten ursprünglich all
gemein der Fall war 1 ). Hier erscheint dasselbe, obgleich ein tönen
der Consonant folgt, tonlos.
wurde das He dem g isolirt nachgehaucht. Man denke
sich man wolle das Wort Waghäusel aussprechen, breche aber
hinter dem h ab, so dass es nicht in einen Vocal übergeht, son
dern als blosser Hauch das Wort endigt. Man braucht dann nur
noch das w in b umzuändern und man hat genau die Aussprache des
Wortes ■> bngli. Man hat also hier den Bildungsmodus Nr. 3,
dem wir bis jetzt nur im Inlaute begegneten, auch im Auslaute.
Wir kommen nun zu Beispielen aus der Palatalreihe, in der
die sogenannte Media den Lautwerth des italienischen g vor e und i
hat, also nach der in meinen Grundzügen gebrauchten Bezeichnung
(l (zy)- Hieran soll sich nun bei der Aspiration ein h hängen und
dies wurde in der That in vielen Beispielen deutlich gehört, aber
regelmässig verlor dabei das Reibungsgeräusch den Ton, so dass
also (zy) in (s/;) meiner Bezeichnung, d. h. in deutsch sch ver
wandelt wurde. So lautete ridschhana, sadschhi.
Manchmal war aber auch das h nicht deutlich vernehmbar und die
Aspiration wurde nur durch die Tonlosigkeit des Reibungsgeräusches
markirt. Dabei explodirte dann auch der Verschlusslaut tonlos, so
dass von der Media d im Anlaute acustisch nichts übrig blieb als der
sogenannte Purkyne’sche Blählaut, der Ton, der während des Mund
höhlenverschlusses tönenden Stimme. So lautete dtschamel.
l ) Vergleiche R. v. Ra inner, Zeitschrift für österreichische Gymnasien. .1. 1838, Heft V,
S. 366 ff.
E. Brücke, Aspiraten des Griechischen und des Sanskrit, ebendaselbst Heft IX.
S. 689.
224
Brücke. Über die Aussprache der Aspiraten im Hindustani.
Wer dies nicht aussprechen kann, dem rathe ich zuerst statt dessen
ntschamel zu sprechen, und dann nichts zu verändern, als dass er
gleich im Anfang die Gaumenklappe schliesst und dadurch das
n in ein d verwandelt. Eben so musste tansscribirt werden
dtschagarna. In der Cerebralreihe war eins der lehrreichsten Bei
spiele über die Art und Weise wie die Aspiration auf den Verschluss-
w >
laut zurückwirkt, das Wort U>-X<. Dada Dal mit Teschdid versehen
ist, so hat es die erste Sylbe zu schliessen und die zweite zu be
ginnen, das heisst die Bildung des Verschlusses ist der letzte Act
der ersten, die Lösung desselben der erste Act der zweiten Sylbe.
Bei der Bildung des Verschlusses nun tönte die Stimme und man
hörte ein deutliches d, bei der Eröffnung schwieg sie und man
hörte ein ebenso deutliches t. Das Wort musste transscribirt wer
den buth-tlia, wobei zu bemerken ist, dass d und t am Gaumendach
zu bilden also das d‘ l und t 3 meiner Bezeichnung sind. Ebenso musste
ÜUo transscribirt werden dthalnu. Also auch hier zeigte es sich
wieder, dass die Medienaspirate im Anlaute nach dem von mir im
Eingänge unter Nr. 2 beschriebenen Modus gebildet wurde.
In der Dentalreihe zeigte sich dasselbe im Auslaute in dem
Beispiele das transscribirt'werden musste buth *). Im Inlaute
dagegen löste sich die Aspiration von der Media ab: U>j>! musste in
seine Sylben zerlegt transscribirt werden ad-ha, ebenso in der
Labialreihe ab-ld. Im Anlaute trat auch in der Labialreihe der
Bildungsmodus Nr. 2 wieder hervor: so in das fast wie
mphulna lautete in der That aber bphulna transscribirt werden
musste; denn die Gaumenklappe ward gleich anfangs geschlossen.
Diese Beispiele werden, wie ich hoffe, dazu dienen, eine ge
nauere Vorstellung von den Aspiraten des Hindustani zu geben, als
man sie aus den bisher existirenden Grammatiken schöpfen kann.
Hinzufügen muss ich noch, dass mir Herr Hermann Schlagintweit
sagte, hei manchen Stämmen im Innern sei die Aspiration viel
stärkerhörbar, so dass ihre Rede oft den Eindruck mache, als ob
sie ausser Athem seien.
M d und t der Dentalreihe entsprechen, wie Forbes richtig angibt, nicht uiiserm
d und t, sie sind wirklich dental, also rf 4 und < 4 meiner Bezeichnung.
Verzeichniss der eingegangenen Druckschriften.
225
VERZEICHNIS
DER
EIN GEGANGENEN DRUCKSCHRIFTEN.
(APRIL.)
Abhandlungen für die Kunde des Morgenlandes, herausgegeben
von der deutschen morgenländisclien Gesellschaft und redigirt
von Dr. H. Brockhaus. Band I, Nr. 5. Leipzig, 1859; 8°.
Academie des Sciences et lettres de Montpellier. Memoires de
la section des Sciences. Tome III, fase. 2, 3, 4.
— d’ Archeologie de Belgique. Tome XV, 3. Anvers, 1859; 8°.
Accademia delle scienze dell Istituto di Bologna. Rendiconto,
anno accademico 1855 e 1856—1857; — Memorie. Tomo VII,
1856; 4°.
— di scienze, lettere ed arti di Padova. Rivista periodica. Vol. VII,
p. 1. Padova, 1857; 4».
Akademie der Wissenschaften, kön. Preussische, Monats
berichte. Jänner, 1858; 4°.
Annalen der Chemie und Pliarmacie. Von F. Wohl er, J. Lie-
big und 11. Ko pp. Band CV, Heft 2, Februar.
— der k. k. Sternwarte in Wien, herausg. von K. von Littrow.
Dritte Folge, Band VII, Jahrgang 1857.
Annales des Mines. Tome XII, livr. 4. 1857; 8°.
Anzeiger für Kunde deutscher Vorzeit. Neue Folge, VI. Jahrgang,
Nr. 2. 1859; 4».
Archiv für die holländischen Beiträge zur Natur- und Heilkunde
von F. C. Donders. Band I, Heft 4. Utrecht, 1S57; 8°.
Austria, X. Jahrgang, Heft 13 —16. Wien; 8°.
Sitzb. d. phil.-hist. CI. XXXI. Bd. I. Hft.
15
9 9f) Verzeichnis^ der
Baer's, P. H., Diplomatische Geschichte der Abtei Eberbach im
Rheingau. Band II. Heft 2. Herausg. von Dr. K. Rössel. Wies
baden, 1858; 8°.
Bauzeitung, Allgemeine, red. von Prof. Förster. Jahrgang XXIII,
Heft 2 und 3 sammt Atlas.
Bonn, akademische Gelegenheitsschriften für 1858.
Cosmos, YII annee, vol. XII, livr. 13—16.
Fassei, Hirsch, B., Das mosaisch-rabbinische Gerichtsverfahren in
eivilrechtlichen Sachen. Gross-Kanischa, 1859; 8°.
Feifalik, Jul.. Die Kindheit Jesu, Gedicht des XII. Jahrhunderts.
Wien, 1859; 16».
Fritsche, Dr. 0. F., Katalog der Bibliothek der Cantonallehr-
anstalten in Zürich. Zürich, 1859; 8°.
Gazette medicale d'Orient, I, Nr. 12, und II, Nr. 1. Constantinople,
1859; 4».
Gesellschaft, k. k. Landwirthschaftliche, in Wien. Verhand
lungen; Nr. 6.
— physikalische, in Berlin. Die Fortschritte der Physik im Jahre
1855. XI. Jahrgang, I. Abtheilung. Berlin, 1855; 8».
— physikalisch-medizinische in Würzburg. Verhandlungen,
Band VII). Würzburg, 1858; 8».
Istituto, I. R. Lombardo. Atti. Vol. I, fase. 4, 5. — Memorie,
vol. VII, fase. 3.
— I. R. Veneto. Atti, Tomo III, serie III, disp. 2. 3. und T. IV,
disp. 4.
Jahrbuch, Neues, für Pharmacie und verwandte Fächer von Walz
und Winkler. Band VIII, Heft 6; Band IV, Heft 2. Speier,
1857 und 1858; 8».
Kerkhove-Varent. I. R. L. de, Notes d’un voyage fait en Espagne.
Anvers, 1859; 8°.
Lotos, VIII. Jahrgang. Jänner, Februar und März 1858.
Medizinische Wochenschrift, Wiener. Nr. 13—17.
Mittheilungen der k. k. Central - Commission zur Erforschung
und Erhaltung der ßaudenkmale. IV. Jahrgang, April. Wien,
1859; 4».
Mittheilungen aus Justus Perthes geographischem Institute, red.
von Dr. A. Petermann, 1859, III; 4°.
M. S., Romanische Dichtungen. Hermannstadt, 1851 ; 8°.
eingegnngenen Druckschriften. 227
National-Museum, Germanisches. Fünfter Jahresbericht vom
1. Jänner I»is 31. December 1858. Nürnberg, 1859; 4°.
Pamätky archaeologicke a mistopisne od K. V. Zapa v. Praze,
1859; 4".
Pollichia, Fünfzehnter Jahresbericht, mit einer Tafel, von Th.
Giimbel. London, 1857; 8°.
Report of the Commissioner of Patents for the year 1855. Me-
chanics. Vol. II. Washington, 1856; 8°.
— first annual, of the Central-Park, New-York. January, Nr. 1.
1857; 8«.
— annual, of the Council and Officers, with Appendix for the
year 1857. New-York, 1858; 8».
Rep orts of explorations and surveys to ascertainthemost practicable
and economical route for a Railroad from the Mississippi river
to the paeific Ocean. Vol. IV. Washington, 1855; 4°.
Rycoy Sinobas, Observaciones actinometricas verificadas en Madrid
con motivo del Eclipse de sol de Marzo de 1858. Madrid,
1858; 4°.
Saussure, H. de, Lettre. Voyage au Mexique. Decouverte d’un
ancien volcan. Paris, 1857; 8°.
Schönhuth, F. H., Chronik der vormaligen Deutsch-Ordensstadt
Mergentheim. 1857; 12°.— Wolfram von Nellenberg, Meister
Deutsch-Ordens in deutschen und wälschen Landen, erster
Stifter des Hospitals zum heil. Geiste zu Mergentheim. 1859; 8°.
Societe geologique de France. Deuxieme serie. Tome XIV, feuilles
33—38, 1857; 8«.
— philomatique de Paris, annee 1857; 8°.
— des Antiquaires de Picardie. Documents inedits concernant la
province, Tome III. Amiens, 1856; 4°. — Memoires, T. XV,
XVI. Paris et Amiens 1856; 4°. — Rulletins, T. V, 1853—55;
T. VI, 1856—58. Paris et Amiens, 1859; 8«. — Proces ver
bal des assises archeologiques tenues ä Noyon, 1856. Amiens,
1856; 8°.
Society ofRengal. Journal. Nr. XCIII. Calcutta, 1858; 8°.
Verein für Hamburgische Geschichte. Zeitschrift. Neue Folge,
Rand I, Heft 4. Hamburg, 1858; 8°.
Vierteljahrschrift für wissenschaftliche Veterinärkunde, Rand X,
Heft 2.
/*.'
228 Verzeichniss der eingegangenen Druckschriften.
Wolf, Dr. Rud., Mittheilungen über die Sonnenflecken.
Württenibergisches Urkundenbuch, Band II. Stuttgart, 1838; 4°.
Zeitschrift für die gesammtenNaturwissenschaften, herausgegeben
von C. Giebel und W. Haentz. Jahrgang 1857; 8°.
— des österr. Ingenieur-Vereines. X. Jahrgang, Heft 3; 1858.
SITZUNGSBERICHTE
KAISERLICHEN AKADEMIE DERWISSENSCHAFTEN.
PHILOSOPHISCH-HISTORISCHE CLASSE.
XXXI. BAND. II. HEFT.
JAHRGANG 1859. — MAI.
16
231
SITZUNG VOM 11. MAI 1859.
Gelesen:
Bericht über die Thätigkeit der historischen Commission
während des akademischen Jahres 1857 auf 1858.
Von dem Ref. Hrn. Th. t. Karajan.
Meine Herren!
Dos Ergebniss der Thätigkeit der historischen Commission inner
halb gewisser Zeitgrenzen, gewöhnlich eines Jahres, darf nicht blos
nach der Anzahl der erschienenen Bände beurtheilt werden; denn
eben dieses Erscheinen ist theilweise an Bedingungen gefesselt, die
durch die Thätigkeit der Commission allein nicht beseitigt werden
können.
So waren es im eben zu besprechenden akademischen Jahre
1837 auf 1838 mehrere Gründe, welche auf die Zahl der veröffent
lichten Bände ungünstig einwirkten, ohne dass Ihre Commission dess-
halb auch nur die geringste Schuld trifft. Erstens die Überbürdung
der Staatsdruckerei mit dringenden Arbeiten, dann das spärlichere
Einlangen zur Veröffentlichung völlig tauglichen Stoffes; endlich die
lange Kränklichkeit des bisherigen Herausgebers der Monumenta
habsburgica. Keinen dieser Gründe wird man der Commission in die
Schuhe schieben können, welche bis zur Stunde Stoff zur Veröffent
lichung vorbereitet hält, wenn auch nicht gerade solchen der für
jede der in Angriff genommenen Reihen der Veröffentlichungen sich
eignet. So gehen z. B. diesmal die „Monumenta habsburgica“ ganz
leer aus und die Reihe der Fontes weist nur einen Band als vollendet
auf, während ein zweiter begonnen, aber wegen neu aufgetauchten
bis dahin unbenutzten Materiales wiederzurückgezogenwerdenmusste.
232
v. K a v a j a n
Es sind also im Ganzen vier Bände erschienen, von denen einer
der Reihe der „Fontes“, zwei jener des „Archives“, endlicli einer
der des „Notizenblattes“ angehört.
Der Stoff den sie enthalten, ist von der Art, dass er fast alle
Theile des ausgedehnten Reiches betrifft, somit seinem beabsichtigten
Zwecke möglichst nahe kommt. Die wissenschaftliche Durchordnung
desselben soll hiefiir den Beweis liefern.
Das Kronland
Österreich unter der Enns
erscheint mit acht verschiedenen Arbeiten und Stofflieferungen
bedacht.
Als bisher ungedruckte Beiträge zur Geschichte der Landtage
und der Türkenhilfe, somit auch der Kriegsgeschichte des
Landes in den Jahren 1527 — 1532 lieferte Albert Cainesina aus
den Originalen des Wiener Stadtarchives zwei und dreissig Stücke,
theils Patente K. Ferdinand’s I., Verordnungen städtische und ständi
sche, bezüglich der Stellung von Kriegsvolk, bisher unbekannte
Landtags-Verhandlungen und Ähnliches enthaltend. Sie stehen in
folgenden Nummerndes „Notizenblattes“ für 1858in:Nr.8, auf Seite
148—152; 9, 169—173; 10, 186—192; 11, 209—212; 12,
228—232; 13, 249—252; 14, 266—272; 15, 288—293; 16,
308—312; 17, 329—332; 18, 348—352, endlich 19, 369 bis
374. Zugleich sind sie Fortsetzung ähnlicher Mittheilungen im
Notizenblatte für 1856, Nr. 14.
Über die Besitz Verhältnisse und Ortsbeschreibung des
Landes Österreichs unter der Enns während des fünfzehnten Jahr
hunderts gibt verlässliche Auskunft das durch weil. Jos. Chmel aus
einer gleichzeitigen Papierhandschrift des k. k. Haus-, Hof- und
Staats-Archives herausgegebene „Lehenbuch Herzog Albrecht’s V.
von Österreich“. Geliefert sind 58 verschiedene Nachweisungen im
Notizenblatte 1858, Nr. 20, S. 393—400; 21, 417—424; 22,
441—448; 23, 466—472, endlich 24, 490—496. Das Ganze
bildet ausserdem eine Fortsetzung des ebenfalls durch Chmel im
Notizenblatte für 1854 auszugsweise mitgetheilten Lehenbuches des
Königs Ladislaus Posthumus.
Beiträge zur Rechtsgeschichte und Ortsbeschreibung
des Landes bilden folgende durch Karl Oberleitner aus den Originalen
Bericht des Referenten der historischen Commission etc.
233
des k. k. Finanz-Archives veröffentlichte Stücke: „Ein Pantaiding
oder Holdengericht zu Pottenstein vom Jahre 1631“; „Auszüge aus
dem Urbar von Stixenstein 1574“, endlich eine „Ordnung des Berg-
teidings zu Krottendorf 1527“. Sie stehen im Notizenblatte 1858
auf den Seiten 245 — 248.
Für die Finanzgeschichte und genauer noch zu sprechen
für jene der herzoglichen Gefälle theilte derselbe Gelehrte eine
Untersuchung mit im Notizenblatte für 1858, Nr. 2 auf den Seiten 21
bis 25 unter der Überschrift: „Das Lärenpecheramt in Wien“. Die
sem Amte war nämlich die Wahrung des herzoglichen Vorkaufs
rechtes übertragen auf alle mittelst der Donau in Wien anlangende
Schiffe, die hier veräussert werden sollten. Die Nachweisungen
beginnen mit Albrecht II. und reichen bis Rudolf II., also vom 14. bis
in’s 16. Jahrhundert.
Die Geschichte der geistlichen Körperschaften des
Landes hat durch die im achtzehnten Bande der zweiten Abtheilung
der Fontes endlich an's Licht tretende „Sammlung der älteren Ur
kunden der Benedictiner-Abtei unserer lieben Frau bei den Schotten“
in Gemeinschaft mit dem wirklichen Mifgliede Andreas von Meiller
herausgegeben durch das Mitglied dieses Stiftes Dr. Ernst Hauswirth
eine willkommene Bereicherung erhalten. Es umfasst dieses Urkun
denbuch nicht weniger als 453 Stücke aus den Jahren 1158 bis
1418 und bildet mit jenem der beiden Stifter Göttweig und Heiligen
kreuz eine Zierde unserer Fontes, da vor ihnen über diese uralten
Stiftungen des Landes Verlässliches nicht erschienen war.
Die Gründungsgeschichte einer anderen geistlichen Körper
schaft des Landes betreffen die durchP. Theodor Mayer, Bibliothekar
zu Melk , im Archive Bd. XXI, 2, auf S. 351 — 375 gelieferten:
„Einige Bemerkungen über die Familie der Stifter von Seitenstätten“.
Der Verfasser weist darin nach, dass das Geschlecht derselben das
von „Stille und Heft“ an der nordöstlichen Abdachung des Haus
rucks und später im zwölften Jahrhunderte an der Uri und Ibs, also
ein damals dem Lande Österreich unter der Enns angehöriges war,
während andere, namentlich bairische Forscher es auf den Grafen
Udalschalk, Advocaten Freisings , und die sächsischen Grafen von
Querfurt und Seeburg zurückführen wollen.
Wie das oben erwähnte Urkundenhuch des Schottenklosters
zugleich auch für die Geschichte und Ortsbeschreibung
234
v. K a r a j a n
der Reichshauptstadt Wien von grosser Bedeutung ist, so
gilt auch Gleiches von einer kleinen Mittheilung Camesina’s im
Notizenblatte Nr. 16 auf S. 312, die zugleich auch für die Geschichte
einer geistlichen Körperschaft des Landes Beachtung verdient, ich meine
die Mittheilung „einer die Klöster S. Maria Magdalena und S. Niclas“
betreffende Verordnung vom 18. September 1531. Ihr Original liegt
im Stadt-Archive.
Mehr noch als dieser Beitrag betrifft die Geschichte Wiens im
weiteren Sinne eine Mittheilung J. Zahn’s mit der Überschrift: „Die
Ausweisung der lutherischen Prediger aus Wien 1578“. Sie ist der
Sammlung des Metropolitan-Capitels zu München und zwar einem
unter dem Titel „Frisingensia“ bekannten Urkundenwerke Hecken-
staller’s entnommen und steht im Notizenblatte Nr. 18 auf S. 359
bis 360; 19, 374—376; 20, 389—393 und 21, 409—411.
Das ganze
Erzherzogthum Österreich
und zwar dessen Rechtsgeschichte und Topographie be
treffen die durch Karl Oberleitner im Notizenblatte Nr. 13 auf den
Seiten 245 — 249 gelieferten: „Beiträge zur Rechtsgeschichte und
Topographie von Österreich“ aus den Originalen des k. k. Finanz-
Ministerial-Archives. Dieselben enthalten unter Anderem ein „Ver
zeichniss über die im k. k. Finanz-Archive vorhandenen Urbarien von
Österreich unter und oh der Enns“.
Salzburg.
Zur ältesten Landesgeschichte ist eine Arbeit des cor-
respondirenden Mitgliedes Joseph Gaisberger’s aufzuführen mit der
Überschrift: „Die Gräber zu Hallstatt im österreichischen Salzkam
mergute“, eine Zusammenstellung und Würdigung des bisher über
diese Gräber Gesagten. Sie steht im Notizenblatte Nr. 17 auf S. 324
bis 328 und Nr. 19, 364 — 369.
Kärnten,
und zwar die Geschichte der geistlichen Körperschaften
des Landes betrifft eine Mittheilung des wirkl. Mitgliedes Freih. von
Ankershofen unter der Überschrift: „Zur Kunde kärntnerischer
Geschichtsquellen“. Sie bringt „Notizen aus dem Copialbuche der
Prämonstratenser Propstei Griffen in Unterkärnten“ und zwar 183
Bericht, des Referenten der historischen Commission etc. £35
kurze Nachweisungen aus den Jahren 1262 — 1542. Sie stellen im
Notizenblatte Nr. 14 auf S. 260—265 und 16, 302 — 307.
K r a i n,
Zur Erläuterung der Geschichte der Türken-Einfälle in dieses
Land, also zur K r i e g s g e s c h i ch t e desselben dienlich ist ein „Bericht
Pflegers von Lack Balthasar Sigestorffer an Christoph Philipp von
Freising 1528“. Er ist entnommen dem oben erwähnten handschrift
lichen Werke Heckenstaller’s im Metropolitan-Capitel Münchens und
mitgetheilt durch J. Zahn im Notizenblatte Nr. 18, S. 355 — 359.
F r i a u 1
hat in Bezug auf die Kenntniss des geschichtlichen Stof
fes dieses Landes, und zwar über die Zeit des dreizehnten Jahrhun
derts eine nainhafteBereicherung erhalten durch eine umfangreichere
Arbeit des P. Giuseppe Bianchi: „Documenta historiae Forojulien-
sis Saeculi XIII ab anno 1200 ad 1290 summatim regesta“. Sie
umfasst im Archive Bd. XXI, 1, S. 167 — 221 die Jahre 1200 bis
1246 mit 154 Urkunden und ebenda XXI, 2, auf den Seiten 377
bis 406 die Jahre 1247 — 1266 und 146 Urkunden. Diese ver
dienstliche Arbeit soll in den folgenden Heften des Archives fort
gesetzt werden.
Venedig.
In Bezug auf die Kirchengeschichte dieses Kronlandes
und namentlich jene seines uralten Patriarchat-Sitzes Aquileja sind
drei Arbeiten geliefert worden. Zwei derselben beschäftigen sicli
mit der Aufzählung geschichtlichen Stoffes, eine dritte mit Verarbei
tung desselben. Es sind folgende:
Von dem fleissigen Forscher Giuseppe Bianchi, veröffentlicht
durch das wirk!. Mitglied Freiherrn von Ankershofen, eineZusammen-
stellung: „Nonnulla Documenta quae ad partis transalpinae pa-
triarchatus Aquilejensis historiam referuntur“, d. i. ein Verzeich
niss von Urkunden, im Ganzen 144 Stücke, aus den Jahren 1255 bis
1350, welche sich zerstreut im Lande befinden. Eine Abschrift der
selben liegt zu Gräz in den Sammlungen des steiermärkischen
Geschichts-Vereines. Das Verzeichniss steht im Notizenblatte in
Nr. 18 auf den Seiten 342 — 347.
236
v. Karajan
Derselbe Forscher lieferte auch: „Nonnulla Documenta, quae
ad historiam referuntur quorundam ecclesiarum in remotis parti-
bus existentium et ad Aquilejcnsem Diocesim olim spectantium“.
Ein Abdruck von 42 Urkunden des Jahres 1221 — 1367, gezogen
aus den Kanzleibüchern des Patriarchates und mitgetheilt im Notizen
blatte Nr. 21 auf S. 402 — 409; 22, 430 — 435; 23, 456 — 463
und 24, 484—489.
Der dritte Beitrag endlich zur Geschichte dieses Patriarchates
führt die Überschrift: „Udalrich II. von Aquileja und Otto von Rei
tenbuch. XII. Jahrhundert“. Von Hermann Fechner. Es ist dies eine
Zusammenstellung der noch erhaltenen Spuren der Thätigkeit dieses
Patriarchen zum Schutze der Rechte der Kirche gegen die Angriffe
des Hohenstaufers Friedrich’s I. Sie steht im Archive XXI, 2, auf den
Seiten 203—349.
Für die Geschichte des Nachbarlandes, nämlich der
b o m b a r (1 i e
sind 33 Briefe aufzuführen aus den Jahren 1513 — 1526, welche
die Schicksale des ausgehenden Regentenhauses der Herzoge
von Mailand beleuchten. Sie sind unter dem Titel: „Mittheilungen
aus der diplomatischen Correspondenz der letzten Herzoge von Mai
land. Aus den Originalen im Archive von S. Fedele zu Mailand“ ver
öffentlicht durch Professor Joseph Müller in Pavia und zwar im
Notizenblatte Nr. 2aufS. 25—28; 3, 45—50; 4, 61—65; 5, 84
bis89; 6, 103—112; 7, 125—131; 8, 144—148; 9, 164—168;
10, 181—186; 11, 204—209 und 12, 221—227.
B ö h in c n.
Nur die Adelsgeschichte des Landes zugleich mit jener
des Ausbruches der Unruhen am Anfänge des dreissigjährigen Krie
ges hat diesmal eine Bereicherung erlangt, durch den vollständigen
„Abdruck, des Hochverraths-Processes des Wenzel von Khünitz und
Pettau, 1616“. Auch dieses höchst anziehende Actenstück ist der
Sammlung Heckenstallcr’s zu München entnommen, von welcher ich
oben wiederholt gesprochen habe. Es steht durch J. Zahn veröffent
licht im Notizenblatte Nr. 21 auf den Seiten 411 — 417.
Bericht des Referenten der historischen Commission etc.
237
Ungern.
Der erste für die Geschichte des Regentenhauses dieses
Kronlandes gelieferte Beitrag Dr. Ernst Strehlke’s reicht in ziemlich
frühe Zeit hinauf. Dieser hat nämlich aus einer Heidelberger Perga
menthandschrift des zwölften Jahrhunderts den Brief des Abtes Berno
von Reichenau an den König der Deutschen Heinrich III., verfasst
1044oderl04ü, zum ersten Male verlässlich und vollständig heraus
gegeben , dessen Hauptinteresse in den Nachrichten liegt über die
Wiedereinsetzung des Königs Peter von Ungern, eines Neffen Königs
Stephan des Heiligen, und über die Schlacht an der Raab im Jahre
1044. Berno war nämlich Zeitgenosse dieser Ereignisse und von
1008 — 1048 Abt zu Reichenau. Der Brief steht im Archive Bd. XX,
1, S. 189—206.
Ein zweiter Beifrag und zwar hauptsächlich zur Kriegs
geschichte ist der Briefwechsel des Hans Ungnad Freiherrn zu
Sonneck mit dem Herzoge Albrecht von Preussen, aus den Originalen
des Königsberger Archives herausgegeben von Johannes Voigt. Im
Archive XX, 2, S. 207 — 278. Es sind im Ganzen 24 Stücke und
aus den Jahren 1543 — 1564. Ausser dem Interesse, das ihnen in
Bezug auf die kriegerischen Vorgänge in Ungern während dieser
Zeit die Beistellung und Bewegung des Kriegsvolkes, die Wahl der
Führer u.s. w. zukömmt, ist es noch eine zweite Seite ihres Inhaltes,
welche nach ganz anderer Richtung hin diesem Briefwechsel Werth
verleiht. Ungnad war nämlich der Hauptbeförderer der Reformation
in den südslavischen Provinzen Österreichs, und in seinen Briefen
begegnet namentlich vieles über den Druck der heiligen Schrift und
anderer religiöser Bücher in windischer, croatischer und cyrillischer
Schrift; wie auch manche derselben den bekannten Prediger und
Pfarrherrn Primus Trüber betreffen.
Auch das Nachbarland
Siebenbürgen
ist in Beziehung aufseine Literargeschichte nicht ganz leer
ausgegangen. Johann Karl Schüller lieferte nämlich folgende Lebens
geschichte: „Georg Reicherstorffer und seine Zeit. Ein Beitrag
zur Geschichte Siebenbürgens in den Jahren 1527— 1536“ und
238
v. Karn j a n
zwar im Archive Bd. XXI, 2, S. 223 — 291. Die hier gelieferten
Nachweise sind theils dem durch Aretin in seinen Beiträgen aus der
Münchner Hofbibliothek gedruckten Gesandfschafts-Berichte Rei-
cherstorfer's selbst, theils aus anderen Schriften desselben, haupt
sächlich aber aus den Schätzen des k. k. geh. Haus-, Hof- und Staats-
Archives zu Wien entnommen und grösstentheils völlig neu.
Zur Geschichte der
Monarchie
wie mehrerer Kronländer zugleich ist eine ganze Beihe von Arbeiten
aufzuführen.
In Bezug auf die älteste Landesgeschichte zur Zeit der
Römerherrschaft vor Allem die Abhandlung F. Kenners: „Die antiken
Thonlampendes k. k. Münz- und Antiken-Cabinets und der Ambraser-
Sammlung“ schon der Fundorte wegen, welche sich auf viele Kron
länder der Monarchie ausdehnen. So finden sich in dieser reichen
Sammlung, welche sowohl in Bezug auf Culturgeschichte als jene
der Industrie und des Handwerkes nicht ohne Bedeutung ist, Erzeug
nisse des Töpferhandwerkes aus Dalmatien, Österreich unter der
Enns, Ungern, Steiermark u. s. f. Sie steht im Archive Bd. XX, I,
Seite 1 — 126.
Zur Geschichte des Regenten haus es sind hier drei For
schungen aufzuzählen. Vor Allem eineMittheilungKarlöberleitner’s im
Notizenblatte Nr. 15 auf S.286—288, nämlich „König Ferdinand’s I.
Instruction an Max Treitzsauerwein wegen Fortsetzung der Heraus
gabe des Weisskunigs, Theuerdanks, der Ehrenpforten, der Genea
logie des Kaiserhauses und der Schriften des Stabius“, und zwar aus
dem Originale des k. k. Finanz-Archives. Die Instruction ist am
1. März 1528 aus Augsburg erlassen.
Eine Reihe von zwanzig „Briefen des Kaisers Ferdinand III. an
Seifried Christoph Breuner. Aus dem Archive zu Aspern an der
Zaya mitgetheilt durch das wirkl. Mitglied weil. Jos. Chmel“ steht im
Notizenblatte Nr. 2, S. 28—32; 3, 50—53 und 4, 66—72. Sie
rühren aus den Jahren 1637 — 1654 her und bilden gewissermas-
sen eine Fortsetzung der durch Adalbert Böhm im Notizenblatte für
1851 auf den Seiten 156 bis 158 aus demselben Archive gelieferten
sechs BriefeKaiser Ferdinand’s II. aus dem Jahre 1621, gleichfalls an
Seifried Christoph Breuner gerichtet.
Bericht des Referenten der historischen Commission etc.
239
Über die Person und Regierung Kaiser Leopold’s I. endlich ver
breitet sich der geheime Gesandtschafts-Bericht Giovanni Sagredo’s
an die Signorie der Republik Venedigs vom Jahre 1665, welchen
Prof. Adam Wolf in seiner Sammlung: Drei Relationen aus der Zeit
Kaiser Leopold’s I. im Archive XX, 2, S. 279 — 320 nieder
gelegt hat.
Die Besitzverhältnisse mehrerer Kronländer, na
mentlich jene geistlicher Würdenträger in Salzburg, Steiermark,
Österreich ob der Enns u. s. f. erläutern folgende Arbeiten. Erstens
das durch J. Chmel mitgetheilte bischöflich Chiemseeische Urbar
aus den Jahren i486 — 1496 im Notizenhlatte Nr. 1, S. 12—16:
2, 33—40; 3, 53—56; 4, 73—80; 5, 90—96; 6, 113—120;
7, 132—136; 8, 153—160; 9, 173—176; 10, 193—200; 11,
213—216 und 12, 233—240. Es ist zugleich Fortsetzung früherer
Mittheilungen im Notizenhlatte des Jahres 1857, Nr. 20, S. 364 bis
368 und 24, 380—384.
Ferner jene Steiermarks, Kärntens, Krains, kurz Inner-Öster
reichs die schon oben erwähnten beiden Arbeiten Giuseppe Bianchi’s,
nämlich: „NonnullaDocumenta, quae ad liistoriam referuntur qua-
rundam ecclesiarum ad Aquilejensem Diocesim spectantium etc.“
im Notizenhlatte Nr. 21, S. 402—409; 22, 430—435; 23, 456
bis 463 ; endlich 24, 484-—489. So wie desselben Gelehrten „Non
nulla Documenta, quae ad partes transalpinae patriarchatus
Aquilejensis liistoriam referuntur“; d. i. ein Verzeichniss von
144 Urkunden der Jahre 1255 — 1350 abschriftlich im Archive
des Geschichtsvereines zu Gräz, gedruckt im Notizenblafte Nr. 18
auf Seite 342 — 347.
Hier sind auch einzureihen die oben erwähnten, auch die kirch
liche Bewegung in den innerösterreichischen Ländern betreffenden
Briefe Hans Ungnad Freiherrn von Sonneck aus der zweiten Hälfte
des sechzehnten Jahrhunderts, mitgetheilt durch Johannes Voigt aus
dem Königsberger Archive in unserem Archive Bd. XX, 2, S. 207
bis 278.
Kirchliche Zustände früherer Zeit, namentlich des zwölf
ten Jahrhunderts betrifft: „Des Propstes Gerhoh von Reichersberg
Abhandlung De investigatione Antichristi“ aus dem Jahre 1161. In
ihr findet sich eine lehrreiche Schilderung der Gebrechen sowohl
wie der Bedrängnisse der Kirche mit seltenem Freimuthe und klarer
240
v. Karajan
Sachkenntnis geschrieben. Herausgegeben von dem wirkl. Mitgliede
Jodok Stütz aus einer Reichersberger Handschrift des dreizehnten
Jahrhunderts, im Archive XX, 2, S. 127 — 188. Die Abhandlung ist
übrigens dem berühmten Erzbischöfe Salzburgs Eberhard I. gewidmet.
Einen Theil der Ein anz geschichte des Kaiserstaates be
leuchtet der Aufsatz H. J. Bidermann’s: „Die Wiener Stadtbank,
ihre Entstehung, ihre Eintheilung und Wirksamkeit, ihre Schicksale“
im Archive XX, 2, S. 341 — 445. Grösstentheils aus amtlichen
Quellen geschöpft, bringt diese Arbeit in den Anmerkungen zudem
eine grosse Anzahl von Nachweisungen über finanzielle Verhältnisse
aus gedruckten und ungedruckten Werken.
Zur Sittengeschichte im Allgemeinen gehört eine lange
und eingehende Abhandlung des corr. Mitgl. Georg Zappert: „Über
das Badewesen mittelalterlicher und späterer Zeit“. In derselben
werden die Verhältnisse österreichischer Badeorte und die Bestim
mungen der Badepolizei dieser Gegenden ganz besonders berück
sichtigt und vieles Ungedruckte als Beleg beigebracht. Sie findet sich
im Archive Bd. XXI, 1, S. 1 — 166.
Auch die Gelehrtengeschichte hat eine kleine aber an
ziehende Bereicherung erhalten durch Karl Oberleitner’s „Beiträge
zur Biographie des kaiserlichen Historiographen und Bibliothekars
Peter v. Lambeek“ aus dem Originale des k. k. Finanz-Archives,
mitgetheilt im Notizenblatte Nr. 20 auf S. 382 — 388.
Die äusseren Verhältnisse der Monarchie endlich betref
fen zwei der oben schon erwähnten „Drei Relationen aus der Zeit
Leopold’s I.“, welche Prof. Adam Wolf im Archive Bd. XX, 2, her
ausgegeben hat. Die eine, mit Einleitung auf den Seiten 284 — 289,
dann 320 und 321 abgedruckt, enthält einen „Bericht Walters Grafen
von Leslie über seine Sendung an den türkischen Hof in den Jahren
1665 und 1666“, namentlich über die ottomanische Kriegsmacht;
die zweite, auf den Seiten 289 — 304 und 331 — 340 veröffent
licht, die „Relation des kaiserlichen Residenten in Rom Freiherrn
Johann von Plittersdorf, 1669“; und zwar hauptsächlich darüber,
warum Fürst Auersperg, seit dem Tode des Fürsten Portia, Präsident
des geheimen Rathes, seiner Stelle entsetzt worden sei.
Ein „Gutachten“ endlich eines bairischen Staatsmannes über
ßaierns Politik hinsichtlich des erwarteten spanischen Thronwechsels,
1698, im Notizenblatte Nr, 22 auf S. 436 — 441 und 23, 463—465
Bericht des Referenten der historischen Commission etc. 241
abgedruckt, verbreitet sich über die Verhältnisse Österreichs zu
seinen Mitbewerbern um die fragliche Erbschaft.
B 11 i c r n
ist auch sonst noch zweimal in den Veröffentlichungen des abgelau
fenen Jahres betroffen. Einmal in Bezug auf die Beziehungen des
Bisthums Chiemsee durch das von J. Cbmel herausgegebene bischöf
liche Chiemseeische Urbar aus den Jahren 1486 — 1496 im Noti-
zenblatte für 1868, Nr. 1, S. 12—16; 2, 33—40; 3, 33—56;
4, 73 — 80; 3, 90—96; 6, 113 — 120; 7, 132—136; 8, 153 bis
160; 9, 173 — 176; 10, 193—200; 11, 213—216 und 12, 233
bis 240. Aber auch schon früher in Nr. 23 und 24 des Notizen
blattes für 1857.
Das zweite Mal endlieh in Heckenstaller’s „Frisingensia“ mitge-
theilt durch J. Zahn aus der Handschrift des Münchener Metropolitan-
Capitels im Notizenblatte Nr. 13, S. 253—256; 14. 273—280;
15, 293—296; 16, 313—320; 17, 333—336; 18, 333—360;
19,374—376; 20, 389—393; 21, 409—417; 22, 436—441;
23, 463—465.
Aus dem eben vollendeten Berichte ist so viel mit Sicherheit zu
entnehmen, dass wenn auch durch äussere Gründe veranlasst, der
Umfang der Veröffentlichungen des letzten Jahres hinter dem des
vorausgegangenen zurückgeblieben, der Inhalt des der Wissenschaft
zugeführten Stoffes ein allem Vorangegangenen ebenbürtiger zu
nennen sei.
242 v. Karajan, Bericht d, Referenten d. historischen Commission etc.
Bericht über die Thätigkeit der Commission zur Herausgabe
der Acta Conciliorum Saeculi XV. während des akademischen
Jahres I8Ö7 auf 18H8.
(Erstattet in der Classen-Sitzung- vom 11. Mai 1859.)
Von dem Ref. Hrn. Th. v. Karajan.
Meine H e r r e n!
Bei den nicht bedeutenden Geldmitteln der Concilien-Commis-
sion musste sich die Thätigkeit derselben während des abgelaufenen
akademischen Jahres auf die möglichste Förderung der Vorarbeiten
für den zweiten Band der Veröffentlichungen derselben beschränken.
Diese schritten jedoch langsamer vorwärts als es die Absicht der
Commission sein konnte. Denn für die Anfertigung einer verlässlichen
Abschrift des aus zwei mächtigen Folianten bestehenden Werkes des
Johannes de Segovia, war trotz mehrfachen Bemühungen kein voll
kommen entsprechender Arbeiter zu finden. Als sich endlich doch
einer fand, zeigte sichs, dass er nur wenige Mussestunden seinen
Berufsgeschäften abgewinnen könne, die er dann freilich gewissen
haft dem ihm aufgetragenen Werke zuwendet. Durch diese unver
schuldete Verzögerung ward begreiflicherweise das Vorwärtsschrei
ten der Arbeit sehr gehemmt und der Druck hinausgeschoben. Der
selbe soll aber baldmöglichst begonnen und dann ohneUnterbrechung
fortgeführt werden.
Aus diesen Verhältnissen erklärt es sich auch, dass die verfüg
baren Geldmittel bis jetzt nicht erschöpft wurden.
J. ßerg in ann , Die Edlen von Einbs in Hohenembs in Vorarlberg. 243
Die Edlen von Embs zu Hohenembs in Vorarlberg,
«largelegt und beleuchtet in den Ereignissen ihrer Zeit.
(Auszug aus einer für die Denkschriften bestimmten Abhandlung.)
Von dem w. M. Joseph Bergmann.
Der Verfasser beginnt mit den uralten Adelsgeschlechtern Chur-
Rhätiens (Graubündens), denen auch die v. Embs oder Ems ange
hörten. Ihre Wiege ist sehr wahrscheinlich Welschems ob Chur.
Zuerst sind Rudolf und Goswin v. Amides im Jahre 1170 urkund
lich nachweisbar. Bald finden wir sie im vorarlbergischen Rhein-
tliale, in das sie herabgezogen, in der Burg auf Hohenems (Altaemps),
die auf einem hohen, steilen Felsen nun als Ruine die Landschaft
schmückt.
Hieher liess Kaiser Heinrich VI. von Hohenstaufen den letzten
Normanenkönig in Sicilien, den geblendeten Wilhelm III., im Jahre
1195 bringen und sein jammervolles Leben vertrauern; hieher ward
nach einigen Historikern der an der untern Roer geschlagene und
gefangene Erzbischof Bruno von Köln auf Befehl des siegenden
K. Philipp im Jahre 1206 in sichere Gewahrsam geführt.
In der ersten Hälfte des XIII. Jahrhunderts tritt Rudolf v. Ems,
einer der fruchtbarsten und gelesensten Dichter jener Zeit hervor. Er
war ein wohlgeschulter, des Latein mächtiger, mit den deutschen
Dichtungen seiner Tage wohlvertrauter Mann, dessen Lebensverhält
nisse nicht genug aufgehellt sind. Er zog mit König Konrad IV. nach
Italien und starb, wie der Fortsetzer seiner Weltchronik sagt, „in
welschen riehen“ um das Jahr 1234.
Herr Bergmann bespricht am Schlüsse die beiden einst in
der reichen Bibliothek zu Hohenems verwahrten Pergament-Hand
schriften des Nibelungenliedes, deren eine zuerst der gräfliche Amt
mann Franz Joseph v. Wocher, Grossvater des im vorigen Jahre
allhier verstorbenen k. k. Feldzeugmeisters v. Wocher, dem
244
J. Bergmann, Oie Edlen von Embs zu Hnhenembs in Vorarlberg.
gelehrten Wiedererweeker altdeutscher Poesie Bo dm er zu Zürich
im Jahre 1756 zur Benützung mittheilte. Beide Handschriften brachte
die Erbtochter M. Rebecca Gräfinn v. Harr ach-Hohenems nach
Wien oder auf ihre Herrschaft Kunewald in Mähren. Entweder
sie (f 1806) oder ihre Tochter M. Walburga, vermählte Gräfinn
von Truchsess-Waldburg-Zeil, schenkte die ältere vollstän
dige Handschrift ihrem Rechtsanwalt, dem Dr. und Prof. Michael
Schuster zu Prag, einem feinen Kenner solcher Kleinode, der im
Jahre 1810 dieselbe an die k. Bibliothek zu München gegen Bücher
vertauschte; die jüngere, von Bodmer benützte Handschrift kaufte
Freiherr v. Lassberg im Jahre 1816 zu Wien, welche mit dem
von ihm (-j- 1865) Unterlassenen seltenen Bücherschatze der Fürst
v. Fürstenberg kaufte und von Meersburg am Bodensee in seine
Bibliothek nach Donaueschingen bringen Hess.
J. Schrüer. Nachtrag zum Wörterbuche d. deutschen Mundarten etc. 245
Nachtrag zum Wörterbuche der deutschen Mundarten des
ungrischen Berglandes.
Von H. J. Schreier.
(Vorgelegt in der Sitzung vom 16. März 1839.)
Zur Beurtheilung des beifolgenden Nachtrags.
Als ich meinen „Beitrag zu einem Wörterbuche der deutschen
Mundarten des ungrischen Berglandes“ iin November 1857 4 ) der
kaiserlichen Akademie der Wissenschaften überreichte, musste ich
noch mein Bedauern darüber aussprechen (s. Sitzungsberichte,
XXV. Bd., Seite 217), jene Sprachinseln nicht besuchen zu kön
nen. -— Das Material das mir zu jener Arbeit zu Gebote stand,
waren: 1. ältere Sprachdenkmale die in jenen Gegenden entstanden
sind Diese enthielten, wie dies bei solchen Aufzeichnungen
gewöhnlich der Fall ist, mundartliche Formen nur wie zufällig, in
dem der jedesmalige Verfasser immer die Schriftsprache seiner Zeit
anstrebte; es waren : 2. mundartliche Aufzeichnungen von Dilettanten,
deren Richtigkeit ich nur theilweise brieflich oder durch mündliche
Nachfragen constatiren konnte: in meiner Nähe in und um Pressburg
sowie in und um Pest und Ofen, wo ich längere Zeit meinen Auf
enthaltsort hatte, spricht man die baierisch-österreichische Mundart,
die mitteldeutsche Sprache jener fernen Ansiedelungen des ungri
schen Berglandes kann man hier nur höchst selten zu hören bekom
men. Fs konnte demnach aus der Ferne Befriedigendes kaum erreicht
V) Abgedruckt im Novemberhefte des Jahrganges 1857 der Sitzungsberichte der phil.-
histor. Classe der kaiseri. Akademie der Wissenschaften, XXV. Bd., S. 213—272,
Fortsetzung und Schluss des kleinen Werkes folgte im Aprilhefte des Jahrganges
1858, XXVII. Bd., S. 174—240. Der Sonderabdruck (Wien, in Commission bei K.
Herold 1858) hat die Seitenzahlen: 1. Heft 1—62, 2. Heft 63—136.
2 ) Die Zipser Wilkiir, zwei handschriftliche Vocabulare, das Schemnitzer Stadt- und
Bergrecht, die LeutschaUer Chronik, Turnschwambs Neusohler Chronik, das Krem-
nitzer Weibnachtsspiel, der dacianische Simplicissimus u. dgl.
Sitzb. d. phii.-hist. CI. XXXI. Bd. II. Hft.
17
246
Julius Sehröer
werden und wäre die Veröffentlichung desjenigen das ich dem müh
sam zusammengeholten Stoffe abgewann, auch wohl unterblieben, sowie
ich in der That damit zögerte ] ). wenn nicht der Gedanke an die bisher
noch zu wenig erwogene geschichtliche Bedeutung jener Ansiedelun
gen, ein Gedanke der mich ursprünglich zu jener Untersuchung hin
zog, und die Erwägung, dass ein Theil jener merkwürdigen Sprach
inseln die einmal von grösserem Umfange waren, leicht ganz er
löschen könnte, ohne dass aus ihrer Mitte ein Schriftsteller erstünde,
der ihre alten Heimatgüter der Sprache und Sitte für sie selbst und
für das Stammland zusammenstellte, meine Theilnahme gesteigerl
und mich zu jener Mittheilung ermuntert hätte. Diese Mittheilung
ist von Frommann in seiner Zeitschrift: „die deutschen Mundarten“,
V. Band, S. 239 ff. ebenso nachsichtsvoll beurtheilt als freundlich
aufgenommen worden und wenn sie auch wohl Manches zu wünschen
übrig Hess, so hat sie doch eine für die Geschichte belangreiche
Annahme, die bisher immer noch neben anderen im Ungewissen
schwebte, in helleres Licht gebracht. Es hat sich nämlich gezeigt:
dass die Mundart der Zips nicht niederdeutsch, die der Gründe nicht
oberdeutsch (s. meinen „Beitrag etc.“ a. a. 0. S. 225), die von Pil
sen nicht schwäbisch-alemannisch (daselbst III, S. 232) ist, dass die
Krickerhäuer weder gothiseh, noch plattdeutsch, noch tirolisch spre
chen, sondern dass erstens alle diese Mundarten mit einander in
innigem Zusammenhänge stehen und auf einer gemeinsamen mittel
deutschen, niederrheinischen Grundlage beruhen, wie die Mundart
der Siebenbürger Sachsen, einer Mundart die früher im ungrischen
Berglande mehr ausgebreitet war als gegenwärtig, so dass anzu
nehmen ist, dass derselbe Volksstamm der für Siebenbürgens Ge
schichte von so entscheidender Bedeutsamkeit war, dies auch in
hohem Grade für Ungern gewesen ist. Ich glaube sogar in slova-
kischen und madjarischen Wörtern welche aus dem Deutschen
herüber genommen sind (und dies zum Theil wohl schon in sehr
alter Zeit), oft mitteldeutsche Wortform zu erkennen 2 ). Auf diese
1 ) Ich hatte die allmählich entstandene Wortsammlung auf Zetteln, wenige spätere
Zusätze abgerechnet, schon zu Anfang des Jahres 1856 geschlossen, die Abschrift
davon schon am 30. August 1856 vollendet.
2 ) Ich halte die deutschen Wörter im Slavischen und Madjarischen schon lange im Auge
und holle darauf noch besonders zurückzukommen, ich möchte hier nur vorläufig
die Erforscher dieser Sprachen daran erinnern, dass sie hei Bestimmung des Laut-
Nachtrag zum Wörterhuche der deutschen Mundarten etc.
247
Art erscheinen die Deutschen des ungrisehen Berglandes nur als
eine Fortsetzung der mitteldeutschen Colonien in Mähren, Nord
böhmen, Schlesien, der Lausitz etc. und stellen die Verbindung
her zwischen diesen und den Siebenbürger Sachsen; ja selbst auf
die Deutschen Italiens, Kärntens, Krains, Tirols, scheinen theil-
weise mitteldeutsche Zuwanderungen eingewirkt zu haben, sowie
diese Oberdeutschen dann (und zwar der Zeit nach später) wieder
nicht allein auf unsere mitteldeutschen Mundarten allein, sondern
auch auf die in Deutschland selbst zurückwirkten, s. Beitr. I, S. 228 ff.
Weinh. Dialektforschung S. 19. W. Grimm's Einleitung zu Athis und
Prophilias S. 8. Schmeller, die Mundarten ßaierns S. 6 *)■
Seit dem Erscheinen jenes „Beitrages“ ist es mir durch eine
Unterstützung der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften mög
lich geworden, jene Gegenden selbst theilweise zu besuchen. Die
Besultate meiner Beise, von denen nachfolgender „Nachtrag zum
Wörterhuche etc.“ nur ein Theil ist, werde ich nicht unterlassen,
der Beihe nach zur Öffentlichkeit zu bringen. Es sei mir gestattet,
zur richtigen Beurtheilung derselben und zunächst dieses vorliegen
den Nachtrages auch ein Wort von dieser Reise zu sprechen, was
uns zugleich auch jene Ansiedelungen näher vor die Augen bringen
wird.
r
Ich stellte mir die Aufgabe: I. zuverlässige Sprachproben aus
möglichst vielen Orten zu gewinnen, 2. die Personen-, Orts- und
Feldmarkennamen, wo ich sie erhalten konnte, aus möglichst alter
und aus neuerer Zeit zu sammeln, und endlich 3. gelegentlich nach
Urkunden mich umzusehen, welche auf die einzelnen, besonders die
weniger bekannten Orte Bezug haben. Dabei wollte ich mir aber
nicht gestatten, zu sehr bei dem Einzelnen stehen zu bleiben: hätte
wandels, der beim Übergange des deutschen Wortes in jene Sprachen vor sich geht,
nicht zu schnell das Wort in der Gestalt der neuhochdeutschen Schriftsprache
zur Richtschnur nehmen sollten, indem es so oft in veralteter und oft in mund
artlicher Form übergegangen ist, wie auch in dem Folgenden sich öfters zeigen wird.
*) Der Siehenbiirger sächsische Dialekt hat noch am reinsten niederrheinischen Cha
rakter bewahrt, indem z. B. das Schlesische durch mannigfaltige Einflüsse schon
eine Mischung aus vielen und verschiedenartigen Elementen ist, worin die Mund
art der Zips dem Schlesischen näher steht als dem Siebenbürgischen. Dies erklärt
sieh aus späteren Einflüssen , was die Mundarten des ungrisehen Berglandes nur
mit Siebenbürgischem und Niederrheinischem gemein haben , ist wohl das ältere
Vgl. Beitr. S. 232.
17
248
Julius Schröer
ja doch die ganze Zeit die meinem Ausfluge zugemessen war, nicht
hingereicht, auch nur einen einzigen Ort zu erschöpfen. Um den
Zusammenhang zwischen den Pilsenern in der Honter Gespanschaft,
den Krickerhäuern *) in der Neitraer Gespanschaft, den Gründenern,
Zipsern und Bergstädlern vorerst zur Gewissheit zu bringen, drängte
es mich, die äussersten Puncte der weitverstreuten Sprachinseln zu
berühren. Zunächst hatte ich die bisher noch am wenigsten bekann
ten Orte der sogenannten Krickerhäuer im Auge, d. i. diejenigen die
man nach diesem ausgebreitetsten Orte gemeinhin so zu nennen
pflegt; ich zähle ihnen wegen ihrer nahen Verwandtschaft, um einen
Gesammtnamen zu haben, auch noch die Pilsener, die Bewohner von
Deutsch-Praben und der Umgegend, die Paulischer, Hochwieser,
Münichwieser, und die anderen deutschen Orte der Turotzer und
Barscher Gespanschaft bei. Mancher dieser Orte führt in den sta
tistischen Quellen oft einen madjarischen oder slavischen Namen 2 ),
die Familiennamen werden in’s Slavische oder Madjarische übersetzt,
den Kindern beigebracht, dass sie, wenn sie Klein, Gross, Krabess,
Krebess, Neupauer etc. heissen, sich Kis, Nagy, Räk, Nowisedliak etc.
*) Dass so zu schreiben sei, kann ich nun aus Urkunden und anderen Schriften vom
XIV. bis zum XVIII. Jahrhundert nachweisen, wie in dem Folgenden unter hawi,
häw, ha dargethan ist.
2 ) Ich stelle hier die deutschen Ortsnamen, wie sie zu schreiben sind, nach den Ge-
spanschaften zusammen, wonach die vor meiner Reise gemachte Angabe „Beitrag“
S. 16 f. zu berichtigen ist. Die fremden Namen setze ich überall in Klammern hei:
I. Honter (ursprünglich Hunter) Gespanschaft: Lorenzen (madj. Vstmosch Mi-
kola), Pilsen (madj. Börzsöny), Schemnitz (madj. Selmecz-banya, slav. Sstiavnice).
II. Barscher (ehedem ßersenburger) Gespanschaft: Pölesch oder Paulisch (slav.
Pila), Hoch wies (slav. Welko Pole), Prochetzhiiu (Prochot), Trexelhäu (Jano Le-
hota), Neuhäu (Uj Lehota), Litten oder Peutsch-Litta (Kapronca), Hanneshäu (Han-
csaj), Kuneschhäu (Kunosd), Perg, Blofusz, Kremnitz.
III. Turötzer (heim deutschen Landvolke zum Theil Turzer) Gespanschaft: Turz
(Ober- und Unter-, Felso- und Alsö-Turcsek), Glaserhiiu (Sklenno), Stuben (Alt-*
und Neu - Stubnya), Käserhäu (Jassenowe), Hedwig (Hadviga), Windisch Praben
(Tot-Pröna), Brestenhiiu (ßriestja), Kloster oder Kiihorn (ganz slavisch, madj. Znio
Varalya, sl. Klastor), Münichwies (Vriczko).
IV. Neitrer Gespanschaft: Andreasdorf (Kuss; Bel IV, 445 nennt es noch ganz
deutsch), ICrickerhäu (Handlova), die Zeche (Cach), Deutsch-Prahen (Nemeth Proua),
Bettelsdorf (Solka), Beneschhäu (sl.Majzel), Schmiedshäu (Tüssina), Geidel (Gajdel),
Fundstollen (Chwognice).
Die Anzahl ursprünglich deutscher Orte die schon slavisirt sind, ist viel grösser,
auch haben viele ganz und von jeher slavische Orte deutsche Namen im Munde des
deutschen Landvolkes; ich führte hier nur diejenigen auf die nocii ganz oder theil-
weise deutsch sind, mit Ausnahme des Namens Kloster, als Beispiel letzterer Art.
Nachtrag zum Wörterbuche der deutschen Mundarten etc.
249
zu schreiben haben. Die Herrenleute (selbst hie und da der Orts
geistliche und Schullehrer) redeten an manchen Orten nur slavisch
zu einer deutschen Bevölkerung, wenn dieselbe auch nur unvollkom
men in der slavischen Sprache sich auszudrücken im Stande war, so
in Münichwies, einem deutschen Orte von 1700 Seelen. Da nun
viele ursprünglich deutsche Orte, mitten unter Slaven gelegen, auf
diese Art wirklich zum Theil oder ganz entnationalisirt worden sind,
da man sich um die Nationalität deutscher oder slavischer Bauern
bisher wenig kümmerte, so ist es erklärlich, dass z. B. mancher Ort
oft als slovakisch angegeben ist, der ganz deutsch ist, wie ich dies
in dem Folgenden von den Angaben Korabinsky’s einige Male nach
gewiesen habe *). Ich machte auf meinem Wege demnach immerfort
Entdeckungen, machte aber auch wohl manchen Weg, von falschen
Angaben irre geleitet, vergeblich. Die Orte welche ich besuchte,
sind folgende (wobei ich natürlich die zahllosen Dörfer, Märkte und
Städtchen nicht erwähne, die ich passiren musste, um von einem
Puncte zum anderen zu gelangen): Ipolsägh, Lorenzen (Vämos Mi-
kola) Pilsen (Börzsöny), Schemnitz, Oberstein oder-zsdäny, Hammer,
Polesch, Hochwies, Trexelhäu, Neuhäu, Krickerhäu, Privitz, Deutsch-
Praben, Beneschhäu, Bettelsdorf, Fundstollen (oder „Fundschein“,
sl. Chvognice), Geidel, Schmiedshäu, die Zeche, Kloster, Münich
wies, Stuben, Kremnitz, Kuneschhäu, Neusohl, Briesen, Eltsch, Dop
schau, Neudorf (Iglo), Leutschau, Käsmark, Eperies, Kaschau; ein-
unddreissig Orte, die ich vom 1. August bis 12. September bereiste.
Wenn man dabei noch die grossen Entfernungen von Neusohl
nach Eltsch, von da nach Dopschau, von Leutschau nach Kaschau
Auffallend ist es, dass mir kein Ort als deutseh angegeben wurde, der es nicht
ist, indem mancher für slavisch gilt, der deutsch ist. Im Ungewissen bin ich noch
über folgende Orte: Tergcl oder Tergenye, ein ursprünglich madjarischer Ort in
der Honter Gespanschaft soll durch eine Zuwanderung aus Krickerhäu halb deutsch
geworden sein. In Morowno unweit Krickerhäu soll man eben so gut deutsch als
slavisch sprechen, woraus zu schliessen ist, dass das deutsche Element dort sehr
stark sein muss, denn der objective Deutsche ist immer bemüht, mit dem Frem
den die fremde Sprache zu sprechen, indem der Slave, ob er verstanden wird oder
nicht, mit Jedermann slavisch spricht. Grosse Fortschritte soll die Slavisirung in
folgenden deutschen Orten machen: Käserhäu (Jassenowe), Brestenhäu (Briestja),
Hedwig (Hadwiga) in der Turolzer Gespanschaft; Prochctzhäu (Prochot) in der
Barscher, und Betelsdorf (Solka) in der Neitrer Gespanschaft. Andreasdorf (Kos)
gibt Bel noch als deutsch au; ich habe darüber keine sicheren Nachrichten.
250
Julius Schröer
auf der Landkarte betrachtet, dazu noch die schlechten Fahrgelegen
heiten in Anschlag bringt, wird inan zugeben, dass ich die Augen
blicke gut nutzen musste, um bei einer solchen räumlichen Zerstreut
heit eines wissenschaftlichen Materials, das auch bei hinreichender
Müsse oft sehr schwer zu gewinnen ist, nicht vergeblich zu reisen.
Man muss bei einer solchen Gelegenheit auf unerwartete Ungunst des
Zufalls sowie auf unerwartetes Glück in gleicher Weise gefasst sein,
wie ich auch beiderlei in reichem Masse erfahren habe 4 ). Wo sich
an einem Orte kein Individuum findet, das einigermassen Bildung be
sitzt und sich willfährig zeigt als Vermittler zwischen dem Reisenden
und dem Volk aufzutreten, und dies ist auf unseren Dörfern so oft
der Fall, da ist nicht viel zu gewinnen, wenn man die Zeit nicht hat,
Monate lang unter dem Volke zu verweilen. Ich habe mich solcher
*) Mein Vorgehen war folgendes: indem ich einerseits mich umsah, Sprachprobeu zu
gewinnen, die Namen von Personen und Feldmarken aus älterer und neuerer Zeit
zu erhalten, achtete ich fortwährend auf jene mundartlichen Erscheinungen die
eine mundartliche Grenze bezeichnen. Dies in Bezug auf den Stand der Selbstlaute
und Mitlaute sowohl als in Bezug auf besondere Ausdrücke, wie: Namen der Wochen
tage (Ertag oder Ziestag oder Dienstag, Quomtag oder Mittwoch, Pfinztag oder
Donnerstag, Samstag oder Sonnabend), Jahreszeiten (Frühling, Frühjahr, Lenz, Aus
wert, Fürwet [wert], Fürwetter etc.), der Monatsnamen, gewisser Feste (z. B.Kirch-
weihe oder Kirchmesse oder Kirchtag) , der Würdenträger hei Hochzeiten (Bittleut,
Forschleut, Beistände, Brautführer etc.), der Milch, Butter (Sahne, Obers, Schmetten
etc., Anke, Butter, Kirn, Käse, Quark, Topfen u. s. f.), recht und link (auch hott und
hard u. dgl. in der Fuhrmannssprache), besondere Namen von Thieren (das Kalb und
das Füllen haben z. ß. viele besondere Namen in den Mundarten), eigene Ausdrücke
für eine Handvoll, zwei Händevoll, ein Bissen, ein Mundvoll, ein Löffelvoll, ein Bröck-
lein, ein ßröslein, ein Krümlein u. s. w., Geissei oder Peitsche, Schwanz, Schweif
oder Wedel, Stuhl oder Sessel, Schuh oder Stiefel oder beides, Zusammensetzungen
mit Gott (Gott ge, Gotterkeit u. dgl. Griisse, andere Formeln wie: halt, a so, so
gerne, glaub ich, mein ich, s. unten : got, gla, mant), Namen des gefleckten, braunen,
rothen, grauen Pferdes, Ochsen, Stieres, der Kuh, die Kuh ist gäste , melk u. dgl.
Roggen oder Korn, Buchweiz oder Haiden; Diirpel, Schwelle, Diele; glätten, plätten
oder bügeln; schleiffen, rutschen, glitschen, zescheln, schlendern, schlickern oder
rollen u. dgl. (auf dem Eise), Verwandtschaftsbezeichnungen (Base, Muhme, Oheim,
Neffe, Niftel, Eidam, Schnur etc.), jenseits, ent oder enhalb, aufher oder herauf,
Friedhof, Freidhof, Gottesacker, Kirchhof oder Todtengarten u. dgl. Die unseren
Mundarten eigenen Ausdrücke weisen oft nach Aached, nach Franken und Thü
ringen, nur vereinzelt nach Tirol, Steiermark, Österreich; Manches liess sich aus
dem Niederdeutschen und Niederländischen deuten, am seltensten aus dem Alemanni
schen. An die derartigen lehrreichen Zusammenstellungen in Grimm’s G D S brauche
ich wohl gar nicht zu erinnern. Vieles findet sich in Fromm. Zeitschrift besonders
in den Mittheilungen über Ausdrücke welche im Plattdeutschen fehlen, II, 133. 204.
209. 312. 317. 506. 510. III, 374. 377. IV, 25.
Nachtrag zum Wörterbuche der deutschen Mundarten etc.
251
freundlichen Mittelspersonen, wo ich welche fand, daher auf das
dankbarste zu erinnern; die grösste Freude machte es mir jedoch,
wenn es mir gelang, was ich mir auf meiner Reise mit zur Aufgabe
machte, Männer von Bildung und wissenschaftlichem Sinne für den
Gedanken zu gewinnen, den Sitten und Gebräuchen, Märchen und
Sagen, sowie auch der Mundart unserer Deutschen andauernd ihre
Aufmerksamkeit zuzuwenden, Sammlungen anzulegen, Sprachproben
aufzuzeichnen, die Geschichte jeder Colonie im Einzelnen zu studiren,
um die Ergebnisse dieser Arbeiten mit der Zeit der Öffentlichkeit zu
übergeben. Ich konnte dabei mit wahrer Freude wahrnehmen, wie
mit dem steigenden Interesse für die Eigenthümlichkeiten des Volkes
auch die Neigung zum Volke, die liebevolle schonende Theilnahme
an demselben, wie das wahre Verständnis der Denkungsweise des
einfachen Menschen in gleichem Masse zunimmt. Dieser Segen den
von dieser Seite die Wissenschaft wie zufällig bringt, ist nicht zu
gering anzuschlagen; er steht im Zusammenhang mit der Seite der
Mundartstudien und der Sprachforschung überhaupt, wo dieselben
unmittelbar in's Leben iibergreifen und noch Früchte tragen werden.
Es sei hier nur im Vorübergehen erinnert an den zuletzt von R. von
Raumer ausgesprochenen ganz richtigen Gedanken , wie bei dem
Sprachunterricht in Volksschulen von der Volksmundart auszugehen
sei: die Mundart, die wahre Muttersprache des Kindes, muss die
Grundlage bilden, auf welcher der Lehrer weiter baut *)• Hoffen wir
bald die rechten Lehrer für einen solchen Schulunterricht zu erleben:
Gymnasien, Seminarien und Universitäten müssen dabei das ihrige
thun, dass das Interesse für das Studium der lebenden Sprachen ein
immer lebendigeres und gründlicheres werde!
Im Einzelnen über jene deutschen Ansiedelungen, über die viel
des Rühmlichen zu sagen ist, zu sprechen, behalte ich mir vor, bis
ich das Materiale zu ihrer Geschichte, zu dem mir noch manches
Wesentliche fehlt, so vollständig beisammen haben werde, als dies
überhaupt noch möglich ist.
Das Nachfolgende entstand aus den Notizen die ich auf der
Reise auf Zetteln niederschrieb. Es ist ein Verzeichniss von Idiotis-
| men, das zwar geringer an Umfang ist als der „Beitrag“; an interes
santen Erscheinungen ist es verhältnissmässig reichhaltiger, was
1 ) Der Unterricht im Deutschen von lt. von Raumer. 3. Aull. Stuttgart 1857. S. 102 IT.
i
252
Julius S c h r ö e r
Reinheit mitgetheilter Sprachformen nach dem Munde des Volkes
anlangt, im Ganzen auch correcter aufgezeichnet. Auch was die Deu
tung seltsamer Formen betrifft, wird hier das Meiste aufgehellt was
im Beitrag dunkel geblieben ist. Ich habe mich bemüht, die Heimath
eigenthümlicher Wörter, soweit meine Hilfsmittel reichen, zu ergrün
den und das Vorkommen eines Wortes in anderen Mundarten mit
fetter Schrift hervorgehoben. Interessant ist, wie die Zipser
Sprache so oft das Krickerhäuische dadurch aufklärt, dass sie eine
Form bewahrt hat, die der Schriftsprache näher steht, indess die seit
5 Jahrhunderten verwahrloste Sprache jener Hinterwäldler verwil
derte !). Interessant ist ferner das Verhältniss zur Aachener und
zur Siebenbürger Mundart das, jemehr man jene Mundarten kennen
lernt, desto deutlicher hervortritt 2 ). Den zweiten Theil des vorliegenden
4 ) So war mir das in Pilsen vernommene zdf für: zusammen, unerklärlich (s. Beitr. II,
S. 198); in Paulisch hörte ich schon zohdf, in der Zips zeheuf = zuhauf und es
löste sich das Räthsel; viel machten mir zu schaden die Formen kockc und kockebi
(Beitr. 11,181.240), der Gebrauch der Formel : Gott gehe, in der Zips klärte sie auf;
ebenso konnte ich den Formen: holdabitta, holdubittener, holtabi, holdabos, holderbos
(Beitrag 1, 267.268), nicht beikommen, was ich auf der Heise bald als: halt-ein-xoie-
taner, halt ein wie, halt ein was, halt ein wer verstehen lernte. Das baita, bata (Beitr.
1, 242) scheint auch aus dem in der Zips gebräuchlichen watters zu erklären zu sein
u. dgl. Vgl. unten: bola, got, gld, mänt, seifen etc.
2 ) Einige Münichwieser Bauern versicherten mich, in Siebenbürgen, wo sie mit würzen
handelnd (s. handerbnrz) herumzogen, ihre Bauart, ihre Sitten und Gebräuche gefun
den zu haben. In Schemnitz erkennt man in alten Häusern eine Bauart die an Schäss-
burg erinnert; eine Familie die aus Aachen kam, fand unlängst, dass die Dopschauer
Mundart auffallend an die von Aachen erinnert. Solche Bemerkungen wollen wohl
nicht viel sagen und sind nur behutsam aufzunehmen, wo sie sich aber so wieder
holen wie hier, werden sie zu sprechenden Zeugnissen, s. auch achvart. Besonders
auffallend ist die Übereinstimmung der Aachener, Krickerhäuer und Siebenbürger
Mundart in der Abkürzung gewisser Endsylben, wie z. B. -heit, -dt, -end, -ert, die
zu -et werden, so dass nicht zu erkennen ist, ob: -heit, -dt, -ant, -end, oder -and,
-erd zu Grunde liegt. Bezeichnend ist bei Müll. Weitr. S. 81 zu heemet: Heimat, in
Klammer heimert beigesetzt; vgl. daselbst blachct, bonge'd, hälsche’t, kroppet, lo-
met, lievet u. a. mit lewct, Icewe't, das in Dopschau Iwbevt, in Siebenbürgen loewcwd
heisst; so verhält sich siebenbiirgisch owed zu aachnerisch owwend. Der Ausfall des r
in art, wort u. a. wird ganz ähnlich in Krickerhäu, Proben, angetrofl'en und zwar
nicht wie im Österreich-Bairischen, wo das r zum nachklingenden Vocal wird (z. B.
wird wia'd), sondern als reiner Ausfall: bust wurst, bit wird, hatz, jatz (in Aachen
hatz Müll. YVeitz. 80) herz u. a. So sind die Abkürzungen von -haus in backes, bren-
nes (Backhaus, Brennhaus in Aachen) ganz ähnlich dem Koches, Schimpes (Kochhaus,
Schimpfhaus) in Siebenbürgen, der Ausfall des d in wedel, das in Krickerhäu zu bei
wird, erinnert an das aachnerische sdl für Sattel (bull für Beutel , prol für Preutel,
wenn diese Ableitungen richtig sind, Müll. YVeitz. 188). Weitere Übereinstimmungen
mit der Aachener Mundart sehe man in dem Nachtrag nach unter: erk, beliewern,
Nachtrag- zum Wörterbuehe der deutschen Mundarten etc.
283
Nachtrags die eingesammelten Sprachprohen und grammatikalischen
Bemerkungen, halteich noch zurück, da ich noch einigen Zusen
dungen aus Oher-Zsdän, Paulisch, Deutsch-Praben, Kuneschhäu,
Kremnitz, Kaschau und anderen Orten entgegen sehe, die ich noch
einzureihen wünschte. Um das Leidige eines solchen Nachtrags in
Bezug auf seinen Gebrauch zu mildern und das ganze Material des
Beitrags und Nachtrags möglichst zu vereinigen, werde ich dem
selben ein Schriftdeutsch-mundartliches Wortverzeichniss beifügen,
womit ich zugleich dem Wunsche Frommann’s (s. dessen Zeit
schrift: die deutschen Mundarten V, 458) nachkommen möchte. Der
Vortheil einer solchen Einrichtung, durch welche man unter dem
üblichsten Ausdrucke die in dem Werke zerstreuten verschieden
artigen fremden Formen zusammengestellt findet, ein Vortheil, durch
den sich das Bergmann-Schmeller’sche cimbrische Wörterbuch be
sonders empfiehlt, liegt auf der Hand, zumal als man manches Wort
wegen der veränderten mundartlichen Form die nicht zu errathen
ist, oft gar nicht findet 1 ).
Das Nächste was ich nach diesem der kaiserlichen Akademie der
Wissenschaften als Ausbeute meiner Reise vorlegen werde, ist ein
Namenbuch der Deutschen des ungrischen Berglandes, in welchem
ich die Personen- und Feldmarkennamen dieser Colonien aus mög
lichst alter und aus neuerer Zeit, zur Aufklärung des Verhältnisses
dieser Ansiedelungen untereinander sowohl, als zur Ermittelung ihrer
alten Heimath, zusammenstellen und beleuchten will. Eine Sammlung
hoben, grimpel, geprell, brief, teile!, tadeng, dürpel, treug, Herren, garz, biin,
nan, han, appel, hassel, jatz, hauch, hott, huppen; ebenso viele wenn nicht noch
mehr der übereinstimmenden Wörter werden wir in der zweiten Abtheilung- des
Nachtrags (von I — Z) finden. Die gleichfalls bemerkenswerthen Übereinstim
mungen mit der kölnischen Mundart des XV. Jahrhunderts, die aus den Mit
theilungen Pfeiffer’s in Fromm. Ztschr. 1, 171—226. II, 289—312. 433—437. III,
49—62 eingetragen sind, sowie einzelne Anklänge an die Sprache Wolfram’s, ja
selbst an die des Williram und an die Übersetzung der Evangelienharmonie des
Ammonius (vulgo Tatianus), insofern als mir solche aufgefallen sind, wird man
angemerkt finden.
*) Anerkennenswerth ist der Fleiss Frommann’s, indem er in meinem Beitrag für Ameise
nicht nur den Ausdruck omse S. 30, sondern auch den ganz abliegenden rabünzen
S. 86 herausgefunden hat, s. dessen Zeitschi*. V, 437. Wie soll man aber die Namen
des Sperlings herausfinden, deren keiner dem Namen der Schriftsprache ähnlich ist,
tschilka, tschirib, dutzke, litzke, skunz, sparnigel! oder des Füllens, das hedschal,
hatschala, mitschapala, tschinkcrle, multschchen, muntschalekel und kibalanzala
heisst!
r—
—
«M Julius Schröer
von Namen die vielleicht auch ausserdem noch an und für sich will
kommen sein wird.
Oh und wie bald ich im Stande sein werde, einen Überblick
über die Geschichte unserer ungrischen „Sachsen“ zu geben, der
den Anforderungen der Wissenschaft unserer Zeit einigermassen zu
entsprechen im Stande wäre, wird von der Gunst der Umstände
abhangen, durch welche das noch vorhandene, aber nicht immer zu
erreichende Material das mir hiezu noch abgeht, zugänglich wird.
Vorläufig empfehle ich den nachfolgenden Nachtrag den Forschern
auf dem Gebiete der Sprache und wünsche, dass derselbe als nicht
ganz werthlos befunden werde.
Ein Mangel an dem meine Mittheilungen leiden, ist mir selbst
nicht verborgen und ich mache hier darauf aufmerksam, weil eben
diese Seite bei mundartlichen Sammlungen hervorgehoben zu werden
verdient und dadurch vielleicht die neugewonnenen Freunde unserer
Studien im Lande sich bewogen fühlen werden, dem abzuhelfen, so
gut ein jeder vermag.
„Unsepe heutigen Volksmundarten“ sagt Jak. Grimm (G D S
S. 837) „enthalten gewissermassen mehr als die Schriftsprache, d. h.
in ihnen stecken noch genug Überreste alter Dialekte, die sich nicht
zur Schriftsprache aufschwangen. Aus diesen Volksmundarten wäre
für die Geschichte unserer Sprache Erkleckliches zu gewinnen, wenn
sie planmässig so untersucht und bearbeitet würden, dass sich in
ihnen jene Spuren einzelner bedeutender Völkerschaften ergäben
und man ermittelte, welcher grossen Reihe jede angehört habe. Für
solchen Zweck möchte aber weniger nach seltenen der Schriftsprache
fremden Wörtern, vielmehr eher nach dem Verhältniss aller ent
scheidenden Laute, Formen und Ausdrücke geforscht werden, seien
diese gleich heute die gangbarsten.“
Wie wichtig diese Forderung ist, das fühlt man immer deut
licher, jemehr man sich mit Mundarten beschäftigt: alle Lautformen
und Ausdrücke die Vorkommen, sind beachtenswerth und in Bezug
auf ihre Anwendung von Belang, und fast eben so wichtig ist, was
einer Mundart fehlt. Wenn man einer Mundart ferne steht, wie ich
denen des ungrischen Berglandes, einer Mundart die noch obendrein
in so mannigfaltigen Spielarten variirt, so müsste man aus jedem
Orte mindestens eine reiche Auswahl von Sprachproben besitzen,
die jedoch so correct abgefasst sein müssten, dass man sich bei
II
Nachtrag 1 zum Wörterhuche der deutschen Mundarten etc.
255
jedem Laufe, bei jedem Ausdruck, bei jeder Redewendung und Con-
struction des Satzes darauf verlassen kann, dass sie so und nicht
anders an Ort und Stelle volksüblicb sind. Solche Aufzeichnungen
zu veranstalten, seien hiermit alle diejenigen freundlichst aufgefor
dert, die in der Lage sind, dergleichen abzufassen und uns mit Bei
trägen erfreuen wollen. — Was ich selber im Fluge auf der Reise
zusammenraffen konnte, kann dem Meer von Erscheinungen gegen
über, wie sie jede Mundart bietet, nur als ein Tropfen erscheinen.
Ein zweiter Mangel den ich bei meiner Arbeit fühle, besteht
darin, dass ich die geschichtliche Entwickelung der Mundart in
Sprachdenkmälern älterer Zeit nicht noch mehr verfolgen und so jede
Erscheinung deutlicher an schon bekannte Vorgänge in der Ent
wickelung der alten Sprache anknüpfen konnte. Die gegenseitige
Hilfe die das Studium alter Sprachdenkmale (namentlich der Dichter)
und lebender Mundarten sich noch künftig gewähren werden, ist
leicht zu ermessen, wenn man erwägt, welche Sicherheit zur Bestim
mung der Heimath eines Dichters es gewähren würde, wenn man die
deutschen Mundarten bereits der Reihe nach ebenso durchforscht
hätte wie den Sprachgebrauch manches Dichters. Die genaue Kennt-
niss der Mundart, wenn die Heimath des Dichters einmal bestimmt
ist, wird selbst der Texteskritik neue Mittel an die Hand gehen. Ich
glaube nicht zu viel zu sagen, wenn ich die Erwartung ausspreche,
dass die Erforschung der lebendigen Mundarten, selbst bei solchen
Textesausgaben, die schon auf den gründlichsten Forschungen be
ruhen, noch wesentliche Veränderungen herbeiführen wird. Wie
wichtig anderseits ältere Sprachdenkmale für Erforschung der leben
den Mundarten sind, braucht nicht erst ausgeführt zu werden; in
dieser Hinsicht ist zu beklagen, dass unsere Mundarten des ungri-
schen Berglandes an älteren Sprachdenkmalen so arm sind, dass es
daher schwer wird, die geschichtliche Entwickelung der Mundart bis
zu dem Puncte hinauf zu verfolgen, wo sie sich von der Mundart der
alten Heimath abzweigt und zugleich auch die zeitweilig sich durch
Zuwanderungen beimischenden anderweitigen Elemente richtig zu
erkennen. Theihveise müssen hier die auswärtigen älteren mittel
deutschen Sprachdenkmale in die Lücke eintreten; ferner ähnliche
hier heimische Schriften aus älterer Zeit, wie ich sie schon im
„Beitrag“ benützt habe, dann die deutschen Magistratsprotokolle und
andere Schriften in den Archiven der Städte und Märkte, die zum
256
Julius Schrßer
Theil bis zum 14. Jahrhundert zurückgehen; endlich ähnliche Auf
zeichnungen die auf den Pfarren sich vorfinden, ausgebeutet werden.
Dass sich in solchen Sprachdenkmalen jener Gegenden Belege für
mundartliche Erscheinungen aus älterer Zeit finden, habe ich in dem
Beitrag und auch in dem nachfolgenden Nachtrag gezeigt. Dass ich
solche ungedruckte Sprachdenkmale nicht mehr auszubeuten im
Stande war, ist wohl dem rasch Durchreisenden nachzusehen. Möchte
dieser Mangel von denjenigen die in günstigerer Lage sind, soweit
dies überhaupt möglich ist, eben so bald gehoben werden, wie der
früher angedeutete einer reichlichen Auswahl correcter mundart
licher Aufzeichnungen.
Pressburg, im Februar 1859.
Nachtrag 1 zum Wörterbuche der deutschen Mundarten etc.
257
A.
ln der Zipser Mundart lässt sich vier
faches a unterscheiden, l.das kurze, reine,
durch Position geschützte, s.Wtb. 29 ; 2. das
kurze trübe: dl: omnis; 3. mhd. ä vor r
oder mhd. a, welches nhd. lang geworden
ist: har: crinis, war: verus, wagen: currus;
4. mhd. ä, welches, ausser vor r (und zu
weilen vor l), eu oder äu, oder eo gespro
chen wird: weug: libra, meule: male,
reutsherr: Rathsherr, seu, den, mhd. sä,
du. Diesem eu ganz ähnlich klingt au (mhd.
oii): euch: auch; manches Mal steht eu
auch für 6: lekzieun: Lection, vgl. <>•
*a! interjection a, bi is das?! wtb.29.
a se 110 ylä ! warum nicht gar! Krmw. vgl.
ff 1 ». o
♦abncl, a• int m. der Abend; je nach
dem langsamer oder schneller gesprochen
wird; gan einsylbig oder mit einem fast
als zweite Sylbe nachklingenden 'mt. —
z'ämt: zu Abend, abends, Krh. zänt Lrzu.,
in der Zips: äubend, äubnd, Wtb. 30.
Sonnäubend: Sonnabend, Ksm., in Dop
schau , das so häufig den Übergang be
zeichnet von der Zipser zu der Kricker-
häuer Mundart (s. Wtb. 132), noch sunn-
äbend, sonnäbnd, Wtb, 81, in den Orten
Kuh. Prb. Krh. schon sömen, seimct, sim-
met; in Pis. ist die mehr oberdeutsche Form
samstag (s. Fromm. III. 216.) durchge
drungen ; madjar. Szombat, s. das Weitere
unter tag.
Achfart, achvart stf. eine Bussfahrt nach
Aachen als gerichtlich verhängte Strafe,
wird in den Schemnitzer Magistratsproto
kollen des XIV. Jahrhunderts einige Male
erwähnt, vgl. Scheinn. str. §. 3. über den
Gegenstand ist einiges zusammengestellt in
Kachelmann’s Gesell, d. ungr. Bergstädte I,
36. f., wenn auch obiger Ausdruck daselbst,
sowie im Schemn. str. nicht vorkommt (er
fehlt auch in Ben. Müll. mhd. Wtb.). ln
Aachen selbst ist die Erinnerung an die
Pilgerfahrten der Ungern und Siebenbürger
nicht ganz ohne ein Andenken geblieben.
8. Müller Weitz Aachener Mundart, Seite
244, vgl. 14. Bei der nahen Verwandtschaft
der Aachener mit der Siebenbürger und mit
unseren Mundarten darf man wohl ver-
muthen, dass diese Fahrten ursprünglich
und vorzüglich von Deutschen ausgingen,
denen aus alter Familienerinnerung jene
Gegenden der alten Heimath wohl bekannt
waren. Nach Kachelmann a. a. 0. scheint
die Sitte ohnehin noch im XIV. Jahrhundert
als eine consvetudo theutunicalis anerkannt
worden zu sein. Weiteres über achvart hd.
ochfart s. Kosegart. niederd. Wtb. 1, 40.
Ziemann mhd. Wtb. 2 a . Frisch I, 6: ach-
fart und ferner betefart gen Ach• Durch Hr.
Dr. G. K. Frommann werde ich ferner auf
merksam gemacht auf Hormayr’s Taschen
buch 1833, S. 341, wo der Achvarenden aus
Ungarn, Böhmen, Preussen, Liefland, Öster
reich Erwähnung geschieht; auf Jo. Nop-
pius Aacher Chronik (Cöln 1643) I, 133—
140; auf Chm. Quix histor. Beschreibung
der Münsterkirche und Heiligthumsfahrt zu
Aachen. Aachen 1825. S. 92—98'; von der
Ungereapelle S. 36—39.
achte in Krh. ächta, s. echta.
abärnen, a »ereili abernten; nicht nur
vom Getreide, nuss, äppel, pirn ä ceren:
Nüsse, Äpfel, Birnen einernten, absehlagen
oder pflücken und einsammeln. *aingecerent:
eingeerntet, Krh. DasParticip beweist, dass
hier die Form Urnen (nicht ceren) zu Grunde
liegt, die für mhd. amen steht (ceren wäre:
arare, pflügen. Gr. W. I, 548); in der Zips
sagt man: der ceren, in Knh. *aren für
ernte; huidren: Heuernte, Knh.,* im sie-
benbürg'ischen linde ich die Form äre-
wägen : Erntewagen, Fromm. IV, 283, 93;
in der Oberlaus, aren: ernten, arcnmalst:
Erntemalzeit. Anton VII, 5. arnc f. amen,
XVI. 6, vgl. alicl. arin aren bei Tatian am
Grall‘479 f. Der aranarin stm.f. ernte,mhd.
erende, ahd. arunti Wackernagel Lesebuch I,
70. 1. 159, 25. erstere Form kömmt freilich
nur vor in Karl’s des Grossen aranmänoth.
sigrelesta f. die Elster, Prb. ahd. äga-
lastra agelcstra, mhd. agclster, in der Ober
lausitz aglaster, f. Anton I, 7. in der Zips
(Käsmark) : tschägelcster, s. Wtb. 47.
— ai in plo-ai n. bläulichgraue Kühl
schnotz-ai n.weisse Kuh; schwaa’za;
n. schwarze Kuh. — trul-ai m. der tölpel;
— g*ansni m. günserich. — Hannai in.
258
Julius S c li r ö e r
Johann Krh. Diese ganz eigenthümliche Di
minutivform weisst nach Oesterr. Im
Unterinnthal und Salzburger Gebiet hört
man Lippai, Thumai, Jaggai als Diminutiv
formen von Philipp, Thomas, Jacob ; ebenso :
Jaggai; lachadängai, lenzai, steckai, besai,
kachai für: lachender, lenz, stecken, besen,
kiichel, Fromm. III, 315. f.; vielleicht ist
dies ai zusammengesetzt aus a ( = - er) a'
( = - en) und dem diminutiven i, das schon
bei Notker vorzukommen scheint und be
sonders der alemannischen und bairischen
Mundart eigen ist. Gr. gr. III, 683. f. stcckui
wäre also aus steckd : stecken und — i zu
sammengesetzt; gansai aus gansd : ganser;
durch Beifügung des daselbst üblichen — i
konnte wohl ein —ai entstehen, weiches
dann auch an solche Wörter gehängt wurde,
die nicht auf — er, —en auslauten. Das Ge
schlecht der Diminutiva ist nicht wie in der
Schriftsprache durchaus das Neutr., was auch
schon sonst bemerkt worden ist. Fromm. II,
344.
ai" : in; ai" dr hott denna: in der Hütte
drinnen, Krh. ai~ de hott: in die Hütte,Krh.
im für in dem wird um am: am gaa' tu :
im Garten. Anton VIII, 3 sagt: ei für in ist
echt lau sitz.: ei die schule; in Schlesien,
im Kuhländchen, in Trier, auf dem Hunds-
riick, im Taunus, der Wetterau, in Manns
feld ist dies ei für mhd. i zu linden. Weinh.
Dial. 4(>. Iloltei schreibt (1. Ausg. S. 7) ein
aller weit (3. Ausg. 174): in alle Welt.
— ain als Bildungssylbe entlehnter Zeit
wörter, s. Wtb. 31, und papain. Diese Bil-
dungssylhe erscheint mir jetzt entstanden
aus einem vorhandenen oder angenommenen
— a als Auslaut des Stammwortes, das mit
dem — e der Flexionssylbe: — en, — e,
— est, —et zu ac, ai verschmolz, s. papain,
aide* f. der Dachboden. Krh. Wtb. 8ä.
ostfriesisch äuler m. Bodenraum, s. Woeste
bei Fromm. V, 141; derselbe übersah, was
Weinh. 6 unter alter st. f. eingebanste Ge
treideschicht etc. zusammengestellt hat.
Auch könnte das Geschlecht (m.) bei den
im nd. häufigen Verwechslungen bei der
Undeutlichkeit des Artikels vielleicht auch
hier f. sein ? —
ammes f. Ameise, Krmw. vgl. Wtb. 30.
Fromm. V, 437.
Andreasdorf: jetzt gewöhnlich Köss
genannt; eine Urkunde von 1367 bei Bel
not. Ilung. IV, 445 im Auszug; derselbe
gibt noch an , dass es von Deutschen be
wohnt sei.
anpusz m. amboss, Krmw. ahd. a/aymz.
appl m. Apfel, Krmw. Zps. erdappl
(s. d.) in. Kürbis; mcrappelm. Kartoffel. Krh.
auo! ecce, sieh da! anoglä! warum
nicht gar! Krh. s. gld.—hanu: ecce, also
Dpsch. s. Wtb. 83 unter na; vgl. angel-
sächs. heonü, he'no ! allnord, hana, hananü!
ahd. inu! bei Tatian enol Gr. gr. III, 248?
magyarisch: ninil nil ecce.
iirk, s. erk.
as: als Krh. vgl. Weinh. dial. 65.
Fromm. IV, 99. II, 95. 7.
aschtag' m. einen aschtag halten kommt
öfters vor in einem Kirchenbuche in Kuh.
aus dem XVII. Jarli. aschtag für Ascher
mittwoch bei Jeroschin 188. Schmell I,
133. Ben. Müll. III. 5.
ast f. Brett oder Balken in der Küche,
darauf Holz getrocknet wird. Kuh. vgl.
Fromm. V, 357: iistcr: herdstein?
iixt f. die Wagenachse, Krh.; hingegen
*ax: securis Krh. Warum das a hier urn-
lautel, ist schwer zu sagen; wegen dem i
der zweiten Sylbe im lat.? ahd. ahsa: axis;
achtes: securis.
li P und für VV.
*pach f. der Bach, Krh. vgl. Wtb. 31.
*bachalan. die Krume vom Brot, ein
Stückchen Brot. Prb. scliles. weichelei u.
Weinh. 104.
bachen in. Speckseite. Siebcnbürg.
(Schäsb.) büchen, s. Wtb. 31.
paclit n. der Dünger, gewöhnlich in
Kiismark: peuch ; davon peuchet: dumpfig,
verschimmelt, s. Wtb. 38. Weinh. schreibt
boochtpocht n. inllolteis Gedichten 3. Ausg.
208 linde ich : ach der hübet is anne pocht!
das ist fein.? Oberl. Anton 1,4: bucht:
Schlaflager, westrw. bogi Sclnnid 29.
*baisen in *pobaisn: bezaubern; de
aide hex hat me pobaist, dass mai" ku
ka melich hat, se hat me wüe' de melich
pobaist, Krh. einem weisen heisst begaben.
Schmell IV, 179, s. Weiteres über das Wort
unter weisen.
Palmsdorf: eine Ortschaft der Zips,
sonst Harrikötz. vgl. Palmersdorf bei Cöln.
X. Jhrh. Förstemann Ortsnamen 177.
*paletel n. hundert ruten (s. d.)
machen ein paletel, Krh. zu ital. bolleta
bullcta: zettel? die bollete nennt man z. B.
den Zettel, worauf gemeldet wird, wieviel
Soldaten ein Ort oder ein Theil desselben
zu beherbergen hat. Vermuthlieh wurden
ehedem hundert Buten mit einer Bollete
abgethan.
*ba‘n: werden Dpsch. ech barr du
bi'st her bi't bir ba'n ir ba'-ts si bdn part.
p. boa'n, s. Wtb. 104 und unten werden.
*pansn f. ein Theil der Tenne, Krh. im
bair., österr., Schweiz., schwäb. fehlt das
Wort, findet sich aber im md. und nd. Gr.
Wtb. I, 1119. Fromm. IV, 164. (bansam
selilcs.) ||, 44, 39.
pantschen ; in etwas nassem herum
arbeiten, Wtb. 31, auch sieb. (Schiissburg)
üblich.
piipain : essen, Kndspr. ich päpai, du
päpaist, er pdpait, wir päpuin; ich habe
gepäpait, Eltsch. vgl. Wtb. 32: pappen.
Die Entstehung der Bildungssylbe hin habe
Nachtrag- zum Wörterbuche der deutschen Mundarten etc.
259
ich oben bereits zu erklären gesucht. Dem
nach wären obige Formen entstanden aus:
papa-en, ichpapa-e du pupa-cst, er papa-
et etc.
*parkes m. das Stockwerk Krh. zu nd.
park, perk: pferch? madj. pdrkäny.
haron m. barönclien n. der Steer,
Hammel, Zips. vgl. madj. bäräny, slav. heran.
pasch! fett. Prb.
*past m. Weidenrinde, Bast. Krh. mhd.
hast stm.
Bath oder Frauenmarkl: forum domi-
narum in der Honter Gespanschaft; 1463
(Kessler las falsch forodnä). Bath 1365.
Bad. 1398.
* „ patroschiern ; Wirtschaften“ ?
Krmw.
bätsch m. Schafhirt. Wtb. 33. sieb.
(Schässburg) hatsch.
baz m. Weizen, Krh. sowie hass: scio
mhd. ei=ä, in der Zips ei (ei), s. Wtb. 48.
65; auch bair. östr. watz, wouz womit mhd.
wetze, stm. besser stimmt als mit dem Wei
zen der Schriftsprache, das übrigens auch
bair. vorkömmt. Schmell. IV, 204.
patzen: Ungeziefer tödten, Wtb. 33,
sieb. (Schässb.), ebenso : zerschlagen, dass
es aufspringt; patzig Wtb. 33, auch sieh.
patzvöl: zum zerspringen voll.
bauben beuben: oben, Ksm. s. Wtb.
38. altkölnisch hoven, Fromm, II, 309.
Aachen m. hovv>e.
hauchen, bäiclic»!! Wtb. 33, sieb, hei-
chen, bedien (Schässburg).
♦bechtech: ansehnlich, wichtig Krh.
♦bdeha: welcher, Krh. bcga Prb.
bc? dren, sich; Platz haben, Wtb. 33.
Der Ausdruck ist sowohl in den ungrischen
Bergstädten und in der Zips als auch im
Siebenbürg', allgemein. H.
beg'a*, baig-e*; wieher, schöner, der
Komparativ von staif; schmuck, schön in
Krh. Beide Wörter in ähnlicher Bedeutung
kommen in oberschwäbischer Mundart vor,
Fromm. IV. 106, 31, 107, 34 ahd. wahi mhd.
wwhe lebt auch noch in Vorarlberg: wich,
wcech, Fromm. IV, 323. 329; in der Schweiz
und in Schwaben, im Allgäu und in Tirol
scheint das Wort besonders heimisch, Schm.
IV, 49. Stalder, Tohler, Schmid. Nun ist
der Spruch auch deutlich, der Wtb. S. 123
nicht richtig - aufgezeichnet ist; er soll
heissen:
ic bcege das mddl, ic bcege' di praut,
nim hra das piertl setz auf di haub.
in Trxlh. hörte ich den Vers: höpsch mddl
pistu bol, beim de nje beiger beerst! (?)
schiens ketlain trägstu bol bennd’ nje pald
maine beerst! in den XIII Gemeinden in
Italien ist das ähnliche begor: besser, üblich;
dies gehört zu mhd. weege, Cw. 110. Schm.
IV, 39. f.
beit f. Teigbrett. Wtb. 34, auch im sie-
henbürg. auf den Dörfern hei Schässburg*
beokt H.
♦bei m. cauda, Krh. Die Ausdrücke
Schweif, Schwanz sind daselbst unbekannt.
bei aber ist: Wedel; in Glh. sagt man bedl;
im fränkischhenneberg, istwedel ein belaub
ter Zweig. Fromm. II, 170. Für Schwanz
angewendet kennt es auch Schmell. IV, 21;
in der Oberlausitz hat das Wort die Be
deutung: Schwanz, Anton XV, 8.
beliewern wtb. 77 f. Aachn. m.
belevcre.
pell seit f. ein weicher Kuchen, Wfb.
34; peitschen knh. peülschen, Prb.; im
siebenb. (Schässburg): beltseli.
*betzn: wälzen? aing-ebelzt: be
schmutzt, Krh. ech ben je ganz aingebelzt!
sagte ein von der Reise im Regen durch
nässter Bauer, den ich aulforderte sich zu
mir zu setzen.
bendesch bin dis eh : slavisch, Krh.
bindusch. Plsn. Dpsch. windisch, Zps., dass
die Krickerhäuer von sich aussagen: bir
sain bindisch, wie Wtb. 105 steht, hat sich
mir hei meiner Anwesenheit daselbst nicht
bestätigt. Der Ausdruck windisch für sla
visch ist uralt, s. Schmell. IV, 111.
♦pemll n. das Band, Knh., daselbst be
deutet auch schnirln. Schnurlein, indem in
Plsn. ersteres Wort unbekannt, letzteres
(Schnüral) f.Band gebräuchlich ist, Wtb. 95.
peiidlhemb n. das Unterhemd, midala
mücde‘la n. das Oberhemd, Plsn. Lrzn.
Krh. s. Wtb. 34..
ISenesclihäu: dies ist der deutsche
Name des deutschen Ortes „Maizel u bei Prl*.;
letzteren Namen geben ihm die Slaven, ob
wohl er auch deutsch klingt und auf die Be
schäftigung der Beneschhäuer, die zum
grossen Theile Steinmetze sind, hindeutet.
Bencschhäu erinnert an die alten Ortsnamen
Benisburg, Benesheim, Beneshusum, Be-
nesthorp, Förstemann 198, die von dem
Namen Beno (Bernhard, Berengar) abge
leitet sind, vgl. Iiuneschliäii.
Perg 1 , Piarg’: ein Häuerdorf bei Schem-
nitz; in einer Urkunde von 1400 noch: Si-
gelsperg, der Bach daselbst: Sigelspach,
vgl. Förstemann 1264. Zu dem ia in der
bei Slovaken üblichen Form vgl. hjard.J.
Bettelsdorr: der deutsche Name des
deutschen Ortes, den die Slaven Solka nen
nen und den Korabinsky, ebenso wie Be-
neschhäu ein slavisches Dorf nennt.
♦peten: lesen, Mw. in Miinichwies
(Vriezko) ist die Bevölkerung unvermischl
deutsch. Weiber und Kinder verstehen
nichts slavisch, nur die erwachsenen, meist
vielgereisten Männer sprechen auch slavisch;
dennoch ist der Gottesdienst hier slavisch
und die Kinder müssen in ein slavisches
Dorf in die Schule gehen und lesen lernen
in einer ihnen fremden Sprache. Sie haben
slavische Gebetbücher und kennen keinen
andern Gebrauch des Lesens als den „zu
beten“, d. h. in diesem Buch zu lesen. Sie
sagen die eingelernte Beichtformel slavisch
260
Julius Sc h rö e r
und beichten dann deutsch. Der Ausdruck
beten in der Bedeutung' lesen bildet sich
auch in Mischdorf in der Pressburger Ge
spanschaft; er mag überall auf ähnliche Zu
stände hindeuten.
petestockm. ein Gestirn, „drai stedn
af anefzdl“ Krh.
petscheu: zwicken, Wtb. 35, auch im
siebenb. üblich. H.
betritsclien: bespritzen, Wtb. 45, im
sieben!». (Schässburg); betritschen.
biers wtb.35. in einer Sehemn. Stadlrech-
recbnung von 1373 steht ein posten pro
cerevisia. 1462 : ein seitel byer ein denar.
pimmernuss, Wtb. 34, im sieben!»,
die staphylea pinnata H. , so auch in
jflahren.
pip f. Pfeife, Wtb. 36, siebenb. pip.
pisen: laufen, vorn wüthenden Rennen
des Rindes in der Sommerhitze, Krh. vgl.
Weinh. dial. 95, allgemein verbreitet.
* bissen, bessen : wissen, Krh. Dpsch.
ech bess, du best, her bess, bir bessen, ir
beszts, si bessen, pari, yabost. Dpsch. ech
bäss, Krh ech böss, Pis. s. Wtb. 109. ich
weiss, wess. Zps.
* bitterer, bitter: welcher, Krh. vgl.
seltener, Setter, in Plsn. lettener, Wtb. 104,
unter wie. hieher gehört das Wtb. 58 un
erklärt gebliebene adject. holdabitta = ha Id
u bitte’: halt ein wie taner, d. i. einer, der
besser sein könnte, ein leidiger, unbrauch
barer Mensch. So ist ein haltwus, holder-
was, *haldrber: ein halt was, halt wer, ein
nichts, taugenichts und *haltabi, hultabus:
unnütz, Wtb. 57. 58. 104. Cimbr. bittun,
tirol. wcttcr, Fromm. IV, 456.
♦bjofn, g’ebjoft schw. (— würfen)
Getreide in die Höhe werfen , um es durch
den Luftzug zu reinigen. Prb. buo fn, ye-
buof't, dasselbe in Krh. Kuh. yewno’-ft Mw.
zu wurf, burf, Plsn. s. Wtb. 105, vergl.
worben, Schmell. IV, 139.
bjo seht f. plur. bje seht: wurst, Prb. die
Präjotirung des o (für u) und e (für ü ö)
scheint durch das nachfolgende r bedingt,
obwohl das r hier ausfällt; wenigstens tritt
sie meist vor einen Vocal, dein ein r folgt:
bjofn : worfen, bjost: Wurst, djdch: durch,
djarr: dürr, ausyedjerrt: ausgedörrt, nje :
nur Prb. oder es erhält das o, welches für
u, das c, welches für ü steht, diesen Vor
schlag? weil in Krh., wo man buofn, biVst
sagt, dieses./ nicht gehört wird, indem man
.auch dort nje : nur hört, vgl. Wtb. 65, der
naheliegende Vergleich mit dem altnor
dischen, schwedischen, dänischen ia, ja u.
dgl. wird unter »I angestellt, s. d.
* pii'iknecht m. der Junggeselle.
Dpsch. ?
pldhc, pleuh f. plur. plcuhen: grobes
Tuch als Decke, Mantel, Zps. Wtb. 37.
plohc (sollte heissen plohe) und plou
sollten beisammen stehen ; seliles. plane f.
Weinh. 71 ? Gr. Wtb. II, 61.
pläckenstclleclit: ausgelassen, lu
stig. e pläckenstellechta Knecht. Krh.
Blasiusfest n. Wtb. 37. auch in Siebenb.
noch üblich. II.
bleul in. Wtb. 37, siebenb. bloal.
plinzeku f. das Spiel blinde Kuh, Krh.
vgl. Weinh. 10: blinzen, und Wtb. 37. der
Zipser Ausdruck: blcntschcbakc, Wtb. 31,
unter backe.
ploa'n: Marren, weinen, Krh. allge
mein Fromm. IV, 323. 332. 358,6. 491.
bloch m. der Schäfer, Ksm. in Sieb,
ist bloch der Wallache. Wtb. 37.
plode’n : mingere, Krh. vgl. Wtb. 37.
pledern und Fromm. IV, 332.
der Plofusx 1573. Plofus 1599. plaw-
fuesz 1593. So linde ich den Namen des
Ortes bei Kreinnitz (im dortigen Stadt
archive) geschrieben, der jetzt ßlofusz,
ßlaufusz und ßleifuss genannt wird, vgl.
Wtb. 52.
ploscli f. das nachlässig gekleidete
Frauenzimmer, Krh. zu blosch, Wtb. 37?
oder bldsche, Fromm. IV, 205?
plümela n. 1. das Blümelein. 2. die
rothweiss gelleckte Kuh. ploela oder
wajela (bläulein , veielein) : die graue,
hroctcsch f. oder kolinkai die rotheKuh,
andere Namen noch unter —ai. Aber auch
dichterisch ist plüm und plümela für Kind,
Mädchen in Krh. nicht unerhört. Wenn
die Mutter ihr Kind am Grabe beklagt,
singt sie wol:
6 plümela mai~, plümela mai' !
ba hast du mich ijelaszcn !
bd bit nu dai binkula sai' ?
ö plümela mai , plümela mai !
alle plümen di sain äfjeplüt,
nje du pisl zuyeplüt,
6 plümela mai', plümela mai' !
(Krh. aus dem Leben.)
tgepluntsch n. städtische Kleidung,
Prb. vgl. plunschiy blunschiu dick, Weinh.
72. Gr. Wtb. II, 169.
*bo *ba: wie, warum? Krh. nd. wo:
wie, Fromm. II, 95. I, 275. 2, 1. in der
rheinischen Mundart desTatian schon wuo:
quomodo Cap. III, 6. XXII, 3. 6. 10. 11.«5.
buben: oben, Zps. nd. md. Aaclin
in bovve altköln boven, s. bauben.
pockelhaubc f. eine Art Frauenhaube
in Prb. unter der böckelhaube, Gr. Wtb. II,
204. I, 1215; bcckelhaube scheint nur die
männliche Kopfbedeckung, Pickelhaube
des Kriegsinannes verstanden zu sein. Da
von ist obiges Wort, sowie die Boggel-
hauben der Augsburger ßiirgersfrauen,
Schmell. I, 152 zu trennen, vgl. „wenn die
sächsischen Weiber (in Sicbenl»ürg*en)
ihren Kopfzeug aufsetzen, so heisst dieses
bokeln“, ungr. Mag. I, 265.
wol—bol —: welch — findet sich nur
in Dopschau und Sieben!». Wtb. 104.
Fromm. IV,410, 75, scheint dem solch naeli-
gebildet, indem sonst die Vocale aus ein-
Nachtrag’ zum Wörterbuche der deutschen Mundarten etc.
261
,
ander stehen: goth. ahd. hueleiks, huclih
neben swaleiks sölih, vgl. gr. Gesch. d. d.
Spr. 645 f. Tatian hat zuweilen wuohlihh,
z. B. LIII, 4.
*böla n. das rotlie Osterei. Prh. vgl.
Wtb. 82. 105: molei, wolei; in Ksm heisst
die Farbe zum Eierfarben wenlc und meule
das Osterei: weulei und meulei, vielleicht
ist weule meide (= male') nur Umdeutung
von weule; für «las w spricht die nun in
Prb. gefundene Form bola, für das m die
in Dpsch. (wo man auch b für w spricht)
gefundene molein. In Prh. wird das Wort
nicht mehr verstanden, doch gebrauchen
es die Kinder, indem sie zu Ostern vor
den Thiiren rufen: um e bola, em a bola!
wofür sie Ostereier kriegen. Ebenso rufen
sie um Neujahr: em a näja' (Neujahr).
♦Pöleseh, Paulisch: der deutsche
Name des deutschen Dorfes, das die Slaven
Pila nennen. Ob der Name für polisch,
■polnisch zu nehmen ist oder auf die Pau-
liner, die hier begütert waren, hindeutet,
habe ich noch nicht ermittelt. Vgl. den
Dorfnamen Palosch, Pälesch in Siebenbürg.
Fromm. V, 39.
♦Bolwesch m. das Ungeheuer: du
Bolwesch! net glotz e so bi a bolf'! Krh.
beinahe sowie bei Saxo Gramm. 130 ein
Bilvisus (icquus), dem Boivisus (iniquus)
gegenübersteht, so steht dies Bolwesch
neben Bilwitz, Bilwis Pilweins. Wtb. 36,
vgl. Gr. rnyth. 347. Sonst fällt es beinahe
mit dem Adjectiv bolwesch: wölfisch, zu
sammen, von dem es doch wol zu trennen
ist, da der Umlaut mangelt.
* pomclich: langsam, Krh. *pumelich
Lrnz. pumelit, Prb. pameelich, Zps.Wtb. 32.
pöppel, pepel m. mucor Ksm., vgl.
Fromm. II, 236. VVeinh. 72, in dieser Form
i»ul. schles. nordböhm. — nd. bobel, bair.
pipel. —
*bosser. — * basserg’csclinjell n.
Wassersuppe mit Mehlspeise. Lorenzen.
wasserschnell f. in Mw. scliles. wasser-
schnelle f. bairisch wasserschnallcn etc.
Weinh. 87.
pra;g*elii: schmoren, Käsmark; wird
daselbst ganz so angewendet wie ander
wärts prescln. s. d.
prang*erstie’n f. Prangersdierne,
Sclianddierne für den Pranger reif, Knh.
„pranguslin: Schimpfwort“ Krmw.
Praubli Praben : Deutsch Praben,
madj. Nemeth Pröna sl. nemecke Prawno,
vgl. Wtb. 16.
prautkauf m. noch in Dopsch. bei den
Hauern. Dabei kniet die Braut auf ein Tuch
und verkauft Küsse. Der sie küssen will,
wirft ein Geldstück vor ihr auf das Tuch.
Preybitz: Privitz, Neitraer Gespan
schaft; so geschrieben 1380. Schemnitzer
Archiv.
geprell n. unnützer Kram. Das ist
lauter altes abgenutztes geprell, Ksm.
Sitzb. d. phil.-hist. Ul. XXXI. Bd. II. Hft.
Schweiz, brüllen : Mistknollen , Stald.
215. Aaclin m. pröl (prüll) nl. preutel:
geriimpel, Müll. W. 188.
presclien: einen hetzen, jagen, Ksm.
ebenso schles. Oberlausitz, Weinh. 73.
Anton I, 8 und n<l Fromm. II, 180, 35. zu
sl. pressinauti sc?
* preseln : schmoren , einbrennen,
Lrzn. Krh. Knh. presellebe' 1 1: Einbrenn
suppe, Lrz. Krh. in der Aachn. Mundart
bröselen: durch einander kochen, Müll.
Weitz 26. Oberdeutsch bröseln, brotzeln,
brutzeln, brägeln, Fromm. III, 424, 3.
schles. prützeln, Weinh. 73. Zps.: pretzeln
Wtb. 40, in Käsmark praegreln. s. d.
Briesen: jetzt gewöhnlicher Bries,
Breznö bänya,‘ Stadt der Soler Gespansch.
♦prombai m. Branntwein, Trxlh. vgl.
Wtb. 171; im Zillerthale brombei', Fromm.
V, 107.
*prommf. Bassgeige, Krh. bromm,Krmw.
sehles. brumme f. Fromm. IV, 165 (im Re
gister fehlt bei diesem Worte die Seiten-
zahl). e __
* pro' I n. Briinnlein, das totnprö'l
am poarlel heisst ein offener Brunnen in
Krh.
♦prulleclt m. Brustfleck, Brustlatz,
Lrzn. Prb. prusfleck Krh. Brustfleck, Krmw.
slovakisch prusliak.
prun, pru : es prüf de nessel; a
haus cst ägepriit Krh. Altköln.: broen,
dat vuer broil: das Feuer brennt, Fromm.
II, 309. Auch sehles. noch brühen für
brennen, Weinh. 12 f., ebenso in der Zips,
vgl. Wtb. 40.
bube f. Wiege; bübain : schlafen. Men-
hardsdorf, vgl. Wtb. 40.
♦püehheckel f. buchecker Krh.; das
ungehörige h im Anlaut des zweiten Wortes
der Zusammensetzung wohl zu erklären wie
in erdhauch? s. d.
* pullen : fallen, gib acht du b^st puf
fen! Krh.
Pukanz, ein Städtchen, Honter Ge-
spansehafl, 1324 durch die österr. Herren
von Ilaslau von Bath aus gegründet. Schem
nitzer Archiv.
*puin f. Bühne, Krmw. in der Bedeu
tung wie Wtb. 4. Aachen m. geben. Dies
ui für ü wie im altkölnischen für ü u:
kuirten klärt: kürzen, kurz, Fromm. I, 179,
butening' biikndeng > : wüthend, ra
send : u biikndenga mensch, Krh. Zur Er
läuterung dieser Bildung setze ich einige
andere ähriliche her: a trägndenga ku:
eine tragende (trächtige) Kuh; a hinken-
dengs leml: ein hinkendes Lamm; di ku
hat 'as gelndenga (s. d.); ebenso hört man:
’s lebendenga, 's schütteldcnga, 's laufn-
denga. Es ist diese Form eine fernere Er
weiterung der inlid. Doppelbildung — endic
(habendic brennendic), die in der sehle-
sisehen Mundart zu — nig wird, laufnig
etc. vgl. Weinh. Dialektforschung 109. Die
18
262
Julius S c h r ö e r.
schwachen Biegungsendungen der Casus
obliqui, in den Nominativ vorgetreten,
gaben —igen, das nun wieder nach Schm.
Grammatik §. 580 — ing gesprochen wurde
und nun vollends noch wie ein echtes — ing
Flexion erhält. So sagt der Österreicher
für: im übrigen (d. i. übrigens): imübringa,
<1. i. in dem übrig-enen; und so wäre denn
ein bükndenga: ein wiithendigener, wobei
noch der Übertritt des t in k vor n anzu-
merken ist. In schütteldcnga fällt zwischen
l und d das n aus. Das unter — ai an
geführte österreichische : lächadäng-ai
scheint ähnlich gebildet, lebendeng (vgl.
BM. I, 956, mhd. auch ein lebending aus
dem Vaterunser des Heinr. v. Krolewitz
lebindinge leb. Ludwgs 164) deutet auf die
richtige Betonung, die auch in Leutschau
noch gehört wird; wo inan lebndich (nicht
lebendig) sagt. Unser biitendinga scheint
aber geradezu aus Thüringen zu stammen,
vgl. Sehmell. §. 917: c wüteninger oss etc.
Schmell. vermuthet in diesem — ing eine
dem end analoge Endung, gleich dem eng
lischen — ing: „was das vorangehende en
(wüteninger) betrifft, so scheint es eben
nur die bessere, aber im Dialekt verdun
kelte und durch tautologische Beisetzung
des —ing aufgefrischte Endung end, en'
zu sein (was unsere Krickerhäuerformen
vollends bestätigen)“. Obwohl nun auch
noch das in Anschlag zu bringen wäre,
dass im niederrheinischen, wo diese thü
ringisch - krickerhäuische Form ihren Ur
sprung nehmen könnte, das nd sich in ng
verwandelt, oder das dem n hinzugesetzte
y das d verschlingt {ende siebenbürgisch:
engd, kölnisch: eng; beende, siebenbürg.
hängd, kölnisch, häng, Wtb. 22), so bleibe
ich doch bei meiner obigen Erklärung.
Das englische — ing ist eine ähnliche ad-
jectivische Endung, die das Particip —end
schon im mittelenglischen zu verdrängen
begann. Gr. gr. I 2 , 1008 wie umgekehrt
das Schwedische, adjectiva in partic. prses.
verwandelt (:rosende kind u. dgl. Gr. gr.
IV. 64). Dass das von Schmell. a. a.O. an
geführte ze sprechent, zc tunde etc. aus
dem Dativ des Infinitiv entsprungen, ist
hinreichend dargethan. Gr. gr. IV, 60. 64.
105 ff. 113. In fränkisch - henneberg.
Mundart finde ich schreiennig, Fromm. II,
172. koburglsch: lacheniy neben dem
henn eher gischen: lacherig, Fromm. II,
278, vgl. noch Aachner Mundart dreckc-
tig, reuetig: dreckig, ruhig. Müll. Weitz.
VIII.
*buo‘gen: würgen, Krh. vgl. Weinh.
106.
♦imrgal n. Kinderspielzeug, ähnlich
dem piske (Wtb. 36.) Krh.
*purscht m. Bursche, sonst *k»eclit.
Zuerst hörte ich die Form in Krh. aus dem
Munde eines Bauern, einige andere, die
ich fragte, kannten das Wort nicht als
krickerhäuisch. ln Knh. hörte ich es wie
derholt. Diese Form findet sich in Rh ein -
l’ranken, Fromm. II, 552, in Franken
überhaupt Fromm. III, 358, im aleman
nischen z. B. bei Hebel, Iheilweise in
Tirol, Fromm. IV, 213 f. Im siebenbür-
g’ischen Fromm. V, 520, 1 : bö ( stc m. —
lnVscht f. Wurst, Krh. bjoscht Pr. (s. d.)
ml. wost, Fromm. V, 301. das buschtessen :
1. das Wurstessen , 2. die Verlobung. Dabei
stellt sieb eines der jüngerenGeschwister der
Braut oder sonst jemand auf die Ofenbank
und sagt zur Braut: miimel Anna (oder wie
sie sonst heisst), beit er 'ne kräppen adc i
beit er ’ne rnä~ ? die Braut: ech mag net
'ne kräppen, ech mag nje 'ne mä~! Krh.
Ch.
Die Diminutivendung — chcn beschränkt
sich mehr auf die Zips, s. Wtb. 42. 76.
(unter —le), 83 unter name. Den Kinder
reim der Wtb. Seite 83 unter nase mitge-
theilt ist, hörte ich nun vollständiger in
Ksm. Da er die Diminutivformen der Zipser
kennzeichnet, finde er hier Platz:
c stij’nchcn wi e bio ( nchcn
e äigclchcn wi e veigelchen ( Vögelchen)
e näis-chen wie e häisehen
e mäil-chen (Mäulchen) wie e Veilchen.
Der Wechsel des f und ch, wie er im
nl. vorkommt, findet sich nur in lacliter,
s. d., wahrscheinlich in gclichter, Wtb. 77,
vielleicht auch in krachen, Wtb. 73. nd.
k für ch in stierke, Wtb. 99, jerke, Wtb.
65, rosinken, Wtb. 88'.'
D T.
darf tjaf, s. d.: ech tjaf, du tjaf st, he
tjaf, bie‘ tjaffen, part. pass, getjafft, Krh.
*därm däa‘me‘ (= därmer) : das Ein
geweide, Krh. Über die Mehrzahlendung
— er, die bei masc. ursprünglich nicht
vorkommt, bei diesem Worte schon im
XVI. Jahrh. nachzuweisen ist, Gr. Wtb. II,
779. — Das r im Auslaut wird in Plsn. Kr.
Prb. höchst selten gehört; in Kr. nur zu
weilen leise im Artikel: dr und in hear:
Herr, s. Wtb. 86. In der österreichischen
Mundart wird das er in solchen Fällen zu
a, ca, ir, zu ia, ur, zu ua, in diesen md.
Mundarten höchst selten (hear) und da
vielleicht nur durch österr. Einfluss. Es
fällt hier das r wie in der Aachner Mund
art vor Consonanten völlig weg; österr.
Vater: väda, muter; muada, der: dea, dir:
dia, Wurst: wuascht; hingegen hier : väte e ,
mute 0 , de 0 (dr), dio°, bü c scht, s. Ii.
*täg m. *täcli, *täcli, täch m.: tag.
als lehrreiches Bild für die Verwandtschaft
und den Absland der Mundarten stelle ich
hier aus einigen Hauptorten die Wochen
tage zusammen.
Käsmark: Meuntäch , D&nstach,
Mettwoch, Doimcrschläch, Frai-
Nachtrag zürn Wörterbuche der deutschen Mundarten etc. 263
I
I
tack , Soimäubend, Sonntacli, vgl.
frank, hennebergisch: Muentig, Moentig,
Deinstig, Mcttwoeh , Dünner st ig, Fräitig,
Sunnoebet, Sunntig, Fromm. III, 222 ff.
Dopsehau 1 ): Mantach, Ikciistacli,
M(Mlboch , Donnerschtacli , Frai-
tach, Sonnabend, Sunntach.
Kuneschhäu : Mantik, Oeinstik,
Moidboch, J)öne*sclitik, Wraitik,
Seimet (in Prb. Sinh. Gdl. Simmet; nord-
höhm. Simrnt Fromm. III, 216) Sunntik.
Krickerhäu: Ma;~tik 2) ( a hd. mdnin-
tac mnl. manendach, maendach s. nuen.)
Dcnstik, Me "hoch (in Gmünd heisst er
noch Quomtag. Fromm. V, 262), Ikonesch-
tik, Wraitik, Sömen, Sontik.
Pilsen: Mal' lieh, Airochtag*, Men-
tochn, T linztag’, Wraitag*, Samstag’,
Suntag*.
Sette communi: Mentak, Frtak,
Mittoch (Mfttak), Fistak, Weaitak,
Sastak, Suntak.
Tirol: Mantig, Erchtig, Mittig, Pfinstig,
Fr eilig, Samstig, Suntig, Fromm. III, 460,
vgl. IY r , 538. IX.
Krickerhäu, Pilsen und die sette com
muni zeigen Verwandtschaft in der selLenen
Form: Mee'tik, Mai'tich, Mentak,
Käsmark, Dopschau, Kuneschhäu, Kricker
häu haben noch die md. Formen: Dcnstiich,
Oeinstik (wie frank.-henneb.) Dinstik. Pis.
VII. comm. Tirol haben Airochtag, Ertak,
Krickerhäu und Pilsen schieben inMittwoch
einen Nasenlaut ein, Knh. mit Weglassung
des tt, das schon in Knh. Dopseh. weich wird.
Pis. mit Weglassung des w wie in den sette
com. und Tirol: Ksm. mettwoch (wie fränk.-
henn.) Dpscli. Medboch, Krh. Moidboch,
Krh. Me'boch, Pis. Mentochen, Vll com .Mit-
tak (tirol. mittig) sieben!). Metlig Mag. 1,275.
Ksm. Dpscli. Knh. Krh. haben Donnerstag;
Plsn. VII, com. haben Pfinztag.
Freitug ist allen gemein.
Ksm. Dpscli. Knh. Krh. haben das mehr
md. nd. Sonnabend, Seimet, Sömen; Plsn.
und die VII, com. das mehr oberdeutsche:
Samstag, vgl. darüber Fromm. III, 216 unten.
Wir sehen deutlich, dass die Mundarten
wohl zusammengehören, aber durch räum
liche Trennung und verschiedenarlige Zu
wanderungen sich von einander entfernten.
*tadeng*: plaudern, sprechen. Beson
ders beliebt in Knh. Die regelmässige Um
bildung des Zipser Ausdruckes: tädingen
Wtb. 42, d. i. tagedingen, teidingcn. Das
subst. der tädig*; Rechtsstreit, lebt auch
im •siebenbiii’g’isclicn, Fromm. IV, 195.
Aaclin m. deding. Müller Weitz 31.
O Vgl. ii. (1. Übergangsslellung v. Dopschau Wt b. 133.
a ) Obwohl Miinichwies eine ganz isolirti* Stellung
entnimmt imVergleieh zu den Orten um Kremnitz,
l'raben, Krickerhäu (kein b für w, kein w für f),
so stimmen die Wochentagnamen doch mit Krh.
überein ; Min'tik, Dinstik, Dleithvoch, Döners ch-
tik, Fraitik, Simen, Sontik.
dar daa‘: in bu gest du daa‘ ? wo
gehst du hin? in Prb. Krh. Smh. in Dobsch.
nur: bo gest? wo gehst du hin, was slav.
aussieht. Über das alte dar s. Gr. gr. III,
172, f. 20. westerw. Schmidt 44.
tarn (für türren): es wagen dürfen,
Dpscli.: cch tarr, du tarst, her tarr, bir
tarren, er tarrts, se tarren, s. toa auch
in der Oberlausitz noch, Anton führt es un
verstanden auf 1, 21 u. 13, 14.
tarnnda f. Schwätzerin, Krh. sl. Jung-
uiann IV, 651. vgl. taratantara: redebutil
voc. 1420?
♦taschen p|. unreif essbare, angesto
chene Pflaumen, eine besondere Art, Krh.
nd. in Fallersleben lasche f. Fromm. V, 298,
vgl. III, 343.
* teile* m. der Teller, Krh., s. fresz-
bretal.
*tellel n. kleine Vertiefung im Rasen,
Ruheplatz im Freien, Pis. Aachener
Mundart: die diill; eine Vertiefung im
Felde; zu Coblenz, im Westerwalde, in
Messen ebenso, Müll. Weitz, 8. 30, rhein-
fränk. dell, Fromm. II, 551.
ten d I n. der Haarkranz der Mädchen,
Krh., vielleicht zu mhd. tinnc: die Schläfe,
weil dieser Kranz von Haaren auf den Schlä
fen ruht? Dies seltenere Wort lebt noch in
der Hildesheimer und Tiroler Mundart.
Fromm. II, 124. III, 16. IV, 445.
tenkn f. Tinte Prb. sieht noch ganz
niederrhein. aus, s. Wtb. 22.
deg*e‘: dieser Krh. dege herr, dege
frau, degs haus, Knh. Man könnte sich ver
sucht fühlen , auf die Gr. gr. III, 27 ausge
sprochene Vermuthung — dass ahd. deser,
desiu diz mit dem goth. mit —uh zusam
mengesetzten Demonstr. in Zusammenhang
stehe — zurückkommend, anzunehmen : dass
hier das S(= z) im goth. genit. thizuh thi-
zozuh nicht wie im ahd. mhd. überwog,
sondern vielmehr ausnahmsweise dem Suffix
unterlag, so dass nun die Flexion an das
selbe angehängt wurde — dass statt deses
desero aus thizuh thizözuh; de(su)hes de
(su) her ward. 'Die seltsamen Formen der
Oberlausitzei* Mundart scheinen fast die An
nahme zu bestätigen: dasseche, dassceke:
dasselbe, dehichte, diehichte, deckte: die
ser da, diese da, Anton 1, 9, vgl. VII, 15.
Da man ohne ältere Zeugen dies dasseche
jedoch kaum aus dem goth. thatuh wird er
klären wollen, so muss angenommen wer
den, dass seche für sechtige, sechtje aus
sochtän(ige) steht, s. Weinh. Dial. 141:
also dasseche = das solche , das sogethane
ebenso (oder vielleicht das so-ichte?) muss
dege‘ aus deckte, d. i. der hichte (aus dem
demonstr. Stamme hi- s. Weinh. Dial. 141)
entsprungen sein.
dei: die, illa Krh. altkölnisch rfe?,
Fromm. II, 310.
des: diess. des is scho~ de böret: ja
wohl (wörtlich: das ist schon die YVahr-
18*
I
264
Julius Sehr ö e r.
heit!) Krh. übliche Redensart, diser, dise
fehlt in Krh. des schon rahd. dez Schm. §. 747
scheint österr. bair. gewöhnlicher in Krh.
sei. s. d.
tl’etib m. Pfau, Ksm. oherpfalz. pfdb,
voc. phofe. Schm. I, 326 über tf für pf, s.
Wth. 31, 83.
♦tirpel, diirpl m. die Schwelle, Krh.
Also auch in Krh. lebt dieses seltene Wort,
das sonst nur in der Zipser (türpel) und
in der Siebenbtirg'er Mundart in der rei
nen Form türpel, dürpel erhalten ist. Wtb.
48. Fromm, in seiner eben so gehaltvollen
als freundlichen Anzeige meines Wtb. V,
233 weist zwar noch einige Fundorte nach,
aber Ztschr. IV, 284, 106 und V, 40, 103:
dirpel ist siebenbürgisch. Sonst findet sich
das Wort nur entstellt: driippel friesisch.
Fromm. IV, 128, 19. bei Schütze: drümpel,
in Aachen: dölper, Fromm. V, 238. ul.
dorpel, holstein. dnnnpel etc. Müll. Weitz
34. Auch hier haben unsere Mundarten eine
reinere Form als die niederrheinischen,
vgl. Wtb. 22.
* tjaf: darf, eeh ijaf, tu tjafst, hc‘
tjuf. bir tjaffen; wir dürfen, partic. praet.
pass, getjajft, Krh. Prh. vgl. tou. Da es im
schles. selten ist, Weinli. Dial. 130, so
Hesse sich annehmen , dass es aus dem
österr. (i teuf) herübergenommen ist; aus
teuf konnte tjaf entstehen, vgl. jedoch djar,
bjoseht, jatz; über die ähnliche Erschei
nung im altnord. schw. dän. s. unter J.
djar: dürre, Prb. Krh. vgl. oben
bjoseht. ui. dor. Aus österr. dia e ? dürr.
djoscht (dorst) m. durst. Prh.
Dilln : Bergstadt, Honter Gespanschaft:
Dilnitia 1373 sartor de Dilinis 1382, mon-
tani in Dilnis 1383, fejer banya alias Dilna
1387, Thomas de Dilnis 1394, Meschei de
Dilinis 1398, Dytz de Dilnis 1404, peyn
(=bi dem) Di ln 1422, Dilin 1439, vgl.
damit das alte Ditnu marcha in Friesland
Förstemann Ortsnamen 418. madjar. heisst
das Städtchen jetzt Bela banya, worin man
eine Beziehung auf Bela III findet, der äl
tere madjarische Name Fejerbänya, den wir
oben Von 1387 anführten, fasst das Wort
als bela bana : weisse Grube auf.
* toa‘: ich darf, wage es, eeh toa ( , du
toa e st, bie tö l n, ie tö ( t (mhd. wir türren),
part. prät. getoart, Krh., vgl. Wtb. 44 b und
oben tarn.
Tobislmen! n. ein Kobold bei den
Bergleuten in Dpsch.
l odenn f. eine Unholdin im Glauben
der Krickerhäuer; in Prb. Tedenn, vgl.
Wtb. 47, die von Ipolyi in Wolf’s Ztschr. f.
Myth. angeführten Formen Tüden und Tö
di n hörte ich nicht, sondern nur wie oben.
Doch halte ich auch für möglich, dass
Tdden — Tudenn' für Tudinne steht, der
weibliche personifieirte Tod. de Tudenn
< >' das c ganz deutlich, nicht Tod»),
wldcht (s. d.) em glockenhaus of cm tuom.
Wenn man sie sieht, erscheint sie bald
kurz, wächst und schwindet. Vgl. die Harth-
grepa des Saxo Gr. myth. 322. Den Reisen
den hocket sie äf und spricht: ben ech
gereng? wenn er sagt: ja, da macht sie
sich schwer, dass er auf die Knie fällt:
dann macht sie sich wieder geringe und
ängstet den Wanderer, sobald er aufsteht,
von Neuem. Einmal kam de Tudenn zu einer
Wöchnerin und hat das Kind ungepldst und
das ist aufgequollen und ist gestorben.—
In Tirol nennt man ein gewisses Gespenst:
Tondi m. Fromm. IV, 447 (nicht 487, wie
im Register steht). Zudem, was Ipolyi a.
a. 0. über die TÖdinn sagt, setzt J. W.
Wolf in der Anmerkung hinzu: eng ver
wandt ist u. a. die weisse Frau in Stamm
heim bei Cäsar, heisterbac XI, 33, in
Aachen, Müll. Weitz 246 heisst Toi: ein
einfälliges, gutmüthiges Frauenzimmer, vgl.
Schmell. I, 462 der todl?
Tompelwag'en m. eine Art von Wa
gen , die nur zum Steineführen bestimmt
sind. Krh.
(Ionen derdunen: erreichen Wtb. 44.
sieben!», erdehnen Haiti*, tiersage 62.
(Ionen: donnern , fluchen. Krh. Im
Beichtstuhl bekommt der Geistliche in Krh.
häufig das Bekenntniss zu hören : ech ha
gedonet, ha gebetet, d. i. ich habe gedon
nert, habe gewettert = geflucht. Da in Krh.
ganz wie in der Aachener Mundart (vgl.
bei Müll. Weitz: schwul hat at wot:
Schwarte, Hürde, Art, Wort und oben
huscht (das r so häufig ausfällt, lässt sich
nicht bestimmen, ob hier done c n oder du
nen, dänen, vgl. Schmell. I, 377, anzusetzen
ist. Die folgenden Namen würden für letz
tere Form sprechen:
Dönig’stan m. ein Fels bei Krh. spielt
in den Sagen daselbst eine Rolle; wird in
der Volksetymologie vom done‘ m. Donner
abgeleitet, also ein donneriger, d. i. don
nernder (vgl. die Bildungen, die unter
bütening besprochen werden) Stein. Unter
dem Donigstan befindet sich die
Dönigiuuner f. eine Höhle auf dem
Donigstein in Krh. Der Eingang dazu ist
das mddeloch, eine Öffnung im Felsen. Eine
Mutter ist einmal mit einem ganz kleinen
Kinde auf dem Arme — es war gerade in
der „längsten Mitternacht“ — hineinge
kommen , denn um jene Zeit kann man
hinein; da war Gold und Silber in Menge.
Sie setzte ihr Kind auf den Boden und
nahm davon in die Schürze. Da geht auf
einmal unversehens eine Thiire zu und sie
ist von ihrem Kinde getrennt. Weinend
ging sie fort mit dem Schatz und konnte
sein nicht froh werden. Als aber das Jahr
um war, um dieselbe längste Mitternacht,
nahm sie ihr .Gold zusammen und trug es
hin zur Donigkammcr. Da lief ihr lachend
ihr Kind entgegen und spielte mit einem
Apfel. Da warf sie den Schatz von sich
Nachtrag- zum Wörterbuche deutscher Mundarten etc.
265
und hub das Kind auf den Arm und trug
sichs heim.
todbrüch m. tiefer Morast, Wth. 49.
mark. daüdbruuk, Fromm. III, 260, 20.
brach auch im Riesengebirge, Fromm. II,
vgl. auch nd. dutlcegcr: Sumpfgrund, From.
V, 54.
töteng’arten m. der Friedhof; in der
Zips allgemein.
toter m. Taufpathe, töfra f. Taufpa-
thin, Kr. s. Wth. 45.
träg-emlens;: trächtig, Krh. di tragn-
denga ku. 3. biitning*.
♦ trapatseh m. kleiner Kobold, muth-
vvilliges Ding, Krh. Jungmann IV. 615 hat
trapac: licium.
♦trellal n. Quaste, Krmw., vgl. der
und die trolln: Quaste, Fromm. II, 569.
Vorarlberg 1 vgl. trölla.
trepain: zwängen; holz en ofen tre-
pain, Ksm.
trepal n. das Tröpflein. Krmw. p für
pf im Auslaut und Inlaut (im Anlaut J/'und
f) geht durch alle Spielarten der Mundart
des ungr. ßerglandes.
treug 1 ! trocken, treugs pröt, Krmw.,
ebenso in Zipsen, Pilsen, Krh. in Schle
sien etc. s. Wth. 45. troig*cn : trocknen,
Trh., daselbst hörte ich singen:
de kuckuck setzt af em äst
kirnt a regen macht ne näsz
kirnt a baa‘me c sunnescliaf
troign em kuckuck de wede e lain.
altkölniscli: druigen: trockenen. From.
II, 311.
Trexelhäu, so geschrieben finde ich
es noch 1683 (Pfarrmatrikel daselbst). Die
Bevölkerung ist ganz deutsch und nennt
den Ort Trexlhä, auf den Karten findet
man es gewöhnlich nur unter dem slav.
Namen: Jano Lehota (Korabinsky 361:
Jänosch Lehota: Tekserhay). Sonst kom
men noch die Formen: Drezelhaj, Tresel-
hay vor, wofür überall Trexelhäu zu lesen
ist, s. —hau.
dröhnen, gedröimet: poltern, gepol
tert, Krh., vgl. ahd. drumon rnlid. drumen:
zertrümmern.
♦trölla m. 1. der Lump, liederliche
Mensch; 2. penis, Kindersprache, Krh.
vgl. Fromm. II, 569 und trellal.
*tratschen, ♦ trotsclien : plump auf-
treten, trampeln, Dpsch., vgl. Schmell. 1,
503; trätschen.
trötschke* m. länglicher Brotlaib Prb.
drömel, drimel n., so heisst in Prb.
noch der Sonntagskopfpulz der Frauen,
mhd. drümel stn. Ben. Müll. I, 392 nur aus
Wolframs Willehalm nachgewiesen, also
wohl thüringisch ?
♦ tsclieg*en: schwätzen, Krh. tirol.
tschigölen, Fromm. III, 9; madj. feesegni;
Uchegelesta, f. Eisler, Krh., vgl. ag*elesta.
♦tschllka m. Sperling, in den Grün
den, Wth. 46. Er heisst auch so im sieb.
in Sächsisch-Regen; sonst siebenb. ischi-
rib vgl. Gr. gr. III, 308, und, wie in Aachen
u. s. mäsch. Die Zipser haben für ihn auch
noch andere Spottnamen, als: skunz m. s. d.
Leutschau, litzke m. s. d. Schwedler, spar-
nigelm. s. d. Wagendrüssel.
tschinden: auf dem Eise gleiten,
Kranz., in der öberlausitz Schindern,
im Wittenberger Kreise: schluttern, Anton
IV, 5. vgl. Schindern (Obermain) : glänzen,
klirren, rauschen Schmell. III, 572. in Krh.
auch tschondcn Wth. 47, was auf ein
schunden, schünden deutet, s. rölen,
tschölen.
tsching'eln'. klingeln, Wtb. 46. Auch
siebenb. in Sächsisch-Regen.
tscliölen: auf dem Eise gleiten, Krh.,
s. tschinden.
tscliulolo n. penis infantis; Kinder-
spr. Prb. „schirlen, wofür man in Leipzig
schulten sagt, sein wasser abschlagen,
ßerndt. Campe, ein schirlo machenAnton
IV, 5. schirl-6 ist zusammengesetzt mit
jenem alten -d, -6 das im Ausruf an subst.
und verba angehängt wird, Gr.gr. 111,390,
das in der Kindersprache noch lebt; so ist
auch zu erklären kullö! und kugclbl wie
die Kinder rufen wenn die Kugel rollt, so:
Kullo 11. Kugel Weinh. 49. und obiges
tschul-ö, tscliulolo !
türren, s. tar toa.
♦tuten: tuten, trompeten, Krh. vgl.
Wtb. 48.
E.
Die Aussprache des eu mhd. iu in Krh.
fällt besondersauf; es klingt wie; äii z. B.
kränz (fast zweisylbig krä - üz, indem das
ä gedehnt , das ii kürzer und schwächer
betont, aber doch deutlich vernehmbar
ausgesprochen wird), täüwl, läüchten,
däütsch podäüten, wräünd (daneben hörte
ich in Krh. wicht f. ficlite, in Kuh. iväüch-
tenbald, in den sette coinmuni: wäüchta
C. W. 120). Die Form schaiib f. Wtb. 91*
bestätigt, dass die Schreibung scheu-
ben: Scheibe nicht bloss eine orthogra
phische Inconsequenz ist, Schmell. III, 310
(vielleicht wird sich noch ein mhd. schwf.
scliiube, das zu schoup stm. im Ablaut-
verhältniss stünde, finden), dräu (n. mhd.
drin) scheint neben dräi, wenn auch viel
leicht nicht mehr mit genauer Unterschei
dung des Geschlechtes, eben so wie im
„cimbrisclien“ zu bestehen (vgl. C.W.
52). Ich hörte z. B. immer nur dräiize-
gena: dreizehn (mhd. drizehen n. driu-
zelicn), so werden auch diejenigen nhd. äu
cu gesprochen, die mhd. ü, iu entsprechen :
säül, träübela u. a. Dieses äii entspricht
so sehr dem äii der sette communi, wie
dessen Aussprache C. W. 40 angegeben ist,
dass hier ein Zusammenhang angenommen
266
Julius Sch r ö e r.
werden muss *), es stammt wohl aus Fran
ken, s. Fromm. VI, 161.
*In Trexelhäu, Paulesch, Hochwies,
Kuneschhäu wird dies au schon zu oi, was
aber auch für mhd. i, nhd. ei, sowie für
ie steht, so dass der Unterschied zwischen
nhd. ei und eu, den die Mundart von Krh.
so schön festhält, ganz schwindet, ln der
Zips, in Prh. Zeh. wird ei (mhd. z) und eu
schon wie in Osten*. zu ai (wie unter den
„Cimbern“ in Palü C. W. 40).
♦eclita: octo, achte in Krh.; eine
seltene Form, unflectirt hört man acht, im
mhd. scheint ehte ahte eine mundartliche
Erscheinung, die namentlich bei Wolfram
vorkommt, vgl. altkölniscli echt, Fromm.
II, 312.; angels. eahta, engl, eiyht.
*ecln m. Eidam, Dpsch.; auch in der
Zips hört man stets aidamfür Schwieger
sohn, in der Oberlausitz edn, Anton I, 6;
in Prb. äden.
Eysenpach: so heisst das Bad Vich-
nye 1370, Schemn. Archiv.
elast: zuweilen, Dpsch., vgl. Wtb. 48 :
elzt. zu ahd. zalazzost: zu letzt? altsächs.
last mnd. lest und e: prius?
*elwa: eilfe, Prb., Krh.: alwa, Mw.:
eilwe, Cimbrisch: olwe, s. unter E: die
Zahlwörter von Krh. und Dpsch.
*emze: entweder, Krh., in Prb. enz-
beder. mhd. eintweder aus eindeweder zu
unterscheiden von einweder: bei Seb. Brant:
eintzwar, Herrn, von Fritzlar: antsweder
Wackrn. leseb. I, 1039, 33. 834, 19. entz-
war im leben des heil. Ludw. u. s. mhd.
wtb. III, 348.
enenkel m. Enkel, Prb., Zeh. cimbr.
anecho die alte Form enenkel auch noch
im bair. Schmell. I, 83. Fromm. II, 183, 3.
madj.: unoka onoka; illyr.: nnuk; czech.:
wnuk; poln. wnek (wne'k = wnenk).
er in Hw.: jer in Plsn. Krh. Mw.:
har, hea ( , s. d.
ertfappel in. pl. erdäppel: der Kürbis,
Krh., ebenso mhd. Ben. Müll. I r 48; Schmell.
I, 104; in Prb. = die Kartoffel, die in Krh.
mca e apel heisst.
*erk f. ? der Zorn; net hrag (s. Wtb.
86 b . und rag*en) e so wüe" ea‘k: nicht
hebe so vor Zorn nl. erg f. der Ärger;
adj. aufgebracht. Aachener Mundart arg,
s. 4. ahd. argi, mhd. er ge stf. zu unter
scheiden vom mhd. arc stm., kölnisch der
arg Fromm. II, 304.
erdezins hoc est terragium 1370, Schein.
Arch.; vgl. Weinh. 18.
♦erdhauch der grosse Frosch, ein
mythisches Wesen in Krh. Der zweite Theil
des Wortes scheint das veroberdeutschte
nd. hucke, bei Heliand huc: Kröte mhd.
oucche nhd. auke. euze, ütsche, nd. iitze,
Gr. Wtb. I, 816. Über das /z., vielleicht un
gehörig wie oft im nl., Gr. gr. 2 I, 302,
ahd. 188. Weitere md. Formen sind het-
sche, hitsch, hutschge, hutch, Weinh. 33,
Gegen die dortige Deutung aus hocken
(wo der Anlaut h organisch wäre) erin
nert Pefters auch noch an agls. gce, nhd.
unke, Fromm. V, 474.
erdnuss, ca‘mess f. ein essbares Zwie
belgewächs, Krh. spargula arvensis? bei
Schmell. I, 104: erdmies.
1) Man vgl. dazu noch die oben unter tag zusammengestellten Namen der Wochentage. Eine ähnliche Über
einstimmung zeigt sich i;i den Zahlwörtern, in der Verwandlung des w in b, s. B, u. des F, V in W,
s. V F. Es sei gestaltet, hier die Zahlwörter der Krickerhäuer und Dopschauer mit denen der sette
communi zusammenzustellen , wobei ich nur die auffallendsten Formen des cimbrischen anführe (dass
ich bei der Schreibung des „cimbrischen“ statt der italienischen deutsche Orthographie anwende, wird
wohl gebilligt werden).
VII com.
naz
zben zbu zboa
drai dreii
iviar wiere
wüf wiimwe.
seoc secce
siben sibene
acht achte
nennt
zegene
olwe
zbelwe
draizegene
Fehlt in C. W.. s.52.
Fehlt in Cw., s. 52.
druxzek
wiarzek
wäfzek
seclizek
Krh.
r).”.v
zben zbu zba
drai d.räii
wir lots (wira)
wömwe (wömwa), aber wofze-
gena: fünfzehn.
sex sechsa
siben sibena
acht acht echta.
ndüna
zegena (in Mw. zeme)
alwa (in Mw. eilwe)
zbelwa
drauzegena
wiezegena
wofzegena
sechzegena
sibetizegena
dchtzegena
naünzegena
zba'zek
echt e zba'zek (28)
draiszek
wie'zek
wofzek
sechzek
dchtzek
nAünzek
hundert
tausend, zegetausend.
Dpsch.
zwo.
femba
sechsa.
sibana
dchta
naina
etwa
zwelwa
draizan
virzan
fufzan
sech zan
sibzan
oclizan
nainzan
zwenzik (enanziuenzik, zwei und
zwenzik etc),
draiszik
virzik
fufzik
sechzik
sibenzik.
Nachtrag zürn Wörterbuche der deutschen Mundarten etc.
267
es e~s gen. enker, dat. acc. enk: ihr,
euer, euch, Trh., vgl. Wth. S. 132. Diese
hair. österr. Dualformen haben sich in Krh.
nicht eingedrängt; dort heisst es noch:
ie c , auch. In Leutschau hört man auch
schon es, wofür in Ksm. nur ir, er gehört
wird.
*etza: jetzt in Prb. siebenbürg;.
etzt, enzet, From. V, 369; rhein-fränk.
ctz, Fromm. V, 517; Nürnberg;, ciz, eize,
Fromm. I, 131. mhd. ie-zuo.
F. V.
Die Erweichung des f und v zu w, die
sich nur in den deutschen Mundarten Ita
liens und in denen des ungr. Berglandes
findet, traf ich namentlich in folgenden
Orten an: 1. in Pilsen, in Lorenzen; 2. in
Paulesch, Hochwies, Prochetzhiiu; 3. in
Kriekerhäu, Neuheu, Trexelhäu; 4. in Pra-
ben, Beneschhäu, der Zeche, Fundstollen,
Bettelsdorf; 5. in Stuben , Glaserliäu,
Turz, Kuneschhäu, ßlofusz, Kremnitz;
wahrscheinlich findet es sich auch in Perg,
Hedwig, ßrestenhiiu, Käserhiiu, Hanneshäu,
Deutsch-Litta. Nur in Miinichwies in der
Turozer Gespanschaft, in Geidel u. Schmids-
häu, das doch so nahe zu Praben liegt, hat
sich v f erhalten, ebenso in Dopschau, vgl.
VVtb. 162. ln Mw. wird aber auch w nicht
zu b.
fach n. derTheil, zwdwechech: zwei
fach, s. zwo“, zwü, zwa und Herren.
vaiel *wai-ol m. die Levkoje, der
vciel, Pis. mhd. viol m. bair. feigel m. ehe
dem feiheli vciel, besonders von der Lev
koje; veicherl n. von der viola odorala.
*wai’la n. das Veilchen, Krh.
♦waitscha m. der Hengst, Krh. sl.
wagcctk; die Stute: Kobel, Krh. s. VVtb. 72.
In dem Fremdworte scheint sich das w
eher zu behaupten als in deutschen Wörtern.
fal grewaln, es gcwält: placere, pla-
cet, Krh.
pfan, fankuchcn m. Eierspeise, Rühr
ei, Prb. voc. 1420. phankuche, sl. panltuch.
färb ? * warba f. der Kittel, Krh.
pfarr *farrow *tfarrow m. *tfar-
retai f. das Pfarrhaus, der Pfarrhof, Krh.
Prb. r
fefVain (J_): plaudern; nicht fe-
frail plaudre nicht! Ksm., vgl. sl. frfräm;
ne frfri! brumme nicht! Das slavische Wort
muss aber auch entlehnt sein, wie alle mit
f anlaulenden czechisch. oder slovakisclien
Wortformen, sl. frfrcn ist der Geifer.
vcttcr * wette 4 m. Vetter, Krmw.
farschang waaschang m. Fasching,
Kuh. mhd. vaschanc, madj. farsang. —
waschang, Pis. Cimbr. Waschung, Altbair.
faschanc, jetzt fase hing, Schm. I, 572;
sl. fasank, Jungm. I, 539. Sowohl das sla-
vische als auch das madj. Wort ist aus dem
Deutschen herübergenommen.
farschen * wa‘sclin : forschen, aus
kundschaften, fragen, Krh. wa'sche wa^cha 1,
in. der Forschmann bei Hochzeiten, s. VVtb.
79; in Pis. wroschen, Wtb. 52; cimbr.
morschen, Cw. 122.
vatcr *wate: Vater; Pis. zwengescheckte
uxn und a pucklechta ku das schenkt mc‘
mai wata bau ech heiraten tu, Trxh. herr
wate: geistlicher Herr, Herr Pfarrer in
Trxlh. Pils, (wate) Hw. auch pater:
a’s patres garten a’s patres garten,
setzt e wbgcl tfoifen
a hat ka wlogl a hat ka wldgel
siht mer im di 0 saiten.
Txrlh. Krh. Pis.
futze watz f. Trxlh., vgl. Wtb. 51 in
einem Reime, den ein betrunkener Trexel-
häuer sang:
höpschmddl, summabätz (Sommerweizen),
leg ti nide < gimmer watz,
höpsch mddl, summakoan,
leg ti nida, la mi poon.
die Form mit a bat auch die schlesische
Mundart, s. Weinh. 22*
* weminel m. cannabis mas, Hw. Plsch.
Krh. Prb. mbd. vimcl, slm., denn ich halte
den nur aus Frauenlob naebgewiesenen
Ausdruck Ben. Müll. III, 317, für dasselbe
Wort, wenn auch die Bedeutung der gan
zen Stelle nicht recht klar ist. Es ist md.
scliles. Fromm. IV, 167.fimel m. cannabis
mas.; tViink.-henneb. fimel fembl (engl.
fimble') : cannabis mas, Fromm. II, 78, e fi
rne le: ein wenig daselbst; oberd. Schweiz.
fimmele der samenlose weibliche Hanf. Stal—
der; bair. fernel fimel der männliche Sten
gel des Hanfs, Schmell. I, 531 (der es von
femclla ableitet). — niederrheiu. fimel,
fimelchc: stilles, zartes Frauenzimmer,
Müll. Weitz 50; scliles. fimmcl Weiber
rock, Weinh. 24; nd. fummelke: nach
lässiges Frauenzimmer, Weinh. 24; scliles.
fummeln: eoire. Weinh. 24. Die alten For
men veim und faum: spuina neben einan
der, Ben. Müll. III, 317 lassen ein mhd.
vime, veim, vimen neben einem viumc,
voum, fumen annehmen, woher vime, vimel-,
feim, firnem und faum, fumel sich erklä
ren würden. Ebenso findet sich scheint in
gleicher Bedeutung mit schäum, Schmell. III,
362, aus skeiman, skdim, skimun, Gr. gr.
11,45, entspränge ebenso: scliime, schimel,
scheint aus skiuman, skdum, skuntum, aber
schäum, schumel f. — 1. die Weibsperson,
2. vulva, Schm. III, 363; dasselbebedeu
tet nach obigem wohl auch die fumel, vgl.
schummeln, Schm. III, 363, und fummeln.
— Das alts. femea, agls. fwmnc (Helgo
land. fdmcl: Tochter, Fromm. III, 29), altn.
feima, s. Weinh. deutsche Frauen, 5, wird
wohl auch hieher gehören.
ver * wr we‘ wo: wrände c n, wcHai-
kbpen, wopruen, wrande 4 n: heirathen,
Krh. sieb, vrängdern, Wtb. 30, in der Zips.
verändern, vor = ver- md. s. Weinh. dial. 51 #
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Julius S c h r ö e r.
we*laikopen : ein verkauftes Gut im
Grundbuch überschreiben lassen. Prb. mhd.
litkouf md- oberd. leih off, laikoff, Fromm.
III, 306; in der Zips leikauf, Wtb. 77,
Bestätigungstrunk, ist weit verbreitet;
obige Bedeutung und nd. Form ist Prb.
besonders eigen.
wo‘pruens verbrennen, Krh. Prb. s.
briin.— wo c = vor: ver. „Dieses o in ver
ist allgemein mitteldeutsch: W. Grimm,
Athis 2, 13 etc. Die reinere nd. Form ist
vur — Herbort 703, vgl. Rückert zu
welsch. Gast vers 9637.“ Weinh. Dial. 51.
fei' * weral n. Ferkel, Pis. ahd. für ah,
mhd. varch. österr. bair. fd‘l, ehedem verl,
värhelin etc.
förh- wöe‘chln, wla‘chln, pl. Fo
rellen, Krh.— Zips: foren,feren; siebenb.
fören, Wtb. 50. Wolfram im Will, hat
vörhen, ahd. forahana, bair. fdrehen, för-
chel, Ben. Müll. III, 384, Schmell. I, 560.
fers — wia‘scht f. die Ferse, Krh. sclil.
fersehe, Weinh. 19.
vi— *wibicli m. Name vonWiesen in
Smh. Prb. schl. fiebig m. Weinh. 20: vieh-
weg, Viehtrift; Oberlausitz fibig, Anton 1,10.
vi — * widel f. die Fiedel, Geige, Krh.
Krmw., s. g’aig'e, auch schles. fidel f.
Geige, Weinh. 20.
„fosch m. der Fisch“, wird mir als
auf dem Lande in der Zips üblich mitge-
theilt. In Bezug auf den ungewöhnlichen
Lautwechsel wäre zu vergleichen kölnisch:
frösch, Aach.: fosch, nd. nl. varsch, versch :
frischgebacken, wenn es wirklich, wie Müll.
Weitz 57 annehmen, von frisch abzuleiten
ist, vgl. wlfschen. Bei Primkenau in Schl,
heisst übrigens der Fisch: fausch, ander
wärts in Schlesien fusch, Weinh. Dial. 60.
Dieser Wechsel von mhd. i in u ist md.
Weinh. Dial. Gr.gr. 13, 257.
*wlaehen: spucken, Krh. Prb. die
Tddennwldcht: di Tödenn spuckt, geht um.
es wlächt: es ist nicht geheuer, spuckt,
Krh., etwa zu mhd. vlwje, das ursprünglich
in Wasser hin und her bewegen, wohl aber
auch sich in der Luft hin und her bewegen
bedeutet, wie bair. flöhe ln, Schmell. I, 582;
czechisch: wlagi wldti. — Indem das d in
Krh. mhd. ei entspricht, ist auch erlaubt,
an mhd. leiclien, d. i. aufspringen, täuschen,
betrügen (irre ganges leichcn, vom Auf
hüpfen des Irrlichts, wetterleichcn, lei-
chcn undc betriegen, Ben. Müll. I, 960) zu
erinnern, wenn wlächen in w-ldchen, (s.
ver- wo- wr- wo c -): verlcichen, aufgelöst
werden kann.
ficiclien: sich flüchten, Zips, vgl. Wtb.
51, und dazu Schmell. I, 587: flöhen, mhd.
vloähen, Ben. Müll. III, 346.
♦wlcemisch: abscheulich, das soe~
wlcemisclie liundl Knh., vgl. Weinh. 21.
* wlaiszig in ich fast neu wlaiszig
gruszen: ich lasse ihn schön grüssen, Prb.;
der herr stulrichter habt gesagt: hear idszt
ich fiaiszig griszen und alle mdnner von
Minneweis idszen ich fiaiszig griszen und
kissen incre fisz! ein Gruss, den mir ein
Müniehwieser brachte, fiaiszig grüeszen
laszen für schön , freundlich grüssen lassen
ist in Tirol üblich. Auch im Kulandclien
hat fiaiszig die Bedeutung: tüchtig, gut,
vgl. Meinert im Wtb.
Ilender in. grosses Stück, Wtb. 51; im
sieb. Sächs.-Regen flander, s. flerre.
Herren = flender: ein grosses Stück,
s. Wtb. 51. Die richtige Form: flerre f. in
zw6flirrig: zweifach, von Dingen, die man
Zusammenlegen kann. Ein Fachwerk scheint
gefiärr nur im siebenb. zu bedeuten, s.
Fromm. IV, 415 (Aaelm. flur: Bündel?),
woraus die Bedeutung zu erklären ist, vgl.
zweifach, s. fach, mhd. vier re, vlarrc
bedeutet gewöhnlich einen Schlag (vgl.
verschlag = Fach werk ?).
fletala n. Schmetterling, Prb. fietter-
maus f. in derselben Bedeutung in Dpsch ,
ebenso in der Zips, vgl. Wtb. 51 ? In Knh.
hraupenschaiszcr, vgl. wlota‘inaus: Fle
dermaus.
wleg’el m. der Dreschflegel, hanthalp
(s. d.) m. die Handhabe, der Stiel desselben;
klöppel (s. d.) der obere Theil.
wlisclien pl. Schuppen im Haar, Krh.
— nd. zuweilen flosken : Flossen, Fromm.
III, 375. Schmell. 1, 594 hat floschen für
Flossen ; die Bedeutung weicht zwar ab;
der Wechsel des Vocals i und o ist nicht
ohne Beispiel, s. oben fosch.
♦wlog’el, pl. 1. Flügel, 2. die Flossen
eines Fisches, Krh., vgl. nd. fiossfeddern,
Fromm. III, 375 und das vorige Wort.
*wlotA‘maus f. Fledermaus, Krh.,
vgl. oben fletala flcttermaus: Schmetter
ling und Wtb. 51 unter fleirtern und
flettern. Cimbr. ivludarmaus: vespertilio,
Kärnth. fluttarmaus: papilio, Fromm. IV, 54.
flug*s wlugs: sogleich, schnell, vgl.
wtb. 51, es ist auch in Knh. und Krmn.
üblich; im mhd. fluges namentlich bei Konr.
von Würzburg: Gr. gr. IV, 680.
* fra f. Frau, Krmw., auch in Mw., vgl.
Wtb. 125, 132, ebenso westrw. Schmidt
347. Das Juden - Deutsch , das viele md.
Elemente bewahrt, hat auch frä.
wrad f. Freude, Prb. wraid, Krh.; an
letzterem Ort, wo nhd. cu immer dü ge
sprochen und von ai ei unterschieden wird,
wäre wrdüd zu erwarten, wrad wäre mhd.
vreide (denn d == ei) wie Wackernagel
Lesebuch 1, 895, 16, wobei nur das con-
sonantisehe w des ahd. frewiila ausgefallen
scheint; aber wraid (= mhd. vride) scheint
eine unerklärliche Form. Die cimbr. For
men sind fruobede, fr'öbede, Cw. 122 1 !
wrailet, wrait: freilich, Prb. Zeh.;
so hört man daselbst auchpumelet: pamaeh-
lich, Wtb. 32. Es scheint ein adverbbilden
des (dem für das Partieip —end eintreten
den — et zu vergleichendes) t an die Stelle
i
Nachtrag zum Wörterbuche der deutschen Mundarten etc.
269
des ch zu treten; vgl. das henneb. frinet:
vorhinig? Ztschr. II, 404. 11. (Aachen.
Mundart: vellits, verlits, vlits* vlets: viel
leicht; hier ist jedoch wol nur das ch weg
gefallen, wie es der Mundart gemäss ist,
und t verblieben; was ist aber das sl
anomale Bildung aus dem —s adverbialer
Genitive, vgl. Gr. III, 133f.: Nachts n. dgl.)
Das österr. fraili wurde wahrscheinlich
dem slav. poinalu analog behandelt, so dass
das zur Sylbe —lieh gehörige l verblie
ben ist.
wraitjaf m. der Freidhof, Friedhof,
Prb. mhd. frithof. Zips: toteng arten.
* wras f. Freisen, Prb. Vgl. Wtb. 52.
* wregen; fragen, Krh. powregen n.
die Beichte; zum powregen gehn: zur
Beichte gehen, Hw. fragen f. fragen findet
sich in der Oberpfalz, in Nürnberg, bei H.
Sachs, Herb, (und Herrn.) v. Fritzlar, bei
Bruder ßerthold, Frauenlob, Ben. Müll. III,
391 und schon im Wessobrunner Gebet.
* fressbretal n. der hölzerne Teller,
Krmw. Es muss demnach , wenn es über
haupt irgend wo üblich ist, in der Vorstadt
sprache von Kremnitz Vorkommen. Ich habe
es im Munde des Volkes nirgends angetrof
fen. vgl. Wtb. 52.
FuiHlstollen , pl., Funtscheln :
ein deutsches Dorf bei Prb., slav. Chvognicc,
madj. Chvoinitza. Korabinsky, S. 83, kennt
nur diesen Namen und nennt es ein slovak.
Dorf.
fiirncem, *wüe f ncem, fie e ncem: schön;
das is ßc c nceme c : das ist schöner! Krmw.
fürwar, vo e bier: Lrnzn.
wiio‘beta m. Frühling, Krh.; wiebet,
Prb. ein neuer mundartlicher Name des Früh
lings, für den sonst Lenz, Frühjahr, Aus-
weert üblich ist. Auch bei den Namen der
Jahreszeiten wäre sehr zu wünschen, dass
die Grenzen des Vorkommens eines oder
des andern Ausdrucks von den Sammlern*
und Forschern angemerkt würden. Wenn
das Wort für- oder vorwetter bedeutet, so
befremdet das Geschlecht und weiter stünde
für sommer, vgl. allenfalls hornunges weiter,
Grimm’s Geschichte d. deutschen Sprache,
84. — ul. heisst der Frühling voorjaar,
helgoländ. voerjuar, schwed. rar, vartid,
dänisch vaar, foraar, Vielleicht steht für
wärt m. (= ivi9 { bc e t, Prb.) für auswärt,
der Ausfall des zweiten r wie in Icebo‘t.
s. d. siebenb. niemann, austage. Fromm.
V, 330.
fürwitz wiic‘bctzig, wie‘belzig:
gescheit; unser hrechta ( , das est awie ( -
betzigo c man: unser Richter, das ist ein
gescheiter Mann. Krh. wie'bctzcn: neugie
rig sein, zwaü pest denn koma? öm wc
denn? Warum bist denn gekommen? wa
rum denn? Antwort: as hat mechje gewic-
betzt as e‘ gesond sait: es hat mich eben
gefürwitzt (die Neugierde geplagt) ob ihr
gesund seid, Krh. Ich habe das Wort wie
hetzen schon Wtb. 104 aufgeführt; es wird
wol auf für- (oder fir-?)witz zurückzu
führen sein. Vgl. Schm. IV, 207.
wuobstjgn m. der Fuhrwagen des Fuhr
manns; namentlich in Trh. sind viele Fuhr
leute.
wih^berign, Krh. furbricken, Krmw. wie
in der Oberlausitz, Anton 17, 25. fuhrwer
ken, das Geschäft eines Fuhrmannes trei
ben, vgl. berberig’en, hseberig'n. Die
Verwandlung von -berg, -werk in -brich
ist ebenso in Krh. als in d. Zps. und im
siebenb. häufig, vgl. Schelmbrig, Kir-
prich, Burprig, wo die zweite Sylbe über
all für berg steht, Wtb. 34. Ferner siebenb.
däwreng, hantwrenk (aus da-wrig-en etc.)
wo in der zweiten Sylbe werk enthalten
ist, Fromm. V, 39. Als ähnliche Lautum
stellungen im Siebenb. führt Haltrich da
selbst noch an: Kirfich, stiewrich: Kirch
hof, Stegreif. So hört man in der Zips:
Kirchdrauf, Mcinersdrof für Kirchdorf,
Menhardsdorf. -werk wird auch in Schle
sien zu prich: Hamprich, Uülzprich etc.
Weinh. 104; auch die österr. Mundart hat
täbrich f. tugwerk.
vusperkrant, fuschperkraut n. „sideritis
Linneea“, sonst Gliedkraut; nicht nur in
Schemnitz, Eltsch, sondern auch bei den
Schwaben im Banat und den Baiern in Press
burg so benannt. Es soll Wunden heilen
und eine belebende, ercjuickende Kraft be
sitzen. Wenn man durch den bösen Blick
verhext ist, so wäscht man sich damit u.
dergl. fusper erinnert an bair .lispern,
busper, musper und wusper, Schm. 1, 537.
II, 642. Schweiz. Stabler 1, 248. Elsiiss.
Fromm. IV, 468. Vorarlberg, cesper, Fromm.
IV, 5. musper, Fromm. III, 214. Fränk.
(Göthe) mustern, Fromm. III, 214. Salzun
gen busper, Fromm. II, 285, 18; vgl. lat.
must us: jung, frisch, woher: must um (sc.
vinum): most. Es wollte mir nicht gelingen
die Pflanze zu Gesicht zu bekommen , und
den Namen fuschperkraut irgendwo ge
druckt zu lesen. Dr. Kornhuber belehrte
mich darüber auf das gründlichste wie
folgt: das sogenannte Fuschperkraut ist die
Stachvs recta L., siehe Neilreich, Flora von
Niederösterreich, Seite 504, wo es Vesper
kraut heisst. Lumnitzer Flora posoniensis
Seite 249 schreibt Fussperkraut, Endlicher
p. 229 Fussbeerkraut, die Frucht ist aber
keine Beere , sondern eine samenäbnliche
Spaltfrucht. Als sideritis führt sie auf Ri-
vinus (+ 1725), Clusius, Pseudo-Sideritis:
Koch, Schweizer Flora II, 671. Sie heisst
sonst gerader Ziest, über ihre Heilkraft s.
Leunis Synopsis 313. Unger, ak. Sitzgsber.
1858, Heft 26. Lüben, Anweis. z. Pflanzen
kunde, Halle 1832, Seite 77.
wie‘zn —; pedere Prb. ahd. firzu;
wih { z in. TCop07j Prb.
wüxen, 1. necken, 2. eoire, Krh. vgl.
nd. flicken, fucksen, Fromm. III, 366.
270
Julius S c h r ö e r.
G.
g'aflfel f. Gabel, Wtb. altköln. gafele,
Fromm. II, 434.
Gaidel: ein deutsches Dorf bei Prb.
Die Mundart steht zum Theil näher der von
Trxlh., doch verwandeln sie f, iv nicht in
b. Die Gaideler werden verspottet mit
dem Worte machen, weil sie machen, po
chen s läng sagen , nicht wie die in Prb.
Sinh, machen, pochen, lang. Dies erinnert
an die Moccheni Italiens, Cw. 147. In der
Aussprache der Zecher (aus der Zeche, sl.
Cach) klingt Gaidel wie Gär«, Gar 5 !.
Gaig*© f. *der Dudelsack in Prb. Krh.,
indem die Violine videl, widel (s. d.) heisst.
g*anst: bis dahin, nahebei, gleich.
ganst bat der kirch, gleich bei der Kirche.
Aachen. Mundart bekants: beinahe, fast,
nl. bykans, bykants: nahe am Hände, der
Kante, Müll. Weitz 13.
{gansai m. der Gänserich, Krh., vgl.
-ai. In der Zips gänes, Wth. 33. Im
siebenb. heisst die Gans: goas, der Gän
serich: ganz (Sächs.-Regen), gunzen.
gärzen, Wtb. 33. Im siebenb. garz,
in Aachen ga e z: bitter.
g'aiischäcli, gausclioch m. grünes.
Kuckeritzegauschach,puongauschäch, krum-
pirgauschach: Grünes von Mais, von Boh
nen, Kartoffeln, Pis. Lrzn. Im Pinzgau
bedeutet gausch -et aufgedunsen, Schm. II,
77. Aus dem bair. bauschen wird im österr.
ein ganz analoges pauschet: bauschig (über
-et=ig vgl. zu wrailet), aus bair. böschen
ein ähnliches bosclict, Schmell. I, 214 und
ein subst. boschach, Gebüsch, Schmell. 1,
214, daneben Schmell. I, 402: doschcn,
duschen, dosten, dotsch von ähnlicher Be
deutung ; daher : doschct, dostig. Es scheint
der Anlaut zwischen allen drei Mitlaut
reihen zu schwanken : doschct, böschet,
gauschct. Die Endung -ach ist aucli cimbr.
gamischach, gapletterach etc. Cw. 103. 123.
mhd. -ach, z. ß. grazzach, buschach etc.
ahd. -ahi G. gr. II, 312, z. B. gavessuhi,
1091. spizalii, sprithahi.
gen in ergen: zu Statten kommen,
conveniren, z. B. gib mir das Papier lie
ber und zerreiss es nicht, es erget sich
mir schon, d. i. ich kann es schon brauchen.
Neusohl, slavischer Einfluss.
geis f. zwei hohle Hände; im Oberland
der Zips (s. Wtb. 73) e geis voll zwei Hände
voll; in Leutschau: c geistvoll. Oberlausitz
gestfell, Anton 8, 13, 18, 10. Diese Form
steht am nächsten der gausen, Schmell. II,
74 (was an das österr. jausen: Vesperbrod,
madj. uzsona erinnert), vgl. mhd. goufe,
göufse, schles. gabschc* nd. göpse, nl. gaps,
bair. gauffen, gauffel, gofl (so auch cimbr.,
Vorarlberg., österr.), vgl. Kärnthen. höfile:
ein Löffel voll? andere Ausdrücke, wie hen
neberg. banzcl, Fromm. 111,132, Weinh. 23;
ferner Kuhn’s Zeitschr. II, 33 (citirt bei
Weinh. a. a. O.).
gekräudicli n. Wtb. 34. Ebenso
siebenb. in Sächs.-Regen H.
gciscl gäsel f. Peitsche, Geisel, Krh.
geisel auch in Ksm. Zwd-wächech halln de
gäsel: zweifach halten die Geisel, d. i. dass
man das Ende der Schnur und den Stiel
zugleich in der Hand hält, ga'steckcn m. der
Peitschenstiel, Krh., ähnlicher Wegfall des
Auslautes in : prüfleck, gruvater, mü: Brust
fleck, Grossvater, muss, Krh. Auch in der
Oberlausitz ist der bäuerische Ausdruck
dafür: gcssel, Anton 1, 12. gissel VIII, 12.
g'elndeng’a n. die Kuh hat das geln-
denga, d. i. sie ist aufgebläht, Krh., vgl.
butening'. — In österr. Mundart, in Wolfs
thal, hörte ich: wun di schuf afn frischn
klc wässa tringn so wer ns laicht ho lli, d. i.
gebläht. Hier ist dasWort heilig mhd. hcllcc,
das sonst für inanis, hohl, leer, leerhallend,
leerklingend angewendet wird, für hohl,
aufgebläht gebraucht, scheint aber dasselbe
Wort. Das Zeitwort hille, hat, hüllen, ge
holten : erschalle, ertöne, Ben. Müll. I, 683 ;
partic. hellende: leerballend, erinnert an
gille, gal, gullcn, gegolten, Ben. Müll. I, 319,
woher das gellende, gelndinge (vgl. zu bu
tening) mit ähnlicher Bedeutung entsprin
gen könnte, obwohl gille mehr für: ich
schreie gebraucht wird.
g'epel m. der Gipfel, Wipfel, Krh.
geppel, Knh.
gern g'eo'n: gerne: nje a so gca‘n,
Prb. Dpsch., wie schles. su gärne! österr.:
a so! Antwort auf die Frage warum? wenn
man den Grund nicht angeben will oder
kann ; vgl. Weinh. 27 und HoltePsGedicht:
su gärne! S. 170 (2. Auflage); auch in der
Oberlausitz, Anton VIII, 12.
Gerode: jetzt Kopanica, ein ehemals
deutscher, jetzt slav. Ort bei Schemnitz,
wohl eine Ansiedelung aus dem Harze von
dortigen Berghäuern gegründet, vgl. Harz-
Gerode u. a. Formen, Förstemann Ortsnam.
1193 f.
*gerst geo^clit f. die Gerste, Krh.
gde c scht Mw. vgl. Wtb. 33.
g*este g*äste s eine Kuh, die übers
Jahr schon melk ist, istgästc, Zips. Wtb. 33.
«Idenburg', geest, nd. gecst, gast etc.
Fromm. III, 496.
♦g'estÖpp u. Gewürz, rots gestöpp:
spanischer Pfeffer, schwaa i z gestöpp : Pfef
fer, Krh., auch in Siebenbürgen und Zipsen,
Wtb. 99. altkoln. gestubbe : Staub, From.
II, 436.
♦g'eträd n. Korn, Getraide, Krh.
♦g'etscliirr n. Geschirre, Töpfer-,
Pferdegeschirre, Krh. Über tsch s. Wtb. 46.
♦g^eut: gut, Krmw. — Fast zweisylbig
wird um Kremnitz, namentlich in K h. das
mhd. uo, u, 6 in: pleom, geot, keo, hrco;
seon, heond; Icon (Blume, gut, Kuh, Ruhe,
Sohn, Hund, Lohn) ausgesprochen. Ob es
Nachtrag zum Wörterbuche der deutschen .Mundarten etc.
271
eu oder co zu schreiben sei, ist schwer zu
entscheiden , indem das e stark vorklingt
und der zweite Laut nur leise nachhallt;
denselben Klang hat in der Zips eu für d:
meul: mal etc.
girmchen rn. das einjährige weibliche
Lamm, Wtb. 55. siebenbürg, gcrmchcn,
Haiti*. 64.westrw. gärmlamm, Schmidt 68.
* gisbaijon, gisbeon m. (dreisylbig
daktylisch zu sprechen) der Habicht, Geier,
Raubvogel, Dpsch. Sollte der Huschwai,
Wtb. 61, 103, verwandt sein? derselbe
heisst bei den Wallachen : Ismeau. Hismo,
Ismeusi Müll, siebenb. sagen, 164 f: sonst
wäre ich geneigt, aus der Aussprache auf
dreifache Zusammensetzung des Wortes zu
schliessen. In wai, bat- kann ahd. wie ent
halten sein,vgl.xvstrxv.hawivei, Schmidt 71.
* gla: er hat gla alles verrichtet, er
ist gla schon fertig, d. i. er sagt, dass er
alles verrichtet habe , schon fertig sei.
Hochwies, ano gla: quasi vero! Krh., je
doch daneben glaubet, Krh es ist je glaubet
je’s: es ist ja wohl das? Krh., Einschieb
partikel aus glaube ich entstanden (merk
würdig ist hier die Verwandlung von -ich
in -et, vgl. wrailet), berührt sich jedoch
in Form und Bedeutung mit gleich, gleich-
wol, z. B. ano gla könnte mit dem ironischen
ja, gleich! übertragen werden ; doch stimmt
die Form nur zu glaub , nicht zu gleich,
denn in Krh. steht d immer für das mild.
ou oder ei; hingegen mhd. i wird ai, Wtb.
29. 48. 65. 103 a . — In den bei Schmell. 11,
525 unter gleich angeführten Sätzen könnte
zum Theil auch unser gla enthalten sein.
So wird in Krh. glaubet wie österr. glaiwel
(gleichwohl) angewendet in: er est glaubet
necht zofreden: er is glaiwel nit zfridn, d.
i. er ist dennoch nicht zufrieden.— Unserm
glä am nächsten kommt oberpfälz. glau,
Schmell. II, 411: sächs. glech, Fromm. 1,
293; schles. glebcli, glech, gleich, gle,
Weinh. 27; Oberlausitz glech, gle, Anton 1,
12. In glaubet scheint sich ich von glaube
ich in et verwandelt zu haben (oder glaubet':
Condition.?) wie in Prb. -lieh in -lit, s.
wrailit, ma~ t. — Dass diese Partikel wie
österr. bair. halt, d. i. ich halte dafür, ahd.
mhd. wdnich, weene, wem, wie madj. hi-
szen! (aus hiszem: ich glaube) und das
weiter unten folgende ma't, als verkürzter
eingeschobener Satz zu verstehen ist,
brauche ich nicht zu erörtern.
Glaserliäu: ein deutsches Dorf (Ko-
rabinsky nennt es ein slav.), aus Missver-
ständniss von den Slaven Sklenno genannt.
Laut einer Urkunde im Stadtarchiv zu Krem
nitz ist im Jahre 1360 eine silvosa possessio
einem gewissen Glazer (= Glaser, s.
Wtb. 89) zur Ausrodung und Colonisirung
übergeben worden, die bald darauf unter
dem Namen Glasirshaw auftritt, s. hau.
♦gliittglas oder glattaiseii n. Glas
kugel zum Glätten der Wäsche. Krh. glatten
ist auch in der Schweiz der Ausdruck dafür,
Stalder I, 453, österr. bair. bügeln, Bügel
eisen; in Obersachsen: Platteisen.
gletzel ( = glatzel?). n. die grüne
Frucht von Birnen, Äpfeln u. dergl. sobald
die Bliithe abfällt. Krh.
fletschen: platschen und rnetten
kletscht er ren ens sei, Wtb. 117, es gletscht
seu runder wie d bärfissige katz (sc. d. Re
gen), Ksm. vgl. klatsch, Wtb. 69.
Ig'Iimen: glühen, z. B. vom Eisen, Krh.
vgl. gTosen mhd., glime, gleirn, glimen
neben glimme, eglam, glummen, Gr. gr.
II, 45.
g*Ioceii: schaun, glotzen, Kuh. weit
verbreitet, ml. mrt. aleman. eglarcn, öst.
bair. gluren etc. s. Fromm. III, 377.
glutzen: blinken, glänzen, (es) glutzt
als wie wenn sich c Sternchen putzt, Wtb.
117, vgl. cimbr. glaützen: glänzen, CW.
1.25.
*g*oda f. die Pathin ; pat m. der Pathe
Dpsch. Das erstere Wort gode ist in Öster
reich und am Rhein zu hause, in Fran
ken gilt dafür tote, ebenso cimbr. und
in Krh. Wtb. 53, in Knh. toter m., tofra f.,
s. Fromm. II, 92. Solche Wörter im cimbr.,
die nicht österr. sind, müssen besonders
beachtet werden.
*g*ola n. goller, besonders der Strei
fen am Hemde, der um den Hals geht und
an den Kragen kömmt, Prb. lat. collare,
mhd. gollier, Ben. Müll. I, 552. In süddeut
schen Mundarten, Fromm. IV, 107.
* g*iilen : schreien, Krh., schles. gillen.
ahd. gilon, Weinh. 27, vgl. daselbst S. 25
gal. Die Form gölen kann aus güllen für
gillen entsprungen sein; das ü für i vor l,
sowie ö für e vor l ist österr. Die Hiitz-
lerin hat gült für gillct, Ben. Müll. I, 519,
vgl. auch mhd. goln, Heim*. Tristan Ben.
Müll. I, 519, StalderI, 463: g6len=z}ölen.
g*ot §*ot m. Gott, Krh. in Redeformeln :
1. rechtsnkot: gleichsam, gotterkeit, Krmw.
vgl. Gott sam keit, sam Gott keit und alle
die Formen, wie sie Fromm. Zeitsehr. III,
349 so schön zusammenstellt und zu denen
dies und das folgende ein fernerer Beitrag
ist; 2. in der Zips wird ähnlich angewen
det: gott-sprcch: gleichsam, damit es ge-
than sei: er hat es nur so Gott sprech ge
tan, Ksin., vgl. Gott sprich, zum Gott sprich
(sam Gott sprceche), Fromm. III, 349. —
3. gleichfalls in der Zips: gottche, gott ge
gott gce: nur; Leutschau, Ksm. wenn cch
Gott ge ein einziges Schwämmchen gefun
den hätte! — Hier können wir sehen, wie
die Sprache der mehr städtisch gebildeten
Zipser, die der Schriftsprache näher steht,
die sonst unverständlich gewordenen For
men der Krickerhäuer Mundart aufzuklären
dient. Da jenes Gott ge nun in der Zips
gefunden ist, darf ich nun auch das kri-
ckerhäuische kockc , kockeber, kockebäs,
Wtb. 71, 104, unbedenklich in Gott-gcbe,
wä—~
272 Julius
Gott gebwer, Gott gebwas (quomodocunque,
quicunque, quodcunque) auflösen, formein,
deren Anwendung in demselben Sinne
Fromm. III, 347 besprochen hat. — Gotvr
kom zu uns! willkommen! Ksm. Dpsch.
*goppnkomt paines: Gott willkommen
bei uns, Prb.; so wird man beim Eintritt
in’s Zimmer begrüsst. Dann heisst es ge
wöhnlich noch: schnaitich a von unsa e n
pröt! setzt of ’s liitl; schneidet euch ab
von unserm Brot, setzt auf ’s hiitl! Ant
wort: 's cst je net schbäa i ! ’s ist ja nicht
schwer. — Gotele n. In Miinichwies schrieb
ich folgende ßeklagung eines Weibes am
Sarge ihres Mannes auf:
ach gotcle! ach gotele mains!
was we' ich jetz machen ?
ach du mein c gesell,
vorstea maina ! —
gutkät maine,
du hast mich ddu gelaszt:
wer wid etze mai kind erhalln ?
wen de mänele anliäm koma,
wu wist du sain ?
ach gotele mains, gotcle mains!
Die den Miinichwiesern besonders eigenen
Diminutiva derart {pf'affelc, kulcle etc.)
konnten wir schon in dem was Wtb. 123
mitgetheilt ist, wahrnehmen.
Goltpach f. jetzt Kolbaeh h. Schem-
nitz 1373, Schemn. Archiv.
gras n. Gras, gras han: Gras miihep, mä
hen , Krh., s. han.
graun : ekel empfinden Prb.
♦graup f. Graupe, Krh., in md. Mund
arten für das süddeutsche grauss, s. Weinh.
24. hdHgraup (== Ileidelgrau'pe) f. Buch
weizen, Krh.
*grimpal, grimpele n. ein Stück
chen, Krmw., s. Wtb. 50. Aaclin. grömel.
* greinen : weinen, in der Zips in Prb.
und im sieb, in Sächs.-Regen; in Schässb.
bedeutet grengen: schelten; auch im Öster
reichischen bedeutet greinen: schelten,
zanken; einen ausgreinen d. i. ausschelten,
und von da scheint diese Bedeutung in die
Mundart von Schässburg eingedrungen, so
wie auch in das Schlesische diese Bedeu
tung theilweise eingedrungen ist, Weinh.
30. Echt mitteldeutsch ist wohl nur die
Bedeutung: weinen , die im nd. Aaclin.
und in der Oberpfalz gefunden wird, die
aber der Österreicher nicht kennt, s. Müll.
Weitz. 74. Schm. II, 111.
grob: gross, vornehm, mächtig, gro
ber herr: gnädiger, hochansehnlicher Herr;
ich fürchte mich vor eurer grobheit, euer
Ansehen, vornehmerStand macht mir bange
Pis. grobe wisch : grosse Fische, Pils. Glsh.
Krh.
grosclia f. 1. alte Frau, 2. Hexe, be
sonders den kleinen Kindern feindlich ge
sinnt: de alda grdscha (das sch weich wie
französisch ja in jamais) Prb., vgl. das
folgende Wort.
S c h r ö e r.
* grosel f. Grossmutter, Krh. Schm. II,
120. hat: dlde grüisel: Person, die gerne
greuselt, d. i. mit zarter, schmeichelnder
Stimme spricht ? vgl. mhd. alter griuslinc,
Ms. I, 81. Ben. Müll. I, 578. vgl. grosclia,
grulla.
groschcln, krosclieln in : sich bekro-
sclieln : sich erholen. Auf den Dörfern
der Zips Genersich I, 142, vgl. Wtb. 74.
Zu vergleichen damit ist schweizer. :
ergreschlen: erschöpfen etc. s. Stalder I.
473. gräsclilich: munter, wohlauf, im
Berner Oberland, Stalder a. a. 0.
* grulla f. Grossmutter, Prb. schles.
grulc f. was Weinh. 31 von nd. gruli:
graulich ableitet, vgl. grüvater, grö-
schn, grosel.
♦grübel m. Pfeifenstocher, Krh., vgl.
ein glesin grüfl = Griffel. Ben. Müll. I, 581.
In md. Mundarten wird /'inlautend zuweilen
zu w und &, s. Fromm. II, 499.
* griisel n. Gänschen, Knh. grüsala,
Krh. Wtb. 57. henneb. gruscl, Fromm.
I, 531; nordböhm. grischa, Fromm. II, 31,
33 ; schles. gruschcl, Weinh. 31, ebenso
in der Oberlaus., Anton I, 12, vgl. Stal
der I, 480 : gruschcln = gratitare.
grüvater m. Grossvater, Prb. Schon
in gd-stecken für gäsel - stecken , in prü
fleck f. Brustfleck haben wir ähnlichen
Ausfall des Auslautes, so dass man in
grulla (s. d.) gleichfalls gru(szel) la =
grossmuterla vermuthen könnte, wenn dies
die schles. Mundart gleichfalls zuliesse, in
der das Wort auch vorkommt.
gutkiit f. Güte , Mw. altköln. gue-
tichcit, Fromm. II, 438.
II.
Zu dem was Wtb. 57, 86 über h ge
sagt ist, finde ich noch hinzuzusetzen: ein
merkwürdiges Beispiel des Ausfalls von h
vor t in recht: *des cst e rcta we‘soffenu
lump! das ist ein rechter versoffener
Lump, Krh., vgl. Pfeiffer über Gotfr. v.
Strazburg S. 7. Gr. gr. I 2 , 439. Daneben
hört man in Krh. di rechte hand. Unge
höriges h im Anlaut wie im Inlaut be
merkten wir bei pueliheckel , ertl-
liauch, her, he. Die alte Einschiebung
des h zwischen zwei Selbstlauten , mhd.
Gabrihcl. Gr. gr. I' 2 , 438. sehles. geschri-
hen, Weinh. Dialektforschg. S. 87 bemerkte
ich in Trexeih.
deus y (wahrscheinlich gedehntes des:
diess) Antsche (Aennehen) dcus Antsche,
kan andw mddl y
as G(überholen Antsche !
dcus Pdllai (Paul lein: Paulchen) dcus
Pdllui',
kan anda ( knechtet
as Mockcsch (Name) Pdllain !
Nachtrag zum Wörterhuche
a hrisclechta äppel
und a prauna kes'n
s Gceberhelen Antsche
hat Mockesch’ Pallain gea e n.
haben in Lorenzen, Paulisch. Hochw.
Miinichwies: III. pers. präs. sing. * her
habt, vgl. altsächs. habid nl. he heft die
erste Person meistens: * ech lia. z. B. ech
ha s eng je gesagt; ha-r-echs eng seit nit
gesagt ? habe ichs euch damals nicht gesagt ?
Krmw. ha-l-ech nicht? Prb. ech hob, do
hast, her hat, bir han, er häbts, si hau,
part. gehatt, Dpsch. s. Wtb. 57.
hacken in: a hacken (abhacken) :
umbauen : pärn ahacken : Bäume umbauen,
Krmw. nischt behackt ont nischt bchuobclt:
ungeschlacht, Knh.
hdf in zaf erkannte ich erst als ich
in Polesch in demselben Sinne zohaf (in
der Zips ze heuf) sagen hörte; häfen:
häufen in dem Sinne für hinreichen, genug
sein; die supp hdft sech mer nech, die
Suppe sättigt nicht, Pils.
Iiaya! im Wiegenlied :
haija bobaija, bas hrdspelt cm stra ?
maüsel sain dreilna de tuen nje a sä. Krh.
in Fallersleben : eia popaia , wat ruggelt
im stro ? Fromm. V, ‘491, genau so in
Holstein und fast überall im mittleren und
nördlichen Deutschland verbreitet, s. Fied
ler, Volksreime aus Dessau 18. Simrock,
Kinderbuch 49 heia poppaia wohl ganz
allgemein. Rochholz, Kinderlied 309. Die
bair. österr. Volkssprache hat daraus das
Zeitwort heien, heicicn, d. i. schlafen, ge
bildet. Schröer’sWeihnachtsspiele 90. Schm.
II, 133.
liaiuam f ? so heisst das Fest am
Tage nach der Hochzeit in Praben, wobei
feierlich ein lebender Hahn in’s Brauthaus
getragen wird; die Junggesellen haben
dabei Federwische auf den Hüten. — Die
schwäbische Sitte um die kenne zu reiten,
Fromm. IV, 109 ist mir nicht klar. Das
Wort hain'am, den Lauten nach scheint
ähnlich gebildet wie mhd. crbendme: Über
nahme der Erbschaft, Mull. Zarncke II, 370,
und der erste Theil könnte mhd. hie, ahd.
hiwo: der Gatte, die Gattin sein (da ai in
Prb. mhd. i entspricht): es wäre dies Fest
ursprünglich die feierliche Übernahme der
Braut, für die als Kaufpreis den Eltern
derselben ein Hahn gesendet wird.
Haizpach f. so heisst 1373 der Bade
ort Glashütten oder Sklenno (nicht zu ver
wechseln mit Glaserhäu). Schemn. Arch.
halln: halten, ech hall etze de gaszl e
dr händ: ich halte jetzt die Peitsche in
der Hand, Krh.; ebenso schelln: schelten,
Krh.; spelln : spalten, Krh.
liall> m. in handhalp m. Die Handhabe
des Dreschflegels, Krh. mhd. halp stm.
Ben. Müll. I, G14, schles. lialm, Weinh. 32,
wo darüber weiterer Nachweis zu finden ist.
ham in anham: heim, nach Hause,
der deutschen Mundarten etc. 273
Prb. « A«', Mw. hum, Pis. klimmt anhdm,
Prb. kot a hä, Mw. vgl. Wtb. 59.
liaiim. so heissen in Hochwies, Kricker-
häu, Schmiedshäu verschiedene waldige
Höhen, vgl. der hahn für hain im schles.
Weinh. 33. In Paulisch soll es die Feld
mark bedeuten, vgl. slov. hon.
* hänappel m. die Frucht des Hage
dorns, Dpsch., ebenso in Aachen, Müll.
Weitz 77. in Krh. häe~ puttcn vgl. Wtb.
60. Die Dopschauer deuten es als hahncn-
apfel, doch ziehe ich die Ableitung von
hagenapfel, die am a. Ü. gegeben ist, vor.
hano: s. ano.
hand hentschen s. Wtb. 58. Aaclin.
in. händschcn.
Handerburz ui. dieser im Wtb. 41 be
sprochene Spottname der Krickerhäuer er
klärt sich vielleicht am natürlichsten aus
dem Handel mit Wurzen, d. i. Heilkräutern,
den namentlich die Münichwieser treiben;
diese zogen wie die schlesischen Aberanten
oder Laboranten, s. Weinh. 50, bis noch vor
Kurzem als fahrende Heilkünstler weit im
Ausland herum; ihre Mundart erinnert be
sonders an die schles. Gebirgsmundart.
fj.äsenblouhe, Wtb. 61, ein dünner,
trockener Kuchen, sieben!», in Siichs.-
Regen hausenbläse.
*liassenusz f. die Haselnuss, die auf
fallende unorganische Verschärfung des s,
s. Wtb. 59 f. 25, findet sich auch im sie-
benbürg*. hasset und in der Aachener*
Mundart: hasseiter, Müll. Weitz. 80.
liaup *liap n. das Haupt, häpschädel:
Ohrfeige , Krmw. häpkränket f. Nerven
fieber, Krmw. Prb., vgl. Wtb. 59 und
unten hcp.
hawi, häw, hau, ha n. das hau, eine
Rodung, Stelle, wo der Wald ausgehauen
ist, Niederlassung an einer solchen Stelle,
z. B. Michels hau, Mechls hä: Michaels
Niederlassung im Walde, Smh. Das Wort
ist in derselben Bedeutung im Harze noch
üblich, Förstemann, Ortsnamen 715. Die
mit hau zusammengesetzten Ortsnamen des
ungrischen Berglandes sind insgesammt
solche Niederlassungen im Walde, die
Wohnungen , einstöckige (in Krickerhäu
nennt man sie zive'stöckech) hölzerne, ver
einzelt stehende Blockhäuser mit grossen
Höfen, zuweilen jetzt noch vom Walde
umgeben , selbst in der „Stadt“ Kricker
häu (s. d.). Förstemann a. a. O. nimmt an,
dass das Wort hau, ahd. hawi, oft Ver
anlassung zu einem Namenelemente ge
wesen sei, „doch ist es als letzter Theil
von Ortsnamen kaum wieder zu erkennen,
da die auf -huba, namentlich aber die auf
-hof ausgehenden diese selteneren Bildun
gen gänzlich verschlungen haben.“ Er führt
die kennbarsten Formen an: Gundihhin-
heua (8), Cunzelshowe (11), Chitanreinis-
howa (4), Rcdilinghowc (10) und Wide-
howe {11). Die reine Form -hawi, später
274
Julius Schröe r.
how scheint nichtvorzukommen. Reichliche,
wenn auch spätere Belege bieten die ur
kundlichen Formen (die ich erst jetzt hei
Bereisung* der Bergstädte 1858 einsehen
konnte) unserer Ortsnamen, die weder die
Deutung aus -huba, noch aus -hof, son
dern nur die aus ahd. -hawi: der Aushau,
das Häu, zulassen, wie wir gleich sehen
werden. Und so wäre denn allen anderen
Deutungen dieser Namen, vgl. Wtb. 57,
74, ein Ziel gesetzt und die richtige Schrei
bung ein für allemal festgestellt. Weil man
die Sylbe -häu in der Aussprache des Vol
kes -hä nicht verstand, wollte man es aus
slav. -hay deuten und schrieb -huy oder
gar -hain.
Eine Urkunde über die Gründung von
Kuneshäu oder Kuneschhäu vom Jahre
1542. konnte ich im Originale nicht sehen,
doch fand ich im Kremnitzer Stadt-Archiv
in einer Urkunde vom Jahre 1429: Kwnus-
haw und Hannushaw (jetzt Hanneshäu).
Laut einer anderen von 1360 im Krem
nitzer Stadt-Archive wird einem domiuo
GInzer filio Gerhardi eine populanda silvosa
possessio, scultetia hereditaria verliehen.
In einer spätem von 1409 ebenfalls daselbst
in Kremnitz steht schon Glasirshaw, Glo-
serhaw. 1441: Glasserhaw, Glaserhaw,
Gloserhaw. Um 1364 soll ebenso von einem
scultetus Kricker (alias Grygger) Kricker -
hdu gegründet sein , ‘doch habe ich die
Original-Urkunde, die im Kremnitzer Stadt-
Archive liegen soll, nicht linden können.
Im Neusoler Stadt-Archive findet sich eine
Urkunde von 1457, wo der „possessio“
Krickershaw, — Krikershaw alias Kri-
kerow“ Erwähnung geschieht. Eine Urkunde
(durch Kemeny veröffentlicht im Magazin
für Geschichte Siebenbürgens von A. Kurz
1844, Seite 189) von 1385 hat Henul de
Grykkerhow und villa Grykkerhow. Ko-
rahinsky schreibt einmal noch Kriekeheu,
S. 224. Ipolyi in Wolf’s Ztschr. f. Mythol. I,
260 schreibt: „Krickehaj für Gregerheu“
und weiter „in älteren Urkunden (wird die
ses haj) heu (geschrieben).“ In einer der
Matrikeln des XVII. Jahrhunderts auf dem
Pfarrhofe zu Kriekerhäu fand ich Kr ick-
ehäw, in einer zu Trexelhäu von demselben
Alter Trexelhuu. M. Bel. schreibt heu, z. ß.
not. Hung. IV, 242 : Kuneschheü, Hanes-
heii. Dass der erste Theil dieses Namens
den scultetus oder Gründer einer Ansiedlung
bezeichne, habe ich Wtb. 74 errathen. Ein
solcher war 1360 Glazer (d. i. Glaser, s.
Wtb. 89), der Sohn Gerhardi, um 1364
Grykker oder Kricker, so werden Kunusch-,
Hannusch-, Trexel- etc. Personennamen
sein, wie die von Förstemann a. a. 0. mit
-häu zusammengesetzten Ortsnamen auch
mit Personennamen zusammengesetzt sind.
Kunzelshowe kann mit Kunos- oder Kön
nt ds hau , Kuneschhäu gleichgestellt wer
den, s. Beneschliäu.
* hau' ha f. die Haue, Krh.
hauen kan: mähen, Krh., s. gras.
huuer * haer m. der Häuer im Berg
werk; in der Krh. Mundart könnte wohl
auch ein Ansiedler im Walde darunter ver
standen werden, und beide Bedeutungen
mögen sich oft berühren, da hier so viel
Bergbau ist. Im Schemn. Bergr. 7 heisst
der Häuer nach der Ausgabe von Wenzel
hawer, nach der Kachelmann’s haier (für
häuer?). In Pressburg ist ein haucr (nicht
Häuer) ein Weinbauer, vgl. Adelung unter
flauer, häuer.
hauch: Kröte in erdliauch, s. d.
liaz in. der Stier, Krh., Wtb. 59, s.
herdox, in der Oherlausitz hcin-zc, henze:
Ochse, Ant. I, 13. ‘VIII, 21; in der Schweiz
heizel: Stierkalb, Stald. II, 36, vgl. Wtb.
59 unter hedschal. — hazlbagfn ha~zl-
bagn m. der grosse Wagen, Wodans Wa
gen, das ßärgestirn. Ein Krickerhäuer er
klärte mir den Namen, indem er ihn von
häz: Stier ableitete,«daher, dass man des
Morgens nach diesem Gestirn ausschauen
müsse, um zu sehen, ob es schon Zeit sei,
den häz — Stier, herauszulassen. Die Form
hdzl steht nicht so fern dem magyarischen
gönciil- in Göncöl-szeker (=Gunzelwagen),
wie dies Gestirn genannt wird. Ipolyi rna-
gyar. myth. 268 f. 450. In Oherufer hei
Pressburg heisst der grosse Bär Händlwagn,
was vielleicht blosz eine Umdeutung ist und
an den Wagen des'Hühnchens im Märchen
(Gr. Hausmärchen 80) erinnert. Vergl.
gaingzel in Gainyzelnoowcnd, Gaingzel-
rockcn im sicbciibürg-. Schüller, Syl
vestergabe 1859, S. 10. Müll, siebenb. Sagen
Seite 356. Dass östr. kunz = Wodan ist,
ergibt sich aus Vernaleken Mythen, Seite50.
* hco‘best m. Herbst, Krh.
hciben : trinken, Wtb. 59. Weinh.34.
Anton VIII, 19. Gr. Wtb. I, 664, dazu vgl.
man aber noch huppen: Schnaps trinken etc.
Aachener Mundart 92.
hell f. Wtb. 59, auch sieb, die Hölle
und der Ofenwinkel, vgl. Anton VIII, 21.
Hellebrand m. „der Iluschwai ist der
Hellebrand“, Ksm., s. Wtb. 61 und oben
g'isbaion.
*heobe‘ m. der Hafer, so in Deutsch-
Litta (sl. Kapronca), was wieder auf einen
bedeutend abweichendenVocalstand daselbst
schliessen lässt. Sonst in Kuh. Krh. sagt
man häher.
lieop, heup m. Hof, Ksm. maierhe-
op: Maierhof. Die Verwandlung des aus
lautenden f in p in diesem Worte ist hier
ganz abnorm und nicht zu vergleichen mit
der aus dem nd. stammenden Verwandlung
des aus- und inlautenden pf (kopp, topp).
Der Doppellaut Jo, cu in Ksm. entspricht:
ä, o und mhd. ou (meul, pisteul cugenbleck
in Linduers Gedicht, Wtb. 115 f.) doch ist
die Form echt zipserisch und auch ausser
Ksm. verbreitet.
S
1
i
Nachtrag zum Wörterhuche der deutschen Mundarten etc. 275
* liep n. das Haupt, Dpsch. vgl. oben
häup, hap, Wtb. 59. In Schlesien hct,
Weinh. Dial. 34. So zeichnet den Dopsch.
Dialekt ein ähnliches e in kefen: kaufen
aus, Wtb. 68, 120, vgl. schles. Weinh.
Dial. 34.
her, lie: er, Krh. Prb. Dpsch. Zips
jer Plsch., vgl. Wtb. 60, 65. In schneller
Rede ist in Dpsch. und auch wol sonst er
neben her zu hören.
♦herclox m. der Stier, Hw., in Krh.
haz, ha z, s. d. henneh, frank. hcrduss,
Fromm. IV, 308.
Herr in *herr wate: Herr Vater, Herr
Pfarrer, Krh. Pis. fra mute: Frau Pfarrerin,
Pis.
* hjarri, der Herd im slov. in und um
Neusohl, bezeugt die hier bereits erloschene
Volksmundart, die der von Prb. etc. ähnlich
gewesen sein muss, vergl. Perg, Piarg,
bjost, J.
* hicli, hielt! gib Acht, Krmzw.
*hfenitzf. Hornisse, Krh., rheinfränk.
hornix, koburg. homestl, Fromm. II, 552.
Das sz, z wird in den hierher gehörigen
Mundarten auch sonst zu x: zackerblex,
kriix (crux, kreuz) Fromm. II, 552; schles.
einbüxen: einbiiszen u. a. Das geistliche
Schauspiel des XV. Jahrhunderts, mit dem
uns Bartsch bekannt macht, PfeifFer’s Ger
mania III, 267—297, hat neben anderen
thüringischen Formen unter anderin auch
der plix: Blitz, s. 273. vgl. mild.Wtb. I, 215.
Iioc'potten: Hagebutten, Krh. hän-
äppel, s. d. Dpsch. Aachen. Mundart haan-
äppel, Müll. Weitz 77.
holricbitter oder holclebittener =
hält e bi teuer: halt ein wie taner, einer
«ler besser sein könnte , als er ist. Krh.
Wtb. 58,104, und oben bittener, bitter.
Holde, fra Holde : Frau Holde. Was
am Weihnachtsabend von der Mohnspeise
(s. kränhappl) in der Schüssel bleibt, wäh
rend dem man zur Mette in die Kirche geht,
nennt man fra Holden teil. Wenn man aus
der Kirche zurückkommt, setzt man sich
wieder zur Schüssel und sagt: nu wollen
wir mit frau Holden essen! — Frau Holde
wird verehrt in Franken, Thüringen,
Hessen und am Niederrhein. Gr. myth.
263. Haupt, Ztsehr. VII, 386. Frau Holden
teil ist hier ganz ähnlich dem vergodendcl
(Frau Goden teil) Haupt VH, 337, wie man
«len für die Göttin stehen gebliebenen Ge-
traidebüschel nennt. In Nordfranken heisst
sie Holle, in Schlesien Hole, Schm. II, 174.
Weinh. 36; in Siebenb. heisst sie hülde,
fraholte, s. Müll, siebenb. Sagen 26, 255 f.
Schüller, Sylvestergabe 1859, S. 10.
hoiniie f. die Schaukel, Ksm. nl. hob-
belen: schaukeln und hinken, ebenso be
deutet humpeln sonst hinken, hier hornpe
«lie Schaukel.
Honneshäu Hanneshä: slav. Lucka
1429 : Hannushaw, s. hau.
liöcnala, hecnala n. das Kipfel, hörn-
chen, Prb. Krh.
hott und har in der Fuhrmannssprache
hat auch die Aachener Mundart, Wtb. 58.
hr s. unter r.
lmart: hart, Krmw., vgl. siebenb.
guorten, ungr. Mag. IV, 23, 29, u. ö.
hübet in. Hügel, Schemnitz ; altköln.
hovel, Fromm. II, 439. hübet ist ein md.
und westnd. Wort, auch in Schlesien,
Mähren, Nordböhmen heimisch Weinh.
37. Fromm. V, 461, 474.
hui n. Heu, Waldorf, erinnert an den
altfränkischen Vocalstand Wiliram’s, vgl.
liünig.
hüln: necken, Krh., wol aus hudeln
wie bei aus bedel (s. d.j.
*Hune‘hennf. Name eines Sternbil
des: e ganze schäa e ste‘n pai enanna t , Krh.
* liünig m. Honig, Krh. huinig (vgl.
altköln. hoinc, Fromm. II, 439) Krmw ;
hier wird u i ie zu ui: luibe tfetterenn!
liebe Gevatterin! ge doch ze uinen : geh
doch zu ihnen, Krmw.puin: Bühne, ruimen:
Riemen, Krmw. Ähnliches ui hat Wiliram
für altes u iu: buiwen, fruintin, luite, s.U.
hundert decket n. die Magenblätter
vom Vieh. Krh.
huppen: hüpfen, Krh., liupross n.
Heuschrecke, schä nor schä, bitte hupross!
Kuh. huphrössela , Krh., schles. hupross.
Fromm. II, 252, 192. nl. huppelen, Aaclin.
Mundart hupperen : hüpfen.
hurzeln in hurzelbank: Schnitzbank,
Pis., der Kopf des beweglichen senkrechten
Theiles derselben heisst das hrössel: röss-
lein, vgl. damit hänsel: Hengstlein und
hänselbank, Schm. II, 215 ; zu hurzeln vgl.
mhd. harzen : hetzen (auch bei den Haaren
ziehn?) Ben. Müll. I, 737; madjar. hur-
czolni : reissen, ziehen, peinigen.
hutschen f. die Wiege, Krh. hotschen,
Trxlh. vgl. Schmell. II, 289 und Wtb. 60.
I* J«
Je, i i wird um Kremnilz, in Kunesch-
häu zu ui, oi: luibe, ruimen, uinen: Liehe,
Riemen, ihnen; zu oi: noida i : nieder;
me soiht hält net nje bäs kroicht äbe‘ ach
bäs wloigt, Knh.-o/ für mhd. iu und ie ist
in den Orten Trexelhäu, Neuhäu, Paulisch,
Hochwies wie im schles. zu hören. Weinh.
Dial. 63, indem in Kriekerhäu mhd. iu rein
äü; i wie ai; ei, wie d gesprochen wird.
Eine besondere Eigentümlichkeit der
Mundart von Praben und der nächsten Um
gebung, zum Theil auch von Krh., ist die
Präjotirung des e\ e, ä, ö meist vor r; eine
Erscheinung, die geradezu an das altnord,
erinnert. Ich setze einige Beispiele her:
er, her wird jer, Hoch wies; herz wird
jutz, Schmidshäu (vgl. Aachener Mundart:
hatz), altnord, hjarta, sclnved. hjerta, dän
hjerte.
i
27ß
Julius S c h r ö e r.
berg ist hier in das slovak. übergegan
gen in der Form pjarg, altnord, biari/,
dän. bjerg.
herd, ebenso hjard. hrustfleck, ebenso
(slovakiscb) prusIjak etc.
dörfer wird tjaffer in Kuneschiuiu, dort
(dort) wird djut in Kuneschhäu.
stärker wird stjaka in Praben. durch
wird djoch in Praben. durf wird tja ff in
Praben.
herr wird jurr in Schmiedshäu.
warst (worst) wird bjoscht in Prb.
und = jund, Wtb. 65 u. dgl. m.
Als eine Spur davon in der Mundart des
Kuhländchens ist anzusehen tiäkcltaw und
lidmisch, Meinert, 375. Das siebenbürg’.
i/urd (vgl. altnord, jörd, jardar), Fromm.
IV, 11)6, in der Mundart von Gottscbee;
jerd. im scliles. joelend, s. Wtb. 65. —
Die Beispiele -fleck, und (Hämisch ?) elend
zeigen kein r als Veranlassung dieser Er
scheinung (etwa : herz = heuz = hjatz =
jatz) ; slavischen Einfluss glaube ich hier
nicht annehmen zu müssen. Eine Analogie
hat das slavische allerdings in dem slova-
kischen ä = ia.
*ja : ja, als einfache Bejahung, Krh.JücJ,
umi jeu Mw. umi jdö! jü, Gdl., hingegen in
der Bedeutung von tarnen nachgesetzt, klingt
es: je, je, Krh. Prb., vgl. angels. gea, engl.
gen, altfries. je. — A. etzu beich ech wo.
anar gölderen sau darzcln. B. no, darzcl!
A. ech hä je gesägt däsz ech eck bu‘ wo e
anar gölderen suu darzcln. B. no, darzcl
etc. in Infinitum, ein üblicher Kinderscherz
in Krh., zu dem wohl die Mythe von Freyrs
Gullinbursti, dem goldborstigen Eber (Gr.
Myth. 194) zusammengeschrumpft ist. —
Auch in der Zips zeigt sich dieser Unter
schied zwischen einem ja und je, je, Wtb.
65, Fromm. V, 267. IV. 129, 28.
jarr in. Herr, wie jatz: herz, Schmh.
s. J. ahd. herro, altnord, harri, hari,
angels. hearru.
ja'ss das, Mw. Kuh. aus janes, s. jener,
in Mw. steht a für e, wie im Garstvogel-
Dialekte Wtb. 53, in: laben, kräbesz; auch
i gä, du gast, her gait, s. auch gerst.
jatz. n. Herz, vgl. jarr, Schmh. Prb.
träijalzeg : treuherzig, traut. — jutzal n.
Herzchen, als Kosewort, Fisch, s. «I» ahd.
herzd, goth. liairto, angelsächsisch heort,
altnord, hiarta. Aachener Mundart hutz,
MW. 80.
-ich, -ech: -jg, adject. Endung, wird
in Prb. Zeh. Sinh, zu -it, -et in pomelet:
allmählich, s. Wtb. 32, vgl. -lieh. Viel
leicht ist -icht anzunehmen, da der Ausfall
des ch unserer vorliegenden Mundart nicht
ungeinäss ist.
je» s. ja.
jener, jene, je~s: jener, jene, je
nes ; gen. jessen, Krh. janer, jana, ja’ s,
Prb. Mw. sehr gebräuchlich. jessbeng,jd'st-
beng: desshalb Krh. Prb. der analog der
Form dessen gebildete Genitiv jessen ist
vielleicht auch sonst vorhanden, vgl. schl.
gen. jess, Weinh. Dial. 141. jessjdrig,
Weinh. 38; im Kuländchen jess: jenes,
Meinert 403, goth. jains, ahd. gener, mhd.
jener, in der hair. österr. Mundart unüblich,
s. Schm. II, 268. Das stumme e der zweiten
Sylbe kann schon mhd. überall wegfallen,
Hahn mhd. Gramm. I, 113. Die Form je tue
(= jeneme) bei Herbort 4262, dasselbe vgl.
Weinh. Dial. 141 : jem.
jeppiii m. Eierkuchen, Prb. ln Gömör
sagen die Slaven dafür pankdeh, d. i. Pfann
kuchen.
jetten f. geflochtener Zaun, Prb., vgl.
mhd. eter, ahd. ctar. stm. stn. — Wenn
hier das f. etwa aus einem späteren mund
artlichen schwachen Plural die eitern ent
standen ist (das r fällt in der Mundart von
Praben so oft aus), so wäre jetten zu
schreiben. Uber das j s. «I» vor kurzem
Selbstlaut und t wäre es ein merkwürdiger
Fall der Präjotirung. Vgl. altnord, iadhar,
agls. codor.
jer: er, Hw., s. bei* und «I. — goth.
is, ahd. ir, md. her, nd. he.
Jirg'el,; Georg, Krmw.
in da : immer, Prb. Krh. in da and: im
mer einerlei , Krh. mhd. iender (aus te
il-er) bedeutet eigentlich: irgendwo;
scliles. inde: irgend, immerhin, Weinh.
38 b . in der Oberlausitz inde: immer,
Anton IX, 4; ebenso im Kulündclieii,
Meinert 402. — and, mhd. cnein, in ein : in
eins , zusammen , in einander, Kuländchen
ind an aem, Mein. a. a. 0.
•log-ala n. ein Kobold, Krh. in Prb :
Jegala, vgl. was .Schmell. il, 266 unter
Jägkel (oherpl'älz. Gaugl) mittheilt.
Johannisfeuer Gehonneswöjer n. in
Hw. daselbst werden gewisse Kräuter in
diesem Feuer geweiht und dadurch heil
kräftig gemacht. Mehreres über Johannis
feuer Wtb. 66.
l'ratzen: ihrzen, Krmw. ahd. wahr
scheinlich irazan, mhd. irezen und irzen,
Ben. Müll. I, 752, vgl. Gr. gr. II, 218 f.
is: ihr. Diese oberdeutsche Dualform
hat sich auch in Leulschau eingedrängt, in
Käsmark nicht. Im Zipser „Niederlande“
is essts, is saits. In Trxlh. Knh. cs enker
enk, hingegen schon in Krh. ia, dür, mich.
In Dpsch. iar, aber die zweite Person plur.
hat -s (iar schlä'tsj, s. Wtb. 132.
isclitik: irgend etwas, /com zo mir ich
be dir ischtik geben, Hw. ischt, Mw. sieb.
äst: etwas, Fromm. V, 36, 70; in der Zips
ischig, s. Wtb. 66. Frommann VI, 91.
♦junker *junkfra: besonders von
Liebenden gebraucht für knecht, s. d. der nie.
Wtb. 67 a . So in Pis. Prb. Krh. Dpsch.
K.
Kald: kalt. Schon Wtb. 67 a . angemerkt.
Das l wirkt auch hier erweichend, wie im
Nachtrag; zum Wörterbuche der deutschen Mundarten etc.
277
scliles. tliüring*., s.Weinh. Dial. 65. er
liats kahle, Krmw., s. kalda, ka 5 Ida:
das Fieber, Prb. mhd. kalde sucht, Dieffenb.
121. Das t assimilirt sich mit dem l völlig;
in hälln: halten, s. d. Krh., daher keilen:
Kälte empfinden, in der Bedeutung- um so
mehr sich diesem Worte, von dem es
völlig- verschiedenen Ursprungs ist, schein
bar genähert hat, s. keilen, kalt wird
abgeleitet von kalan, kuol, Gr. II, 9. 231.
campirwunde f. Kämpferwunde, im
Kampf erhaltene Wunde, „campirwunde
unde plutrunst, vulnus mortiferi“, 1392.
Schemn. Stadtarch. mit bewahrtem nd. p
für pf, ph. mlat. campio, alul. kamfjo, GralF
IV, 407, kommt erst spät mhd. in der Form
kempfer (f. Kämpfe), Dieffenb. unter „ad-
leta“, agonista und duellator, vor.
Kampe f. Ich hörte das Wort nur in
der Verbindung : c /campe letzen : den Ball
schlagen (Käsmark) und weiss zur Erklä
rung nichts beizubringen, ln Pressburg nen
nen es die Knaben im Ballspiel ein gamposch
n., wenn einer dem andern den Ball, vor
ihm stehend, so in die Höhe wirft, dass
dieser ihn mit dem Schlagholz trifft: gimma-
r-a gamposch! — Dieses letztere heisst
madj. kapös von kap-ni: capere.
♦kann: ich kann; ech kon, bir kon-
nan, ir konts: part. praet. gekonnt, Dpsch.
* ech ko, de kost, her ko, bio könna, ie
könt, se könna, gekunt, Krh., vgl. Weinh.
Dial. 130. Die in älterer Zeit kaum mehr zu
erweisende starke Form des part. praet.
kunnen, künnen. Gr. gr. IV, 167 f. hat sich
in der bair.-österr. Mundart erhalten (Schm.
11, 307). Ich hörte auch in Prb. e• hagr
em net kinne he & tfen : ich habe ihm nicht
können helfen. Diese Form wird aus der
Österreich. Mundart eingedrungen sein und
scheint md. Dialekten fremd.
* kata* in. Kater, *katz f. Katze, Krh.
kitzcla: Kätzchen, vergl. minzen, Krh.
mhd. kitzelin mit md. i für e = ä, engl.
kitten, henneb. kitze, Fromm. IV, 314,
scliles. kitsche, s. Weinh. 43 a . u. s. f.
katzik m. der Henker, Leutschau (in
Ksm. „bisc“) slov. katjk, Jungmann II, 34.
Kaule f. Kugel, Wtb. 68. *kaülecht
rund, Krh., das Wort ist in das polnische
(kule) und slov. (kaute) übergegangen.
*kaüriclit n., dasselbe in Krh. was in
Pils, gauschkch, s. d. = das Grüne von
Kartoffeln, Rüben, Welschkorn etc. zu ahd.
kaauwarön: consumere, depascere? Graff
IV, 535 f. etwas zum kauen für das Vieh ?
* kausen: sprechen, plaudern, Mw. in
Knh. gilt dafür, tädeng, s. d. Es ist auffällig,
wenn man nach Mw. kommt, wie häufig
man dies sonst seltene Wort zu hören be
kömmt. Man versammelt sich um zu kausen,
man ruft sich zu : komm zu mir kausen, in der
Oberpfalz kousen, Schm. II, 337; in der
Zips kosen, Wrtb. 72 (daselbst ist gefehlt,
dass das nd .kören, küren herbei gezogen ist);
Sitzb. d. phil.-hist. CI. XXXI. Bd. II. Ilft.
sieb, kuisen, henneberg, küse, Fromm.,
vgl. französ. causer aus lat. causari; daneben
ahd. kösön. Graff IV, 501 gar nicht selten.
♦keg’en: gegen; ankegen: entgegen
Prb. so wie noch in Schlesien, Nordböhmen
kaigen, akaigen, ai de kene, in die geine:
Weinh. dial. 82. Fromm. II, 31, engl, against,
mhd. enkegene (Nib. 389, 1685) neben en-
gagene, engegene, ahd. inkagan, ingagan,
Graff IV, 137; das alte k im Anlaut hat sich
in der Mundart erhalten; so finde ich kein
(= gein-gegen) am Ende des XV. Jahrh.
Wackern. Leseb. I, 990, 9, Jeroschin hat
kegin, kein; alte Beispiele aus Schlesien.
Weinh. a. a. 0. im Leben Ludwig’s kein s.
163, vgl. keng;.
keilen , killen, gekollen : Kälte
schmerzlich empfinden, z. B. in den Fin
gerspitzen, in den Zähnen. Wtb. 68. Zu
dieser ganz besonderen Bedeutung wird
das Wort herabgesunken sein, indem man
es mit kalt und kill (s. kald) in Verbindung
brachte. Ursprünglich bedeutete es über
haupt schmerzlich leiden, gequält sein,
mhd. kil oder quil, quäl, quälen, gequoln,
Ben. Müll. 897, ahd. quclan: cruciari Gr.
gr. II, 29, 315. Für diese Ableitung sprechen
folgende mundartliche Formen: ostfries.
lcüs keilen: Zahmveh, Fromm. IV, 127; in
Aachen köle: Pein, Schmerz, Qual, kolig,
nl. kwalyk: unwohl. Müll. Weit/. 120,
sehles. „erkiillen partic., erkältet, erfro
ren — zu fraglichem erkillan-kai“ Weinh.
49“ killen heisst allerdings auch nl. frieren.
In Hildesheim kille: Kälte. Fromm. II, 123,
westerwäld. de hänn kille mcich : die
Hände schmerzen mich vor Kälte. Schmidt79.
keng, keng*: gerade desshalb, dei
ner Meinung, deinem Willen zum Trotz.
keng bei ech dar ge" ! ich werde, gerade,
weil du es nicht willst, hingehen, keng bil
ech net! und ich w ill gerade nicht! Ich
sagte zu einem Mädchen , dass sie gut
krickerhäuisch spricht: keng pin i nit aus
Kr ick c‘hä ! antwortete sie: gerade ich bin
nicht aus Kriekerhäu (sie war aus Neuhäu).
Ob das. Wort zu gegen gehört ? s. keg;en
vgl. siehenb. gor zekegden: ganz und gar.
Fromm. V, 177, 219.
kepp f., der Mantel, Krh., ahd. chappa,
mhd. kappe: der Mantel, Hülle, womit der
Kopf mit eingehüllt wird. Graff IV, 355.
Ben. Müll. I, 787. scliles. Weinh. 40. —
hat in neuerer Zeit gewöhnlich nur die Be
deutung: Mütze, vgl. Wtb. 67, sl. kepen,
dim. kepenck, madjar. köpenyeg, pol. ko-
pien-iak, Jungmann II, 50.
gekerschel, g;akea*schel n., Keh
richt, Dopsch., Wtb. 69.
Kei'Ungen, eine untergegangene Ort
schaft oberhalb Ilodrits (elied. Hodratz, Ho-
dritz, Hodrusch), s. Kachelmann Gesell, d.
ungr. Bergstädte. 1352 heisst es Karlik das. 3.
kinkale-kankale n., ein Spiel, Krh.
in Pressburg nennt man es Mühl fahren; es
19
278
Julius Sehr ö e r
wird ein Doppelkreuz gemacht, so: =ft=,
das heisst die kleine Mühle (zum Unter
schiede von der grossen, die sich auf der
Kehrseite von Schachbrettern gewöhnlich
angebracht findet). Die beiden Spieler
setzen abwechselnd , der eine immer ein
Ringlein (das er mit Kreide zeichnet), der
andere immer ein Strichlein, bis einer die
Mühle hat (drei Striche oder Ringlein in
einer Reihe). Die Ringe heissen in Krh.
hredela: Räderehen, die Striche: strnchela.
kir-, für Kirche, ahd. kirihhd in kir-
mes und kirweih, s. wtb. 69. Es sei hier
jede Form für sich betrachtet.
kirmes f. Kirchmesse, schon in alter
Zeit kinnesse, aber auch damals schon auf
ein gewisses mundartliches Gebiet be
schränkt und nicht allgemein gebräuchlich,
s. die Stellen im mhd. Worterb. (Ben. Müll.
Zarncke) II, 160. Auch DiefFenbach hat in
seinem Vocabular kirmesz, s. 89. das Wort
ist nl. (kermis) , am ganzen Niederrhein
(kirmes, kemnes. Müll. Weitz 107), im
Hennebergischen Fromm. III, 226, 3, 1. II,
415. 275, im Kuhliindchen (kiernes), poln.
kiermasz, eech. sl. kermes, karmes, kar-
mest, Jungmann H, 50; in Hessen. Man
kann daher genau angeben , von welchem
deutschen Volksstamm die Slaven das Wort
entlehnt haben. Ohne Zweifel von den nie
derrheinischen Einwanderern in Polen,
Ungern, Mähren. Die schlesische Mundart
scheint das Wort nicht zu kennen , ebenso
die Mundart der Oberlausitz (in diesen
Mundarten ist nur der Ausdruck krrnicln:
lärmen, Weinh. 43. Anton II, 4. IX, 6. vgl.
nordfränk. kirm: Kirchweihe. Schmidt
II, 330) anzutrefFen. Hervorzuheben ist
nun, dass die Orte: Schmidshäu, Geidel,
Deutsch-Praben, sowie die Zipser diesen
niederrheinisch-niederländischen Ausdruck
(in der Zips kinns hier *kicmes, kiemest)
bewahren, s. kirweih.
kirweili f. *kie‘ba: Kirchweihe.
So wie ganz in der Nähe neben der fränk.
hennebergischen Mundart in Koburg, statt
des im Henneb. üblichen kermes : kerwa
üblich ist, so hört man ganz in der Nähe
von Deutsch-Praben (s. kirmes) in Kri-
ckerhäu , Neuhäu, Trexelhäu, Kuneschhäu:
Kie‘ba, ahd. chirihwihi, GrafF I, 724. Ro-
senplut hat: kinveihung, Fromm. 1,258.
In der Nachbarschaft von Koburg im Eger-
land Kirnee, Fromm. V, 129. daneben in
der Oberpfalz (Amberg) kirchweih, Sehmell.
II, 329. Es scheint der eigentlich fränki
sche Ausdruck, Fromm. I, 258 und bildet
den Ubergangzu dem alemannischen cliülbi,
kilbi (chilch-wihc). Stahl. II, 99 s. ahd.
cliilihha. Graff IV,481. Der bairisch-österr.
Ausdruck kirtag, Kirchtag, der sich auch
in der Mundart der VII. comin. CW. 177
findet (auch in Möderitz bei Brünn in Mäh
ren), ist hier überall unbekannt. Man sieht
wie erwünscht es wäre zu wissen, welcher
dieser drei Ausdrücke überall gebräuchlich
ist, z. B. in Schlesien, Obersachsen und
iin Westerwald.
kirpel m. Schuh, Dpsch., lat. crepida
poln. karp kurpiele, sl. krpcc.
kislenksclitan m. Kieselstein, Krh.,
abd. chisilink, bair. kislingstain, Sclun.
II, 336.
kitzen n. das Stück, ein kleiner Theil,
Wtb. 69, sieh, kitzgen, in Aachen der
kitz, das kitzche, das kitt, Müll. Weitz. 108.
Auffallend ist hier die Ähnlichkeit der
inadjar. Form kicsiny (spr. kitschinj) klein
(die nur wo das deutsche Adjectiv flexions
los steht angewendet werden kann , indem
sonst kis stehen muss: die Menschen sind
klein: az emberek kicsiny-ek, die kleinen
Menschen : a' kis emberek; substantivisch :
die kleinen hingegen: a kitsinyek; der
Steigerung ist nur kis fähig) ; egy kitsid
oder kitsike: ein wenig, kitsinyke: der
Kleine etc., vgl. wtb. 69 u. 70 unter klein
und Weinh. 44: klitsche. Aber auch kitz-
ling, n. junges Vieh das nicht wachsen will,
das Schm. II, 347, unter kitzen Junge wer
fen und unter kitz kitzlein stellt, erinnert
auffallend an kicsiny: klein.
klappen: schwätzen, klapper, -Klap-
-perin : Schwätzer, Schwätzerin, Prb.,
niederl. klappen, klapper. In der Zips
Klaps-affe: ein Schwätzer, Wtb. 69, in
Aachen klappei: die Schwätzerin, Müll.
Weitz. 110. henneberg, die klapper:
Schwätzerin, klappern: wie Mühlenklapper,
reden. Fromm. IV, 454. ahd. klaphon, vgl.
darüber Weigand-Schmitthenner I, 589. Im
cimbr. hat sich die oberdeutsche Form
klaffen CW. 136 erhalten.
klecken poklecken beschmutzen Prb.
klopel m. der obere Theil desDresch-
flegels, Klopfet, Krh., von klopfen oder
kloppen: daneben klcpcl und klöppele s.
Weigand-Schmitthenner. I, 590.
klug* : verträglich, friedlich, sait klug
melenande i and net ärgeH ich : seid ver
träglich und erzürnet einander nicht. Krh.
kneclit m. der Jüngling, mäd f., das
Mädchen Krh. , die Magd Prb., s. Wtb. 71.
knerren in beknca% zeknie‘t: = „eiwe*
dröckt, überdrückt, wenn man sich im
Gehen überdrückt hat“ Krmw. ?
Knoblicli in. Knoblauch, Krh.
knop m. Knopf. Dpsch.
knor rn. der Knorren, Steinblock in's
Slavische übergegangen: knaura. Schem-
nitz. knjurn, Prb.
knotel m. das Mehlklos, Krh. Kndtdl
m., kndtala n., Prb. was man Österreichisch
„Nockerln“ nennt. Schm. II, 678. österr.
bair. Kuddel. Schm. II. 371. das t für d hier
ist md. Jerosch. 182: knote, indem die
reinmhd. Form knode, ahd. chnodo ist.
kobal&rche f. die Lerche Dpsch.
koch m. plur. koch: Schornstein.Krh.
Zu dem Zipser Ausdruck kau, dem sieben-
Nachtrag- zum Wörterhuche der deutschen Mundarten etc.
279
bürgischen kupp kepp, für Schornstein, s.
Wtb. 68, tritt hier noch ein neuer hinzu
mit gleichem Anlaut. Diese Form ist auch
in das Slovakisehe übergegangen. Palko-
witsch 566: koch, - u, m. — komjn.
Jungmann hat das Wort nicht aufgenommen.
komen wird gekürzt in I. pers. pl.
* koimriba : kommen wir Wtb. 185. * komm
pai ons! willkommen hei uns ! Begrüssung
in Krh. das Lebewohl lautet: platt (plaibt:
bleibt) in gotts man ! — ko.t aha: kommet
heim Mw., kummt ahäm, Prb., zu der Form
kot für kommet sind die rheinfränkischen
Formen: kust kutt: kömmst, kömmt, zu
vgl. Fromm. Ztschr. 111, 271, 4, 555, 33,
V, 520, 10.
komut n. der Ilaarknoten der Frauen.
Prb. mhd. kumet, kummat, kumut, russ.
chornut, sl. chomaut: das Halsgeschirr der
Pferde (!).
kopp in. die Kanne; loasserkopp
Leutschau, ahd. köpf, chopf, mhd. köpf,
ursprünglich rundes Gelass, Trinkgefäss,
Schrepfkopf s. Wtb. 72, erst im XVI. Jahrh.
allgemein für haupt.
*kötz f. der Kumpf, Köcher für den
Schleifstein, ein ähnliches Behältniss über
haupt; schlute i kötz m., Krh., in der Ober
lausitz : die wetzkieze, Anton II, 5 ; die
KrickerhäuischeF.orm kotz (=kützej ist die
richtigere. Mittelrhein. die kütz, kütze,
sonst mundartlich in Mitteldeutscbiand,
Franken, s. Weigand 1,629 , westerwäld.
Schmidt 95, henneberg. Fromm. II, 413.
«kölsch f. Wtb. 72. Shawl, ümhäng-
tucli.kütschcn, ainkötschcn: •'»inhüllen
Krli., in der Zips: zukotschen: zudecken;
sicbenhürg-isch : kotschcn. Aachner
Mundart , kutsch f. Mütze. Müll.Weitz., 105.,
madjar. kuesma (spr. kutschmaj Pelzmütze.
kcabcsz m. der Krebs auch als Fami
lienname in Mw. die Form Krabfisz. Im Kuh-
ländchen Meinert 377; über den Wechsel
von e und a in Mw. vgl. ja‘s.
kräksen f. die Bütte, der Tragkorb.
Prb. fränk. kretze Fromm. II. 413. österr.
bair. Kräxn Fromm. III, 120; md. Mund
arten haben dafür sonst kütz f., was hier
s. kotz seine allgemeine Bedeutung verloren
hat. Kruchsc und Kretze sind ahd. Krotto,
Krezzo m. zu mlat. cartallum, Korb GrafflV,
593; stauch crehq: carrulus das. IV, 590?
krümelten n. eigentlich Krümchen für
Krümchen, s.Wtb. ynimm,'66. knanm, 74 im
Ausruf: s' Krämchen ! ei der tausend! Aus
ruf d. Verwunderung o. auch d. Unwillens.
kraüticht n. Gestrüpp, Krh. vgl.
Zips: gekräutig Wtb. 73.
krebesz m. Krebs, lebt als Familien
name noch in Pilsen in der Umgangssprache,,
in der Schrift erscheint der Name häufig*
(und zwar von denselben Personen) als Iiäk.
Das Thier heisst Krebs. Pis. s. Krabesz.
Krempnitz f. Kremnitz 1364. Kremn.
Archiv.
* krig-slier m. der Officier, Krh.
Krickershaw, Krikershaw alias Kri-
karaw n. 1457. Krickerhäu s. hau.
krönliapel n. auch putschkala, eine
Mehlspeise, die nur zu Weihnachten und
zwar gewöhnlich mit Mohn bereitet wird,
sl. opekance, Jungmann II, 949; kronhäpl
ist Krähenhäuptlein, Kro f. Krähe. Aachner
m. 130 in der Zips krau = kreu Wtb. 73.
quaatl: schwach, Zips, s. Wtb. 85.
quäl in. Quelle, Krh. Schon Dieffen-
bach 245: ein wasser qwal. In der Ober-
lausitz quäl, Anton XI, 17; schles. quäl m.
(Opitz: quält), Weinh. Dial. 27, dasz quall
(Logau), Fromm. IV, 181; nordböhm. quol
m., Fromm. II, 237.
quargel, **faa‘ch0l m., weicher Käse,
Dpsch., in der Zips pforich, tworich, s.
darüber Wtb. 35. 48, vgl. ausserdem schles.
u. s. quarg, quargel, Weinh. 74. Der Über
gang von qu in (pf, tw und) f ist merk
würdig, obwohl er aus obigen Formen
erklärlich wird; er erinnert an lat. quinque
(sanskrit catväras), goth. fidvör u. dgl.
quatschen: schwätzen, Ksm.
quitz m. schmitz, in der Bedeutung eines
streifförmigen Schmutzfleckes; bequitzen,
sich—: sich beschmutzen, Zips. Eltsch.
Kiihliorn: der Name des Ortes Kloster
(sl. Klastor, madjar. Znio Värallya in der
Turotzer Gespanschaft) auf den deutschen
Dörfern.
Künigcspcrk, Kinigspcrk: der Ort Kö
nigsberg (Uj Bünya, Barscher Gespanschaft)
1390. 1469. Schemn. Arch.; wurde eine
Freistadt 1345.
L.
Das schwere l der Siebenbürger Sach
sen, das Frommann V, 361 bei Weitem
nicht ausführlich genug erörtert wird, findet
sich ebenso in Gegenden Schlesiens und in
den deutschen Orten bei Kremnitz, ja selbst
in der städtischen Sprache der Schemnitzer
und Kremnitzer ist ein Anflug von jener
eigenthümlichen Aussprache zu erkennen,
ln Deutsch-Praben erhält das auslautende
und inlautende l einen Klang gleich dem
polnischen l, wie dies auch in nördlichen
Gegenden Schlesiens (in Trebnitz, Glogau,
Neusatz, Primkenau) der Fall ist, Weinh.
Dial. 65; auch wohl im Kuhländchen, vgl.
Meinert 376. In Fundstollen und in der
Zeche bei Praben geht dies l im Auslaut in
einen Voeal über, sowie im nl. .aus -al, ol:
au, ou; im Serbischen aus l: o, aus ol: ö
(so/: so, inadj. so: Salz) wird, vgl. Grimm
GDS. 230. Ganz dieselbe Erscheinung bietet
das Schlesische, Weinh. Dial. 65. Wie die
ser Vocal zu schreiben sei, ist schwer zu
bestimmen, denn er klingt als der Stellver
treter eiiies Mitlautes, den man auszu
sprechen nur zu bequem ist, ganz dumpf,
fast klanglos, wie eine muta, bald glaubt
19 *
280
Julius S c h r ö e r
man -a, bald -ö, bald ot, oi, öl zu verneh
men. Oie Verkleinerungsform ist in Pilsen
-al, inPaulisch -ale, in Trexelhäu, Kricker-
häu-e/a, in Oeutsch-Praben til, in Fund
stollen und der Zeche -o.
lakatschen: plaudern, Krh., zu sl.
läkac?
lam m. Lehm , Krh.; angelsächs. läm,
bair. österr. läm. Hier wohl aus der echt
hochdeutschen Form leimen (ahd. leimo;
denn lehm ist die nd. Form leem) der Mundart
gemäss (vgl. bäsz: weisz,scio) umgebildet.
lang 1 : lang, Krh. Gdl., lang Prb., s.
Wtb. A.
läppescli: matt, ohne Frische, onse*
prunnwässe' est loom regen läppesch ge-
buo'-n, Krh., eine nd. Form; zu nd. lapen,
ahd. laffan: lambere.
lasterscliicht f. das Vesperbrot, die
Jause, Prb.
lata f. Leiter, Krh.
late s. lot.
latschen s schlürfen, Kuh., vgl. latsch:
schlaft’, Weigand II, 14; schlürfen, trinken
und schleppend gehen wird mit verschie
denen gemeinsamen Ausdrücken bezeichnet,
wie: sturen, slapfen etc.
läube, leub, leub, leb f. die Vorhalle,
Laube, Wtb. 76. Aachn. m. loif, Müll.
Weitz. 143 Dieffenbach vocab. vorleube :
vestibulum; Luther: leubc das ahd. loupjä,
woraus mlat. laupia (daher löge, s. Wei
gand II, 59), das neben laupä als das ur
sprünglichere anzunehmen ist, erklärt den
Umlaut. Säulengänge auf dem „ring“
(Marktplatz) , die man auch lauben nennt,
sind auch im ungr. Berglandzu finden, ygl.
Weinhold 51.
lauxt f. d. Holz, in welches die Ochsen
eingespannt sind, wenn sie den Wagen zie
hen, s. laugd, Wtb. 76. Zu liuche, louchetc.
schliesse; daher leuchse (liulise) Schm. II,
428, vielleicht auch leisten, das. 509, wenn
es in dieser Bedeutung steht (j=lcu[ch]ste).
Andere Formen Fromm. II, 217.
galeh (für gelob?) f. Verlobung, Ge
lübde, Prb.
lebendich: lebendig, Ltsch. Auch
siebenbürg’, hat sich noch diese alte
richtige Betonung erhalten (wie im Schle
sischen bei Gryffius, Opitz), mhd. lebendec,
ahd. lebentig (Tatien).
lebert f. die Suppe, in fesch lebert:
Essichsuppe, Dpsch., in Lrz. lebeH, in Krh.
IwweH, lebest; im siebenbürg*. läwent,
loewent. Das Wort fehlt in Pilsen, Glaserhäu,
Kuneschhäu. Die Endung -et, die zwischen
-ert und -ent schwankt, ist echt aachisch,
vgl. bange't, vollc't, liemc't („heimert“,
Ileimath, Müll. Weitz 81), lieveH (lievert),
lomc't (lammert) etc. Anal. Scep. II, 31:
1666, 31. Mai hat esz blüt geregnet: etliches
ist alsobald wie eine lebert believert wor
den, s. Wtb. 77. 76. — Vgl. das magert in
Aachen (Müll. Weitz 148): mageres Fleisch.
Der molbet (molbert) marmel 156. Etwa
das lauende (mhd. läwent ?) von mhd. lä
gen. läwes. In Pressburg sagt man a luwlati
suppn eine lauwarme Suppe. Das e für a, au
wäre zu vergleichen dem e für ou in kefen
(Dpsch.), leb (Zps),glcb (Schlesien) kaufen,
laube, glaube; wenn es von laben (das la
bende Getränk) abgeleitet würde, so scheint
mir das e, ce noch schwerer zu erklären.
IiCg’cndels so heisst eine Vorstadt in
Praben und in Kremnitz; letztere finde ich
1382: „lgget l( geschrieben. Kreinnitzer
Stadtarch., vgl. madj. liget (Nebenform lug):
die Aue, der Wald.
leit m. das Getränk, goth. leithus, ahd.
lid (lidu n. Graft’II, 192), mhd. lid, ist noch
in einigen Zusammensetzungen in unseren
Mundarten üblich: *leitliaus n. (spr.
laithaus) das Wirthshaus, Paulisch., mhd.
lithüs bei Helbling und gesta P»oman. s.
Ben. Müll. I, 739“ = siebenbürg.: letschew,
letschewheus, Fromm. V, 97 (=. leitgeb-
hausl). — *leikop m. der Schenkwirth,
Krh. mit halbniederdeutscher Bildung und
tropisch, denn nd. winkop bedeutet soviel
als Weinkauf, Schm. II, 521. nl. wijnkoop.
mit Umstellung der Mitlaute: *leipock m.
(spr. laipock) : der Schenkwirth, Paulisch,
in der Zips : leikauf in., Bestätigungstrunk,
Wtb. 77, mhd., litkouf, schon im 15. Jahrh.
leikouf, Ben. Müll. 1, 867, Schm. II, 521, in
Kärnth. leikaf, Fromm. V, 254, 58, daher:
wa‘laikoppen : ein Grundstück imGrund-
buch auf einen anderen Namen überschrei
ben lassen, Prb., ursprünglich wohl nicht
ohne einen Bestätigungstrunk (leikauf),
der zuerst 1245 vorkommt, Gr. RA. 191,
wo*laikoppen : verprassen, Krh.
lemelwetzel: geriebene Mehlspeise
in der Suppe. Lrzn. etwa mit dem Werk
zeug das in Aachen nl. lemmer n., nd.
Icmmcl heisst (Müll. Weitz 140 mhd. lämel:
sclilcs. lummel, lummer) gemachte filzein:
Stückchen, zu dem Wurzelverb, fezan:
schneiden. Weigand I, 344, vgl. Schmell. I,
580, s. auch das fitzl: rundes mürbes
eierbrot, Oberpfalz, Schm. I, 58.
lenz m. 1- Mattigkeit, a- hat ne lenz:
er ist träge von der Sommerhitze; 2. das
Zittern der heissen Sommerluft, Krh.; in der
Oberlausitz: der lenü drückt eineh = man
ist matt, Anton II, 8 ; derselbe beruft auch
aus Campes Wtb. ein nd. lenz: matt, mhd.
„lenzen, liegen“: faulenzen? Ben. Müll. 1,965,
1052 ; luncii: somnolentia; lünzen: weich,
lind; dielunzc: concubina, Schm. II, 485,
vgl. Weinh. lunze, 55 ; imWesterwalde: lon-
zen, lunzen; in Pilsen: lonzen Wtb. 78;
vgl. in der Zips: lenzenjong’, Wtb. 77,
schles. lenz: scherz, jubel, Weinh. 53.
Fromm. IV, 176. Am nächsten unserer
Redensart a hat me lenz kommt die aus dem
Salzburgischen : lieft hat di da e lenz, wie
man zu einem trägschläferigen sagt, Fromm.
III, 315, im „cimbr.“ heisst lenz: träge;
b
Nachtrag zu in Wöi lei bliche iler deutschen Mundarten etc.
281
lenzar: faullenzer (Salzburg, lenzai, Fromm.
IV, 176. Cw. 142, lutizen : spähen, Schel
merei treiben; lunzar, der Schelm, Cw.
144), dies sind vielleicht zwei verschiedene
Wörter, zu der Bedeutung spähen ist zu vgl.
Unzen, Weinh. 54, nl. lonken und was ich
unter blcntschcln Wtb. 37" zusammengestellt
habe; zu der Bedeutung Schelmerei trei
ben jedoch obiges lunze: feminale, concu-
bina), vgl. cech. lezati: liegen ; lozc: dasLa-
ger, Jungm. II, 355, urverwandt} mit liegen.
Vgl. leschäke Weinh. 53, sl. lezdk, Fromm.V,
465, 475. Die Formen Hinzen: schlummern,
herumliegen, Schelmerei treiben; lunze: con-
eubina etc.Hinzen: weich; lenz: träge; len
zen : herumliegen etc. gehören wohl zusam
men, wenn auch die Bedeutung von lenz m.
Frühjahr mit auf einzelne der angegebenen
Begriffsbestimmungen eingewirkt hat.
leren, part. prmt. gelert, galert, Prb.,
Krh. lernen, gelernt, westerw. kelohrt.
Schinidt347. siebonb. liren, Fromm.V, 363,
nd.^erm,Fromm.III, 383; V, 430,475,416,62.
— let s. — lit.
letschclien n. viereckig geschnittene
Teigfleckchen als Suppenmehlspeise (in
Pressburg zweckrl n.) , Käsm. in Aachen
letsch f., das Zettelende an Tüchern, Müll.
Weitz 141, bei Jeroschin ist die lasche
(s. 186) ein Stück Fleisch , sonst ein
Lappen, Fetzen; vgl. lischkelchen.
letzen: ein mir unklares Wort in der
Redensart: die Kampe letzen, s. kampe.
lichtmennela n., das Lichtmännlein,
Irrlicht, Krh., man sagt davon ; os wowuaH
dd tdiit; es gct mim (mit einem) glöckl
heröm ond met am lichtl ond wo e wua't de
laut posz (bis) sa zo am hränd (Rand, Ab
grund) komma ond beim bea c andch gct
schtu-ezt c •nain, Krh.
gelinken : abnehmen, von einer Ge
schwulst u. dgl., kleiner werden, schwin
den, Ksm. part. prät. gelonken (also linke,
lank, gelonken). Aachen m. lonkc 1. schie
len (nl.), 2. aufsaugen, Müll. Weitz. 144,
Schm. II, 484 , hält link: sinister zu nor
disch. lina: debilitare (und das alte winistar
zu nord. wana debilitare. ist nicht etwa ein
winu, wein etc. anzunehmen, woraus we-
nac: wenig, winzig, weinen etc. und wini
star ? vgl. Grimm Gr. II, 13, Nr. 119 swinu,
swein etc. woher schwinden, wäre nur eine
Nebenform, vgl. link und Hink). Vgl. auch
das von Grimm Gr. II, 60, Nr. 598 angenom
mene : hlincan, hlanc, hluncun: torquere.
lins f. die linse ; plur. linsen, Krh., in
Presb. ist der Plural auch lins, vgl. ahd.
linst st. f. plur. linst, Graft' II, 242, mhd.
linse st. und schw., das Schwanken zwi
schen starker und schwacher Biegung wird
hier auf mundartl. Verschiedenheit beruhen.
wo‘Iisens verliereu, ech wolis, du
woldiist, hea woldiist bie wolisen er wolist
se wolisen; ech ha woloe‘n, Krh., ech wrlis
du wrlaist etc. Prb,
lischkelchen n., Mehlspeise , wie
letschclien, s. d. in einigen Gegenden
der Zips. nd. laske, md. lasche, s. Wtb. 76,
eine Nebenform von letsche, s. letschchcn
scheint die Grundform davon.
-lit: -lieh, Prb. * wrailit, wrailet,
wrait: freilich; pomelit, pomelct:
pamelich, s. Wtb. 32. Sollte dieses lit aus
l-ic/it zu erklären sein? s. wrailit.
litzke m. der Sperling, Schwedler,
vgl. nd. (oldeuburgisch) lüntje, Nebenform
des gewöhnlichen nd. Inning, Fromm. III,
494, Anmerkung. Sonst könnte der Name
auch aus nd. litke (liitji, lütket), d. i. Kitzel
klein, der Kleine zu erklären sein, vgl.
nd. luniiik ags. lytling: kleines Geschöpf,
Fromm. V, 74, 131. Andere Namen des
Sperlings s. unter tschilka. In Iglau heisst
luzke: ein dickes Kind, Fromm. V, 465.
zulode ( t: zerrauft; auch zuloddlt, zu-
Idlt, Krh. wa e ludlt: ganz zerrauft:
schlaf, Jnekela, schlaf:
dai wata' ist a graf,
dai muta ist a edlwrau
dai kindenndt ist a wald d lte sau. Krh.
Zu lode f. Haar, Zote, Weinh. 54, ahd.
ludo, lodo, ludilo, ludra, Graft'II, 200, f.
mhd. lode swm. Haarbüschel, Pass. 287,80.
Ben. Müll. I, 1041. In der Oberlausitz
lodrig: zerrauft, Anton IX, 18.
Ion f. (= lüne) der Achsnagel, die
Lehne, liinse, Krh. ahd. lun, plur. luni,
kämt, lunar, Fromm. V, 313. Daher die
späteren Formen lune md., Idne, Ion, Graft*
II, 222. Dieftenb. 148, 197. westerw. hen
neberg. Idn, lönn, hess. tun, sächs. Schweiz.
Ion, Schmidt 105.
lorberen: cacare, Ksm. löa c bela n.,
1. runde Excremente von Thieren , z. B.
hasenlba { bela, Krh. 2. Kügelchen, z. B. loa ( -
belapH'l: kugelförmige ßirnlein, Krh.,
von der Gestalt der Lorbeerfrucht; ebenso
schles. und nd., Weinh. 54 b.
losung'a f. = exactio um 1373, Schem-
nitzer Stadtarch., ahd. lösunga redemtio,
Erlösung, Graft* II, 277, mhd. Idsunga, Ben.
Müll. 1, 1037.
lot f. der einjährige Trieb, der spros
sende Zweig, sommerlot f., Krh. Aach. m.
nl. Müll. Weitz 144 f., ahd. sumarlota, mhd.
sumarlote, vgl. Gr. gr. III, 412.
luschig*: schlampig, vernachlässigtim
Anzug, Ksm., s. Wtb. 78\ In Nordböhmen
ist lasche synonym mit pfiitze, gesümpe u.
dgl., Fromm. II, 236. Zu lasche Wtb. 76.
lutsch f. die Zauke, Krh.; schles.
lusche, lutsche f. Hündin, Weinh. Nürnber-
gisch leusch, lusch f. luschlein: die Hündin,
Schm. II, 506, Schweiz, leutsch m. der läu
fige Hund, Stald. II, 170.
HI.
Ein Wechsel zwischen m und w findet
statt in den Wortformen meule (= male stf.
282
Julius S e h r ö e r
die Farbe zum Färben der Ostereier) und
iveule (=wäle stf.? dasselbe), Wtb. 52
und 105, sowie unten unter male f. — Vgl.
auch meidein : wedeln, Wtb. 81, und minUel
neben winkikal, Wtb. 81. Dieser Wechsel
ist wol im Inlaut in vielen Mundarten be
merkt worden, anlautend ist er seltener,
mhd. wan für man, Ben. Müll. III, 492.
murzilingun=wurz? Schm. II. 822; österr.
mir: wir und wünter = munter, Schm. gr.
§. 560; oberpfälz. multen für woltcn,
Fromm. III, 175. Es erinnert diese Erschei
nung an den gesetzmässigen Wechsel
zwischen b, v und m im Keltischen , s. Gr.
GDS. 332. — Vorgetreten ist m in mat-
teleus s. d., für n steht m in prumm,
Wtb. 40, und earmess s. nusz.
machen, sich—: geschehen, z. B. in
der Erzählung: ano ja, was macht sech?
nun denn, was glaubt ihr wohl, dass ge
schehen sei ? Knh.
mähen m., Mohn, Knh., vgl. Wtb. 79,
paim mallen sceberigen (beim Mohn säen ; in
Knh.) muss man schweigen und aus einem
grossen Gefäss säen. Knh.
Mai n. Frühlingslaub der Lärchbäume
in der Zips, Wtb. 79.
Maikönlg* m. der Pßngstkönig, mai
grafe ; ein solcher hält noch in Kuneschhäu
alljährlich einen feierlichen Umzug. Dies
scheint ein von dem Sommer- und Winter
kampf, der in Knh. gleichfalls noch aufge
führt wird, unabhängiger Gebrauch zu sein,
vgl. Gr. Myth. 737, und unter Sommer.
maiplüma f. der Löwenzahn, leonto-
don taraxaeum, Krh., hat neben vielen
andern Namen auch anderwärts den mai-
blume, Walpert, Wtb. der Pflanzennamen 37.
manigaina, manig'aine , mani-
gains: manch einer, mancher, e, s; dei
boiwe 4 baue om ere m«ne 4 ond manigaini
sain wra (sc. wenn sie sterben), Knh., vgl.
meng ainer, Schm. II, 581.
mänt ma t: gleichsam; wird enkli
tisch gebraucht (wie gottcrkeit u. dgl. s.
g'ot), Paulisch. Prb. im nd. man mant: nur,
aber Fromm. II, 392, 25. III, 40 u. ö. vgl.
thüringisch mich: meine ich, Weinh. 27.
Die Anwendung des Wortes in Plsch. spricht
hier für einen Zusammenhang des Wortes
mit meinen und nicht mit niuwan, vgl. Gr.
III, 240.
maulatschen: Keifen, zanken, mau
len, Krmw.; in Prb. maulenzen, eine Bildung
wie ahd. dtmazan, krimazan etc., Gr. gr.
II, 217; nhd., namentlich österr. schar
ratzen, knarratzen, stigatzn, pfigatzen, tb-
g atzen, kr epp atzen etc.
mär- f. die Kunde etc., s. Wtb. 79.
mserig-, lautmeerig: ruchbar, Neu-
sol., vgl. Westerwäld. merig, Schmidt 112;
schles. unmär, Weinh. 60 etc. ln der altern
Sprache scheint liutmdri neben hlütmdri
(was aus ahd. Zeit mit Bestimmtheit zwar
nicht nachweisbar ist) bestanden zu haben,
Gr. gr. II, 552, und Ben. Müll. (Zarncke)
11,69, linden nur das erste mit liut (=leute)
zusammengesetzte statthaft. Durch eine
Urkunde von 1362 wird getaülinert, Schm.
II, 516 (freilich daneben auch liutmäran),
durch eine Stelle aus MB. ad 1377, Schm.
II, 606: daz lutmcere (lautmcere) für Leu
mund im mhd. bezeugt. In Mundarten hat
sich nur lautmcerig erhalten, lautmere:
offenkundig, Iglau, Fromm. V, 466; laud-
märich ruchbar. Presb.
mardutzen f. Schnurrbart, Krh.,
mardutz, MW., vgl. sl. mrdasy (Palko-
witsch mrdose für wrkoie) , wie in der
Neitraer Gespanschaft die Zöpfe heissen.
mrdas: Schwanz gehört zu mrdati; we
deln , s. Jungmann II, 502.
Marischi Krmw., Maruschl MW.,
schles. Manische Marauschlein, Weinh. 60 ;
vgl. Wtb. 79. Marie und 102: — * usch.
martzelbuech n . der Stadt Kaysz-
marckt: Über fundorum ab anno 1627.
Kiism. Stadtarch. marczelgclt n., wird in
Stadtrechnnngen daselbst schon aufgeführt,
1309. — mhd. merz stm. == koufschätz
Ben. Müll. (Zarncke) II, 158. lat. merx,
merces. Das mlat. mercipotus = leiköuf
Dielfenbach 181 leitet zur Bedeutung des
Zeitwortes :
merzein, marzein: grundbücherlich
ein liegendes Gut auf den Namen des Käu
fers schreiben , wofür ein merz (entweder
eine Umschreibgebiihr oder der Kauf
schilling = daz marzelgclt) erlegt wurde.
Dies Zeitwort ist zu folgern aus obigem
marzelbuch und ams: marzelung für con-
signatio fundorum (zu Leutschau), Wtb. 80.
In Praben ist in diesem oben angenommenen
Sinne beute noch der Ausdruck wc‘ laikop-
pen üblich, s. oben leit. Jetzt bedeutet
märzein: 1. „beim Bierausschänken kar
gen“, Wtb. 80, eine Begriffsbestimmung,
zu der die irrige Ableitung von Märzbier
beigetragen hat, 2. tropfenweise aus
giessen, Ksm., mürzlerin f., diebeständig
teuer verkauft. Wtb. 80, mhd. merzcler m.
der Verkäufer, Höker Ben, Müll. II, 158.
mlat. mercellarius mercenarius.
mast f. Hochofen, Eisenschmelzwerk
(nicht mast), Wtb. 80, sl. masa f., Jung
mann II, 400. massle f., heisst in der
Schweiz das Hocheisen Stald. II, 200,
wahrscheinlich zu lat. massa massula.
matteleus : matt, öde, schwach, Wtb.
80. Im Algau altelos: linwol., Schmcll. I.
52. In der Schweiz atemlos, ater los, adcm-
los: unbehaglich, Stald. I, 114, vörarjb.
btalos: matt, schlaff, Fromm. IV, 4., in der
Lausitz : totterlos, schadhaft, locker, An
ton XIII, 17. Die Ableitung von ätcmXoshalte
ich noch nicht für ausgemacht.
med f. das Mädchen, das est a schena
med /Dpsch,, ebenso siebenb. med, Fromm.
V, 98, 509, in Dpseh. und in der Zips ist
mhd. ei — ei oder e wie in Obersachsen,
Nachtrag zum Wörterbuche der deutschen Mundarten etc.
283
in Krh. steht dafür n (cchtvess, *echbäss).
Auch hier steht e für rnhd. ei (mcit für
mag et), in Krh. mäd.
m&nd me’d m., der Mond ; me'schal
m., Mondschein; me“tik m. Montag; wol-
me d in. der .Vollmond Krh.; jedoch manet
m. Monat (= mhd. manet für niäriät) Krh.,
die ahd. Form mäni (hinmäni votmani
mdnitag Graff II, 795J und die mhd. Form
volmcene Gr. gr. I, «348 scheint hier fortzu
leben und zwar mit dem d, das auch zu
der Form mdno (munde Ben. Müll. II, 55)
hinzugetreten ist. In den VII communi
soll der Mond „di md“ heissen nach
Schmoll. II, 58.3 ; im Cimbr. Wtb. findet
sich nur die Form mano m., verzeichnet,
jedoch mentale m. inontag, CW. 145. ein
vocab. von 1429 hat mentag, Sclimell.II,
583 und die Form mentig Krh. , me“tik
führt Schm. a. a. 0. als schwäbisch an.
merag* meastg n. eine tiefe, boden
lose Quelle, Krh., in derZips und im Sieben
burgischen ist meeräuge n. der Name für
kleineSeen in den Hochkarpathen, Wtb. 81.
merappel m. p. merappel, med-
räppel: der Erdapfel, Krh. mürappcl:
Kartoffel, Krmw., s. erclappel. Die Zu
sammensetzungen mit meev deuten auch
in der älteren Sprache im Allgemeinen
auf etwas hin, das fernher geholt ist. Ben.
Müll. II, 138.
m&a‘znbecha*la n. Märzenbecher
lein» narcissus pseudonarcissus, Krh.
merzeln : zerreiben, Prb.
♦messa* n. messer, Krh., zalidflegmessa-
n. , Messer zum Zusammenlegen; sclinapp-
messa: m., das zusammenschnappt; schdl-
messa: m., mit einem Griff (sclial s. d.),
das nicht zusammengelegt werden kann. Krh.
iiieule f. u. weule f. die Farbe zum
Färben der Ostereier; beide Formen
hörte ich in Käsmark, s. Wtb. 82: molein
und 105: woll, s. bola.
miltschicht: etwas fett, Krmw., dazu
ist zu vgl. malzet: klebrig weich. Schm.
II, 575; molschet, molsch. Schm. II, 571,
zu einem verlorenen (im Schl es. erhalte-
den Weiuh. 61), milze (daher milz) malz
(daher malzen) , malzen, gcmolzen agls.
meltan, d. i. schmelzen. Gr. gr. II, 30.
Schweiz, möltsch Stald. II, 213, schwäb.
molzig mulzig molz, Fromm. III, 471 von
mol mollet mit dem es daselbst zusammen
gestellt ist, möchte ich diese Wörter
völlig trennen. Der Übergang des z in tsch
wurde bereits bei maulatschen bemerkt.
Hunzen pl. Katzen Krh. siebenb. und
sonst mitz, miez s. motsehel und Fromm.
V, 178, 143. IV, 117, 1. 238, 6, 3. III, 473.
mintschchen n., das Füllen Zips.
madj. men: 1. der Hengst, 2. er geht
(infin. men-ni), mencs (spr. menesch),
das Gestüte; menez: sie verlangt nach
dem Hengst, rossen (die Stute), vgl. bair.
münzen: (<tee Kuh) vom Stier abhalten,
Schmell. II, 604? mhd. menen, das aus dem
Keltischen in das Lateinische übergegan
gene mannus: eine Art kleiner Pferde
(den ungrischen ähnlich) ist vielleicht
verwandt. — In der Schweiz mansche
mintsclie eine junge Kuh, Stald. II, 211,
193, vgl. ital. manzOj manza und man-
zotta und obiges münzen. — Dasselbe Wort
ist aus Dpsch. Wtb. 82, angeführt munt-
schalcckel, d. i. muntschal-ecke-l (muntscli-
el-che-lein) mit dreifacher Verkleinerung,
s. d. und multschchen, muitschchen,
mutscho ! mitschapal.'i, mirtsch-
clien und mm’tschepal. — Das Kalb
heisst motsehel, s. d. Obwohl alle diese
Formen ähnlich sind und einander gewiss
beeinflusst haben, so werde ich doch bei
jeder eine selbstständige Ableitung versu
chen, aus welcher die Verschiedenheit der
Form erklärt werden könnte.
mirtschchen n., das Füllen. Lisch,
bestätigt die Formen murtschepal und
mitscliapala, Wtb. 82, vielleicht zu mircli
für Stute. Schmell. II, 618. Dieses aus mhd.
merche f., ahd. mcricha, aus ahd. morali n.,
altkeltisch marka, vgl. madj. mar ha : das
Vieh, Rindvieh, mundartlich auch von
Pferden. — Der Thiername merz in. Fromm.
V, 449, wäre bei dem unter miltschicbt
angemerkten Wechsel von z und tsch allen
falls auch noch zu erwägen, s. mintsch
chen und die anderen dort angeführten
Formen. Andere Namen des Füllen sind
noch tschinkerle und kibalanzala
Wtb. 46, 72.
miserich n., das Moos. Krh., ahd.,
mhd. mos, mios, mies, bair. österr. mias n.
mitscliapala n., das Füllen. Mw., die
Sylbe -ap-, wie in murtschepal (s. d.) -ep
eine seltsame Erweiterung ; im übrigen s.
mutscho.
*mönet m., s. m£nd.
* morcliel f., moa c chel: die Möhre.
Krh., mhd. morchel f., aus morhe, ahd.
morahä, in der Zips müren, Wtb. 82,
westenv. müren, Schmidt 118.
mord! Interjection. Glsh. murdiö !
hörte ich auch in Pilsen über diese Form,
s. Gr. gr. III, 219.
motsehel n., das Kalb. Wtb. 92. Die
Zusammenstellung mit buse, bise, miez,
mutz (Katze), mit buscheli, büseli (Kalb ;
bötschel heisst schwäb. auch das Schwein).
Gr. Wtb. II, 563, in der Oberlausitz
muzel n., Kalb. Anton II, 13. mutsch:
Thier, so lange es noch keine Hörner hat
(Kalb, Lamm, Ziege). Stald II, 225, von
mut (vgl. lat. mutus: stumm und stumpf),
hd. mutzen: stutzen, mutschwdnzig. Wtb.
83, vgl. die henneberg, und andere For
men Fromm. III, 309. Ferner mutz, vacca
daselbst 310. Die Benennungen des jungen
Pferdes sind ähnlich s. mintschchen, ich
halte sie hier absichtlich ferne, vgl. mu-
kusch.
284
Julias S c h rö e r
* molschen: mit den Händen im Nas
sen wühlen (österr. „pantschen“). Dopsch.
Ebenso Zipsen. Wtb. 82.
mukusch: die Kuh, Wtb. 82, ml. mu-
kuken , rhein. mukou , schles. mukü,
frünk. mockclain, siebenb. mukeschken
(Kalb), s.Wth. 74, unter kü und mötscliel.
multschclien n., das Füllen. Käs
mark, in Leutschau mirt.selichen, s. d. die
Form *muitschchen, Wtb. 82, zeigt das
zum Vocal zerschmelzende /, vgl. das sie
benbürg'. Fromm. V, 361, etwa zu milt
schicht, s. d.
* miiml n. und I'., jüngere weibliche
Verwandte, Base (Cousine), Krli., im bair.
nicht volksüblich, österr. mumm., Schmell.
II, 575 f. auch in der Schweiz nicht in der
ursprünglichen Bedeutung, Stahl. II, 217,
hingegen im Cimbr. muma, Cw. 148.
be-musclieln; beschmutzen. Zipsmhd.
bemüselen : beschmutzen „scheint verwandt
mit bemascn“, Gr. Wtb. I, 1463 bemäsen,
bcmäsiycn, bemasgen, daselbst 1458 gehört
zu mdse, ahd. mäsa: Narbe, Flecken; in
der Oberlausitz muscheln: schlecht schrei
ben, schmieren. Anton II, 13.
musz, die Conjug. von müssen in
Dopsch.: ech mus, bir müsn, ir musts,
part. gamust, in Prb. echmü (mü-l-i?
muss ich ? z. B. mu-l-i-denn leben?) du
must, dr mü, bie missn, ie misst, sei missn,
Mw. wir meisn, vgl. Weinh. Dial. 129.
mutschö! Zuruf für Pferde. Zps. das
alte -o haben wir schon bei tschullö be
sprochen. vgl. motschel, multscliclien
und Wtb. 82.
r¥.
Das n verwandelt sich in m in *pruinm.
Pilsen carmess: Erdnüsse. Krh. n assi-
milirt das nachfolgende d auch in Bnh.:
xuenna, finden; nicht in Prb. : wendn, fin
den. Ersteres auch nd. und md. Fromm. V,
48, 211, 266, 1, vgl. Wtb. 42*?
naa (zweisylbig): nein. Kuh., etwa für
mhd. neind! Die Zusammensetzung des
Wortes (aus ne-ein) kann doch damit kaum
mehr ausgedrückt sein, vgl. Wtb. 125:
nähä. So auch in der Schweiz. Stald. II,
229. Kärnten. Fromm. IV, 36, vgl. Gr. gr.
III, 766.
*nait: sehr bald, Kuh., vgl. Wtb. 84
ncut: unangenehm. Aus dem subst. not
hervorgegangenes adv., vgl. ahd. mit noti,
oberpfälz. in einer neid : in einer Hast,
Eile. Schmell. II, 717, in der Schweiz not:
dürftig, Stald. II, 244, zu neut: unange
nehm, vgl. nl. benaauwd, Aachn. Mund.
benaut. Müll. Weitz 14.
napperchn n., kleiner Bohrer. Garst
vogel Dialekt, a für e, wie es diesem Dia
lekt gemäss ist, s. Wtb. 53, sonst nekbcr
(in der Zips), Wtb. 84.
nögba‘ m. 1. Bobrer, 2. ein Stern
bild. Krh., in Pressburg nuvinga< in beiden
Bedeutungen. Fromm. V, 506.
Nlderlaml neiderland n., sowie Schle
sien hat auch die Zips ein Niederland, die
Gegend um Holo Lomnitz, Klein-Lomnitz,
Bauschendorf, Toporz; das Oberland ist
Wtb. unter land näher bezeichnet.
nje: nur Prb. Krh. aus ahd. ni wdri,
später mundartlich auch niur, doch halte
ich dies nje für entsprungen aus der Form
mir = newcere, das im md. und bair.-österr.
vorkommt, da die Priijotirung eines Vo-
cals, zumal wenn ein r nachfolgt, das die
Mundart abwirft, auch sonst üblich ist, s. J»
njent: nirgend, nicht Prb. entspricht
der mhd. Form ncrnt (das dem e folgende r
wird ausgeworfen und bewirkt Präjotirung)
Ben. Müll. I, 746, dem schles. ernt, ncrnt
Weinh. Dial. 143. die Sechsiimter mund-
art hat niat niert, ebenso die llenne-
berg\, Fromm. V, 133, 267.
ninkeln : mingere : ninkala n. penis
Prb- für nilkala? vgl. nulle, Weinh. 65.
noi(la‘: nieder, Krh. über oi für i ie.
s. J.
no: unübersetzbare Partikel, die ebenso
wie in Henneberg, Fromm. II, 401, 9, im
westerwäld. Schmidt 124, auch im bair.
Schmell. II, 669 und österr. gebräuchlich
ist, daher ich nicht glaube, dass sie „durch
Brechung“ aus nu entstanden sei (o für u
wie im md. ist im österr. nicht anzunehmen).
Ich setze einige Beispiele des Gebrauchs
aus Pressb. (österr. Mundart) her: no, no !
xuerts scho segn: wartet nur, ihr werdet
schon sehn, drohend mit erhobenem Finger
sagt man: no, no! d. i. du gehst zu weit
und wirst es bereuen! daher in der Kin
dersprache nonö adject. adverb. böse; du
bist nono! der nonö: der böse, der nönno-
mann, das nonnopuwi, das nonnomädi: der
böse Mann, das schlimme Biiblein, Mädlein
etc. 7io ? fragend, wie nun ? —nono, schrai
näa nid a sä beschwichtigend, wo, i sag nix
n\ea, 770 77iiar iss recht! nun, ich sage
nichts mehr, nun mir ists recht. Das andere
österr, - bairische wo: noch das Schmell.
a. a. o damit zusammenstellt ist davon zu
trennen. Diewesterw. Mundart hatowwo,
’wo Schmidt, 124, die Mundarten des un-
grischen Berglandes haben ano s. d. und
liano, auch, wie die Schriftsprache na,
Wtb. 83. ich möchte es für eine Abkürzung
aus ahd. inu, eno etc. Graff I, 390 f. Gr.
Gr. III, 248, halten, agls. heonu, altn. hana.
ahd, inu, eno: ecce, letzteres auch num
quid ? nam. mhd. ind, Ben. Müll. I, 752. —
wo net? nicht wahr? wörtlich: na, nicht?
sehr üblich in Dpsch.
niischd, niischt: nichts, Krh., s. Wtb.
841’ nisclit; westerwäld. nischt ncuscht.
Schmidt, 124.
7iusz in *ea‘mess, plur. erdnüsse, der
Beschreibung nach wahrscheinlich lathyrus
Nachtrag zum Wörterbuche der deutschen Mundarten etc.
285
tuberosus, Krh. Knh., die knollige Wurzel
wird daselbst von Kindern gegessen.
o.
Im Allgemeinen s. Wtb. 85, wozu ich
noch einige Beispiele hieher setze. Höchst
auffallend ist in Pilsen u, ja selbst o für
mhd. uo: gotten tag, möte e , es kehrt hier
der Vocalstand zum Gothischen und Alt—
sächsischen zurück (gotli. god, altsächs.
mödar). — in Knh. fällt die Aussprache des
o und u auf, indem beides zu eo, eu, öu:
leon (lohn), seon (sohn) wird.
In Trexelhäu , Paulisch und Hochwies
hört man oi für eu, du und ei; Kroiz, noin
etc.,vgl. Schles. oi: eu etc. Weinh. Dial. 62 f.
In Krickerhäu wird der Unterschied
zwischen eu und ei festgehalten, s. E.
*oa‘besz f., Erbse, Krh., ahd.araweiz,
arawiz, Gralf I, 465, gr.öpoßoz, lat. ervum,
s. Wtb. 30: arbus.
o<l: unwohl, körperlich sich unbehag
lich fühlend, ohnmächtig; es ist mie dd ga-
buo ( n : ich bin ohnmächtig geworden, Krh.
*ofTa: hernach, Krh., s. Wtb. after
oftan, 30, daselbst hielt ich die vereinzelt
mir damals erscheinende Form offct aus
Blaufuss für einen Druckfehler und erklärte
sie aus after; sie hat damit nichts gemein,
eben so wenig als obiges offa. Dies ist eine
Zusammenziehung aus anfangen, die mit
dieser Bedeutung und in dieser Form nur
in alemannischen (Schwaben, Schweiz,
Vorarlberg, Eisass) Mundarten vorkommt.
Stalder I, 90: afe, afen, afed, afange etc. s.
Fromm. III, 215: afd% afen, afed• etc.
♦olam m? n? wahrscheinlich Alaun, Prb.,
wurde mir als salzartiger Stoff, der zur
Farbe beim Eierfärbengethan wird,bezeich
net. Die dem lat. alum-en so nahe stehende
Form ist mir sonst nicht vorgekommen.
*ont: dann, nachdem, Krh., s. unta.
Ostern s. bola n. und sclimeck-
oster.
oxen : stieren; die ku oxet, Krh., ox
wird häufig für stier gebraucht und auch
ochsenen ist in diesem Sinne bekannt,
Schmell. I, 19, s. herdox.
oxeng’awa m., wörtlich Ochsengei
fer, die Sommerfäden, Krh., das zweite
Wort in der Zips geiber, Wtb. 54; so fällt
Morgentau aus dem schäumenden Gebiss
des Rosses Hrimfaxi. Gr. myth. 607.
herdox, herdock m. der Stier. Hw.
Henneb. herduss m., Fromm. IV, 308.
P s. unter B*
Q s. unter K.
R.
Über r und hr ist Wtb. 86 gesprochen;
es ist besonders in Krh., Glh., Knh. zu
Hause; nicht in Prb. Eigenthümlich zart,
nicht mit der Zunge, sondern mit der Kehle,
wie bei Leuten, die es nicht aussprechen
können, wird das r in Hopgart in der Zips
gesprochen:
swä rr ds bawäxn: schwarz bewachsen.
Daselbst hört man auch djen, dje~ für
gehen, dedang für gegangen , was gleich
falls kindlich weiche Spraehwerkzeuge
bezeichnet.
rahänzen: Ameisen, Wtb. 86; dabei
ist vielleicht an die Schweizer Redensart
rabauzen haben: reizbar sein, Stald. II, 252,
zu erinnern; ferner rämase: Ameise, da
selbst 256 ; rabdtzen, Weinh. 75.
hrad n. das Rad, hrädela n. Rädlein,
so nennt man die Null- oder kreisförmigen
Zeichen im Spiel kinkalekankale, s. d.
rafleken f., Rauhflecken, gebackene
fladenförmige Kuchen von Brotteig, Prb.
brägen: starren vor Kälte, ausser
sich sein, Krh. as hr'agt dr sträng wom
kraut bi a pan; he is ain gawroa c n: es
starrt der Kohlstrunk wie ein Bein; er ist
eingefroren; net hrag a so wüe ea { k: nicht
behe so vor Ärger, Krh.; hragndeng: wü-
thend, rasend, Krh. In erster Bedeutung
Schm. III, 63 f., weiters vgl. Wtb. 86 und
recken. Hieher gehört: sin gewant von
golde rac, Enenkel s. mhd. Wtb. II, 547.
liräm f. der Rahmen, insbesondere das
geschnitzte und verzierte Gestelle, worauf
im Zimmer die Krüge und andere Geschirre
stehen. Schm. III, 85: die rem und 83 die
ram, ahd. rama: sustentaculum, Graff II,
505, mhd. ram f. reimt bei Gotfr. auf lus-
sam, Trist. 4692; ein mhd. reim auf
schäm. Schm. a. a. O.
hram m. Russ, Schmutz, Knh. der hin
ter (d. i. der den Winter darstellt bei Auf
führung des Kampfes von Sommer [s. d.]
und Winter') ist mit kole behreamt, Knh.
Bei Wolfram räm m. in derselben Bedeu
tung (Lesart roum), vgl. Schm. III, 81.
* hrsimt m. der Rand, Krh. rant ist im
ahd. mhd. der Buckel in der Mitte des
Schildes, hingegen ramft: der Saum, Rand,
GrafT II, 512. Unser hramt (=rampt) ist
nichts anderes als dieses ramft und findet
hier kein Wechsel von m und n statt. Auch
in Baiern ist noch rampft üblicher als rund,
Schm. III, 91, 106.
* hraitamenlen. das Reitermännlein, der
Schimmelreiter, noch üblich in Trxlh. um
Weihnachten, s. scheuhsel.
raiter f. die Reiter, das gröbere Sieb
zum Haferschütteln: „reitern“ Dpsch. GrafT
II, 475: ritera f. cribrum; ritarön reitern,
Schm. III, 162.
raixeln: wenn Kinder auf einem in
der Mitte aufliegenden Balken sich schau
keln, und den Balken wagrecht hin und her
reiben und reissen, so nennen sie das
raixeln, Dpsch. Ein besonderes Spiel ist
das hutt raixeln. Die Kinder thürmen Hüte
286
Julius S ehröer
über einander, machen einen Kreis herum
und geben sich die Hände. Sn tanzen sie
im Kreise herum, alle bemüht, einen jeden
von den Hüten fern zu halten, aber jeder
für sich ist bestrebt, nahe zu kommen und
mit dem Fusse den obersten Hut herabzu
schlagen, Dpsch. Auch hier scheint in dem
Worte die Bedeutung von reiben (d. i. dre
hen) und reissen enthalten.
* Iiraixeln: spuken. Es hraixelt; es ist
nicht geheuer, es geht um, Krh. das geh-
raixel: Gespenst, Trxlh., etwa geräuchscl,
vgl. rauhnacht: für Gespenst, rauheis,
Schmell. III, 12. Grimm myth. 404, die
pilosi myth. 449, rüch unde stark 451, den
Crispus, Schröer, deutsche Weihnachts
spiele aus Ungarn 26. 91 (Schmell. stellt
raunacht unter rauch fumus, vom räuchern:
diese Wörter deuten auf rüch : rauh),
doch würde dann in Krh. hrääxeln gespro
chen werden; die rau-beere heisst hraii-
selper, s. d. Obige Form verlangte richi-
sbn, ein ahd. Wort, das wohl vorhanden
ist, aber nur der Form nach stimmt. Das
vorige Wort raixeln ist vielleicht grund
verschieden, andere Ausdrücke dafür sind
scheuchen s. d. und wlachen s. d.
rastuscher (rostüscher) mango vocab.
1420, vgl. DielFenb. 176.
*hrat m. consiliurn, Krh. Die Aus
sprache unterscheidet genau zwischen hräd
mhd. rat und hrat mhd. rät.
*hraüba m. Räuber, Krh. In der ört
lichen Sage von Krickerhäu spielt ein räu-
ber eine grosse Rolle. Der Umlaut ist be
zeichnend für die Mundart; österr. rauher.
ahd. roubäri, mhd. roubaere.
* hraupenschaiszer m. Sehinetler-
ling, Kuh. raupe ist ein der bair.-österr.
Mundart fremdes Wort, Schmell. Hl, 118.
ahd. riipa.
* hraiiselper f. Stachelbeere, Krh.
ribes yrossularia nl. kruisbezie, Kraus
beere., Grosseibeere; hraiiselper (= räusel-
beere) mag aber mit raubeere, Wtb. 87
(Name der Stachelbeere in der Zips) ver
wandt sein ; s. rissel, raixeln.
♦hrebn f. die Rippe, Krh. Im Ober-
uferer Paradeisspiel: rieben: lieben mhd.,
riebe stf. die Rippenreihe, Schröer, deut
sche Weihnachtsspiele aus Ungarn, S. 130,
zu Vers 132—135. Obige Form ist jedoch
nur die richtige mundartliche Gestalt für
mitteldeutsch, niederdeutsch (auch angels.)
rib, ribb: nl. rib. ribbe. Wolfram hat auch
schon d. pl. riben, ed. Lachmann 95; ahd.
rippi, mhd. rippe f., ripp n. und ribe,
Graff II, 356. Schmell. HI, 118. Dieffenb.
97: costa: ribe.
w><?‘reckn: verrecken; ben vereckst!
Ausruf des Zornes! Kuh.; auch verrägen
und verrachen, s. hrag’en und Wtb. 86.
reclern ( = rädern ?) : stampfend tan
zen, Käsmark; bair.-österr. rädln: drehen,
im Tanze drehen, Schmell. 111, 48.
* hreht adj. recht, des is e hrehta
(spr. hre 4 ta) we'soffcna lump; hingegen
hrechtc Hand, Krh. Vgl. in der Oberpfalz:
e reodd k maa , Schmell. HI, 20, s. H.
rempelchen n. ein wenig, von Trink
barem, Ksmv, s. riinpel, Wtb. 88. madj.
römpölg. Der rümpf ist im Oberdeutschen
ein Gefäss, ein kumpf, eine beute, s. Ade
lung unten rümpf, sieben!), ramp: Kübel,
Fromm. IV, 195.
remuseh m., rothe Rübe , Wtb. 87,
sieben!», rimschen, Aachen römisehcr
Kohl: der .Mangold.
ring’ m. der Marktplatz. Auch in Scliem-
nitz, s. Wtb. 88. Weinh. 78. — Daselbst will
man die Bauart von Schässburg wahrnehmen.
hris m. der Riese; in der Sage: der
hris, am Spitzenberg (bei Krh.) dc‘t ist e
gesessen, an aldes baib met anner kröck hat
ne herontergestüc l zt, Krh.
hriseliclit: röthlich? rosig? s. oben
S. 273 den Vers unter H.
rissel n., ßlumenstrauss, Prb. Krh.,
schles. oberlaus, riechet, richcl, nd. rie-
kclken, Weinh. 78, nd. ruiker (Riecher),
der Ausfall des ch (richsel), der hier wahr
scheinlich anzunehmen, ist diesen Mund
arien gemäss s rcht. ll.-lil«
* hrist m., der Rist; hochhristig, Kmh.,
Schm. III, 144. Gralf II, 541.
ritteiweil s. rotlengrbaibel.
Iirolln: stieren; die ku hr.ollt sich,
Kuh., nl. krollen, in ähnlicher Bedeutung
von Katzen; krolsch, krolziek: brünstig,
geil; rollen: schlickern, in der Brunst sein,
Schmell. 111,80; in ähnlicher Bedeutung rol
len, im Westerw. Schmidt 165, vgl. nl.
rul f., henneberg’. rallcn, Fromm. IV, 312.
Aachn. M. rölzen: balgen, »»<!• Hillen, Müll.
Weitz. 199, westerw. pölzen, Schmidt 165,
ostfries. rollen , necken , franz. railler,
Fromm. IV, 358, 17, alemann. rollen:
brünstig sein, Fromm. IV, 118, vgl. auch
rüden, Stald. II, 188.
zerrollen: zerlechen, vom Holzge-
schirr, wegen Trockenheit zerfallen, Krh.
brotesch f., rothhaarige Kuh, vgl. in
ßaiern rotel, Schm. III, 167.
hrotleng* baibl, ste ma stiila !
sie ma stiila!
ben de bi‘st zu mio kornrna
baich ta kes ond prot ge. Krh..
so wird gesungen , wenn der Habicht in
Lüften stille steht, ritteiweil Wtb. 88 ist
wohl dasselbe Wort, schles. rdtcliveil, mil-
vus minor rubeus, Fromm. IV, 182, baibl
(=ziuaiwel), Weib ist m. und das ahd. wiwo,
Graff I, 643 (s. gisbayon) ; nicht mhd.
weibel (von ahd. xoeibbm: ich schwebe, bin
geschäftig etc., Schmell. IV, 5), dies müsste
in Krh. bäbl klingen, auch nicht weibel:
femella, vgl. rotelgeier, Schmell. III, 167.
hrüt f., hundert ruten machen ein,
paletel, s. d. ein Theil eines Joches Feld,
— Session, Krh., in Prb. gebraucht man das
Nachtrag- zum Wörterbuche der deutschen Mundarten etc.
287
Wort rüte auch für rowaseh, Wtb. 88, d. i.
Kerbholz , die ruotu war schon ahd. ein
Liingenmass, Graff II, 491: er teilte daz
land mit mazseilc also man nu tuot mit
ruoto. Notker vgl. SchmelL III, 171.
liruria m., der Laib Käse, Krh. an ahd.
hrüda, raude ist nicht zu denken (ahd. ii
müsste hier au sein), eher an plattdeutsch
rüte: Scheibe, Fromm. IV, 27.
hrufa m., der Hochzeitbitter (Rufer),
Krh., hreffen, rufen, Krh. biegt schwach,
vgl. Schmoll. III, 163, alem. From. III, 209.
In der österr., bair. und oberpfälz. Mund
art ist das Wort schwachbiegend und hat
meist den Umlaut (rüefen). Schon das
goth. hat nur die abgeleitete schwache
Form hröpjan, ahd. aber hruofan (hriof)
neben kruofjan (hruofta).
ruime: Riemen. Krw., ahd. riumo,
s. J.
rürig* vom Ei, wenn es zu riechen an
fängt, Prb., ebenso seliles. Weinh. 28.
Das s, sz für nd. t hat schon im Nie
derrheinischen, Siebenbürgischen um sich
gegriffen, aber nicht völlig. Eine Spur da
von, dass es einmal auch bei den Zipsern
et lautete, ist erhalten irt der Formel tsai-
denn für es sei denn, s. saidenn.
sfeberigen: säen, Krh., vgl. wilrbc-
rigen, täberigen: Fuhrwerken, Tagwerken,
vgl. Schm. IV, 140 : fnerwerchen , schar-
werchen, tagwe rohen.
* Sachen : mingere , Krh., sechen.
Prb. in der Zips sechen; sechrainchen n.,
Nachttopf, Wtb. 96. Oberpfalz, saichn, s.
Schmell. IV, 198, westerw. siiigen, Schmidt
170, Eisass. seich: Harn, Fromm. III, 13.
ahd. seichjan: mingere; seich: Urina,
Graff VI, 134.
*jsag*er m., Seiger, Uhr; bifl bit scho
sui am saget ? wie viel Uhr ist es? Krh..
seger. sonnseg er, Prb. Wtb. 97, voc. 1420:
seiger: horologium, vgl. Weinh. 90; seiger
zu mhd. Seigrere, Perpendikel, Senkblei,
zu ahd. sigan: sinken, seigjan : senken?
Graff IV, 130 f.
sai denn: ausser (=:es sei denn), Krh.,
in der Zips noch tsaidenn, zeidenn, d. i.
et sei denn, s. S.
Saifen f., ein Rach ; in der saifen,
Feldmarkenname, Prb., s. Wtb. 96, andere
saifen, hei Dopschau, Kremnitz und Leut-
schau wird das Namenbuch der Deutschen
des ungrischen Berglandes ausweisen.
+ sula*stratich m., Salix cäprea,
Sa hl weide oder Sohle, Krh., Schweiz, sale.
f. s. Stälti: II, 299.
♦sappen: treten, stampfen, Krh.. s.
Wtb. 89.
* sau i’., et za beieh cch wo dnr gblde-
renti san drzeln. das Weitere unter je.
“säfifät n., eine Art Suppe, Prb.. vgl.
Wtb. sauf 80.
♦schal f., der Messergriff, Krh., s.
messei*. Die Schale des Apfels u. dgl. ist
schcla f., Krh., vgl. Schm. III, 342 f.
sclinlmaic f., Schalmei; schalmaie-
faifl n.,. Clariuette; lidlfaifl: Flöte, Krh.,
franz. chalumeau, altfr. chaletnie, mhd.
schalemie, schwf. Wackern. Leseb. I, 744,
20 (13. Jahrh.).
scliäcspicl n., Schauspiel, Knh., da
selbst werden mancherlei schärspiele, die
in Versen abgefasst sind , aufgeführt, s.
Sommer, schär plur. von schar, ahd.
scara , cohors? s. Schmell. III, 381.
schaüb f., der hölzerne Teller, Krh..
zu sciuben, wie Scheibe zu sciban? vgl.
Wtb. 91.
schcla f., die Schale vom Obst, Eiern.
Krh., österreichische Wortform mit Weg
fall eines w, wie bei schmieren, s. d.
aus ahd. skeliwa, vgl. schelin.
sclielln: schelten, Krh., vgl. halln,
spelln.
scliclm m., die Honigscheibe, Krh..
= sc hüben, Schelfen ? nl. schelp, schulp f.
Muschel; ahd. skeliwa, nhd. Schelfen:
Schale, Graff. VI, 491, Schm. III, 336.
scheue brecht, schoichrcclit adj.
gleichbedeutend mit schämeHg; s. d., nicht
geheuer.
scheuh-sel n., schoisel s. d.: das Ge
spenst i bi belln e schoisl mächn, e lirai-
tamenl, s. d. Trxlh ; auch in der Lausiz.
Das Wort erinnert an das goth. skohsl n.,
öatpiiov und oaip-oviov (Gl*, gr. II, 269 r
sköh-asal, andere Deutungen myth. 434 f.
933).
schiebt f. für das Tagewerk (eines Tag
löhners), besonders im Bergbau ; schichtlur
in. «ler Taglöhner, es ist schiebt: es ist aus.
Knh. vgl. Wtb. 92.
schirren, ze-tschirren: zerschlügen.
Knh.
schirib, tscliirib m.der Spatz, Zips,
auch siehenho vgl. „die Lerche ruft tireli,
der Sperling sclijirb , die Schwalbe tiseb-
tasch“, Gr. gr. III, 308; madjar. csiribiri:
eine Kleinigkeit (der Sperling vereb, sl.
wrabec).
schi sch»! schau nur! Dpsch., vgl.
hichhlch!
schlag 1 m. das grosse Bodenfenster,
Krh., vgl. schwalm; durchschlag: das
Stemmeisen , Trxlh.
schlap m. die Mützo; schlepel n.
Dpsch., vgl. Wtb. 93.
schlaumcn: frommen; hclf got dass
gut schlaumt! Knh. schluuman, Dopsch.,
scliles. s. Weinh. 83, so wie frommen (zu
goth. ahd. fram: vorwärts) ursprünglich
vorwärts kommen, zur Förderung dienen
bedeutet, so ist ahd. sniomon: properere,
dah. sliümo cito, endlich sluna: Fortuna,
slilnic prosper, Graff VI, 848.
schlickcrmilli f. schlickarmilch.
Krmw., s. Wtb. 93 unter schleckern.
288
Julius S e h r ö e r
schlfeten: ausgiessen , verschütten
(= quitzen s. quitz), pls., vgl. schlutz,
ahd. slote f. (= slüte: hüte?): Schlamm,
Graff VI, 792, schlott, schlutt, schlutt und
schluet: Schlamm, Pfütze; schluetten: mit
nassen Dingen zu thun haben,SchmeIl. 111,461.
schlimm: schief, s. Wtb. 83, aucji
sicbcnb. schlämm, Fromm. V, 329, 262.
schlitzen: zerreissen, zerspalten,
Pls., s. Wtb. 93, schles. scheint diese Be
deutung auch erhalten in schlitzloch:
Mauerscharte, langes Luftloch in den
Stallwänden, Weinh. 84, also riss, ritz?
schlocker m. der Kumpf, Schleif-
steinhehältniss des Schnitters, Ksm., vgl.
schlotekötz. westerw. schlockerfasz,
Schmidt 192; in demselben ist etwas
Wasser, der erste Theil des Wortes scheint
verwandt mit schlickern, Wtb. 93, nl.
slykerig, schlammig.
♦schlotekötz f. in Krh. was in der
Zips schlocker, s. d. Der erste Theil
des Wortes verhält sich zu schlieten
(= schlüten) , s. d., fast wie schlocker,
s. d., zu schlickern.
schluhern schlürfen, Dpsch., vgl.
sohwappeln, nl. slobberen, schles.
schlappen, schlappem, s. Weinh. 83.
schlutz f. , unreinliche Dirne;
schlutzig unreinlich, Krh., Plsch., bair.
schlutzen f. schlutzig, s. Schm. III. 46£.
schmecköster f., die von Weiden
ruten geflochtene Ostergeissel , Krh.,
schmeckustcv, Prb.> vgl. schles. schmag'-
schmecköster, Weinh. h. 83; indem man
damit die im Bette überraschten Dirnen
schlägt, singt man :
schmecköster
zun Ostern
ding ü-
dingaf/
ding ä bedeutet wohl so viel als: dinge
ab, kauf dich los von den Schlägen; derBur-
sche erhält nämlich von der Überraschten
rothe Eier, Kuchen u. dgl., Krh. dervolks-
thiimliche (in Wörterbüchern fehlende) ma-
gyar. Ausdruck f.Osterpeitsche: mustq.r-mag
(wörtlich senfkorn), dürfte eine Umstellung
u. Uradeutung von sch-magbster sein. Vgl.
oster schmück, wie es im böhm. Oberlande
heisst Vernaleken Mythen u. Bräuche 301.
sclimeld m. der Schmied, Krh., jiber
ei für i,.s. J; mhd. smid; schmitte, schwf.
in Schmittenrinne, Gasse in Schemnitz, sla-
visirt Smintorin. —
schmesz m. Regen, nimm der de
tschude, 's kimmt e schmess, Ksm., sonst:
wurf, schlag, vgh Schmell. III, 477.
♦schmeta f. Obers, Sahne, Schmetten
Krh. in andern Gegenden schmand, cech.,
smetana, Gr. GDS. 1002. Wtb. 93.
♦schmieg'ela ranuneülus acris, Wie
senschmirgel , Krh., schles. sclimergel,
caltha palustris , vgl. Weinh. 85, darüber
unter schmere.
sclimicrn: tünchen, Krmw. ahd. mhd.
smervan smeran smirven : unquere, schmie
ren, Grafi* VI, 832. Schm. III, 474.
„schnabelliölzal n. Gabelt, Krmw.,
vgl. Wtb. 52 oben. Das wirkliche Vorhan
densein dieses Wortes im Sprachgehrauche
des Volkes kann ich noch immer nicht ver
bürgen.
sclimack f., die Milchsuppe, Krh.,
Wtb. 94.
schnackal n. Taschenmesser, Krmw.,
nordböhm. schnake: kleines Taschen
messer, Fromm. II, 482.
♦sclinaibcln: vorlaut plaudern (Schnä
beln); anasehiv, nachsprechen, Dpsch.;
\yestphälisch snübeln, Fromm. III, 432.
schn&tloch m. Schnittling, Prh.,
ahd. snitiling; in der Lausitz; schnetlich,
Anton XII, 21.
schnicks f. das Maul, die Schnauze;
halt di schnicks: halt das Maul, schweige,
Krmw, vgl. abschnicken abweisen, Weinh.,
87, und schnacken, Wtb. 94: Schnick
schnack.
schnölkcla: penis infantis, Krh.,
schles. schnieke f., Weinh. 87, schniekel,
Schm. III, 483.
schöbela n. Schöherl, Mehlspeise. Krh.,
ein kleiner schober: congeries (ahd. skopar
zu skiuban schieben), vgl. Schmell. III, 314.
schodn f. die Schote, Hülse, Krh.,
das Wort scheint mir in der österr.-bair.
Mundart nicht vorzukommen.
schomerig': unheimlich, schauerlich;
katchcn, beret s bolwerladchen (bereite das
Zünderbehältnis8 zum Licht machen), kirnt
e schomcrigv, nacht, Ksm., ursprünglich
bedeutet das Wort dämmerung; schon in
sehr alter Zeit, nd. skimmeringe: Demme-
rung, Graff VI, 512, schles. schumcrieht
dämericht, düster, unheimlich, Weinh. 82,
vgl. nL schemerig, schcmering: demmerig,
Dämmerung. Ein Zusammenhang mit ahd.
skimq,, nhd. schimmern, ist vorhanden;
der Übergang von i in u und u.führt zu den
Formen : dän. s/sumtnel, skummelhed, skum-
ring: dunkel, Dunkelheit, skymning Dem-
merung, nl. schemerig, schemering: däm
merig , Dämmerung. — ist das henneberg.
schamerig Fromm. II, 461 richtig aufge
fasst oder gehört es nicht vielmehr hieher?
*sclioisel s. scheulis ,, l in der Lau
sitz scheusei, Anion XII, 6.
♦schoppen baütcln : bei den Haa
ren ziehen. Krh., bair. schöpfen, schopf-
beuteln. vgl. Schmell. III, 379.
♦schürz f. scKod c z: die Rinde vom
Baum, Krh., vgl. ahd. skirzlinge, sadones
dicuntur snreuli arborum steriles; Holz
und scherzen, GralF VI, 551.
schotte, tschotte f. Muhme, Hopgart,
schü m. der Stiefel, Krmw. Krh. s.
Wtb. 96.
Schilde, tschude f. gröber Mäntel,
Ksm., vgl. zude, Wtb. 108.
Nachtrag 1 zum Wörterbuche der deutschen Mundarten etc.
289
►
s cliurs cli au fei f. die Feuerschaufel,
Schürschaufel, Krh.
schul f. Schule, Krh., so lange einer
die zwölfSchulen studirt, heisst es in Krh.,
ist noch alles richtig, wenn er aber in die
dreizehnte Schule kömmt, da sind die
Lehrer Raben und lehren die schwarze
Kunst, das ist schon nicht gut.
schütteldenga n., das Fieber, Krh.
s. bückendem/.
schwalm f. die Schwalbe, Krh., ebenso
bair. Schmell. 111, 535, f. aus ahd. swalawa,
mhdl-'swälwe; indem die schwache Form
der obliquen casus wie gewöhnlich in den
Nom. vorgetreten ist (swalaivun, swalwen
= swalm), in Dpsch. hört man dafür swe-
limbel n., vgl. nl. zwaluiv. (== swalüwj
in Prb. schbälbala n. schwalmloch n. Boden
fenster. Krh.
schwapp ein, schwoppeln: trinken,
saufen, schwelgen, Dpsch., hie en der
Topschd schwappelt man, hei hie schivap-
pelt man vil! Dpsch. in derselben Bedeu
tung schwappein, c), Schmell. III, 545.
schwutz f. der Durchfall, Krh. in der
Oberpfalz schwatzen, den Durchfall haben,
Schmell. III , 552 , schles. schwetzen,
schwatzen, der schwutz, s. Weinh. 80!
♦secha *: sicher, vielleicht Krh.
scg’er, sonnseger, s. sag*er.
seg-ensz f. die Sense, Krmw. in Pis.
sengesn, cirnbr. segense, s. Wtb. 97.
sein: esse; sain. Prb., söe”, Knh.
ich pi"
du pest
dar oder her est.
bie sain
ic sait
sc sain
ich bäa (war)
du baast
dor baa
bie banden (inGdl.
wanten: eramus,
erant)
ie baet
sc banden.
Prb., vgl. werden, und Wtb. 97, 104.
seit: damals, Krmw. in Pis., dort,
westerw. dort, Schmidt 217. s. darüber
Wtb. 97, unter sei.
sendel m. binse, Krh. in Schlesien
scheint diese alte Bedeutung des Wortes
(ahd. semido, semida) schon nicht mehr
vorhanden, s. darüber Weinh. 90.
settener, setter: solcher, Krh ; auch
in der Zips, in Pis. s. Wtb. 97.
g’esider n. der Wasserschwall, Dpsch.,
vgl. schwäb. sattem, aus einem enghalsigen
Gefässe giessen, Schm. 1II, 293, Schweiz.
südern, mit ähnlicher Bedeutung. Stald. II,
418, vgl. Fromm. V, 517, II, 32, schles.
sudern : sanft regnen. Fromm. IV, 188.
Simet m. Sonnabend s. tag 1 ,
sivern: nieseln, von gelindem Hegen.
Pis. ebenso in Franken, Oberpfalz.
SchmeIUH,228,nordbölim.Fromm.H,238.
skunz m. der Sperling, Ltsch. s.
dutzke, litzke.
sölln: sollen Krh. : ech soll (= sül,
schles. sullsol) du sölst; part. gesölt, Krmw.,
seist noch lang lakatschcn ? wirst du noch
lange schreien ? vgl. schollen. Wtb. 95.
Sommer m., in Krh. soma% in Prb.
suma ( , somcrlot f. die Sommerlate, s. lot.
— Der Kampf des Sommers mit dem
Winter wird in Kuneschhäu noch jedes
Frühjahr dramatisch dargestellt.
Der Sommer und Winter, ein Schärspiel
aus Kuneschhäu (nach einer ßauernhand-
schrift) 1 ).
Hai duck.
Gelöck herein, bönsch ech jetzond!
ech bönsch aus meines herzens groiid.
ech holt euch bitten um euer hold,
dasz ir uns anhört met gedold,
ir und alle mein gespan
seit unserm zustand 2 ) al zugetan
drum hört alle fridlich und stil
was uns ain jedes worpringen wil.
aus(d. h. der Haiduck geht hinaus).
Lied.
Es bächst ein plümelein auf dem feld
kein schöners findt man auf der beit
sein namen ist gar wol bekant
das Allerhöchste 3 ) wird es genant;
Wann Jesus den Winter und Sommer schei
den tut;
du pist ganz mein und ich pin dein,
das Allerhöchste, vergisz nicht mein.
Winter („der hinter est mit kole beh-
reämt“ mündlich)
Jetzt erfreut euch ir alten jungen,
jetzt komtder Winter (einhergesprungen 4 )!
ach wie lostig ists in hinter!
di hirschlein laufen hin und her,
die vogelein singen noch vil mer
es ist ein freud zu hören!
ach Sommer, was kaust du mir?
Sommer (hat keinen Bart und trägt einen
schönen grünen Tänling in der Hand):
Ach winter, ach winter du alter greis
mitdeinergroszenkält machstdu alles zu eis
mit deiner harten kält so grosz,
die du ’en leuten vil schaden tust.
ich wil dich legen untern Strauch
dasz ich dir den pösen part ausrauf (zupft
in am part).
ach hinter, was kanst du mir?
1) Die ursprüngliche Fassung ist, wie so oft hei Volksliedern, nicht mundartlich, dennoch habe ich jene
Abweichungen von der Schriftsprache nicht getilgt, die die Mundart des Abschreibers kund geben.
„Der Winter geht in Stroh mit Russ berühmt, der Sommer sieht aus wie ein Frauenzimmer und hält
einen Tännling und hat keinen Bart.“ Mündliche Mittheilung.
2) Besuch ? Zuspruch ? gespan deutet auf Österreich, Steiermark, s. meine Weihnachtspiele unter diesem
Worte im Register.
3) Dafür stand wohl ursprünglich ein anderes Wort.
4) Hs. und der Sumer.
I
290
Julius Schröer
Winter:
Ach Sommer, ach Sommer, du pöser pauer
(hs. paum)
mit deiner hitz machst en Weibern di me-
licli sauer
mit deiner harten hitz so grosz
die du, ’en leuten vil schaden tust
ach somer, was schadstu mir ?
Sommer:
wanns kommt iim a Mariä verkündigungstag
so flanz ich mir mein garten schön;
die plümelein, plümelein plün aufn fehl
die vögelein singen jung und alt
cs ist ein frcud zu hören. — —
ach winter, was kanstu mir ?
Winter:
Wann es kumt iim a Weihnachtszeit
so ge ich in die scheuer dreschen
dresch ich mir einen körn und weiz
schiacht ich mir ein fettes kalb
hab ich ein knecht so gib ich ims halb,
Jab ich kein so frisz ichs selbst (zum
haiducken).
willst sein mein knecht ?
Haiduck (tritt vor) :
hä ich wil sein dein knecht
wil dir macheu alles recht,
nur prav freszeu und saufen !
Winter:
Wirsts auch gut haben pei mir
Sommer:
Wann es körnt iim a Mai
so schrein die liiiner prav: kuckanei !
ach winter, was kannst mir winter ?
Winter:
Wann es komt üm a wäasehängzeit
so schiacht ich mir ein fettes schwein,
mach ich mir den part fett
und leg mich zu der fraii ins pett.
ach Soiner ? ach Somer was kanst du mir ?
Sommer:
Wann es komt üm a Johannetag
so hau (mähe) ich mir meine wisen ab.
mache mir ein schönes heu
dass ich mir junge rinder erziehn kan
dass ich meine narung hab.
Winter:
Wann es komt üm a Matäus
rumpelt schnee und eis
di wanzen und di liius
müssen fort mit de mäus.
Alle drei; 1 o id 1 (Liedlein) :
Je länger, je lieber ganz liblich und zwar
in freud und leid in glück und gefar,
es sei mein schätz ganz blosz allein:
das Allerhöchste vergisz nicht mein. rep.
Einer, hält einen Teller hin :
Alle übe prüdar
alias est woriibar
alias est schont ausz
wir machen einen schmaus;
bir bollen sech marschieren
in unsers nogbers haus.
geld do hrein!
speck do hnein (auf den Teller).
Einer, hält einen Spiess hin :
Fleisch do hnein!
Alle:
Kreignbe abe nichts do hrein
schlagn bir den ofen ein.
Vgl. Grimm, Myth. 723—734. Weinh.,
schles. Wtb. 90—92.
sparnig'cl m. der Sperling, Wagendrüs
sel. Zusammensetzung mit spar ahd., sparo:
passer, vgl. spirke» skunz, sperleng>
spelln : spalten, Krh. Trxlh. das stuf-
faisn bas man spellt die staina : das Stemm
eisen, womit man spaltet die Steine, Trxlh.,
vgl. Schm. III, 560.
sperleng’, spea‘lcng m. Sperling, Prb.
Krh. In der bair.-österr. Mundart nicht
üblich, vgl. sparnig-el.
spig’el in. blässel, Kuh mit einem
weissen Flecken auf der Stirne, Krh.
spilln : sich in Gesprächen unterhalten:
spilen gc~: auf Besuch gehen um zu plau
dern, Krh. Zu ahd. spellön : erzählen ; daher
beispicl; schles. spellen, spülen gen; eben
so im öberharz,IIenneberg’. Weinh. 92.
spirke m. Sperling, Ksm.; oberpfiilz.
frank, sperk, Sehmell. III, 577, vgl. spar-
nigel.
sprechen: beten, Mw. beten s. d. be
deutet daselbst: lesen.
spiilen n. mit der Spule spinnen; spu
len gen: zum Liebchen gehen, Dpsch., vgl.
spilen?
staif: schön, Krh. comparativ: beg*e‘,
s. d. Vgl. Schmell. III, 618.
stao*k, stjaka*: stark, stärker, Prb.,
s. J.
*staucle f. eine Gruppe von Häusern
in den Hainen und Hügeln, Hw.
stibala: ein wenig, Prb. vgl. Iglauer
Mundart staiwcl ein wenig (ein Stäubchen)
Frommer V, 470. Zu dein Wtb. 99 beige
brachten tschipp, tschimp ist noch zu erin
nern an stümpchen, s. d.
stork in. der Krüppel, verkrüppelte
Mensch, Krh.
strecliela n. Strichlein, Krh. s. Kin-
kale-kankalc.
Stuben, Neu-Stuben felsö Bsinya, deut
scher Ort im Turöczer Comitale. Bel. II,
347.
stufTaisen n. eine Art Stemmeisen,
Trxlh., vgl. Schmell. 111, 619: stueff:
Zeichen, in das Gestein gehauen.
stül m. der Stuhl.; Sessel ungebräuch
lich, Krh., vgl. Wtb. 100. Der Itichterstuhl,
die Behörde, daher stül zechen gen: Lan
desarbeit auf Anordnung der Obrigkeit,
des Stuhles verrichten, Wege, Brücken
bessern etc., Krh., vgl. zech f. und
zechen.
stümpchen, stümpchen n. ein klei
nes Mass von Trinkbarem, Ksm. Stomp m.
Prb.
Nachtrag zum Wörterbuche der deutschen Mundarten etc.
291
sueclien, sichen: suchen,Prb.,eben
so Krh. tit: tuot; Prb. ihn, uns: um uns,
daselbst, vgl. Weinli. Dial. 41,9. 41 f., 11.
Im Judendeutsch gleichfalls suchen, s. U»
T« bei O.
U.
Zu dem Wtb. S. 101 Bemerkten ist
noch hervorzuheben das Abweichen von
der Form der Schriftsprache in: suchen,
hruffen, tut, ihn, uns, unser, daneben
würgen (=buogen s. d.), vgl. Weinh.
Dial. 41, Schmell. §. 368. raffen ist die
schwache abgeleitete Form von dem stark
biegenden rufen (ahd. hruofan st. prät.
hriof neben hruofjan schw. prät. hruofta
goth. ist nur die schwache, abgeleitete Form
hropjan erhalten), das vielleicht md. Dia
lekten (Tatian hat es auch) besonders
eigen ist, indem die Süddeutschen rüefen,
gerüeft haben. Der Umlaut des u hätte hier
demnach seinen guten Grund. Zu suchen
vgl. Schmell. III, 192. Weinh. 41, tut
(schles. titt, cimbr, tust, liit, sieben!), dit,
Zips: tist, titt, Wtb. 47) hat ähnlichen
Umlaut des uo. ihn erinnert an mhd. ihnbe,
f. umbe, Ben. Müll. III, 178. Später XVII.
Jahrh. ümb, Weinh. Dial. 41. uns dat. acc.
ist schon im XII. Jahrh. anzutrcffen, Wackern.
Leseb. I 2 , 300, 40. 41 (daselbst ist der gen.
unser noch ohne Umlaut) und durch das i
der Formen unsis, unsih wahrscheinlich
hervorgerufen. Erst später findet sich der
ge e ii. Unser, Fromm. VI, 137. S. auch O,
hiinig' über.
über eiwe‘ Kuh. hreiwe: herüber Knh.
cbe, ebe's, eben über, iiberdas, über den Prb.
uikcs m. Oheim, Ilopgart.
umaneng': wüthend, toll, Plsch. Hw.
Zu ämer f. ahd. cemuria: die Gluth , das
Glühende in der Asche, Gr. Wtb. I, 192,
schles. omen, Weinh. 67, woraus sich dann
das adject. omenig, umanig gebildet hat;
über ring s. unter bückiHlciig'. Verwandt
ist das Zipser Wort omig, s. Wtb. 85, sowie
auch das daselbst angeführte siebenb. dm:
toll. Vgl. den Lausitzer Ausdruck ungenem
mit dem Feuer umgehen, Anton XIV, 5. Das
heisst wohl feuergefährlich, omening, ume-
neng? eine deutende Umbildung des nicht
mehr verstandenen Wortes?
„unkraut: freisen, Krmw.“
unta unt: hernach, dann Prb. ont Krh.
unwsens, unweins: unvermuthet, s.
Wtb. 101, schles. un wans bei Eschenloer,
Weinh. 103, westerw. azuams, Schmidt II,
mhd. (hei Herhort) unwwne, Ben. Müll.
III, 494.
ur n ua“ f. uamacha: Uhr, Uhrmacher“,
Krmw. in Krh.: säger in Prb.: seg^er s. d.
*-uscli: die Endsylbe -tisch in *un-
grusch, *bindusch, auch in Dpsch. Vgl. Wtb.
102, wo es nur aus Pilsen in der Art nach
gewiesen ist. Bemerkenswerfh ist die Über
einstimmung von Dopschau und Pilsen in
einer Eigenheit, die bei den Krickerhäuern
nicht zu finden ist, zumal als Dopschau von
Pilsen so weit entfernt ist.
w.
Da das w in den Mundarten um Krm.
und Krh. im Anlaut zu b wird, sind die
meisten Wörter dort (unter ö) schon auf
geführt. Zur ßequemlichkeitfür den Suchen
den gebe ich hier neben der üblichen Form
diejenige, unter der das Wort zu finden ist.
zucehe s. bsege.
w.ay wtb. 103. vgl. gisbaion und
westrw. hawweih, härweih Schmidt 71.
wälzen s. beizen.
zuanst banzen pl. kommt im Volks
liede (s. Sprachproben) für die Brüste
vor. Prb.
warba f. der Weiberkittel, Krh.,
muss in der Schriftsprache mit f anlauten.
wärt, vielleicht enthalten in fürwärt,
würbe» t s. d.
wassergeschnell n. s. basserg.
zu edel s. bei.
weichelein, bachala n. (s. d.), ein
Stückchen Brot, Prb.
weisen in pobaisen: 1. beweisen Prb.
ITaselbst hat das Wort wie ahd. zuisjan, Gralf
I, 1065, noch schwache Biegung; Particip:
pobaist; hingegen pobaisen. 2. bezaubern
enthält wahrscheinlich noch das unabgelei
tete Stammwort und biegt stark : ajam ess
pobesn: dem ist es bewiesen, slowakisch:
tomu je porobeno, dem ist es angethan (ma
gyarisch megesimält), der ist behext, be
zaubert. Krh. Prb.
zueiter, batr, bata s. d. in Felka :
wattersch, no zualtersch, zuäs tut er ?
weiz s. batz.
welcher s. bolener* beger.
wer, gen. zuens: wer, wessen, Ksm.
*we, ahd. zuiu, in um we, zwe (zi
wiu ?) s. d. bä: was Prb. bä: wo Prb. ;
häufig als pronom. relat. für welcher.
zuerden : in Prb.
ccli be, ich werde
du bist, du wirst
hea bit, er wird
bie ben, wir werden
ie bet, ihr werdet
sei ben, sie werden
gebüen, geworden.
In Krh., Trh., Knh., Dopsch. herrscht
a vor :
Part.
Krh. Dopsch.
eeh ba ech barr
du bist du bist
hea bit her bit
bie ban bir bau
ie bat ie bats
sc ban si ban
boan Infin. ban.
292
Julius Schröer
’s bet regnen 1 !— ’s bet je net /* — bea bass
bcts net. — ’s kennt ja!* ein bei Kremn.
aufgefangenes Gespräch.
werfen bjaffin Prb. s. D.
wetter in wiebetta? s. d. unter furw.
wichtig, beclitich : ansehnlich, Krli.
wie, bi in babi: wie denn nicht 1 s.
Fromm. VI, 90.
wietaner s. bittener.
windisch s. binclisch.
wirt, biet, m. Krh.
sechsmal sechs est sex ond draiszig
ond dr biet est noch so wlaiszig
ond de bieten ledclich
get de bietschaft lande sich. Krh.
witz, wiebetzen. s. fürwitz
wölfisch s. bolwescli.
würfen s. buofen.
würgen s. buog-en.
wurst s. bjoselit, Duscht.
wütend s. bückncleng*.
Z.
Über den Wechsel zwischen z und x s.
hienitz.
Das z für s Wtb. 89, 107 zeigt sich
unten in zum zimt für sam; ebenso; es
mag hier noch erinnert werden an zinter
zitt: seit im westerw. Schmidt 340 in
der Aacliner Mundart zupp: Suppe. Müll.
Weitz. Wtb. 267.
zäf: zusammen Pilsen, die meloch
rinnt zäf: die Milch gerinnt, rinnt zu
sammen; zäf kommen zusammen kommen
Pilsen; zohäf, Krh. zohäflegmessa: Messer
das man Zusammenlegen kann. Krh.
zoheuf zusammen Leutschau, mhd. zuo
houfen und ze hüf. Ben. Müll. I, 723,
zu häuf kommen Aventin bei Schmell. II,
134. müselig zuhauff tragen = Zusammen
tragen bei Seb. Frank. Weltbuch 1334.—
Aachn. m. zchouf gbn: gerinnen Müll.
Weitz. 263, vgl. henneberg*. ze hup; zu
gleich, das Sterzing, Fromm. III, 461, nicht
für dasselbe Wort hält mit zu häuf, nd.
to hopc.
zanna: weinen Prb. vgl. wtb. 106.
zaisala n. der Zeisig. Prb.
Zeche f., ein Dorf bei Prb. wohl
ursprünglich eine Zeche von Bergwerken,
vgl. Schmell. IV, 220. —die zeche: die
Reihe nach welcher einzelne abwechselnd
zu einer Verrichtung verpflichtet sind;
daher umzechig: der ßeilie nach; vgl.
Schmell. IV, 220 f. zechen: frohnden,
auch stül zechen gen s. stül*
zeg-a f. die Zehe Krh. ahd.zeha, cimbr.
zegena. Cw. 181 s. zeip. zeg’ena: zehne
Krh. ahd. zehan cimbr. zegen Cw. 181.
zei denn für et sei denn, s. sei
denn! eine Aussprache des s wie z
(s. z und zum) nehme ich nicht an: in
Krh. sagt man sai denn, mit Weglassung des
t: hingegen zum s. d. (z für s). Dies muss
eine spätere Weglassung sein, da die Redens
art des et (-es) als Subject nicht entbehren
kann.
zeimen, sich: etwas wagen(?); ich zehn
mich nicht! Ksm.
zeip f., die Zehe, Ksm. in Dpsch.
zep. Wtb. 106.
s. zeg’a. aleman. mittelrh. zewen, plur.
zeba, Schm. IV, 239, §. 496. Fromm. IV,
329, III, 104.
zetern: in vorzetern verrütten , zer
raufen, Dopsch. für verzdtern ? vgl. ahd.
zotorjan, daz zotoranta falls: deflua emsa-
ries, Gralf. V, 633.
zimbel f., der Driangel, Thonwerk
zeug. Praben; sonst ist die Cymbel (x6p.ßaXov)
ein Schallbecken.
zims, zems f., sieb. Dpsch. , s.
Wtb. 107.
zimt: wie, als, Prb. s. zum.
zinka: vulva Zips. im schles. zinke
peuis, Weinh. 109, vgl. daselbst nulle, wo
diese beiden Bedeutungen gleichfalls Zu
sammentreffen.
zop, zöpp: Zopf, Zöpfe, Krh., ebenso
westerw. Schmidt 341. zöppel: Strützel,
Back werk , Krh., vgl. zöppchen in But
ter gebratene Weissbrotschnitte, Müll.
Weitz. 267.
zu — zer — Krh. zu ludet: zerlottert
u. dgl. Diese Form zu für ze findet sich
schon im mhd. in schlechten IIss., wo es
als eine jüngere oder niederdeutsche Form
zu betrachten ist. Gr. gr. II, 862, Schm.
IV, 212.
zum: ebenso wie; zum a hrös: wie
ein Ross, Krh. zimt, Prb. in derselben
Bedeutung; ahd. samo , sama, mhd. sam,
same, samalih, semelih; im Osterspiel
Wackern. Leseb. I, 1018, 13: zummer
diser ostertag: wie d. O., vgl. Schmell. III,
242, zen für sam = so, wie in zen godikeit
u. dgl. s. Fromm. III, 349, 331.
zwü: wozu ? Krh., cimb. zbeu. Cw.
181, zwe in diesem Sinne führt Schmell. IV,
3 an von der Unter-Donau, ahd. ziwiu
(Instrumental): ad quid Gralf IV, 1184.
zwebel m. Zwiebel Prb.
zwen, zwä, zwa: zwen, zwo, zwei,
in Krh. zwe~ (zwi“), im westerw. zwi ,
zwo, zwa, Schmidt 343. zwe stöckech:
zweistöckig; zwäwä-chech: zweifach, Krh.,
weil stock masc., fach fern. ist.
zwesel f., gabelförmiges Geäste, Zwei
sei, Krh., s. Wtb. 108: zwisel, ahd.
zwisila: furca, GraflT V, 730, s. Fromm.
II, 386.
zwickel m., rothe Rübe, Prb. von
der keilförmigen Gestalt, Schmell. IV, 301,
westerw. Schmidt 343, ahd. zwickel, calus,
Gralf V, 731.
M. U 1) 1 e in n n n, Über die Bildung* der nitägyptischen Eigennnmen. 293
Vorgelegt:
Über die Bildung der altägyptischen Eigennamen.
Von Max llilcmann.
In dem Aprilhefte des Jahrganges 1833 der Sitzungsberichte
der philos.-histor. Classe der kaiserl. Akademie der Wissenschaften
(X. Bd. S. 519 ff.) hat Herr Prof. Boiler (bes. Abdr. S. 9 IT.) nach
der yon Brugsch gegebenen Zusammenstellung ägyptischer Eigen
namen (Sammlung demotisch-griechischer Eigennamen u. s. w.) mit
liecht in Betreff der Bildung ägyptischer Nomina propria die Be
hauptung ausgesprochen, dass erstens die Ägypter sich vorzugs
weise nach ihren Göttern zu nennen liebten, dass zweitens geistige
oder körperliche Eigenschaften des Individuums tlieils unmittelbar
zum Namen des Trägers gestempelt oder als Ankniipfungspuncte für
die Vergleichung mit Gegenständen der Aussenwelt benutzt wurden,
dass endlich drittens der Name überhaupt die Stellung des Indi
viduums in der Gesellschaft ausdrückte. Es sei hier erlaubt, im
Anschlüsse an jene trefflichen aus den demotisch-griechischen Eigen
namen gefolgerten Bemerkungen diesen Gegenstand einer ausführ
licheren Besprechung zu unterwerfen, da derselbe bei den vielen
etymologisch nicht zu deutenden Personennamen, welche noch immer
in neueren Schriften der nach Champollion’s Grundsätzen ent
ziffernden Ägyptologen auftauchen, einer gründlichen Untersuchung
nicht unwürdig erscheint.
Die Quellen welche dieser Arbeit zu Grunde gelegt werden
sollen, sind einmal Hieroglyphendenkmäler aller Art, auf denen
die Eigennamen als solche leicht erkannt werden können, da die
Königsnamen, wie bekannt ist, stets in Ringe eingeschlossen, da auch
die Eigennamen von Privatleuten gewöhnlich durch das unmittelbar
folgende Bild einer kauernden männlichen oder weiblichen Figur
(homo-femina) determinirt, da endlich auf den zahlreichen Leichen-
Sit/.b. <1. phil.-hwt. CI. XXXI. Bd. IT. Hft. 20
294
IYI. U li I c m i\ n n
steinen und Sargen die Namen der Verstorbenen durch die hinzuge
fügte Bezeichnung „der Gerechtfertigte, Selige“ oder
PooNe „der Hinübergegangene“ hervorgehoben sind. An diese
schliessen sich dann die demotischen (Brugsch, Sammlung demo
tisch-griechischer Eigennamen ägyptischer Privatleute. Berl. 18hl),
ferner diejenigen Namen welche in den griechisch-ägyptischen
Texten enthalten sind, die Ideler in seinem Hermapion. Lips. 1841,
Append. p. 12 ff. hat abdrucken lassen, und endlich alle Königs
und Privatnamen bei den verschiedenen Schriftstellern und Chrono
graphen des Alterthums, besonders hei Era tosthenes, welcher
bekanntlich eine Reihe von Königsnamen mitgetheilt und eine grie
chische Übersetzung derselben in freier Paraphrase gegeben hat
(jiapsippaaev AljuTtruiz ek Elluda (pmv/jv).
Ein Überblick über die sämmtlichen ägyptischen Eigennamen,
welche der Verfasser aus diesen verschiedenen Quellen gesammelt
hat, gestattet folgende Eintheilung, welche schon hier im voraus
mitgetheilt und in der weiteren Ausführung durch Beispiele be
gründet und erläutert werden soll:
I. Es wurden die bekannten ägyptischen Götternamen geradezu
auf Personen übertragen, bisweilen mit Hinzufügung der entspre
chenden Götterattribute; auch wurden Personennamen durch Ver
bindung zweier verschiedener Götternamen gebildet.
II. Es wurde durch Personennamen irgend eine Beziehung des
Individuums zu einer Gottheit ausgedrückt, indem man die Person
als mit der Gottheit verbunden oder ihr an gehörig, als sie
liebend oder von ihr geliebt, als ihr Kind, Freund, Diener,
Geschenk, Glied oder Waffe u. s. w. bezeichnete.
III. Es wurden Nomina gentilicia auf einzelne Personen und
Familien übertragen (wie im Deutschen: Berliner, Leipziger,
Schwab, Sachs, Jerusalem u. A.).
IV. Einzelne Individuen wurden nach ihren Ämtern, Würden
und Geschäften, auch nach Verwandtschaftsgraden benannt.
V. Eine grosse Anzahl von Namen ist concreten Gegenständen
mit denen das Individuum eine Ähnlichkeit zu haben schien, z. B.
Thieren, Gliedern des thierischen oder des menschlichen Körpers,
Pflanzen, Kunstgegenständen u. s. w. entlehnt.
VI. Viele ägyptische Personen haben ihre Namen nach allge
meinen Ehrentiteln und Eigenschaftswörtern erhalten.
Über die Bildung der altiig'yplisehen Eigennamen.
295
VII. Einige Individuen (vielleicht auch deren Nachkommen)
haben ihre Namen zufälligen Ereignissen und Lebensschicksalen zu
verdanken.
I. n) Wie schon oben in der Eintheilung hervorgehoben wor
den. wurden zunächst die bekannten ägyptischen Götternamen gera
dezu auf Personen übertragen. So ist ganz besonders 'Iai<; ein
Beiname vieler ägyptischer Weiber. Ein König der XVIII. Manetho-
nischen Dynastie führt den Namen Horus und auch unter den demo
tischen Eigennamen kommt ein entsprechender P-HoR (der Horus)
vor. Eine weibliche Mumie im königl. Berliner Museum hiess wie
die bekannte Göttinn, Athyr, und unter den demotisch-griechischen
Eigennamen lindet sich sehr häufig der Name v Ap.puoy.
b) Es wurden ferner bei Bildung von Personennamen mit den
Götternamen die denselben gebührenden Eigenschaftswörter und
Attribute verbunden, z. B.:
Oeipi-oonT, Osiris der Fürst.
r^ jjD nTa.5-2c.op, Ptah der Siegreiche.
-2c.op (weibl.), Isis die Siegreiche;
ebenso 0opi-2c.op, Nizcoy.pii; nach Eratosthenos Aürjvä vix7]<pbpo<;,
d. i. NiT-2c.op, Neith die Siegreiche u. A.
O Pa-MeN-TeP, Ra (Sonne), Stütze des Welt
alls.
^ ToT-Non-g, Thoth der Gute;
demotisch: Ne'ST-MiN d. i. najaT-Mm, der kühne Horus oder
der grosse Horus 1 ); ebenso griechisch
Nz%ftüvoußu; d. i. mu^-Ano-HG, der grosse Anubis.
Ä[iovpu.aov$Y]p, A-MM-ott-Ra-ujonT-Tiip, Ammon Ra, Weber
des Alls.
Xwpai<pf)ü nach Eratosthenes Kbapnz (pilij<paia~oc d. i. "aoi-
.wai-nTao terram amans Vulcanus.
Isi-er-koti, Isis die Fruchtgeberinn; mein Handb. IV. 288.
*) Uber Min als Beiname des Horus vergl. Plutarch, Über Isis und Osiris, Cap. öß
und mein Handbuch der ges. ägypt. Alterthumskunde II. S. 177.
M. U ii I o in n n n
2Dli
c) Auch kommen als Personennamen Götternamen mit Angabe
der Abstammung derselben vor, z. B. ^ ^ °Har-si-Isi,
Hörus, Sohn der Isis demotiscb HaR-Si-ESi, griechisch Ap-
airjaic;. Ebenso gebildet sind Ammon-Härsiesi, Ammon Horus,
Sohn der Isis, und der griech.-ägypt. Apnärjat^, Horus der
I s i s c b e.
cl) Endlich finden sich Zusammensetzungen und Verbindungen
verschiedener Götternamen, so ^ ^ i^T HoR-AMoN, Horus-
Ammon, griech. ^ilpapputv und ’Hpäppcov; ferner die griech.-ägypt.
'Hpaxlüppcov d. i. Herkules-Ammon, Ispaxuppwv Sarapis-Ammon,
und der Königsname 2sp<ppouxpürr]<;, welcher nach Eratosthenes
'HpaxXrjc ’ApTTnxpÜTYji; bedeutete, d. i. Sem (2to.M.)-P-Harpocrates *).
II. Die grössere Anzahl der bis jetzt bekannt gewordenen alt
ägyptischen Eigennamen ist so gebildet, dass durch dieselben irgend
eine Beziehung zu dieser oder jener Gottheit ausgedrückt wurde.
Da diese Bildungen in den meisten Fällen gleichmässig geschahen,
so lassen auch sie sich unter bestimmte Regeln zusammenfassen.
a) Das Individuum wurde mit der Gottheit „verbunden“
oder „vereinigt“ genannt, indem man hinter den Namen des
Gottes die Sylbe §ioth, ,-Q-, oder conjunctus setzte, welche
in gleicher Bedeutung auch auf allen Leichensteinen und Sarko
phagen hinter dem Namen des Verstorbenen stellt, um anzudeuten,
dass derselbe zur „Wiedervereinigung“ mit Osiris hinüber
gegangen sei. So gebildete Eigennamen sind z. B.:
AMN-HoTP, mit Ammon verbunden; als
griechisch-ägyptischer Privatname aus der Ptolemäerzeit ApevwH
oder ’Apevcodrjt;, als Name mehrerer Könige der XVIII. Manethoni-
sclien Dynastie , Apsvü(pt<;. — Wsvo.pevaxptt; ist p-si-en-Amenophis,
Sohn des Amenophis (des mit Ammon Verbundenen).
c±i=3
^ | 2 PTaH-HoTP, mit Ptali verbunden.
0 ('TT) AAH-HoTP, mit dem Monde verbunden. Vergl.
Rosell. XV. p. 239.
*) 2C.0.W. der Starke ist ein ägyptischer Name des Herkules, welchen die Griechen
hier und in allen späteren Beispielen stets durch 2e[i oder 2v)fJ. wiedergegehen
haben, vergl. 2i[upux;, UlaaTjiiiq^ Boxowyfiis u. A.
Über die Bildung der nltägyptischen Eigennamen.
297
^ O^LP SeßeK - HoTP > mit Sebek (Typhon) verbun-
den; denn sebek, koptisch erweicht in cots-^i, das Kro
kodil war das dem Typhon heilige Thier.
Ähnlich sind die demotisch-griechischen späterer Zeit, welche
eine Beziehung zur Gottheit ganz allgemein ausdrücken, z. B. de
motisch AMUNIS, griechisch >r Appcuvis oder ’Appcövcog der Ammo-
nische, ’Avoußac der An u hi sehe, ’Avouxcc der oder die Anu-
kische, 'Attlt]<; der Apische, TR-qai<; der Isische u. s. w.
b) Eine grosse Anzahl von Eigennamen ist gebildet aus Götter
namen durch Vorsetzung der Sylbe IIet oder ne/re, liieroglyphisch
3 oder O oder 3, d. i. qui est. .. ., welcher angehört:
Q □ V /\
' v<wwr q /
(mw) D\ PeT-AMN, der dem Ammon Angehörige.
4 Ä 2)
otl 2 PeT-ISl, der der Isis Angehörige (auf einem
Poi'phyrsarkopliage im königl. Berliner Museum).
'3^ nR. P e T"^siri, der dem Osiris Angehörige.
^ |3 n 3, PeT-HoR-P-Ra, der dem Morus, dem
Sonnengotte, Angehörige.
^ (ebendasselbe) in einem griechischen Papyrus
riezedpnp'fji;.
^ PeT-ChoNS, der dem
Chons Angehö
rige, griech. nszsycovatt;.
Ebenso gebildet sind die Namen Uezeapuypcc der dem Ha-
roeris Angehörige, ÜBzirjou; der der Isis Angehörige,
üezspivn; der dem Min (Horus) A., flsziaou'/iz der dem Ty
phon (cotxi Krokodil) A., Ilszeßaozr]c der der Pascht (Buba
stis) A., üezooLpur der dem Osiris A., nszea.pTcoxpd.zvjc der
dem Harpokrates A„ nezetppvjq (LXX. Potiphar) der dem
Sonnengotte (Pli-re) A.; ferner der Name des Königs /7ere«-
ftupLs (nicht IlevredDupiz) der der Athyr A., der des Erbauers
des Labyrinths bei Plinius Petosychis der dem Typ hon A.
(wie oben nezsaouya;) und PeT-PeT der dem Himmel An ge
ll örige. Vergl. mein Handb. IV. S. 284.
298
M. U li 1 e m a n n
c) Ganz besonders liebten es die Ägypter sicli „Kinder“ der
Götter zu nennen, wobei die Begriffe Sohn, Tochter, geboren
von .... u. s. w. auf sehr verschiedene Weise ausgedrückt wurden.
1. Durch , nach Champoll ion iye filins, nach Seyf-
farth, weil die Gans mut hiess, '= eop-e infans. Daher:
^ Ammon's Sohn.
Sf Ammon’s Tochter.
’Ay.evefd'/jZ (Königsname), Amu-e^te Ammonskind.
<TT> a
^ o Tochter des Ra (Sonnengottes).
AAH-MeS-NiT-'Se, A ahm es (Sohn des
Mondes) Kind der Neith.
2. Durch ^ oder mit dem Artikel , 'Se oder P'Se
Sohn, z. B. P'Se-N-ISI Sohn der Isis. Ebenso
hieroglyphisch Psi-Maut Sohn der Göttinn Muth, Psammuthis
(Handbuch III. 259); Hathor-se-t Tochter der Athor; Suchi-set
Tochter des Typhon (Sebek, Suchi); demotisch P-Se-N-AMoN-
API Sohn des Ammon-Apis.
Dasselbe in griechischen Umschreibungen Is (Zs) oder 2’c,
mit dem Artikel We oder Wi, meistens mit folgendem v (des), z. B.:
Zevoaop Sohn des Osiris.
Zpivtc, "Eapivu; Sohn des Min (Horns).
’2np$a<; (nach Eratosthenes ucbc Hyaiorou) Sohn des Ptah.
Wivitzau; Sohn des Ptah.
Zpdvpvji; (si-ma-n-re) Sohn des Geschenkes der Sonne.
Wevapouva;, Wevapoov Sohn des Ammon.
Wevävoußis Sohn des Anubis.
Weväooyit; Sohn des Suchi (Typhon).
WsvüoÜTrjs Sohn des Thoth.
WsMoaipic: Sohn des Osiris.
¥svyovacc Sohn des Chons.
Weppuiis Sohn des Min (Horus).
Wevyvoußiz Sohn des Goldsohns (p§e-n-§e-nub).
Ebenso sind weibliche Eigennamen gebildet, mit oder ohne
Artikel (T), z. B.:
Über die Bildung- der altägyptischen Eigennamen.
299
demotisch: TSeNToT Tochter des Thoth (Sivdcoztz).
„ TSeNPTaH Tochter des Ptah.
Sipyzovaiz (weibl.) Tochter des Chons.
3. Seltenere Formen mit gleicher Bedeutung sind zusammen
gesetzt mit ujnpe, nuj'ipe filius und oofi, oc.ifi fabricari:
Tlyipymois, nujHpe-^cronc (ycp = ujnpe) Sohn des Chons.
2ep<pco<;, Königsname, bedeutet nach Eratosthenes ’Hpaxleidyc
d. i. Eep. (kopt. ab Hercale fabricatus.
4. Am häufigsten auf älteren Denkmälern erscheint fj ff) m*.c
genaratus, natus, geboren (vergl. Acoyevr/^):
\ f 1 AMN-MaS, der Ammongezeugte.
^ fj ^ | 2 PTaH-MaS, der Ptahgezeugte.
^ ^ | HAPi-MaS, der Apisgezeugte.
ff O Ra-MaS, der von Ra (Helios) Gezeugte.
^ r| fj ^ AAH-MaS, der vom Monde Gezeugte (*Ap(o-
ffic, x Apaatc).
\ ff) ^ ToT-MaS, der von Thoth Gezeugte (Toü-
Spcoatc).
Mooyeprjt;, Königsname, nach Eratosthenes 'Hfoodoroc ist kop
tisch Aia.c-=£.op-pH Söhn der kräftigen Sonne.
d) Ähnliche Zusammensetzungen fanden Statt mit con und
c(one, indem man sich „Bruder“ oder „Schwester“ einer Gott
heit nannte, z. B.:
S°N-H°B> Bruder des Horus.
^5> 0 h-Mwä SoNe-ISI, Schwester der Isis.
e) Bekannt ist in der koptischen Sprache der sogenannte
Articulus possessivus, welcher vor den Namen des Besitzers gesetzt,
in der Form na., q>a. etwa dem griechischen 6 zoS, 6 zyc, o za>v...
und weiblich Ta., ea. dem 7} zoü, i) rrjs, y tcov .... (im Plur. na.)
entspricht. Vergl. Vers. Copt. Matth. XXII. 21 (na.Jio-rpo — za xai-
aapoz). Dieser Artikel wurde in gleicher Bedeutung häufig zu 1-
Bildung von Personennamen vor Götternamen gesetzt, um eine Be
ziehung zur Gottheit anzudeuten. Hieroglyphisch sind PA und TA:
ff und geschrieben und es kommen die Zusammensetzungen
300
VI. U ii I t* in a u n
vor: PA-1S1 6 rq; Iaido;, der der Isis, TA-1S1 (weibl.) q zq;
"Iaido;, die der Isis; demotiscli Ta-HoR q zod " iipou, Ta-ToT
ij Tod dcoud u. A. Im griechisch-ägyptischen Papyrusrollen: Tldq;
und IlaT/joi; (Pa-Isi) der der Isis, Tldaouyi; der des Suchi
(Suchi, Krokodil, Typhon), lldvußdi; der der Nephthys, <Pa-
vouipi; der des Guten (iion'qi), üaHeppooz der der Thermut
(über dsppoufh;, eine heilige Schlange, vergl. Aelian. de nat. an.
X. 31), und diesen entsprechende weibliche Eigennamen wie ddqai;,
Tdvouipi;, ddvoußi; die des Anubis, ddpoovzi; diedesMout,
Taßoöz die des Thoth, Tdpovpa die des Ammon Ra, 7a-
aqpi; die des Sem (»o^, Herkules) u. s. w.
f) Zusammensetzungen von Götternamen mit , hierogly-
phisch ^ oder ^ ^ liehen, Liebe (wie Oedipdo;, Gott
lieb):
^ Mai-AMN, Ammon lieb.
Mai-NiT, N eit blieb.
MAl-TaMie, Schöpfer lieb; Name des achten
Sohnes Ramses Miamun’s.
’Appai; (Name des Bruders des Königs Sethos und vieler Pri
vatleute) Har-mai Horuslieb.
g) Zusammensetzungen mit ma Geschenk, hieroglyphisch
männlich n—^Tjf MA, weiblich jTj, MA-T. So ist hieroglyphisch
gebildet Hathor-ma-t (weibl.) Geschenk derAtbor; demotisch-
griechisch Mavcdcöd Geschenk des Thoth, Mdqai; Geschenk
der Isis; und der Königsname Mdpq; (m.*.-pk Geschenk der
Sonne) übersetzte Eratosthenes richtig durch ’Hhodoipo;. Eine
verstärkte Form ist der Königsname Oöoatpdpq; d. i. koptisch oiroui-
Ai^-pH spontaneum donum Solls.
h) In derselben Bedeutung wurde ti, kopt. ^ geben, Gabe,
Geschenk vor oder hinter Götternamen gesetzt, z. B.:
Tipoo&i; Gabe der Muth (Beiname der Isis).
Titouto;, Ti-ToT Gabe des Thoth.
Nlzqzi; (Königstochter bei Herod. III. 10) NiT-Ti Gabe der
Neith.
"Adupzi; (Tochter des Sesostris), Athyr-ti Gabe der Athyr.
0 gleiche Weise nannte man sich einen Freund (hop
□n'N oder p-he nt) der Gottheit:
301
Über die Bildung 1 der altägyptisehen Eigennamen.
Ahap-Anuk, Freund derAnuke (Todtenb.).
Hophra (König), Hop-Ra Freund des Ra.
<Vsvrwioar, P-hent-Isi, der Freund der Isis.
@9o/jfi.o6Ür]c und <Popp.ouri<;, Reides contrahirt aus 0evTop.outh<;,
Fi;eund der Muth.
h) Zusammensetzungen mit bok (fiom) Diener:
Hieroglyphisch: Bok-en-Ra, Diener des Ra, König der XIX.
Dynastie.
Bok-en-Amen, Diener des Ammon. Handb. IV. 297.
Bok-en-Muth, Diener der Mutb. Ebendas. 298.
Bok-state, Diener des Glänzenden. Ebendas. 284.
König ’Pu<päxY]c (Man.), Ra-bok, Diener des Ra.
Dernot.-griech. Privatname Boxuvovjptc, Bok-en-Sem (:x.o.m.)
Diener des Zom-Herkules.
IJ Endlich liebten die Ägypter es auch, sich nach Gliedern,
Waffen und Attributen ihrer Gottheiten zu benennen, z. B.:
□ PaT - pTaH > Fuss des Ptah.
0o,uivi<; (hierogl. im Todtenb.), cpo(noo)-.\un, Hörusgesicht.
ein weiblicher Eigenname.
Dernot. ZOAMoN, Ammonskopf (a«.<o eaput).
’Epiuvoußts, Anusbisauge (epi, ipi Auge).
'Apeooui<;, Auge desSeb.
Tanymaiz, Chonskopf (tmc Kopf).
Osarsiph, Anführer der Aussätzigen bei Manetho, Osar-sifi
(cnqi) Schwert des Osiris.
III. Als ursprüngliche Nomina gentilicia, welche später als
Eigennamen auf einzelne Personen und Familien übertragen wurden,
kommen folgende Beispiele vor:
Jlüxqpti;, dernot. Pa-kemi (nach Brugsch consecratus Aegypto)
bedeutet wörtlich in Übereinstimmung mit den Beispielen
unter II. e. 6 rrjc; Aiyururnu der Ägyptische,
dem. PReM-TaP, npcÄ-T&na der Mann von Theben,
dem. Pa-'SLoL, der des Volkes (wie das deutsche Bürger).
Brugsch übersetzt diesen Namen geradezu durch „p§lel
das Volk“, aber der Einzelne konnte wohl nicht „das
Volk“ heissen; vielmehr bezeichnet pa-§lol Einen der dem
302
M. U h 1 e m a n n
Volke angehört, wie Pa-kemi Einen welcher Ägypten an
gehört.
nezevarjvcc, Pet-en-Sene der von Syene.
■’Aaivjc der Asiat.
Aoßaa;, Aoiißpic, Lubi der Libyer, hebr.
<P<wpüv, Königsname, nach Eratosthenes NeÜoz bedeutend,
d. i. q-i*.po der Fluss, der Nil.
Zweifelhaft ist die Bedeutung des griechisch-ägyptischen Na
mens V 0vrjc; derselbe ist nach Wegfall der griechischen Endung ijc
durch ou-oii zu erklären (ebenso wie Ov-vootpic = oiron-rton-qi) und
bedeutet entweder otou quidam oder on-on popularis. Auch scheint
hierher der Name/Zerea/z^vr^c zu gehören, welcher durch „der
des Amenthes“ oder „der von Westen“ (neTv-^Mcnve) zu
übersetzen ist. Dasselbe bezeichnet die andere Form IlezEpjzd-
/zsmc (koptisch «et A h^.u-cuÄ“).
IV. Eine grosse Anzahl von ägyptischen Privatleuten wurde
ebenso wie im Deutschen (Müller, Schulze, Schneider, Weber u.s. w.)
nach ihren Beschäftigungen benannt:
^ ^ HAP-MeN, Apisdiener, Apiswärter (-m.hu
cleservire, -w-ooue pascere).
Ebenso hieroglyphisch: Hont-sot, Herrinn des Opfers,
Opferpriesterinn (Handb. IV. 284), und Kati-en-pothu, der der
Libationen Kundige, der Libator (Handb. IV. 296).
demot. P-AX-P-ISe der Isisprophet, Propheta Isiacus (kopt.
h-ä-x“ propheta).
dem. griech. ’Ayoopyjz Prophet der Sonne (&x“ ü pH).
'0-fjßn; und 17oyjßc<; der Priester (on-nfi).
Qpmiz, kopt. w*.-epne d. i. die des Tempels, die Tempel-
dienerinn; nach Brugsch „T. arpi die Jüngste“, aber
es gibt im Ägyptischen kein solches Wort mit dieser Be
deutung.
Qpupis wie Qpimz, kopt. ^ö.-epq>e.
der Arbeiter, Fabrikant (manch), wie im hiero-
glyphischen Zusammensetzungen manch-nub der Gold
arbeiter u. s. w.
Über die Bildung der altägyptischen Eigennamen.
303
ITpev'/r/? wie Flpovyr]^.
Hvouyn: der Räuber (imou-as. latro, mendax).
Auch kommen Verwandtschaftsgrade ganz wie im Deutschen
(Vater, Sohn u. s. w.) als Familiennamen oder Privatnamen vor,
z. B. Autoc Vater (i<dt), nyotpcs der Sohn (nusupe), demot.
ALU Kind, Qazpvjz, @a.Tpt<; und (Patpeoc der Zwilling (n$*Tpe);
auch in Zusammensetzungen, z. B. Aöazunt; Vater der Isis. —
Auch gehören hierher alle demotischen mit P11RI oder weibl. THRI
(nach Brugsch „der Erste“) zusammengesetzten Namen, welche
das Individuum als den „Ersten oder Ält esten oder die Älteste“
der Familie bezeichneten, z. B. demotisch:
PHRIEFAN'S, der älteste „Lebendige“.
PHRIUZA, der älteste „Retter“.
PHRISMIN, der älteste „Sohn des Min (Morus)“.
THRlTSeNPTaH, die älteste „Tochter des Ptah“;
und griechisch:
0piiravoi)iri(r der älteste „der des Anubis“.
dtpiTrepoaic; der älteste „Krokodil“.
Opmerootpiz der älteste „Petosiris“.
(Ppiaapamc der älteste „Sarapis“.
OpKpEVXmoiz der älteste „Chonssohn“.
V. Namen von concreten Gegenständen, besonders von Thie-
ren, Pflanzen, Gliedern, Kunstwerken, mit welchen Individuen
Ähnlichkeit zu haben schienen, wurden denselben als Eigennamen
beigelegt:
Ilepoati; das Krokodil (n-c«cä,^).
2a)oo<; Ross, hehr. DID.
Oatpsiz die Fliege (T-o^q musca, apis).
Oißic; der Ibis ebenso 77^c-
1 Orjpu: Hund (Woop).
ria/nup, Tlayoopiz, Pachomius, der Adl er (n-&x WAl )-
Axupa; Schlange (*.iuopi). . Ebenso ’Aywptz, König der XXIX.
Dynastie.
Baxit;, Byou;, Bvjaac Sperber (ähos.).
Brjaapiov HorusSperber (fiH2c.-o&p).
Apßyjxig Horussperber (§ö.p-fiH2£.).
304
M. U li I e ut u u n
Osp/wuttcz, nach Joseph. Ant. II. 9. 6 die Moses rettende Königs
tochter (vergl. meine Hyksos p. 57). Denselben Namen
führte nach Aelian de mit. an. X. 31 eine heilige ägyptische
Schlange.
Ilaßexnc, Pa-bek, der des-Sperbers (se. Hori).
Wioiupv; der Sohn der Schlange (^oq).
’Apevorjpit; Hundsauge (ar-en-uhor).
Hierogi. Pet-nufi-bet die gute Palme. Handb. IV. 252.
Dem. LUL Traube (*.AoAi uva).
■noP Mondpalme (ioh-bait).
’Axic Rohr (<Mie calamus, juncus).
’Apir/jjiM'; dunkler (ägyptischer) Wein Opn-x»- M - 1 )-
Kalo uh <; Weinland (iu\o-.\'\o'A.i).
Ilsßco? Haar, Haupthaar (ne-ficu).
I'tiotoik; Lippen (ctiotott).
Kalouavj? Fuss (oVA.od£ j.
Hierogi. PSoTNeF Pfeil (ncoTneq).
I7scryuiZ Pfeil (ne-ca,^).
Dernot. PIM das Meer (nnm) oder „der des Meeres“
Ahahjxiq Staub (wccXeo ).
Obavrjt; Hügel (od'ö.h)-
levzcoouc (weibl.) Tochter des Berges (^c-n-Ttoo-s-).
Ilaßojz der Monat (n-a.fioT).
IIdis das Leben (n-.\pi).
Man vergleiche mit diesen die ähnlichen bekannten deutschen
Familiennamen: Ross, Adler, Palm, Rohr, Pfeil u. s. w.
VI. Eine grosse Anzahl ägyptischer Personen hat ihre Namen
nach Eigenschaftswörtern und allgemeinen Ehrentiteln erhalten. Als
Beispiele sind zunächst folgende hieroglypliische zu betrachten:
ouj-T*.uje der sehr Grosse. Dieselbe Gruppe
steht in der Inschrift von Philä, ö psya.t; bedeutend, als Attribut
Über die Bildung der altägyptischen Eigennamen. 305
hinter 6 'llfaiazng. Vergl. des Verfassers Inscript. Ros. p. 112
und Handbuch IV. 92.
4 n-2top der Mächtige. Vergl. Seyffarth,
Grammat. Aeg. Beilage Nr. 1.
m M\WW
\~df- iiHfi-oiroii-no-3-qi, der wohlthätige Herr,
Name des Oberpriesters Ammon’s unter Ramses Miamun.
ujTi\^Te-.MAi Glanz lieb. Nach Cham pol li on
und ltosellini Imai, aber ist eine aus /j = uj und
= tt zusammengesetzte Hieroglyphe und bedeutet häufig
ujTiycTe.
Andere hieroglyphische Namen ähnlicher Bedeutung sind der
des Königs Na'ST-NeB (Nektanebis) der kühne Herr (Handb.
III. 260), welchen auch ein Feldherr auf einem Sarkophage im
königl. Berliner Museum trägt; ferner des Königs P-ZoM (Psammus)
d. i. der Starke (Handb. III. 225) und der weibliche Eigenname
Her-ment, die beständige Herrinn. Handb. IV. 296. An diese
schliessen sich folgende demotisch-griechische an:
demot. P-Ni'ST der Grosse (h-uiu))-).
P-NAA der Grosse (n-na,«,).
griech. ’Orjpcg Gross (o-rup).
doüypcg die Grosse (T-oimp), Typhon’s Kebsweib. (Plut. üb.
Is. 19). Dasselbe oimp ist erhalten in 'Äpouyjpu.- d. i. Har-
o-ü-Hp Horus der Grosse, der Ältere.
Meouypig Kind des Grossen (■M.a.c-ou-np).
IIsTSTTÖyjpK; der des Grossen (vergl. II. b).
M'/jV/jz (König) der Ewige, nach Eratosthenes aian/iog (wn«
aeternus). In gleicher Bedeutung kommt als demotischer
Privatname P-MAN der Beständige und S-MeN Sohn
des Beständigen (des Menes) vor.
Aiaßivjg (König) nach Erotosthenes (piXizaipog, daher koptisch
Ähh-^ok Freunde liebend.
’Aizdmzoui; (König) nach Eratosthenes 6 peycazog, kopt.
Riese.
Griech.-ägypt. Privatnamen Ne/oozyg und Ns/ouzcg Kühn
(ikvujt) oder Gross (iuujÄ)-
v Orjßcc Rein (othö purus, mundatus).
"Opatjg Kalt (&>puj frigidus).
AI U I» I e m si n ii
306
'EtpwW/oz Lebendig (tq-oms).
Tornrjz Bunt, Fleckig (toto variegutus, maculalus).
(Ibevsffjz (König) Wohlthätig (ou'on-nois'qi); ebenso dem.
UNNoFeR, griecli. ’Owuxppiz Wohlthätig (ou-cm-nofjpi).
HavEOipit; der des Guten (6 rou dya&nü, vergl.il. e).
Auch kommen eine Eigenschaft oder einen Ehrentitel aus
drückende, aus mehreren Sprachstämmen zusammengesetzte Namen
vor, z. B.:
hierogl. MeR-HeT Lieb herz, Herz lieh, als Name eines
königlichen Prinzen in einem Grabe des Berl. Museums.
demot. P-KeL-HeT, der kräftigen Herzens («-ator-poiiTj-
griecli. r/ouTvmxp«;, der guten Herzens (i\ö.-pHT-no-r^i).
Xvoußcc G o 1 d s o h n (se-nub).
A(rüg, Acwg Schön gesicht (o&.-eov).
Eouthnpavrj'/ nach Hieronym. d acurrjp zoü xoa/xou, ägypt. p-sot-
em-ph-eneh Retter der Welt oder p-sot-em-ph-anch
Retter des Lebens. Genes. XLI. 4S.
Anmerk. Auch der bekannte Beiname des ersten Ptolemäers Sturrpj
wurde unter den griechischen Königen auch Privatmännern beigelegt, und
hieraus durch Verbindung mit dem ägypt. uie Kind der weibliche Eigenname
2'Ev<riaT7jp Tochter des Retters (2Wrjp) gebildet.
VII. Einzelne Individuen endlich verdanken ihre Namen offen
bar ihren ruhmwürdigen Thaten oder zufälligen Ereignissen und
Lebensschicksalen. Es dürfte schwer zu entscheiden sein, oh Namen
dieser Art nur der besonderen Persönlichkeit beigelegt wurden, oder
ob dieselben auch auf die Nachkommen jener übergingen. Denn
wenn auch Boiler a. a. 0. von den Namen welche überhaupt die
Stellung des Individuums in der Gesellschaft (wie unser Richter,
Müller, Bürger u. s. w.) ausdrückten, vermuthet, „dieselben seien
auf den Träger beschränkt geblieben“, so lässt sich dennoch auch
das Gegentheil nach Analogie der Sitte anderer Völker denken und
vertheidigen. Namen welche z. B. eine Stellung in der Gesellschaft
bezeichneten, konnten gerade bei den Ägyptern mit grösserem
Rechte als bei irgend einem anderen Volke erblich sein, da bei
ihnen auch das Geschäft und die Lebensstellung in Folge der Ka-
steneintheilung erblich waren und wie der Familienname von Vater
auf Sohn übergingen, und da der Sohn des nach seinem Berufe
s
m
Über die Bildung der altägyptisciheii Eigeniiaiiien. 307
genaimten 1//J.ivyrj^ (Fabrikant) auch wirklich wiederum ein Fabri
kant wurde. Ebenso konnten auch diejenigen Namen welche, wie
oben erwähnt worden, zunächst einzelne Individuen nach ihren her
vorragenden Thaten und Lebensschicksalen beigelegt wurden, später
auf die Nachkommen übergehen, ebenso wie viele Namen deutscher
Adelsfamilien ihren Ursprung einem Verdienste des Urahn verdanken
und doch noch heute von den Nachkommen getragen werden, welche
sich nicht gleicher Verdienste rühmen können. Dass nach Verdien
sten und Lehensschicksalen Namen gebildet wurden, beweist schon
das Beispiel der ägyptischen Königstochter, welche das von ihr aus
dem Wasser gerettete Kind Mose, Mwü<rtj<; d. i. .«.co-OTr2c.e, ex aqua
servütum nannte. Ebenso finden sich die demotischen Namen NoHeM
Retter und PNoHeM der Retter, welchen letzteren Brugsch
irrthümlich durch Pa-NoHeM der des Retters übersetzte, wozu
um so weniger Grund vorhanden war, da im demotisch geschriebe
nen Namen nur der Artikel P, nicht aber das a des von ihm gele
senen Articulus possessivus Pa durch ein Lautzeichen ausgedrückt
ist. — Des Königs Cheops Name ferner, welchen die Denkmäler
Schufu nennen, ist ohne Zweifel von ujoiq desolare, desolatio
abzuleiten, da er es war, welcher sich durch dem ganzen Volke
auferlegte Zwangsarbeiten den Hass seiner Unterthanen zuzog, durch
Unterdrückung des Gottesdienstes, Schliessung der Heiligthümer
und Heranziehung aller Ägypter zur Arbeit an seiner Riesenpyramide
Tempel und Äcker öde machte und so die Wohlfahrt des Landes
untergrub. Auch Namen wie BiXXrjt; Blind (fieiVAe coecus) und
Icstp/wuc todtes Kind können ihren Ursprung nur besonderen
Lebensschicksalen ihrer ursprünglichen Träger verdanken. Viel
leicht dürfte hierher endlich auch der Name Bek-en-ranf Diener
seines Namens (Handb. IV. 2S8) gerechnet werden, welchen
Lepsius mit dem des Königs B6'/.yopa; der griechischen Schrift
steller verglichen hat und welcher sich schon unter Psammetich als
Name von Privatleuten findet.
Wollte man nun zum Schlüsse noch die Frage aufwerfen, ob
diese sieben angeführten sowohl den heiligen als auch den öffent
lichen und Privaturkunden entlehnten Eigennamenbildungen auf
gleiche Weise allen Ägyptern gemeinsam waren oder ob diese oder
jene derselben vorzugsweise einer besonderen Kaste oder einem
a
308
M. IJ h I e in n n n
besonderen Stande angehörte, so ist zunächst daran zu erinnern,
dass, wie der Verfasser mehrfach (z. B. Handb. III. 57) nachge-,
wiesen und wie allgemein anerkannt ist, die alte Bevölkerung Ägyptens
aus zwei verschiedenen Stämmen bestand, nämlich einmal aus dem
der Ureinwohner welche den Grund zu den niederen arbeitenden
Kasten des Volkes gelegt haben und den Abbildungen auf den Denk
mälern nach von schwarzer oder wenigstens dunkelbrauner Haupt-
farbe waren, und zweitens aus einer hellfarbigeren Race welche
ohne Zweifel in sehr früher Zeit jene unterjochte, ihre Herrschaft
auf die Macht geistiger Überlegenheit und höherer Cultur, beson
ders auf die der Religion begründete, Städte erbaute und Denkmäler
errichtete. Dieser letzteren Race gehörten die Priester und Krieger
an. Da nun aus diesen beiden Kasten die Königsfamilien hervor
gingen , da sie ausserdem die ganze Staatsverwaltung und alle prie-
sterlichen, richterlichen und weltlichen Ehrenämter an sich gerissen
und von denselben den unterworfenen dunkelfarbigeren Volksstamm
gänzlich ausgeschlossen hatten, demselben nur die Beschäftigungen
eines Nährstandes überlassend, so sind es auch die Priester und
Krieger, deren Namen vorzüglich auf Hieroglyphendenkmälern älterer
Zeit verewigt sind, während die der Kaufleute, Künstler, Hand
werker, Hirten und Schilfer zum grössten Theile gänzlich der Ver
gessenheit anheim gefallen sein würden, wenn uns nicht aus späterer
Zeit in demotischer oder Volksschrift abgefasste und mit griechi
schen Beischriften versehene Urkunden und Kaufcontracte aufbewahrt
wären, welche durch die Unterschriften von oft mehr als hundert
Zeugen auch Namen von Privatleuten in grosser Anzahl überliefert
haben. Bieten daher die Hieroglyphendenkmäler, sowie die Gräber,
Särge und Leichenstelen Vornehmerer grösstentheils Namen von
Priestern und Kriegern, so darf man sich aus diesen schon mit
einiger Gewissheit eine Ansicht über die Bildung der Namen der
Mitglieder dieser beiden Kasten bilden. Die vorliegende Untersu
chung hat gelehrt, dass die hieroglyphischen Namen fast ohne Aus
nahme nur der ersten, zweiten und sechsten Gattung der oben gege
benen Eintheilung angehören, d. h. dass dieselben nach Götternamen
gebildet sind oder ehrende und nur dem erobernden Stamme zukom
mende Eigenschaften und Titel ausdrücken. Die Priester waren es
vornehmlich, welche, wie dies schon von vorn herein zu vermuthen
war, ihre Namen nach denjenigen Göttern wählten, denen ihr Dienst
Über die Bildung der altägyptischen Eigennamen.
309
geweiht war, und welche sich daher Kinder, Geliebte, Fr eunde,
Angehörige, Diener oder Priester dieser oder jener Gott
heit nannten. Da aber die aus der Kriegerkaste hervo rgegangenen
Könige ebenfalls in die Priesterkaste aufgenommen und Diener beson
derer Gottheiten wurden, so nahmen auch sie ähnliche Priester
namen an, und selbst die Ptolemäer verschmähten es nicht, ausser
ihren griechischen Königsnamen sich altägyptische Priesternamen
beizulegen und auf Denkmälern verewigen zu lassen. Schon der
blödsinnige Philippus hiess „Auserwählter des Ra, Geliebter
Ammon’s, Sohn der Sonne“, Ptolemäus Philadelphus „Geliebt
von Ammon und Ra“, seine Gemahlinn Arsinoe „Aus er wählt
von Isis, geliebt von Athyr“, Ptolemäus Epiphanes „Geliebt
von Ptali“ {ßjfa7irjpsvo(; bno roü <?#a) u. s. w. Den Kriegern
kamen als Namen besonders ehrende Eigenschaftswörter zu, wie z.R.
Gross, Mächtig, Stark, Geständig, Kühn, oder in Zusam
mensetzungen „der starke Herr, Kräftig von Herzen, Gut
von Herzen“ u. s. w. Auch herrschte in diesen beiden Kasten,
wie sowohl die Königsdynastien (Handb. III. 97) als auch die Denk
mäler (Handb. IV. 298) lehren, die Sitte, den Namen des Gross
vaters auf den Enkel übergehen zu lassen, während der Sohn durch
Vorsetzung der Sylbe uje, griech. Sc oder Wi (Sohn, der Sohn)
oder Mas, Mes (natus) vor den Namen des Vaters als Sohn dessel
ben bezeichnet wurde, z. R. 'Se-MeN Sohn des Menes (des Ge
ständigen), Wevapevuxpic; Sohn des Amenophis, Wevnor]pt<;
Sohn des üoijpti; (des Grossen), Msaorjptt; Sohn des ’Oypcc
(des Grossen).
Die Nomina gentilicia und die von bürgerlichen Geschäften und
concreten Gegenständen abgeleiteten sind dagegen fast ohne Aus
nahme demotische, mithin Volksnamen. Für die Thatsache, dass
Nomina gentilicia auf einzelne Personen und Familien übertragen
wurden, lässt sich leicht eine Erklärung finden. Ein früherer Ein
wohner von Theben zog nach einer anderen ägyptischen Stadt und
wurde hier in seiner neuen Heimath von seinen Mitbürgern zur Un
terscheidung PReM-TaP der Mann von Theben genannt, wel
chen Namen er auch später beibehielt und welcher sogar auf seine
Nachkommen überging, nachdem dieselben längst an dem neuen
Wohnorte eingebürgert waren. Ebenso entstanden die Namen ITs-
rsvarjvtt; der Mann von Syene, Aoußau; der Libyer u. s. w.,
Sitzb. d. phil.-lüst. CI. XXXI. Bd. II. Hft. 21
310 M. U h 1 e in a n u, Über die Bildung der altägyptischen Eigennamen.
wie auch die deutschen: Leipziger, Berliner, Schwab,
Sachs, Preuss u. A. — Auch dass Handwerker, Künstler und
Gewerbtreibende aller Art sich ursprünglich nach ihrem Geschäft
und ihrer bürgerlichen Stellung benennen dessen, und diesen Namen
auf alle ihre späteren Nachkommen vererbten, hat nichts Auffallendes
oder Unnatürliches, da die deutschen Namen: Müller, Weber,
Fischer, Schulze, Schneider, Bretschneider, Schmidt,
Hirt und ähnliche ohne Zweifel gleichfalls der ursprünglichen Be
schäftigung des Stammvaters ihren Ursprung verdanken. Sehr gross
ist endlich die Anzahl derjenigen Volksnamen welche concreten Ge
genständen entlehnt sind, entweder nach willkürlicher Auswahl oder
wegen irgend einer scheinbaren Ähnlichkeit oder Beziehung des
Stammvaters zu dem gewählten Gegenstände. Ägyptische Namen
wie: Fliege, Sperber, Adler, Krokodil, Palme, Wein,
Nebel, Lippe, Berg, Meer, Hügel, also Namen von Thieren,
Pflanzen, Gliedern und örtlichen Bezeichnungen würden vielleicht
auffallen und sonderbar erscheinen können, dürften wir ihnen nicht
mit Recht ganz gleiche Namen berühmter Deutschen, wie Wolf,
Hahn, Stier, Strauss, Fichte, Ranke, Rosenkranz,
Locke, Stein, Seb. Bach an die Seite stellen. Aber allen diesen
Volksnamen gegenüber erscheinen die von den heiligen Gottheiten
hergeleiteten Priester-, Königs- und Kriegernamen auch als höhere
und erhabnere Benennungen, und diese könnten vielleicht nicht mit
Unrecht mit denen der Adelsfamilien neuerer Zeit verglichen wer
den, da sie schon auf den ersten Blick an ihrer äusseren Bildung
und Zusammensetzung ihre Träger als Abkömmlinge der herrschen
den hellfarbigeren, sogenannten activen, nur allein zu Priester-,
Staats- und Ehrenämtern berechtigten Race erkennen lassen.
Dr. Pfizmaier, Li-sse, der Minister des ersten Kaisers.
311
SITZUNG VOM 18. MAI 1859.
Gelesen:
Li-sse, der Minister des ersten Kaisers.
Von dem w. M. Herrn Dr. Pfizmaier.
Zu dem verderblichen Umschwung der Dinge, den die Begrün
dung der Weltherrschaft in China herbeiführte, hatte der Minister
Li-sse durch seine Rathschläge das Meiste beigetragen. Dieser,
übrigens mit grossen Fähigkeiten ausgestattete Mann befolgte den
Grundsatz, sich überall nach den Verhältnissen zu richten, den Wün
schen der Machthaber entgegen zu kommen, einzig um dadurch für
sich selbst die Vortheile der höchsten Stelle die er in dem Staate
bekleidete, zu sichern. Nachdem die Weltherrschaft, für deren
Verwirklichung er unablässig bemüht gewesen, endlich zu Stande
gekommen, that er alles was in seinen Kräften stand, um die
Wiederkehr der alten Ordnung unmöglich zu machen, ja selbst das
Andenken an die früheren Zeiten völlig zu verwischen. Auf Li-sse’s
Rath geschah es, dass der Kaiser des Anfangs den berüchtigten
Befehl erliess, in Folge dessen alle Bücher verbrannt und die
Freunde der alten Studien mit der grössten Strenge verfolgt wurden.
Li-sse scheint hier vergleichungsweise noch zur Milde geneigt
gewesen zu sein, da laut dem genannten Befehle diejenigen welche
nach Verlauf von drei Monaten die verbotenen Bücher noch nicht
abgeliefert hatten, nur zu dreijähriger Arbeit an dem Bau der gros
sen Mauer verurtheilt wurden, was in Betracht des Umstandes, dass
in Thsin fast auf jedes Verbrechen die Todesstrafe gesetzt war,
kein allzustrenges Vorgehen. Dass das Mass der Strafe überschritten
wurde, hatte seinen Grund in besonderen Verhältnissen. Das ganze
Streben des Kaisers, seitdem derselbe alle Reiche unter seiner
21 *
312
Dr. Pfizmaier
Herrschaft vereinigt, war nämlich dahin gerichtet, ein Mittel für die
Unsterblichkeit zu finden. Er schickte Tausende von Menschen und
Schiffen in das Meer, mit dem Aufträge, gewisse Inseln, wo die
Pflanze der Unsterblichkeit wachsen sollte, aufzusuchen. Als man
hiervon nicht sogleich einen Erfolg sah, wurden gleichzeitig Hun
derte von Gelehrten nach Hien-yang berufen, woselbst sie mit Aus
zeichnung behandelt wurden und ihnen die Aufgabe zu Theil ward,
mit Hilfe der von der Verbrennung ausgeschlossenen erlaubten
Bücher ein Mittel zu finden, wodurch die Pflanze der Unsterblich
keit entdeckt oder nöthigenfalls hervorgebracht werden könnte. Die
Empfindlichkeit des Kaisers wuchs mit der Erfolglosigkeit dieser
Bemühungen, und derselbe machte zuletzt seinem Unwillen Luft,
indem er eine Menge Personen welche ihm bei der Erreichung
seines Zieles vermeintlich im Wege gestanden waren, hinrichten
liess. Als hierauf die zwei Vorsteher der versammelten Gelehrten
die Flucht ergriffen, ward eine strenge Untersuchung angeordnet, in
Folge deren vierhundert sechzig Gelehrte welche sich, des kaiser
lichen Verbotes ungeachtet, mit alten Studien beschäftigt hatten,
durch Verschüttung getödtet wurden.
Der Kaiser des Anfangs starb bald nach dieser Handlung der
Grausamkeit in seinem neun und vierzigsten Lebensjahre (210 vor
Chr.). In den Nachrichten welche über Li-sse vorgefunden werden,
erscheint dieser als ein Mann, der nach dem Tode des ersten Kaisers
seine Gesinnung durchaus zum Guten gewechselt hat, beinahe als ein
Vorkämpfer der Menschlichkeit und Gerechtigkeit, der nur in das
unbedingt Nothwendige mit Widerstreben sich fügt. Im Grunde je
doch blieb Li-sse, was er immer gewesen, ein Werkzeug der Will
kürherrschaft. Dass er jetzt mit den Verhältnissen in Widerspruch
gerieth, lag in eben diesen Verhältnissen selbst, welche sich so zum
Schlimmen gewendet hatten, dass selbst ein Li-sse nicht verdorben
genug war, sich ihnen fügen zu können. Die Umstände schufen ihm
einen Gegner in der Person des Ministers Tschao-kao, der übrigens
nicht, wie an irgend einem Orte angegeben worden, ein Mitglied des
Hauses Tschao, sondern nur ein Träger des Familiennamens war.
Tschao-kao, der sich zu Li-sse so verhielt, wie der Kaiser des
zweiten Geschlechtsalters zu dem des Anfangs, zeigte bald, dass es
noch etwas Ärgeres geben könne, als blosse Werkzeuge der Will
kürherrschaft. Tschao-kao war es, der Li-sse beredete, in die Ernen-
Li-sse, der Minister des ersten Kaisers.
313
nung des Prinzen Hu-kiai zum Nachfolger zu willigen, worauf der für
tugendhaft gehaltene rechtmässige Thronfolger Prinz Fu-su ein To-
desurtheil von Seite des verstorbenen Vaters zugesendet erhielt. Li-sse
wendete gegen dieses fälschlich im Namen des ersten Kaisers ausge
stellte Todesurtheil nichts ein, ebenso hatte er keine Worte bei den
in solcher Ausdehnung unerhörten Gräueln von Hien-yang, wo bei der
Feier des Leichenbegängnisses Tausende lebender Menschen zugleich
mit dem verstorbenen Kaiser begraben wurden. Gleichwohl ward er
von Tsehao-kao seiner menschlichen Gesinnungen willen gehasst.
Hu-kiai, der jetzt unter dem Namen eines Kaisers des zweiten
Geschlechtsalters den Thron bestieg, befolgte in allen Stücken den
Rath Tschao-kao’s. Er verurtheilte zur Hinrichtung die meisten Mit
glieder des kaiserlichen Hauses, so wie die früheren Minister seines
Vaters, verschärfte die Gesetze, rottete ganze Geschlechter aus, wor
auf endlich, als Niemand mehr seines Lebens sicher war, sämmtliche
im Osten von Thsin gelegenen Provinzen sich zum Aufstand erhoben.
Tschao-kao benützte die kurze Frist, während welcher die Heere der
Aufständischen, für den Augenblick geschlagen, sich von den Grenzen
von Thsin zurückzogen, um Li-sse des Einverständnisses mit den
Anführern der Empörer zu beschuldigen. Li-sse ward in einen Kerker
geworfen, daselbst auf das Grausamste behandelt und zuletzt in
Hien-yang sammt seinem zweiten Sohne öffentlich hingerichtet
(208 vor Chr.). Die drei Seitenlinien des verurtheilten Ministers
wurden, wie dies in solchen Fällen üblich war, ebenfalls ausgerottet.
Tschao-kao überlebte seine Amtsgenossen nicht lange. Nach
dem er in der Absicht, sich zum Kaiser aufzuwerfen, eine Verschwö
rung angezettelt und den Kaiser des zweiten Geschlechtsalters ge
zwungen, sich selbst das Leben zu nehmen, ward er auf Befehl des
Prinzen Tse-ying, den er nach Vereitelung seiner ursprünglichen
Absicht zum Nachfolger einsetzen musste, getödtet und seine drei
Seitenlinien ebenfalls ausgerottet (207 vor Chr.). Noch in demselben
Jahre eroberte Hiang-yü, der Anführer der Aufständischen, die
Hauptstadt Hien-yang, worauf Prinz Tse-ying enthauptet wurde
und die durch die blutigen Ereignisse mehrerer Jahrhunderte mühe
voll geschaffene Dynastie Thsin ihr Ende erreichte.
iS
sr
7~
314
Dr. F f i l in a I e r
^ Li-sse war ein Eingeborner von Schang-tsai 4 ), wel
ches damals Gebiet des Reiches Tsu. In seiner Jugend war er eine
der untergeordneten richterlichen Personen seines Bezirkes. Daselbst
hatte er bemerkt, dass die in der Cloake des Amtsgebäudes sich aufhal
tenden Ratten Unreinigkeiten verzehrten und dass Menschen und auch
Hunde, wenn diese mit ihnen in Berührung kamen, sich häufig vor
ihnen entsetzten. Li-sse begab sich hierauf in die Vorrathskammer
und sah, wie die daselbst sich aufhaltenden Batten das aufgespei
cherte Getreide verzehrten. Während er jetzt unter dem grossen
Wetterdach beobachtend stand, konnte er durchaus nicht bemerken,
dass Menschen oder auch Hunde gegen jene Thiere einen Wider
willen empfunden hätten. Li-sse sagte, nachdem er diese Erfahrung
gemacht, zu sich selbst: Wenn die Weisheit des Menschen entartet,
so lässt er sich vergleichen mit der Ratte. Es handelt sich darum,
wo er seinen Aufenthalt nimmt.
Dieser Ansicht gemäss einen Entschluss fassend, widmete er
seine Dienste dem Reichsminister ^ Siiin und lernte zugleich die
Regierungskunst der alten Kaiser und Könige. Nachdem er diese
Wissenschaft vollständig erlernt, erwog er, dass es sich für ihn
nicht der Mühe lohne, seinem Landesfürsten, dem Könige von Tsu
zu dienen, und dass unter den sechs Reichen der damaligen Zeit,
welche sämmtlich schwach waren, keines, in dem er sich grosse
Verdienste erwerben könne. Er richtete daher seine Blicke nach
Westen, indem er sich in das Reich Thsin zu begeben gedachte.
Vorher nahm er von seinem bisherigen Gebieter, dem Reichs
minister Siün, Abschied mit folgenden Worten: Ich habe gehört:
Wem die Gelegenheit ward, darf nichts versäumen. Jetzt befinden
sich die zehntausend Wagen mit einander im Streite, die wandern
zur rechten Zeit, leiten die Angelegenheiten. Jetzt will der König
von Thsin verschlingen die Welt, sich nennen Kaiser und ordnen
die Regierung. Dies ist die Zeit des Einhersprengens in baum
wollenen Kleidern und der Herbst der wandernden Redner. Wer steht
auf einer niedrigen Stufe und dafür keinen Rath schafft, der ist
*) Der noch heute diesen Namen führende District des Kreises Ju-ning, Provinz Ho-
nan. Derselbe ist Gebiet des früheren selbstständigen Reiches Tsai.
Li-sse, der Minister des ersten Kaisers.
315
nichts anderes, als ein gefangener Hirsch, ein sehendes Fleisch *),
die begabt mit dem Antlitz eines Menschen und im Stande mit Kraft
zu wandeln. Aber keine Schmach ist grösser als die Niedrigkeit, und
uiiter den bedauerlichen Dingen ist keines ärger als Rathlosigkeit
und Erschöpfung. Lange verweilen auf einer niedrigen Stufe, in
dem Lande der Mühsal, nicht weil man in dem Zeitalter abhold dem
Nutzen, sondern weil man selbst sich ergibt der Unthätigkeit, dies
ist nicht die Leidenschaft ausgezeichneter Männer. Desswegen werde
ich mich wenden nach Westen und sprechen mit dem Könige von
Thsin.
Als Li-sse in Thsin ankam, ereignete es sich eben, dass Tschuang-
siang, der König dieses Reiches, starb (247 vor Chr.). Da der neue
König noch sehr jung war, so trachtete Li-sse vorerst, als Haus
genosse Liü-pü-wei s, Fürsten von Wen-sin und Reichsgehilfen von
Thsin, aufgenommen zu werden. Der Reichsminister wusste die
Gaben des Ankömmlings zu würdigen und verlieh diesem die Stelle
eines Kämmerers 2 ).
In seiner neuen Würde gehörte Li-sse zu der Umgebung des
Königs, und er nahm eines Tages die Gelegenheit wahr, um seinem
Gebieter Folgendes vorzutragen : Wer umgeht mit Menschen, ent
fernt einige von ihnen. Wenn man verrichten will grosse Thaten,
so handelt es sich darum, dass man sich zu Nutzen mache dieBlössen
und sogleich darüber Macht gewinne. Was wohl die Ursache, dass
einst Mo, Fürst von Thsin, in seiner Oberherrlichkeit durchaus nicht
im Osten an sich ziehen konnte die sechs Reiche? Die Fürsten der
Reiche waren noch eine Menge, die Tugend von Tscheu war noch
nicht geschwunden. Desswegen erstanden nach einander die fünf
Oberherren und ehrten abwechselnd das Haus der Tscheu. Seit den
Zeiten des Fürsten Hiao von Thsin ist das Haus der Tscheu klein
und niedrig, die Fürsten der Reiche fassten einer den andern, und
im Osten des Passes blieben noch sechs Reiche. Dass Thsin sich zu
*) „Das sehende Fleisch“ ist ein Thier von der Gestalt einer Rindsleber, welches zwei
Augen besitzt. Wenn man es verzehrt und einen Theil davon übrig lässt, so ersetzt
sich die verlorene Masse, und der Körper des Thieres wird wieder, so wie er früher
gewesen.
königlichen Kämmerers.
316
Dr. Pfizmaier
Nutzen macht seine Siege und knechtet die Fürsten der Reiche, sind
bereits sechs Geschlechtsalter. Jetzt sind die Länder der Reichs
fürsten unterworfen Thsin gleich Landschaften und Bezirken. Wenn
mit der Stärke von Thsin, mit der Weisheit des grossen Königs man
davon ausgeht, dass reingefegt werde die Höhe des Heerdes, so ist
dies hinreichend zur Vernichtung der Fürsten der Reiche. Dass
geübt werde die Beschäftigung eines Kaisers, dass in der Welt eine
einzige Regierung, hierzu ist dies die einzige Gelegenheit in
einem Zeiträume von zehntausend Geschlechtsaltern. Wenn man es
jetzt versäumt und sich nicht beeilt, so werden die Fürsten der
Reiche wieder erstarken, sie werden sammeln ihre Macht und gegen
seitig sich erklären für den Anschluss. In diesem Falle mag man
selbst besitzen die Weisheit des gelben Kaisers, man wäre nicht im
Stande, einzuverleihen deren Länder.
Der König von Thsin, diesen Worten seinen Beifall zollend,
ernannte Li-sse zum ältesten Geschichtschreiber ’) und befolgte
fortan dessen Rath. Er entsandte, um die von Li-sse entworfenen
Pläne zur Ausführung zu bringen, eine gewisse Anzahl geeigneter
Staafsdiener welche, Gold und Edelsteine mit sich führend, in den
Ländern der Reiehsfürsten umherreisten und von ihren Rednergaben
zum Vortheii des Reiches Thsin Gebrauch machten. Die ausgezeich
neten Staatsdiener welche sich in diesen Ländern befanden und
durch Anerbieten von Gut zu gewinnen waren, wurden durch reiche
Geschenke au die Sache von Thsin gefesselt, diejenigen welche
sich weigerten, Thsin zu dienen, wurden mit scharfen Schwertern
angefallen und nöthigenfalls gezwungen, das Verhältnis zu ihren
Landesherren aufzugeben. Um die Sendlinge in ihrem Beginnen zu
unterstützen, hiess Thsin seine besten Feldherren mit Kriegsmacht
ihnen auf den Fersen folgen. Li-sse wurde jetzt zum gastenden
Reichsminister ernannt.
Um diese Zeit kam der Wasserbaukünstler J^J jpj] Tsching-
kue, ein Eingeborner des Reiches Han, nach Thsin, woselbst er
mit Erlaubnis der Regierung die Wasser des Flusses King ableitete
und in einer grossen Ausdehnung Wassergräben anlegte. Sein vor-
Tschang-sse, eine neue Würde der damaligen Zeit, welche auch noch
unter der Dynastie Han forlbestand.
Li-sse, der Minister des ersten Kaisers.
317
geschützter Zweck bei diesem Unternehmen war die Fruchtbar
machung des Landes, in Wahrheit jedoch handelte Tsching-kue im
Aufträge des Königs yon Han, der hierdurch dem Reiche Thsin bei
dessen Eroberungszügen Hindernisse in den Weg zu legen gedachte.
Als man zuletzt die wahre Absicht des Fremdlings erkannte 1 ),
wandten sich alle Verwandten des königlichen Hauses und die gros
sen Würdenträger mit Vorstellungen an den König von Thsin, in
dem sie sprachen: Die Menschen aus den Ländern der Fürsten der
Reiche, welche kommen nach Thsin und daselbst dienen, wandern
im Allgemeinen nur im Aufträge ihrer Gebieter, um Einflüsterungen
zu machen in Thsin. Wir bitten, dass man die Gäste insgesammt
vertreibe.
Der König ertheilte diesem Rathe seine Zustimmung, in Folge
dessen sich auch Li-sse unter der Zahl der zurVerbannung bestimm
ten Personen befunden haben würde. Der gastende Reichsminister
übersandte daher dem Könige das folgende Schreiben:
Ich habe gehört, dass die richterlichen Personen beschlossen
haben, die Gäste zu vertreiben. Ich vermesse mich, dies für einen
Fehler zu halten. Einst suchte Fürst Mo Diener des Staates. Im
Westen nahm er Yeu-yü ~) von den westlichen Barbaren. Im Osten
erhielt er Pe-li-hi aus Yuen. Er Hess abholen Khien-scho aus Sung.
Er suchte Pei-piao 3 ) und den Fürstenenkel Tschi in Tsin. Diese
fünf Männer waren nicht geboren in Thsin, aber Fürst Mo verwen
dete sie. Er bewirkte die Einverleibung von zwanzig Reichen und
ward hierauf Oberherr der westlichen Barbaren.
Fürst Hiao richtete sich nach den Gesetzen Yang’s vonSchang 4 ).
Er verpflanzte die Sitten, veränderte die Gewohnheiten. Das Volk
gelangte zu Ansehen und Grösse, das Reich zu Wohlstand und
A ) Nach dem Buche der Wassergräben wollte Thsin den Wasserbaumeister Tsching-kue
hinrichten lassen. Als dieser jedoch die Nützlichkeit seines Unternehmens bewies,
durfte er die Bewässerung des Landes in einem noch grösseren Umfange ausführen,
wodurch der Wohlstand des Reiches Thsin auf ungewöhnliche Weise vermehrt wurde.
i. 2 ) Uber Yeu-yü und die zwei zunächst genannten Männer ist in einer Anmerkung zu dem
Aufsatze: „Der Landesherr von Schang“ Nachricht gegeben worden.
3) ^ ]E Pei-piao ist der Sohn Pei-tsching’s von Tsin.
^ Tschi heisst sonst auch Tse-sang.
4 ) Yang von Schang ist der Landesherr von Schang.
Der Fürstenenkel
318
Dr. P f i z m a i e r
Kraft, die hundert Familien hatten Freude die Gesetze zu üben.
Die Fürsten der Reiche näherten sieh in Freundschaft und unter
warfen sich. Man nahm gefangen die Heere von Tsu und Wei, man
nahm hinweg Land tausend Meilen. Bis auf den heutigen Tag ist
die Regierung stark.
König Hoei befolgte den Rath Tschang - J's 1 ). Er entriss das
Land der drei Ströme. Im Westen bewirkte er die Einverleibung
von Pa und Scho. Im Norden zog er an sich die obere Landschaft.
Im Süden eroberte er Han-tschung, raffte zusammen die neun Länder
der östlichen Barbaren, schaffte Ordnung in Yen und Ying. Im Osten
stützte er sich auf die steilen Anhöhen von Tsching-kao a ), trennte
los die fette Erde. Hierauf löste er das Bündniss der sechs Reiche
und bewirkte, dass sie, das Gesicht gekehrt nach Westen, ihre
Dienste widmeten Thsin. Das kriegerische Verdienst erstreckt sich
bis auf die gegenwärtige Zeit.
König Tschao gewann Fan-hoei. Er setzte ab den Fürsten von
Jang, er vertrieb Hoa-yang 3 ), er machte erstarken des Herrschers
Haus, er verschloss die Thore der besonderen Häuser. Er nagte
wie ein Seidenwurm an den Ländern der Fürsten der Reiche, er
bewirkte, dass dem Herrscher von Thsin zu Theil wurde der Beruf
eines Kaisers.
Diese vier Landesherren machten sich zu Nutzen die Verdienste
der Gäste. Betrachtet man demgemäss die Sache, wie könnten da
die Gäste den Rücken kehren Thsin? Gesetzt diese vier Landesherren
hätten zurückgeworfen die Gäste und sie nicht aufgenommen in dem
Lande, gesetzt sie hätten von sich fern gehalten die Staatsdiener
und sie nicht verwendet, so hätten sie bewirkt, dass das Reich nicht
erlangt hätte die Wesenheit des'Wohlstandes und des Nutzens, und
Thsin wäre nicht zu Theil geworden der Name der Stärke und
Grösse.
Jetzt lässest du, o König, bearbeiten die Edelsteine des Berges
Kuen, du besitzest die Kostbarkeiten der Bezirke Sui und Ho, du
Tschang-I, ein wandernder politischer Redner, der es ebenfalls zu
grosser Berühmtheit brachte.
2 ) rp Tsching-kao, der heutige District Khi-schui, Kreis Khai-fung.
Provi»2 Ho-nan.
3 ) Den Fürsten von Hoa-yang, des Königs eigenen Bruder.
Li-sse, der Minister des ersten Kaisers.
319
lassest herabhängen Perlen des glänzenden Mondes, du umgürtest
dich mit Schwertern der grossen Ufer, du lässest die Wagen be
spannen mit feinen, gefleckten Pferden, du lässest aufpflanzen Fahnen
aus Federn des Paradiesvogels, in Reihen stellen Trommeln aus der
Haut der Robben. Diese kostbaren Dinge, Thsin erzeugt von ihnen
nicht eines; warum aber findest du, o König, an ihnen Gefallen ?
Wenn etwas erst hervorgebracht werden musste von dem Reiche
Thsin, ehe man sich dessen dürfte bedienen, so würden die in der
Nacht leuchtenden Rundtafeln nicht schmücken Hof und Halle. Die
Geräthe aus dem Horne des Nashorns und aus Elfenbein dienten nicht
als Kleinodien. Die Töchter der Reiche Tsching und Wei 4 ) würden
nicht bewohnen dieRückseite des Palastes. Die schnellen, trefflichen
und leichtfüssigen Rosse würden nicht erfüllen den äusseren Theil
des Marstalls. Der Metalle und des Zinnes aus dem Süden des
Stromes würde man sich nicht bedienen. Der Mennig und das Grün
aus dem westlichen Scho wäre kein bunter Schmuck. Wenn das
jenige womit man schmückt die Rückseite des Palastes, womit man
ausfüllt die niederen Reihen der Gemächer, was erfreut das Herz
und gefällig ist für Ohr und Auge, erst hervorgebracht werden
müsste in Thsin, ehe man sich dessen dürfte bedienen, so würden die
grossen Haarnadeln aus Perlen von Yuen 2 ), die Ohrgehänge aus ge
reihten Tropfperleri, die Kleider aus O-kao 3 ). die Zier der golde
nen Stickwerke nicht gebracht werden in deine Nähe, und der Ge
wohnheit gemäss mit zierlichen Veränderungen in dem trefflichen
Putz würde die liebliche Tochter von Tschao nicht stehen zur Seite.
Klopfen auf den Krug, ertönen lassen den Topf, spielen die zwölf-
saitige Laute, schlagen die Hüften, singen und rufen U-U 4 ), er
freuen Ohr und Auge, dies sind die echten Töne von Thsin. Die
Lieder von Tsching und Wei, das Lied zwischen den Maulbeer
bäumen, das Lied glänzend und ruhig, die kriegerische Gestalt,
dies ist die Tonkunst fremder Reiche. Jetzt hat man aufgegeben
4 ) Das kleine Reich Wei.
j-i- ^
2 ) Der District Yuen in Tsu.
O-kao, ein Gebiet des Reiches Tsi, ist der heutige District Tung-Ö,
Kreis Thai-ngan in Schan-tung.
4 ) Der Gesang, in dem die Töne
Thsin eigentümlich.
U-U vorkamen, war dem Reiche
320
Dr. P f i z m a i e r
das Klopfen auf den Krug, das Ertönenlassen des Topfes und singt
die Lieder von Tsching und Wei. Man vernachlässigt das Spiel der
zwölfsaitigen Laute und wählt das Lied glänzend und ruhig. Warum
dieses der Fall? Man erheitert den Sinn durch das was eben vor
uns, und geht hinzu, um zu sehen, nichts weiter.
Wenn man jetzt wählt die Menschen, handelt man anders. Man
überlegt nicht, ob man dürfe oder nicht. Man überlegt nicht, ob es
recht oder unrecht. Wer nicht aus Thsin ist, wird entfernt. Wer
ein Gast ist, wird vertrieben. Somit kommt es, damit etwas geschätzt
werde, darauf an, dass es Farben seien, Musik, Perlen und Edel
steine. Damit aber etwas verachtet werde, kommt es darauf an, dass
es Menschen seien und Volk. Hierdurch setzt man nicht die Füsse
über das was innerhalb der Meere, und es ist nicht die Kunst, Ord
nung zu schaffen unter den Fürsten der Reiche.
Ich habe gehört: Wenn das Land ausgedehnt, ist des Getreides
viel. Wenn das Reich gross, sind die Menschen eine Menge. Wenn
die Kriegsmacht stark , sind die Streiter muthig. Diesem gemäss
weicht der Bei’g Thai-san nicht vor einem Fleck Erde; desswegen
ist er im Stande, zu begründen seine Grösse. Der gelbe Fluss und
das Meer entscheiden sich nicht für kleine Strömungen ; desswegen
sind sie im Stande, auszubilden ihre Tiefe. Wer als König herrscht,
stösst nicht von sich die Menge; desswegen ist er im Stande, in
das Licht zu setzen seine Tugend. Diesem gemäss gibt es für die
Erde keine vier Weltgegenden, für das Volk keine fremden Reiche.
Die vier Jahreszeiten sind voll trefflicher Eigenschaften, Götter und
Geister senden hernieder Segen. Hierdurch sind die fünf Kaiser, die
drei Könige geblieben ohne Gegner. Jetzt aber setzt man zurück das
Volk und hält sich dafür an feindliche Reiche. Man stösst von sich
die Gäste und gibt Beschäftigung den Fürsten der Reiche. Man be
wirkt, dass die Staatsdiener der Welt sich zurückziehen und es nicht
wagen, sich zu wenden nach Westen. Man bindet ihnen die Füsse
und lässt sie nicht eintreten in Thsin. Dies ist, was man nennt leihen
Waffen den Mördern und kaufen Mundvorrath für die Räuber.
Der Dinge die nicht hervorgebracht wurden in Thsin, die aber
dienen können als Kostbarkeiten, sind viele. Der Staatsdiener die
nicht geboren wurden in Thsin, die aber wünschen, an den Tag zu
legen ihre Redlichkeit, sind eine Menge. Wenn man jetzt vertreibt die
Gäste und dafür aufnimmt feindliche Reiche, wenn man Schaden bringt
Li-sse, der Minister des ersten Kaisers
321
über das Volk und vermehrt die Macht der Feinde, so bleibt das
Innere leer, aber nach aussen pflanzt man Hass bei den Fürsten der
Reiche. Strebt man darnach, dass das Reich ohne Gefahr, so lässt
sich dies nicht erreichen.
Dieses Schreiben hatte zur Folge, dass der König von Thsin
den Befehl hinsichtlich der Austreibung der Gäste rückgängig machte
und Li-sse wieder in sein früheres Amt einsetzte. Zuletzt befolgte
der König auch die Rathschläge des Fremdlings, der gegen zwanzig
Jahre in Staatsdiensten verblieb und bis zu der Würde eines „Beru-
higers des Vorhofes“ J ) emporstieg.
Als endlich in seinem sechs und zwanzigsten Regierungsjahre
(221 vor Chr.) der König von Thsin alle übrigen Reiche dem seinigen
einverleibt hatte und sich den Kaisertitel beilegte, ernannte er Li-sse
zum Reichsgehilfen 3 ). Die Verhältnisse der chinesischen Welt er
fuhren jetzt eine gänzliche Umgestaltung. Unter anderem wurden die
in den Provinzen und Districten gelegenen Festungen zerstört und die
daselbst Vorgefundenen Waffen eingeschmolzen. Man wollte dadurch
zu verstehen geben, dass man ihrer nicht mehr bedürfe. Ebenso ward
von Thsin nicht ein Fuss breit Landes zu Lehen bestimmt. Der Kaiser
setzte weder seine Sühne und Brüder zu Königen, noch seine ver
dienstvollen Minister zu Reichsfürsten ein, angeblich damit die Welt
fortan vou den Leiden der Kämpfe und Angriffe verschont bleibe.
Im vier und dreissigsten Jahre seiner Regierung (213 vor Chr.)
gab der Kaiser des Anfangs, der über das Barbarenvolk der Hiung-nu
bedeutende Vortheile errungen und die grosse Mauer vollendet hatte,
ein grosses Fest in dem Palaste seiner Hauptstadt Hien-yang, wobei
er das Volk bewirthen liess. Bei dieser Gelegenheit überreichten
siebzig Hofgelehrte dem Kaiser folgende Lobschrift: In früheren
Zeiten hatte das Gebiet von Thsin im Umfange nicht mehr als tausend
Meilen. Seit es sich verlassen auf des Kaisers göttlichen Geist, auf
dessen glänzende Weisheit, hat es beruhigt und befestigt alles was
D Ting-wei (der Beruhigen des Vorhofes) eine neugeschaffene Würde.
Uer Inhaber derselben hatte in Streitigkeiten sowohl des Bürger- als des Krieger
standes Recht zu sprechen. Die Verhandlungen geschahen öffentlich und in dem Vor
hofe des königlichen Palastes, daher der Name.
2 ) Ein solcher ward unter der Regierung des neuen Kaisers 111 Sching-siang
genannt. Dieselbe Würde, welche derjenigen eines Ueichsministers entsprechen
mochte, bekleideten jedoch zu gleicher Zeit mehrere Personen.
322
Dr. P f;i zmai er
innerhalb der Meere, verbannt und vertrieben die Stamme der Bar
baren. Unter dem was beleuchtet wird von Sonne und Mond, ist
nichts das nicht entgegenkommt, sich zu unterwerfen. Die Länder
der Fürsten der Reiche wurden verwandelt in Landschaften und
Bezirke. Allen Menschen ward zu Theil Ruhe und Friede, sie haben
keine Sorge wegen Kampf und Streit. Sie setzen es fort durch
zehntausend Geschlechtsalter. Seit dem frühesten Alterthume ward
nicht erreicht des Kaisers Kraft und Tugend.
Der Kaiser des Anfangs fand sich durch diese Lobschrift ge
schmeichelt. Ein anderer Hofgelehrter, ein Eingeborner des früheren
Reiches Tsi, Namens yt? Tschün-yü-yue, machte jedoch
dem Kaiser folgende Vorstellung: Ich habe gehört: die Könige der
Herrscherhäuser Yin und Tscheu haben durch tausend Jahre ein
gesetzt in die Lehen Söhne und jüngere Brüder, verdienstvolle
Minister und sich dadurch geschaffen eine Stütze. Jetzt besitzt der
Kaiser alles was innerhalb der Meere, aber dessen Söhne und jün
gere Brüder sind gemeine Menschen. Wenn es einmal Minister geben
sollte gleich Tien-tschang *) und den sechs Reichsministern 3 ), wie
könnte man dann, ohne dass es eine Stütze gibt, sich gegenseitig zu
Hilfe kommen? Von Dingen, bei denen man sich nicht gehalten hätte
an die Lehren des Alterthums und die fähig gewesen wären der
Dauer, habe ich noch nicht gehört. Wenn jetzt Tsing-tschin 3 ) noch
schmeichelt in’s Angesicht und hochschätzt die Fehler des Kaisers,
so ist er kein redlicher Minister.
Der Kaiser verlangte hierüber das Gutachten seiner Minister,
worauf der Reichsgehilfe Li-sse folgenden merkwürdigen Bericht
erstattete: Die fünf Kaiser brachten einander keine Meldungen. Die
drei Herrscherhäuser machten gegenseitig keine Eingriffe. Jeder Ein
zelne brachte die Dinge zur Ordnung, es geschah nicht, dass man
zuwiderhandelte den Veränderungen der Zeit. Wenn jetzt der Kaiser
*) Tien-tschang tödtete (481 vor Ghr.) den Fürsten Kien von Tsi, erhob hieraijf dessen
Bruder, den Fürsten Ping, und riss als Reichsgehilfe des letzteren alle Macht des
Reiches Tsi an sich.
2 ) Die sechs Reichsminister des früheren Reiches Tsin, sechs verschiedenen Geschlech
tern angehörig, rissen ebenfalls zu verschiedenen Zeiten alle Macht des Reiches Tsin
an sich.
15
n
Tsing-tschin hatte
Kaiser überreicht.
die Lobschrift im Namen der Hofgelehrten dem
Li-sse, der Minister des ersten Kaisers.
323
vorgeschnitten hat die Master zu grossen Beschäftigungen, begrün
det die Verdienste für zehntausend Gesehlechtsalter, so ist dies sicher
etwas was unwissende Lernende nicht begreifen. Auch ist das was
Yue spricht, Sache der drei Herrscherhäuser: wie verdiente es wohl,
dass man sich darnach richte?
In früheren Zeiten stritten mit einander die Fürsten der Reiche,
sie riefen in grossem Massstabe zu sich wandernde Lernende. Jetzt
ist die Welt bereits befestigt, Vorschriften und Verordnungen kommen
von einem einzigen Orte. Die hundert Familien sollen in ihren Häusern
sich befleissen des Ackerbaues und der Künste. Die Staatsdiener
sollen lernen die Vorschriften und Verordnungen, vermeiden das
jenige was verboten. Wenn jetzt die Lernenden sich nicht halten an
die Lehren der Gegenwart, sondern nachahmen das Alterthum und
dadurch des Unrechts zeihen das gegenwärtige Zeitalter, so bringen
sie in Verwirrung und Unordnung das Volk, und ich der Reichs
gehilfe und Minister sterbe verdunkelt. Indem man spricht von dem
Alterthum, geht die Welt aus einander in Unordnung, und Niemand
ist im Stande sie in ein Ganzes zu bringen. Aus diesem Grunde ver
fertigten die Fürsten der Reiche Bücher der Worte i). Alle Hessen
sich leiten von dem Alterthum und schadeten dadurch der Gegen
wart. Sie putzten heraus eitle Worte und brachten dadurch Ver
wirrung in die Wirklichkeit. Die Menschen schenken Beifall dem
jenigen was sie einseitig lernen, und halten für Unrecht, was die
Höheren aufgestellt.
Jetzt hat der erhabene Kaiser in Besitz genommen alle Reiche
der Welt. Er unterscheidet das Weisse von dem Schwarzen und
bestimmt Alles zur Einheit. Wenn diejenigen die geehrt sind, ein
seitig lernen, so missbilligen sie unter sich die Vorschriften und
Lehren. Sobald die Menschen hören, dass eine Verordnung erlassen
worden, so beurtheilt sie ein Jeder nach dem was er einseitig
gelernt. Treten sie ein an dem Hofe, so tragen sie Missbilligung in
dem Herzen. Treten sie aus, so sprechen sie darüber auf den Stras
sen. Den Gebieter geringschätzen, halten sie für rühmlich. Verschie
dener Meinung sein, halten sie für einen Vorzug. Sie stellen sich an
die Spitze der Niederen und befassen sich mit Schmähworten. Wenn
l ) Die Worte der Reiche, d. i. die verschiedenen Reichsgeschichten welche die Fürsten
verfertigen Hessen.
324
Dr. P f i z m a i e r
man dies nicht verbietet, so wird die Macht des Gebieters so tief
sinken, dass die Genossen der Höheren Vortheile erreichen, wenn
Verbote erlassen werden.
Ich bitte, dass die Bücher der Geschichtschreiber, welche nicht
enthalten Denkwürdigkeiten von Thsin, sämmtlich verbrannt werden.
Bücher welche nicht bezeichnet sind von den Gelehrten des Hofes,
wenn man in der Welt es wagen sollte, sie aufzubewahren, wie
Gedichte, Bücher der Geschichte, Worte der hundert Häuser, so
werden sie sämmtlich gebracht vor die Behörden der Aufsicht und
verbrannt ohne Unterschied. Diejenigen welche es wagen sollten,
in Gesellschaft zu sprechen von Gedichten, Büchern der Geschichte,
oder sie zu werfen auf den Markt, um mit Bezug auf das Alterthum
des Unrechts zu zeihen die Gegenwart, ferner die Personen der
Gerichte, welche dies sehen und wissen, aber die Gegenstände nicht
wegnehmen, alle diese sind verfallen einer gleichen Schuld. Wer
dreissig Tage nach dem Erlasse des Befehles nicht verbrannt hat die
Bücher, werde gebrandmarkt mit Tinte und eideide die Strafe des
Morgens der Mauer 1 ). Was nicht entfernt wird, seien Bücher der
Arzneikunst, der Wahrsagekunst und solche die handeln von der
Zucht der Pflanzen. Will Jemand erlernen die Gesetze, so nehme er
zu Lehrern die Personen der Gerichte.
Der Kaiser ertheilte diesem Ratlie seine Zustimmung, worauf
ein Befehl erlassen wurde, der die Verbrennung sämmtlicher Bücher
anordnete. Die vorhandenen Gesetze wurden jetzt untersucht, die
Verordnungen näher bestimmt, was ebenfalls das erste Mal unter
diesem Kaiser geschah. Die Abschriften der verschiedenen Erlässe
wurden in besonderen Gebäuden geordnet, ehe sie in die Öffentlich
keit geschickt wurden.
Li-sse war auf diese Weise in Thsin zu grossem Ansehen
gelangt. Sein ältester Sohn Li-yeu war Statthalter des Ge
bietes der drei Flüsse. Alle seine Söhne waren übrigens mit Töch
tern des kaiserlichen Hauses, so wie seine Töchter mit Prinzen des
Hauses Thsin vermählt. Als er aus Anlass der Rückkehr seines
Sohnes Li-yeu nach Hien-yang, der Hauptstadt von Thsin, in seinem
*) Diese Strafe, deren Dauer auf vier Jahre festgesetzt war, bestand darin, dass die
Verurtheilten nach den nördlichen Grenzen geschickt wurden , wo sie jeden Morgen
aufstehen und bei dem Bau der grossen Mauer arbeiten mussten.
Li-sse, der Minister des ersten Kaisers.
325
Hause ein grosses Fest veranstaltete, fanden sich die Vorsteher
sämmtlicher Obrigkeiten hei ihm ein, um Geschenke auf sein Wohl
ergehen zu überreichen, während gegen tausend Wagen vor seinem
Thore und in dem Vorhofe warteten. Bei diesem Anblicke sprach
Li-sse seufzend zu sich selbst: Wie bedauerlich! Ich habe gehört,
dass der Reichsminister Siiin *) sagte: Den Dingen ist verwehrt die
grosse Fülle. — Ich bin geboren in Schang-tsai, ein Mensch des
Volkes der Gassen und Durchwege, der gehüllt in baumwollene
Kleider. Nach oben kannte ich nicht meinen Klepper, nach unten
liess ich mich fortreissen und gelangte bis hierher. Jetzt bekleide
ich die Würde eines Ministers unter den Menschen und Keiner ist,
der gestellt wäre über mich. Dies lässt sich nennen der Gipfel des
Reichthums und der Ehre. Wenn die Dinge erreicht haben den
Gipfel, nehmen sie ab. Ich weiss noch nicht, wo ich mit meinem
Wagen halten werde.
In seinem siebenunddreissigsten Regierungsjahre (210 vorChr.)
unternahm der Kaiser des Anfangs wieder eine seiner zahlreichen
Rundreisen, wobei er im Süden den Berg Kuai-ki bestieg und auf
der Rückkehr das an den Ufern des Ostmeeres gelegene Lang-ye 2 )
berührte. In seinem Gefolge befand sich nebst Li-sse noch der
Minister Tschao-kao, der Bewahrer des kaiserlichen Siegels. Von
den zwanzig Söhnen des Kaisers begleitete nur Hu-kiai, der
jüngste von ihnen, den Vater auf dessen Reise, wozu er die Erlaub-
niss besonders nachgesucht und erhalten hatte, iljj^ Fu-su, des
Kaisers ältester Sohn, war, weil er die Handlungen des Vaters mehr
mals getadelt, an die nördlichen Grenzen des Reiches geschickt wor
den, damit er die unter den Befehlen des Feldherrn Mung-tien daselbst
stehenden Streitkräfte überwache. Als der Kaiser in Scha-khieu,
demselben Orte wo einst König Wu-ling von Tschao den Tod fand,
angekommen war, erkrankte er schwer und beauftragte Tschao-kao,
an den Prinzen Fu-su einen Brief zu schreiben, worin dieser aufgefor
dert wurde, die Kriegsmacht dem Feldherrn Mung-tien zu übergeben,
*) Die Reichsminister, zu dessen Gefolge Li-sse früher in Tsu gehörte.
2 ) Die Gegend der heutigen Terrasse Lang-ye, Kreis YT-tscheu, Provinz Schan-tung.
Das Gebäude war von König Keu-tsien von Yue aufgeführt worden, und der Kaiser
des Anfangs hatte dreissiglausend Familien bewogen, sich in dessen Umgebung
anzusiedeln.
Sitzb. d. phil.-hist. CI. XXXI.Bd. U.Hft.
22
326
Dr. Pfizmaier
sich selbst bei den Trauerfeierlichkeiten in der Hauptstadt Hien-yang
einzufinden und für die Bestattung des Kaisers Sorge zu tragen. Der
Brief war bereits gesiegelt, aber dem Boten noch nicht übergeben,
als der Kaiser starb. Sowohl der Brief als das kaiserliche Siegel
befanden sich im Besitze Tschao-kao’s. Nebst dem Prinzen Hu-kiai
und den Ministern Li-sse und Tschao-kao wussten nur noch fünf bis
sechs begünstigte Eunuchen, dass der Kaiser gestorben, während die
übrigen Minister von diesem Ereignisse keine Kunde batten.
Li-sse war der Meinung, dass, weil der Kaiser auf der Reise
gestorben und kein erklärter Thronfolger vorhanden, man den Tod
desselben geheim halten müsse. Er Hess daher den Leichnam des
Kaisers in einen geschlossenen Wagen setzen, während die Obrig
keiten ihre gewöhnlichen Meldungen machten und für den Kaiser, so
wie früher, Speisen aufgetragen wurden. Die in das Geheimniss ein-
geweihten Eunuchen folgten dabei dem Wagen und gestatteten den
jenigen die Meldungen zu machen hatten, den Zutritt.
Tschao-kao behielt jetzt den für den Prinzen Fu-su bestimmten
Brief sammt dem Reichssiegel zurück und wandte sich an den Prin
zen Hu-kiai mit den Worten: Der Kaiser ist gestorben, ohne dass er
Befehl gegeben hätte zu belehnen die Prinzen. Er hat blos dem
ältesten Sohne verliehen ein Schreiben. Wenn der älteste Sohn
ankommt, wird er erhoben zum Kaiser, doch du erhältst keinen Fuss-
und keinen Zollbreit Landes. Was ist dabei zu thun?
Hu-kiai erwiederte: So ist es ganz gewiss. Ich habe es gehört:
Ein erleuchteter Landesherr kennt seinen Minister. Ein erleuchteter
Vater kennt seinen Sohn. Wenn der Vater vorenthält den Befehl und
nicht belehnt die Söhne, was lässt sich hierüber sagen?
Tschao-kao entgegnete hierauf: Dem ist nicht so. In der gegen
wärtigen Zeit hängen die Macht über die Welt, Fortbestand und
Untergang nur ab von mir und dir, ferner von dem Reichsgehilfen.
Ich wünsche, dass du dies überlegest. Dann auch, wie könnte man
darüber, ob man zu Dienern mache die Menschen, oder zu einem
Diener gemacht werde von den Menschen, ob man zur Ordnung bringe
die Menschen, oder zur Ordnung gebracht werde von den Menschen,
an einem und demselben Tage in's Reine kommen?
Der Prinz entgegnete seinerseits: Den älteren Bruder absetzen,
den jüngeren Bruder einsetzen, ist nicht gerecht. Nicht annehmen
den Befehl des Vaters und fürchten den Tod, ist nicht die Sache
Li-sse, der Minister des ersten Kaisers.
327
eines guten Sohnes. Wenn die Fähigkeiten gering, der Gaben des
Geistes wenige, mit Gewalt sich zu Nutzen machen die Verdienste
der Menschen, ist Mangel an Fähigkeiten. Diese drei Dinge stehen
im Widerspruche mit der Tugend. Die Welt unterwirft sich nicht,
mit dem Leibe schwebt man in Gefahr, die Landesgötter werden
nicht gespeist mit Blut.
Hierauf sprach Tschao-kao: Ich habe gehört: die Könige
Thang und Wu tödteten ihren Gebieter, und die Welt pries ihre
Gerechtigkeit. Sie glaubte nicht, dass sie nicht redlich. Der Landes
herr von Wei tödtete seinen Vater!), und das Reich Wei hielt ihn für
ein Muster von Tugend. Khung-tse machte es bekannt, er hielt ihn
für keinen schlechten Sohn. Bei grossen Handlungen beobachtet man
keine kleinen Rücksichten, bei der vollendeten Tugend gibt es keine
Verzichtleistung. Von den Krümmen des Bezirkes hat eine jede ihren
Zweck, und die hundert Obrigkeiten erwerben sich nicht einerlei
Verdienst. Wer Rücksicht nimmt auf das Kleine und vergisst auf das
Grosse, wird später gewiss Schaden erleiden. Wer sich mit Zweifeln
quält und unschlüssig weilt, wird es später gewiss zu bereuen haben.
Man schneide den Faden ab und wage es zu handeln, dann werden
Götter und Geister aus dem Wege treten. Später wird man dann
grosse Thaten verrichten. Ich wünsche, dass du dich hiernach richtest.
Hu-kiai erwiederte seufzend: Jetzt, da grosse Werke noch
nicht zum Vorschein gekommen, da die Feierlichkeit der Trauer
noch nicht zu Ende, wie könnte es angemessen sein, dass ich hiermit
dem Reichsgehilfen diene?
Tschao-kao rief: Es ist die Zeit! Es ist die Zeit! In Müsse
gelangt man nicht mehr zur Berathung. Ein Pferd das in ausneh
mendem Masse verwendet wird, fürchtet nur die spätere Zeit.
Nachdem Hu-kiai bereits die Vorschläge Tschao-kao’s gebil
ligt, bemerkte dieser: Wenn wir uns nicht mit dem Reichsgehilfen
berathen, fürchte ich, dass wir die Sache nicht zu Stande bringen.
Ich bitte, in dieser Angelegenheit mit dem Reichsgehilfen mich
berathen zu dürfen.
Tschao-kao sprach hierauf zu Li-sse: Der Kaiser ist gestorben.
Er hat seinem ältesten Sohne verliehen einen Brief mit dem Befehle,
!) in der Geschichte des Reiches Wei ist blos zu lesen, dass Kuai-kuei, Thronfolger von
Wei, vertrieben wurde und seinem Sohne (493 vor Chr.) das Reich überlassen musste.
22*
328
Dr. Pfizmnier
sich einzufinden bei der Trauer in Hien-yang, und er hat ihn erklärt
zum Nachfolger. Der Brief ist noch nicht abgegangen. Jetzt weiss
noch Niemand, dass der Kaiser gestorben. Der Brief den er dem
ältesten Sohne verliehen, so wie das Siegel befinden sich an dem
Orte wo Hu-kiai weilt. Den Thronfolger zu bestimmen, bleibt nur
überlassen deinem Munde, o Herr, und dem meinen. Was ist bei der
Sache zu thun?
Li-sse antwortete: Wie kommst du zu Worten, durch welche
Reiche zu Grunde gehen? Dies sind keine Dinge, worüber berathen
dürfen diejenigen die Minister unter den Menschen.
Tscha-kao sprach: Hast du, o Herr, mehr Überlegung und
Fähigkeiten, oder Mung-tien? Hast du grössere Verdienste, oder
Mung-tien? Reichen deine Entwürfe weiter, ohne zu scheitern, oder
ist dies der Fall bei Mung-tien? Wirst du weniger gehasst von der
Welt, oder wird es Mung-tien? Hat der älteste Sohn dir seit langer
Zeit Vertrauen geschenkt, oder hat er es Mung-tien?
Li -sse entgegnete: Mit diesen fünf Dingen hat Mung-tien nichts
zu thun; doch du, o Herr, wirfst sie ihm vor? Was liegt hier zu
Grunde?
Tschao-kao sprach: Ich war allerdings ein Diener der Obrig
keiten des Inneren. Ich war so glücklich, dass ich durch die Schrift
meines Schreibmessers eintreten konnte in den Palast von Thsin.
Ich leitete die Geschäfte zwanzig Jahre, ich habe aber noch nicht
gesehen, dass Thsin verziehen hätte den Schuldigen, dass Reichs
gehilfen und verdienstvolle Minister welche in Ansehen standen, es
gebracht hätten bis zum zweiten Geschlechtsalter. Zuletzt wurden
sie alle hingerichtet und die Geschlechter gingen zu Grunde. Die
zwanzig Söhne des Kaisers, sie sind dir, o Herr, alle bekannt. Der
älteste Sohn ist rauh und kriegsmuthig. Er vertraut den Menschen
und zieht hervor die Staatsdiener. Wenn er auf den Thron gelangt,
wird er gewiss Mung-tien verwenden und ihn ernennen zum Reichs
gehilfen. Du, o Herr, wirst zuletzt nicht im Busen tragen das Siegel
eines Fürsten; dass du zurückkehren wirst in dein heimathliches
Dorf, ist offenbar. Ich habe den Auftrag erhalten, Hu-kiai zu unter
richten, ich hiess ihn lernen die Gesetze durch mehrere Jahre. Ich
bemerkte an ihm noch keinen Fehler. Er ist wohlwollend, mensch
lich, aufrichtig, freigebig, er verachtet die Güter und schätzt die
Sfaatsdiener. Er ist scharf von Geist und bedächtig im Beden. Er
Li-sse, der Minister des ersten Kaisers.
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ehrt die Staatsdiener durch alle erdenklichen Aufmerksamkeiten.
Unter allen Prinzen von Thsin ist keiner der ihm gleichkommt, und
man kann ihn zum Nachfolger erklären. Mögest du, o Herr, mit dir
zu Rathe gehen und es bestimmen.
Li-sse wendete dagegen ein: Du, o Herr, gelangst wieder zu
deiner Würde, ich richte mich nach dem Erlasse des Gebieters und
gehorche dem Befehle des Himmels: wie könnte ich noch bestimmt
werden in meinen Gedanken?
Tshao-kao bemerkte: Wer in Sicherheit ist, kann in Gefahr
gerathen. Wer in Gefahr ist, kann Sicherheit erlangen. Wenn über
Gefahr oder Sicherheit noch nichts bestimmt ist, wie könnte man
Werth legen auf die höchste Weisheit?
Hierauf entgegnete Li-sse: Ich bin geboren in Schang-tsai, ein
Mensch der Gassen und Durchwege, der gehüllt in baumwollene
Kleider. Der Kaiser zog mich empor durch seine Gunst und ernannte
mich zum Reichsgehilfen. Er setzte mich ein als Fürsten des Ver
kehrs. Meine Söhne und Enkel sind gelangt zu Ehrenstufen , sie
beziehen grosse Einkünfte. Desswegen werde ich den Fortbestand
verwandeln in Untergang. Sicherheit und Gefahr hängen ab von mir:
wie könnte ich wohl abwendig werden? Ein redlicher Minister ver
meidet nicht den Tod und nährt keine eitlen Hoffnungen. Ein guter
Sohn müht sich nicht ab und stürzt sich nicht in Gefahr. Von denen
die Minister unter den Menschen, bewahrt ein jeder sein Amt, nichts
weiter. Mögest du, o Herr, nicht mehr davon sprechen; du wirst
bewirken, dass ich schuldig werde eines Verbrechens.
Tschao-kao bemerkte weiter: Ich habe gehört: höchstweise
Männer verändern ihren Wohnsitz und kennen keine Beständigkeit.
Der Drache verwandelt sich und richtet sich nach der Zeit. Man sieht
die Spitze und erkennt den Stamm. Man betrachtet den Zeigefinger
und weiss, wohin man sich hat zu wenden. Bei den Dingen ist dies
im Grunde der Fall: wie könnte man es bringen zu einer beständigen
Weise? In der gegenwärtigen Zeit ist alle Macht in der Welt und das
Schicksal in der Schwebe gehängt an Hu-kiai; ich kann meine Absicht
erreichen. Dann auch, wenn man sich anschliesst dem Äusseren, um
Ordnung zu schaffen im Inneren, so nennt man dieses Wirren. Wenn
man sich anschliesst den Niederen, um Ordnung zu schaffen unter den
Höheren, so nennt man dies einen Mordanschlag. Desswegen, wenn
der herbstliche Reif herniedersinkt, fallen Pflanzen und Blumen. Wenn
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Dr. P f i z m a i e r
die Wasser sich bewegen, erstehen die zehntausend Dinge. Dies
ist ein nothwendiges Gesetz; warum erkennst du es, o Herr, so spät?
Li-sse entgegnete wieder: Ich habe gehört: Tsinhat gewechselt
die Thronfolger und genoss durch drei Geschlechtsalter nicht der
Ruhe. Die Brüder des Fürsten Hoan von Tsi stritten um den Thron.
Sie selbst starben und wurden gemetzelt. König Tschheu tödtete
die Verwandten und achtete nicht der Vorstellungen. Die Hauptstadt
seines Reiches ward ein Erdhügel, und er brachte sogleich in Gefahr
die Landesgötter. In diesen drei Fällen widersetzte man sich dem
Himmel: in den Ahnentempeln wurden die Geister nicht gespeist mit
Rlut. Ich bin aber nur ein Mensch; wie sollte ich würdig sein, an der
Berathung Theil zu nehmen?
Tschao-kao sprach: Wenn Höhere und Niedere gleichen Sinnes,
kann man theilhaftig werden der Dauer. Wenn das Innere und
Äussere gleichsam ein Ganzes, so gibt es bei den Angelegenheiten
keine innere und keine äussere Seite. Wenn du, o Herr, achtest auf
meinen Rath, wirst du lange Zeit besitzen das Lehen eines Fürsten,
da Geschlechtsalter hindurch dich nennen den Verwaisten. Du wirst
es bringen zu Kiao-sung’s langem Leben, zu dem Verstände der
Männer der Geschlechter Khung und Me 1 ). Wenn du dies jetzt ausser
Acht lässest und mir nicht folgst, wird das Unglück erreichen deine
Söhne und Enkel. Dies ist genug, dein Herz zu erfüllen mit kaltem
Schauer. Indem du dies gut heissest, wirst du das Unglück ver
wandeln in Glück. Warum bleibst du, o Herr, noch unthätig?
Li-sse blickte zum Himmel, weinte und sprach seufzend: Wie
bedauerlich! Ich allein hin getreten in ein Zeitalter der Unordnung.
Da ich einmal nicht im Stande bin zu sterben, wie könnte ich mich
verlassen auf das Leben?
Er schenkte jetzt den Vorschlägen Tsehao-kao’s Gehör. Dieser
brachte jedoch dem Prinzen Hu-kiai folgende Meldung: Ich bat, den
glänzenden Befehl des Thronfolgers annehmen zu dürfen und brachte
die Meldung dem Reichsgehilfen. Der Reichsgehilfe Sse aber wagt
es, den Befehl nicht anzunehmen.
In Folge einer getroffenen Verabredung wurde jetzt angegeben,
dass man eine Verordnung des verstorbenen Kaisers erhalten habe,
worauf der Reichsgehilfe Li-sse den Prinzen Hu-kiai zum Thron-
1 ) D. i. Khung-tse und Me-thi. Der letztere war ein Feldherr von Tscheu.
Li-sse, der Minister des ersten Kaisers.
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folget“ erklärte. Zugleich schrieb man einen anderen Brief, der an
der Stelle des echten dem Prinzen Fu-su übei’sendet wurde.
Dieser fälschlich im Namen des Kaisers geschriebene Brief
lautete: Ich bin umhergezogen in der Welt, habe gebetet auf den
berühmten Bergen, zu allen Göttern, um zu verlängern mein Leben.
Jetzt steht Fu-su mit dem Feldherrn Mung-tien an der Spitze eines
Heeres von mehreren hunderttausend Streitern, das zusammen
gezogen an den Grenzen, bereits zehn Jahre. Er ist nicht im Stande
vorzurücken und den Weg zu zeigen. Die Streiter erlitten viele
Verluste, und er hat kriegerisches Verdienst nicht von der Grösse
eines Fusses oder Zolles. Er sandte im Gegenthei! an mich öfters
Briefe mit geraden Worten. Er tadelte meine Handlungen. Weil er
sich nicht zur Buhe begeben kann und heimkehren, um Thronfolger
zu werden, blickt er Tag und Nacht herüber mit Grollen. Fu-su als
Sohn unter den Menschen ist ein schlechter Sohn. Er wird beschenkt
mit einem Schwerte, damit er sich zerreisse den Leib. Der Feldherr
Tien weilt mit Fu-su in den. auswärtigen Gebieten. Er ist nicht
offen, nicht aufrichtig; er musste wissen von dessen Anschlägen. Als
Minister unter den Menschen ist er nicht redlich. Er wird beschenkt
mit dem Tode. Die Streitmacht werde übergeben dem untergeord
neten Feldherrn Wang-li 1 ).
Der Brief ward mit dem kaiserlichen Siegel versehen und einem
Gaste des Prinzen Hu-kiai zur Beförderung an den Prinzen Fu-su
übergeben. Als der Prinz, der sieb bei dem Heere in der oberen
Landschaft befand, den Brief von dem Abgesandten erhielt, begab
er sich weinend in das Innere seines Hauses und wollte sich, wie es
in dem Schreiben von ihm verlangt wurde, mit dem ihm übersandten
Schwerte tödten. Mung-tien hielt ihn jedoch zurück, indem er
sprach: Der Kaiser weilt in den auswärtigen Gebieten und hat
noch keinen Thronfolger eingesetzt. Er hiess mich befehligen
eine Menge von dreihunderttausend Kriegern und bewachen die
Grenzen. Du, o Prinz, hast dabei die Aufsicht. Dies ist ein wich
tiger Auftrag in der Welt. Jetzt kommt ein einziger Abgesandter,
und du willst sofort dich tödten. Woher weiss man, dass dies keine
Lüge? Ich bitte, nochmals anfragen zu dürfen. Wenn du nochmals
derselben Familie Wang waren in Thsin auch die Feld
herren Wang-fen und Wang-ki.
332
L)r. P f i z in a i e r
anfragen lassest und dann erst stirbst, ist es noch immer nicht zu
spät.
Der Abgesandte drängte indessen zu wiederholten Malen. Prinz
Fu-su, der von ehrenhafter Gesinnung war, sprach zu Mung-tien:
Der Vater beschenkt den Sohn mit dem Tode; wozu sollte ich da
noch einmal anfragen lassen? — Diesen Worten gemäss tödtete er
sich. Der Feldherr Mung-tien zeigte jedoch keine Lust, sich eben
falls das Lehen zu nehmen. Der Abgesandte übergab ihn daher den
Gerichtspersonen, welche ihn in Yang-tscheu ') in ein Gefängniss
setzten, wo er sich später, von dem neuen Kaiser gedrängt, durch
Gift tödtete.
Der Abgesandte kehrte jetzt zurück und meldete zur grossen
Freude Hu-kiai’s, Li-sse’s und Tschao-kao’s die Vollziehung seines
Auftrages. Diese Männer begaben sich sofort nach Hien-yang, wo
die Trauerfeierlichkeiten stattfanden und Prinz Hu-kiai unter dem
Namen des Kaisers des zweiten Geschlechtsalters den Thron bestieg.
Tschao-kao erhielt zum Lohn für seine Dienste die Würde eines
obersten Kämmerers 3 ). Als solcher hatte er fortwährend im Inneren
des Palastes Dienste zu leisten und besorgte alle Geschäfte des
Kaisers.
Nachdem der Kaiser des zweiten Geschlechtsalters bereits im
unbestrittenen Besitze des Thrones, berief er Tschao-kao zu sich
und ging mit ihm zu Rathe, indem er sprach: Diese Menschen
leben und wohnen in der Welt, gerade so, als oh sie einhersprengten
auf den sechs Pferden der tausend Meilen 3 ) und setzten über den
Riss in einer Mauer. Ich hin bereits gelangt zur Herrschaft über die
Welt. Ich will alles thun, was für Ohr und Auge ein Gefallen,
erschöpfen alles, woran Herz und Gedanke sich erfreuen, um
Ruhe zu bringen dem Ahnentempel und Freude den zehntausend
Familien. Ich will lange Zeit besitzen die Welt und gut beschliessen
meine Jahre. Lässt sich wohl dafür ein Mittel finden?
D ,/p^J Yang-tscheu, in der oberen Landschaft gelegen, ist das heutige
Sui-te in Schen-si.
’>f I t 1 fill Lang-tschung-ling, eine neugesehaffene Würde unter der Dyna
stie Thsin.
3 J So hiessen die Pferde des alten Wagenlenkers Pe-Iö.
Li-sse, der Minister des ersten Kaisers.
333
Tschao-kao erwiederte: Dies ist, was ein höchstweiser Gebie
ter im Stande ist zu thun, was aber einem verfinsterten Gebieter ver
wehrt. Ich bitte, mich hierüber aussprechen zu dürfen. Ich wage es
nicht, mich zu entziehen der Strafe der Axt, nur wünsche ich, dass
der Kaiser mir in geringem Grade Aufmerksamkeit schenke. Zur
Zeit der Berathung von Scha-khieu waren sämmtliche Prinzen und
die grossen Minister erfüllt von Argwohn. Dabei sind die Prinzen
insgesammt des Kaisers ältere Brüder, und auch die grossen Minister
wurden eingesetzt von dem früheren Kaiser. Jetzt ward der Kaiser
erst unlängst erhoben. Die Genossen jener Männer sind im Herzen
unzufrieden, keiner von ihnen will sich unterwerfen. Ich fürchte, es
wird eine Veränderung geschehen. Auch ist Mung-tien bereits
gestorben. Mung-I ‘) steht an der Spitze einer Streitmacht und befin
det sich in den auswärtigen Gebieten. Ich zittere vor Furcht. Ich
besorge nur, dass die Sache kein gutes Ende nehmen werde. Wie
könnte dann auch der Kaiser sich dieser Freude hingeben?
Als der Kaiser fragte, was bei der Sache zu thun sei, sprach
Tschao-kao: Man erlasse strenge Vorschriften und schreibe Straf
gesetze. Man befehle, dass die Schuldigen gegenseitig anheimfallen
der Strafe. Die hingerichtet werden, sollen mit sich reissen die
Seitenlinien. Man vernichte die grossen Würdenträger und halte fern
die Verwandten des Blutes. Man bereichere die Armen und bringe
zu Ansehen die Niedrigen. Man entferne durchaus die alten Minister
des früheren Kaisers und setze andere an deren Stelle. Diejenigen
welche der Kaiser genau kennt und denen er traut, möge er in seine
Nähe ziehen. Diese werden sich dann dankbar bezeigen und sich
dem Kaiser zuwenden. Sind die schädlichen Einflüsse entfernt, ist
verräterischen Anschlägen der Weg verschlossen, so ist unter den
Ministern keiner der nicht davon Vortheil zieht und überhäuft wird
mit grossen Wohltaten. Der Kaiser wird dann thronen auf hohem
Kissen, erreichen seine Absicht, sich freuen in Glanz und Ehre.
Unter den Entwürfen geht keiner über diesen.
Der Kaiser befolgte diesen Rath und liess die Gesetze verän
dern, worauf sämmtliche Minister und Prinzen für schuldig erklärt
wurden. Tschao-kao erhielt Befehl, ohne Verzug die Strafe vollziehen
Mung-I, der Bruder des Feldherrn Mung-tien.
334
Di*. Pfiz ma ier
zu lassen. Demgemäss wurden die grossen Würdenträger, unter ihnen
der Reichsminister Mung-J getödtet, zwölf Prinzen auf dem Markte
von Hien-yang öffentlich hingerichtet. Zehn Prinzessinnen, Töchter
des verstorbenen Kaisers, wurden ebenfalls getödtet und deren Lei
chen auf Bäumen ausgespannt. Das Vermögen der Hingerichteten
fiel den Obrigkeiten der Bezirke anheim. Die übrigen Personen
welche nach dem Grundsätze der Gegenseitigkeit verurtheilt und
hingerichtet wurden, waren eine so grosse Menge, dass sich die Zahl
derselben gar nicht bestimmen Hess.
Der Prinz jSj Kao war gesonnen, sich durch die Flucht zu
retten; da er jedoch die Seitenlinien nicht dem Verderben preisgeben
wollte, übersandte er dem Kaiser folgenden Brief: Als der frühere
Kaiser sich noch wohl befand und ich bei ihm eintrat, schenkte er
mir Speisen. Als ich austrat, bestieg ich dessen Wagen. Die Kleider
der kaiserlichen Vorrathskammer, ich erhielt sie zum Geschenk. Die
kostbaren Pferde des mittleren Marstalls, ich erhielt sie zum Ge
schenk. Ich hätte folgen sollen dem Todten, aber ich war dies nicht
im Stande. Als Sohn unter den Menschen war ich kein guter Sohn.
Als Minister unter den Menschen war ich kein redlicher Minister.
Wer nicht redlich hat keinen Namen dessen Ruf er begründen könnte
in dem Zeitalter. Ich bitte, folgen zu dürfen demTodten und wünsche,
dass ich begraben werde an dem Fusse des Berges Li 1 ). Möge
mich nur der Kaiser dadurch beglücken, dass er mich bedauert.
Der Kaiser war über dieses Schreiben hoch erfreut. Er berief
Tschao-kao zu sich,zeigte es ihm und fragte: Kann man wohl sagen,
dass es hiermit Eile habe? — Tschao-kao erwiederte: Einer, der
Minister unter den Menschen, will sterben an seinem Schmerze, und
ihm bleibt keine Zeit. Warum sollte man es ändern, damit er Zeit
habe zur Überlegung? — Der Kaiser versah demnach den Brief mit
seiner Unterschrift und schenkte dem Prinzen hunderttausend Stück
Kupfermünzen, damit er sich auf die angegebene Weise begraben
lasse.
Von dieser Zeit an wurden die Verordnungen täglich strenger
und die Hinrichtungen immer häufiger, so dass Niemand seines
1 ) An dem Fusse des Berges Li ward der Kaiser des Anfangs mit mehreren
Tausenden seines Volkes zugleich begraben.
Li-sse, der Minister des ersten Kaisers.
335
Lebens mehr sicher war und die Neigung zum Abfall bald allgemein
wurde. Der Kaiser verwendete ausserdem die Kraft des Volkes zum
Bau des Palastes O-fang, so wie zur Herstellung des langen durch
Mauern geschützten Fahrweges, während die Abgaben in immer
grösserem Maasse eingefordert wurden und die Dienste der Besatzun
gen kein Ende nahmen.
Mehrere kühne Männer, wie Tschin-sching, U-khuang und
andere, empörten sich daher gegen Thsin und warfen sich in den
abgefallenen Ländern zu Beichsfürsten und Königen auf. Das Heer
von Tsu, gegen Thsin vorrückend, drang bis Hung-men 1 ), ward
jedoch diesmal noch zurück geworfen.
Li-sse war mehrere Male Willens, dem Kaiser hinsichtlich seiner
Regierungshandlungen Vorstellungen zu machen, erhielt jedoch nie
die Erlaubniss zu sprechen. Dagegen stellte der Kaiser seinerseits
an ihn folgende, zum Theile einen Vorwurf enthaltende Fragen:
Ich hin mit mir in meinen eigenen Angelegenheiten zu Rathe gegan
gen und habe manches gehört von Han-tse a ). Dieser sagt: Als Yao
die Welt hesass, war dessen Halle hoch drei Ellen. Die eichenen
Ualken waren nicht behauen. Wäre es auch nur eine Herberge für
wandernde Gäste, man würde ein solches Gebäude nicht beachten.
In den Tagen des Winters trug er einen Hirschpelz, in den Tagen
des Sommers hänfene Kleider. Er ass Mehlkuchen und Grütze, eine
Brühe aus wilden Bohnen. Er nahm die Speise aus einem irdenen
Topfe, er schlürfte die Brühe aus einer irdenen Schale. Seihst die
Nahrung der Hüter der Tempel würde nicht einzig hierin bestehen.
Yü versah mit Schnitzwerk das Drachenthor. Er schuf Wege des
Verkehrs für das grosse Hia. Er trennte von einander die neun
Flüsse. Er baute in Krümmungen die neun Uferdämme. Er bestimmte
den Lauf der stehenden Gewässer und leitete sie in das Meer. Aber
auf seinen Schenkeln war kein Flaum, auf seinen Schienbeinen kein
Haar. Hände und Füsse waren voll Schwielen, sein Gesicht war
*) Der Pass pfj ^ un &" ,nen DefHiid sieh siebzehn Li östlich von dem heutigen
Lin-tung, Kreis Si-ngan, Provinz Schen-si, also in sehr geringer Entfernung von
Hieu-yang, der Hauptstadt von Thsin.
2 ) Han-tse ist Han-fei, ein damals berühmter Schriftsteller, der, noch
unter der Hegierung des vorhergehenden Kaisers in die Dienste des Reiches Thsin
gezogen, daselbst hingerichtet wurde.
336
Dr. Pfizmaiei'
schwarzgebrannt von der Sonne. Hierauf starb er in den auswär
tigen Gebieten und ward begraben auf dem Kuai-ki. Selbst die
Arbeit eines Gefangenen ist hiermit nicht zu vergleichen. Da es sich
so verhält, wie wäre wohl dasjenige was schätzbar bei dem
Besitze der Welt, abmühen mögen seine Glieder, anstrengen Leib
und Seele, wohnen in einer Herberge für wandernde Gäste, zu
sich nehmen die Nahrung eines Hüters der Tempel, mit den Händen
verrichten die Arbeit eines Gefangenen? Dies ist etwas dessen ein
Entarteter sich mag bestreben, keineswegs etwas, bis wohin ein Wei
ser sich mag herablassen. EinWeiser der besitzt die Welt, benützt
ausschliesslich für sich die Welt. Er hält sieh an sich selbst, sonst
an nichts. Dies ist es, um dessenwillen schätzbar der Besitz der
Welt. Derjenige der genannt wird ein Weiser, ist gewiss im Stande
zu beruhigen die Welt und Ordnung zu schaffen unter den Zehntau
senden des Volkes. Jetzt bin ich selbst noch nicht im Stande, mir
zu niitzen; wie werde ich wohl imstande sein, Ordnung zu schaffen
in der Welt? Desswegen wünsche ich, Ausdehnung geben zu kön
nen meinen Absichten, ich will lange Zeit geniessen die Welt und
dabei keinen Schaden leiden; wie lässt sich dies bewerkstelligen?
— Yeu i) der Sohn Li-sse’s, ist der Statthalter des Landes der drei
Flüsse. Die Räuber, U-khuang und andere, durchstreiften, nach
Westen gekehrt, Land, sie zogen hinüber und entfernten sich wieder.
Jener konnte sie nicht daran verhindern. Tschang-han 2 ) schlug und
vertrieb die Kriegsmacht Khuang’s und Anderer. Die Abgesandten ver
walteten wieder das Land der vier Flüsse und überhäuften einander mit
Vorwürfen. Dir ward zu Theil die Würde eines der drei Fürsten,
warum liessest du die Räuber so weit kommen ?
Li-sse fürchtete sich und wusste, da ihm an seinen Würden viel
gelegen war, nicht, was er beginnen solle. Zuletzt suchte er seine
Gedanken den Ansichten des Kaisers anzupassen und verfasste als
Antwort das folgende Schreiben: Ein weiser Gebieter ist derjenige
der im Stande, unversehrt zu erhalten die Wege des Gesetzes, und
der übt die Kunst des Zurechtweisens. Kann er sie zurechtweisen,
so werden es die Minister nicht wagen , nicht alles aufzubieten,
*) Der oben genannte Li-yeu.
2 ) M Ep Tschang-han ist der Feldherr von Thsin, der das Heer der Aufständi
schen für den Augenblick zurückwarf.
Li-sse, der Minister des ersten Kaisers.
337
und sie werden im Stande sein, Eifer an den Tag zu legen für
ihren Gebieter. Hierdurch wird bestimmt, was zukommt den Mi
nistern und dem Gebieter. Ist einmal Klarheit gebracht in das
Verhältniss zwischen Höheren und Niederen, so ist unter den
Weisen und Entarteten der Welt keiner der es wagt, nicht auf das
äusserste anzustrengen seine Kräfte, alles aufzubieten in seinem
Dienste und Eifer an den Tag zu legen für seinen Landesherrn.
Desswegen bringt der Gebieter für sich allein zur Ordnung die
Welt, aber er selbst wird durch nichts gebracht zur Ordnung. Er
kann erschöpfen das äusserste Mass der Freude. An einem weisen und
erleuchteten Gebieter darf man nichts untersuchen. Desswegen
sprach Schin-tse ») : Wer die Welt besitzt und nicht zornig blickt,
hält die Welt für seine Handfesseln und Fusseisen. Ei- ist kein An
derer. Er kann nicht zurechtweisen, sondern nimmt Rücksicht und
müht sich ab mit dem Leibe für das Volk der Welt, gleich Yao
und Yii. Darum sagt man Handfesseln und Fusseisen. Wer nicht im
Stande ist, zu üben die glänzende Kunst der Männer der Geschlechter
Schin und Han 2 ), zu betreten den Weg der Zurechtweisungen, der
nimmt in Anspruch die Welt und kommt ihr selbst entgegen. Es ist ihm
nur darum zu thun, abzunuiden den Leib, anzustrengen den Geist,
in eigener Person Eifer an den Tag zu legen für die hundert Fami
lien. In diesem Falle ist er ein Diener des Volkes, keineswegs ein
Pfleger der Welt. Wie verdiente seine Würde wohl geschätzt zu
werden ? Wenn die Menschen Eifer an den Tag legen für uns selbst,
so sind wir seihst vornehm, die Menschen aber niedrig. Wenn wir
selbst Eifer an den Tag legen für die Menschen, so sind wir seihst
niedrig, die Menschen aber vornehm. Desswegen ist derjenige der
Eifer an den Tag legt für die Menschen, niedrig, aber derjenige
für den die Menschen Eifer an den Tag legen, ist vornehm. Von der
ältesten Zeit bis auf die gegenwärtige ist es noch nie anders
gewesen. Jeder Weise der geehrt wurde in dem Alterthum, war der
Vornehmere, und jeder Entartete der verachtet wurde, war der
Niedrigere. Dass aber Yao und Schün mit ihrer Person Eifer an den
Tag legten für die Welt, und dass man ihnen desshalb folgte und sie
) -f ffl Schin-tse, ein Reiehsgehilfe des Fürsten Tschao von Han, hatte ein
Buch über die Gesetze geschrieben.
2 ) Die früher genannten Schin-tse und Han-tse.
388
Dr. Pfismaier
ehrte, dadurch hat man ebenfalls verfehlt den Sinn, nach dem man ehrt
die Weisen. Man kann es nennen einen grossen Irrthum. Ist es nicht
auch passend, von ihnen zu sagen, dass sie sich Fussfesseln schufen?
Es ist das Übermass des Unvermögens zurecht zu weisen.
Darum sagt Han-tse: Eine gütige Mutter hat einen ungerathenen
Sohn, aber ein strenges Haus hat keinen widersetzlichen Gefangenen.
Warum dieses der Fall? Man kann ihn strafen und thut dabei noch
ein Übriges, dies ist gewiss. Desswegen wird in den Gesetzen des
Landesherrn von Schang bestraft das Auswerfen von Asche auf dem
Weg. Das Auswerfen von Asche ist ein geringes Vergehen, aber es
wird belegt mit schwerer Strafe. Jener war nur ein erleuchteter
Gebieter und im Stande, strenge zu ahnden ein leichtes Verbrechen.
Wenn ein Verbrechen leicht, ist schon die Ahndung streng, um wie
viel mehr, wenn Jemand schuldig ist eines schweren Verbrechens?
Dies ist es, warum es das Volk nicht wagt, die Gesetze zu über
treten.
In diesem Sinne sagt Han-tse: Wenn die Kleiderstoffe von
gewöhnlicher Beschaffenheit, lässt sie der gemeine Mann nicht los.
Wenn das geläuterte Metall tausend Pfund, rührt es der Räuber
Tschi *) nicht an. Dies geschieht nicht, weil der gemeine Mann in
seinem Herzen allzugrossen Werth legt auf den Nutzen der gewöhn
lichen Stoffe, oder weil die Begierde des Räubers Tscln nur mässig.
Es geschieht auch nicht, weil der Räuber Tschi bei dem was er
thut, geringschätzt die Schwere von tausend Pfund. Wenn er sie
anrührt, und gleich auf der Hand die Strafe folgt, so rührt der
Räuber Tschi die tausend Pfund nicht an. Wenn man aber straft, was
man nicht thun darf, so lässt der gemeine Mann die gewöhnlichen Stoffe
nicht los. Desswegen sind die Stadtmauern hoch fünf Klafter, und
Leu-ki 3 ) kann sie nicht leicht übersetzen. Der Berg Tai-san ist hoch
hundert Doppelklafter, und hinkende Schafe weiden auf dessen
Höhen. Dieser Leu-ki hält für unersteiglich eine Scheidewand von
fünf Klaftern; wie sollte wohl ein hinkendes Schaf sich leicht hin
wegsetzen über eine Höhe von hundert Doppelklaftern ? Die Stärke
der Anhöhen und Erdwälle ist verschieden.
Tschi hiess ein berüchtigter Räuber des Alterthums.
2 ) ^ Leu-ki war der jüngere Bruder des Fürsten Wen von Wei.
Li-sse, der Minister des ersten Kaisers.
339
Dasjenige wodurch ein erleuchteter Gebieter, ein höchstweiser
König sich lange Zeit behaupten kann auf einer ehrenvollen Stufe,
fortwährend in den Händen behalten eine gewaltige Macht und aus
schliesslich sich zueignen den Nutzen von der Welt, richtet sich nach
keinem anderen Gesetze. Er ist im Stande, allein zu entscheiden
und zu erforschen; beim Zurechtweisen muss er streng strafen.
Desswegen wird die Welt es nicht wagen, die Gesetze zu übertreten.
Wenn er sich jetzt nicht angelegen sein lässt dasjenige um dessen-
willen die Übertretungen nicht stattfinden, sondern sich befasst mit
Dingen wodurch eine gütige Mutter verdirbt ihren Sohn, so unter
sucht er auch nicht die Worte höchstweiser Männer. Ist er nicht im
Stande zu üben die Kunst höchstweiser Männer, so ist er in seinem
Hause ein Knecht der Welt: was für Angelegenheiten könnte er
noch haben? Ist er dann nicht zu bedauern?
Wenn ferner enthaltsame, menschliche und gerechte Menschen
einen Platz haben an dem Hofe, so hat es mit der wilden, unge
zwungenen Freude ein Ende. Wenn Minister, die Vorstellungen
machen und die Ordnung der Dinge besprechen, sich hinstellen zur
Seite, so sind alle regellosen, ausschweifenden Gedanken unter
drückt. Wenn der Wandel gewissenhafter Staatsdiener die starben
in Lauterkeit, bekannt gemacht wird in dem Zeitalter, so wird alles
was ausgelassene Fröhlichkeit in Bereitschaft gesetzt hat, abge-
schafft. Desswegen ist ein erleuchteter Gebieter im Stande auszu-
schliessen diese drei Dinge, er hält sich allein an die Kunst des
Gebieters, um Ordnung zu schaffen unter den Ministern die ihm
gehorchen und sich ihm anschliessen, und einzuführen seine offen
kundigen Gesetze. Hierdurch ist er selbst geehrt und seine Macht
bedeutend. Jeder der ein weiser Gebieter, wird gewiss im Stande
sein, rein zu fegen das Zeitalter, zu läutern die Gewohnheiten, er
schafft hinweg, was ihm zuwider, und stellt an den Platz, was er
wünscht. Hierdurch hat er im Leben eine ansehnliche, gewaltige
Macht, im Tode wird ihm zu Theil ein Name der Weisheit und des
erleuchteten Verstandes. Auf diese Weise braucht ein erleuchteter
Gebieter nur zu entscheiden ; darum befindet sich die Macht nicht
in den Händen der Minister. Dann erst kann er zerstören den Weg
der Menschlichkeit und Gerechtigkeit, verschliessen den Mund der
im Einherjagen sprechenden Menschen, zu nichte machen den Wandel
der enthaltsamen Staatsdiener, verstopfen die scharfhörenden Ohren,
340
Dr. Pfizmai er
verdecken die scharfblickenden Augen. Im Inneren sieht und hört
er nur allein. Dann kann er nach aussen nicht zum Wanken gebracht
werden durch Menschlichkeit und Gerechtigkeit, nicht durch den
Wandel enthaltsamer Staatsdiener, aber im Inneren kann ihm nichts
entrissen werden durch den Scharfsinn tadelnder Reden und des
zornigen Eifers. Darum kann er ernstlich sich vornehmen, allein
zornig zu blicken, und Niemand wird es wagen, sich zu widersetzen.
Erst wenn er es so weit gebracht, lässt sich von ihm sagen, dass er
im Stande, in’s Licht zu setzen die Kunst der Männer der Geschlech
ter Schin und Han, und einzuführen die Gesetze des Landesherrn
von Schang. Dass die Gesetze eingeführt gewesen, jene Kunst in's
Licht gesetzt, und dabei die Welt in Unordnung gerathen wäre,
davon habe ich noch nichts gehört.
Aus diesem Grunde wird gesagt: Der Weg der Könige ist
umschränkt, und an ihn sich halten, ist leicht. Wer ein erleuchte
ter Gebieter, ist im Stande, ihn zu wandeln. Ist dies der Fall, und
lässt sich sagen, dass dies die Wahrheit der Zurechtweisungen,
so thun die Minister kein Unrecht. Thun die Minister kein Unrecht,
so ist die Welt zufrieden. Ist die Welt zufrieden, so steht der
Gebieter in Ansehen. Steht der Gebieter in Ansehen, so sind Zurecht
weisungen gewiss. Sind Zurechtweisungen gewiss, so erreicht man,
wornach man strebt. Erreicht man, wornach man strebt, so befinden
sich Reich und Haus im Wohlstand. Gelinden sich Reich und Haus
im Wohlstand, so freut sich der Landesherr des Überflusses. Legt
man daher zu Grunde die Kunst zurecht zu weisen, so wird alles
erreicht, was man wünscht. Den Ministern, den hundert Familien
ist es nicht gegeben, sich zu helfen bei ihren Vergehen; wie sollten
sie es wagen, an Veränderungen zu denken? Auf diese Weise ist
der Weg der Kaiser bereitet, und es lässt sich sagen, dass man im
Stande in’s Licht zu setzen die Kunst des Landesherrn und des
Ministers. Kämen selbst die Männer der Geschlechter Schin und
Han wieder zum Leben, sie könnten darüber nichts tliun.
Der Kaiser fand an diesem Schreiben Gefallen und befolgte
nur allzu eifrig den in demselben enthaltenen Rath. Seine Zurecht
weisungen wurden von nun an immer strenger, und wer von dem
Volke in recht ungewöhnlichem Maasse Abgaben eintrieb, war in
seinen Augen eine mit hellem Verstände begabte Gerichtsperson.
Der Kaiser äusserte sich dabei: Wenn man so verfährt, lässt sich
i
Li-sse, der Minister des ersten Kaisers.
341
sagen, dass man im Stande ist, zurechtzuweisen. — In Kürze kam
es so weit, dass die zu Strafen verurtheilten Personen in Abtheilungen
auf den Wegen wandelten und dass die Todten zu Haufen gethürmt
auf den Märkten umherlagen. Wer die Menschen massenweise hin-
richten liess, war in den Augen des Kaisers ein redlicher Minister.
Der Kaiser pflegte dabei zu bemerken: Wenn man so verfährt, lässt
sich sagen, dass man im Stande ist, zurechtzuweisen.
Seit Tschao-kao seine neue Stelle bekleidete, hatte er sehr
viele Hinrichtungen vollziehen lassen, und es gab eine Menge Men
schen welche an ihm den Tod ihrer Angehörigen zu rächen hatten.
Dieser Minister musste daher befürchten, dass die grossen Würden
träger, wenn sie an dem Hofe ihre Meldungen machten, ihn bei
dem Kaiser verkleinern und in Missgunst setzen würden. Um dies
zu verhindern, trug er dem Kaiser Folgendes vor: Das Ansehen
des Himmelssohnes wird begründet dadurch, dass die Welt hört
seinen Namen und von den Ministern keiner zu sehen bekommt sein
Angesicht. Desswegen nennt er sich: Ich der Kaiser *). Jetzt blei
ben dem Kaiser noch übrig mancher Frühling und mancher Herbst;
er hat noch nicht nöthig, sich zu mengen in alle Geschäfte. Wenn
er jetzt sitzt in der Vorhalle des Hofes, rügt und Dinge unternimmt,
die sich nicht gebühren, so werden an ihm Fehler ausgestellt von
Seite der grossen Minister. Dies ist nicht das Mittel, der Welt zu
zeigen das göttliche Licht seines Verstandes. Wenn der Kaiser sich
zurückzieht hinter eine verschlossene Thüre, und daselbst mit mir
und denjenigen die aufwarten im Inneren, die verti’aut sind mit den
Vorschriften, wartet auf die Geschäfte, so kann er, so oft es
Geschäfte gibt, es sich überlegen. Wird es so eingerichtet, so
werden die grossen Minister es nicht wagen, ihm vorzutragen
zweifelhafte Gegenstände, und die Welt wird ihn preisen als einen
höchstweisen Gebieter.
Der Kaiser des zweiten Geschlechtsalters machte von diesem
Rathe Gebrauch. Er sass fortan nicht mehr in der Vorhalle des
Hofes, empfing auch nicht die grossen Würdenträger, sondern
weilte hinter einer verschlossenen Thüre, während Tschao-kao und
*) Das bekannte, zum Gebrauche des Kaisers bestimmte Wort tschhin hat sonst
noch die Bedeutung: „ändern und anordnen“.
Sitzb. d. phil.-hist. CI. XXXI. Bd. II. Hft.
23
342
Dr. P f i z m a i e r
die gewöhnlich zur Aufwartung' im Innern verwendeten Personen
die vorkommenden Geschäfte besorgten. Alle Beschlüsse in solchen
Angelegenheiten wurden übrigens durch Tschao-kao gefasst.
Als dieser Mann einst in Erfahrung brachte, dass Li-sse etwas
mit dem Kaiser zu sprechen habe, begab er sich selbst zu dem
Reichsgehilfen und sprach zu ihm: Die Räuber im Osten des Grenz
passes sind eine grosse Menge. Jetzt fordert der Kaiser, während
er bedrängt ist, immer mehr Frohndienste, er lässt bauen den
Palast von O-fang, er sammelt Hunde, Pferde und andere unnütze
Dinge. Ich möchte ihm gerne Vorstellungen machen, meine Rang
stufe ist jedoch eine niedrige; dies ist eigentlich deine Sache, o Herr.
Warum machst du ihm, o Herr, keine Vorstellungen?
Li -sse erwiederte: Dies ist allerdings der Fall. Ich wollte
schon lange mit ihm sprechen; aber gegenwärtig sitzt der Kaiser
nicht in der Vorhalle des Hofes, der Kaiser verweilt in der Tiefe des
Palastes. Was ich zu sprechen habe, kann ich durch keinen Andern
hinterbringen lassen. Ich will den Kaiser sehen ohne eine Scheide
wand.
Tschao-kao sprach: Du, o Herr, bist wirklich im Stande, Vor
stellungen zu machen. Ich bitte, o Herr, es sagen zu dürfen,
wenn der Kaiser Müsse hat.
Tschao-kao wartete jetzt eine Zeit ab, wo der Kaiser sich ver
gnügte und wo sich Weiber in seiner Gesellschaft befanden. Er Hess
sofort dem Reichsgehilfen sagen: Der Kaiser hat eben freie Zeit;
man kann ihm die Angelegenheit vortragen. — Li-sse erschien hier
auf an dem Thore des Palastes und wurde bei dem Kaiser gemeldet.
Dasselbe wiederholte sich dreimal. Zuletzt gerieth der Kaiser in
Zorn und rief: Ich habe immer eine Menge freier Tage, und der
Reichsgehilfe lässt sich nicht sehen. Wenn ich aber der Ruhe
pflege und die Zeit mir selbst widmen will, kommt der Reichsge
hilfe plötzlich daher und bittet in einer Angelegenheit. Sollte mich
wohl der Reichsgehilfe geringschätzen? Gewiss will er sich gegen
mich ungebührlich benehmen.
Tschao-kao erwiederte hierauf: So wird es sich nahezu ver
halten. Bei der Verabredung von Scha-khieu war der Reichsgehilfe
auf unserer Seite. Jetzt ist der Kaiser bereits eingesetzt und regiert
als höchster Herrscher, aber der Reichsgehilfe ist im Ansehen nicht
gestiegen. Er wird wohl noch die Absicht haben, loszureissen ein
Li-sse, der Minister des ersten Kaisers.
343
Land und zu herrschen als König. Wenn der Kaiser mich nicht
gefragt, hätte ich auch nicht gewagt zu sprechen. Li-yeu, des
Reichsgehilfen ältester Sohn, ist der Statthalter des Landes der drei
Flüsse. Die Räuber von Tsu, Tschin-sching und andere sind insge
samt^ Söhne der Rezirke zur Seite des Reichsgehilfen. Die Räuber
des alten Tsu ziehen frei umher, sie kommen vorbei an den festen
Städten des Landes der drei Flüsse; der Statthalter will sie nicht
angreifen. Ich habe gehört, dass ihre Briefe gegenseitig abgehen
und ankommen. Ich konnte mich davon noch nicht überzeugen; dess-
wegen wagte ich es noch nicht, darüber zu berichten. Auch ist
der Einfluss des Reichsgehilfen, wenn er sich in den auswärtigen
Gebieten befindet, grösser als derjenige des Kaisers.
Der Kaiser glaubte diesen Worten und wollte den Reichs
gehilfen in Untersuchung ziehen lassen. Da man jedoch glaubte, dass
man auf diese Weise nichts entdecken werde, so wurden zuerst
Leute ausgesandt, welche sich über den Verkehr des Statthalters
des Landes der drei Flüsse mit den Aufständischen Gewissheit ver
schaffen sollten. Li-sse hörte von dieser Massregel, konnte jedoch
mit dem Kaiser, der um diese Zeit in Kan-tsiuen Kampfspiele auf
führen liess, nicht sprechen. Er übersandte daher das folgende
Schreiben, worin er auf die Eigenschaften Tschao-kao’s aufmerk
sam machte.
Ich habe es gehört: Ein Minister der misstraut seinem Landes
herrn, kann nur in Gefahr stürzen das Reich. Eine Nebengemahlinn
die misstraut ihrem Manne, kann nur in Gefahr stürzen das Haus.
Jetzt gibt es einen grossen Minister im Dienste des Kaisers. Er hat
ausschliesslich den Nutzen, er trägt ausschliesslich den Schaden;
er ist von dem Kaiser nicht verschieden. Dies ist äusserst unvor-
theilhaft. Einst war Tse-han, Vorsteher der Stadtmauern, der
Reichsgehilfe in Sung. Er selbst vollzog die Gesetze und zeigte
dabei seine Macht. Nach einem Jahre kehrte er die Waffen gegen
seinen Landesherrn. Tien-tschang war Minister des Fürsten Kien.
In Rang und Würde hatte er seines Gleichen nicht in dem Reiche.
Die Reichthümer seines eigenen Hauses waren denen des fürstlichen
Hauses gleich. Er übte Gnade, erwies Wohlthaten. Nach unten
gewann er die hundert Familien, nach oben gewann er sämmtliehe
Minister; er nahm heimlich in Besitz das Reich Tsi. Er tödtete
Tsai-yü in der Vorhalle. Hierauf tödtete er den Fürsten Kien an
23*
1
=
■
344
Dr. P f i z irt a i e r
dem Hofe und ward Herr über das Reich Tsi. Dies ist der Welt zur
Genüge bekannt.
Jetzt hat Tschao-kao verkehrte, eitle Gedanken, einen bedenk
lichen, ordnungswidrigen Wandel wieTse-han, als dieser Reichsge
hilfewar in Sung. Die Reichthümer seines eigenen Hauses sind gleich
denen des Geschlechtes Tien in Tsin. Er wandelt zu gleicher Zeit
auf den Wegen Tse-han's und Tien-tschang’s. Er wird vernichten
die Macht des Kaisers und bewirken, dass man Vertrauen setzt in
seine Absichten, gerade wie Han-khi *), als er der Reichsgehilfe des
Königs Ngan von Han. Der Kaiser schafft hierbei nicht Rath; ich
fürchte, es werden Veränderungen geschehen.
Der Kaiser erwiederte jedoch: Wie geht dieses zu? Dieser
Kao ist ein alter Diener des Palastes. Gleichwohl zeigt er keine
Nachlässigkeit. Seine Denkungsart blieb in der Gefahr unverändert.
Sein Herz ist rein, in seinen Handlungen befleissigt er sich des
Guten. Ich habe ihn verwendet bis zu dem gegenwärtigen Augen
blick. Durch Redlichkeit ist er emporgestiegen, durch Treue
behauptet er sich auf seiner Stufe. Ich halte ihn wirklich für weise;
doch du, o Herr, setzest in ihn Misstrauen: warum geschieht dies?
Auch habe ich in meiner Jugend verloren meinen Vorfahr; ich habe
mir keine Kenntnisse erworben, ich bin nicht gewohnt, das Volk in
Ordnung zu halten; doch du, o Herr, bist überdies alt und fürchtest,
mit der Welt zu Grunde zu gehen. Wenn ich mich nicht halte an
den Gebieter Tscliao, auf wen sollte ich mich sonst verlassen? Auch
ist der Gebieter Tscliao ein Mensch von strenger Enthaltsamkeit,
von überwiegender Kraft. Nach unten kennt er die Leidenschaften
der Menschen, nach oben kann er sich schicken in mich, den Kaiser.
Mögest du, o Herr, ihm nicht misstrauen.
Li-sse, der jetzt wieder persönlich mit dem Kaiser gesprochen
zu haben scheint, entgegnete hierauf: Dem ist nicht so. Dieser Kao
ist ein alter niedriger Mensch. Er weiss nichts von der Ordnung der
Dinge. In seinem Begehren ist er unersättlich, in seinem Streben
nach Nutzen hält er nicht inne. Seine Macht kommt gleich nach
derjenigen des Gebieters. Sein Streben und Wünschen nimmt kein
Ende, ich sage absichtlich: Es ist Gefahr vorhanden.
*) Über feit Han-khi ist in der Geschichte des Hauses Han nichts enthalten.
Ngan war der letzte König- des Reiches Han.
Li-sse, der Minister des ersten Kaisers.
345
Der Kaiser, der Tsehao-kao schon früher sein Zutrauen
geschenkt, fürchtete jetzt, dass Li-sse seinen Günstling um’s Leben
bringen könne und setzte diesen von der Unterredung die er mit
dem Reichsgehilfen gehabt, in Kenntniss. Tschao-kao äusserte sich
gegen den Kaiser: Was dem Reichsgehilfen Kummer verursacht, bin
ich allein. Wenn ich gestorben bin, wird der Reichsgehilfe sogleich
thun wollen, was Tien-tschang gethan. — Der Kaiser ertheilte hier
auf einen Refehl, indem er sprach: Man überantworte Li-sse dem
ersten Kämmerer.
Diesem Refehle gemäss ward Tschao-kao mit der Untersuchung
in der Angelegenheit Li-sse's betraut. Der Reichsgehilfe ward sofort
festgenommen und bewohnte, mit Stricken gebunden, einen Kerker.
Daselbst seinem Schmerze überlassen, blickte er gegen den Himmel
und rief: Wie traurig! 0 wie bedauerlich! Ein gottloser Landesherr,
wie könnte man auf ihn rechnen? Khie tödtete einst Kuan-lung-fung.
Tschheu tödtete den Königssohn Pi-kan. Fu-tschai, König von U,
tödtete U-tse-siü. Diese drei Minister, waren sie etwa nicht redlich?
Gleichwohl entkamen sie nicht dem Tode. Sie selbst starben, und
ihre Redlichkeit war vergebens. Jetzt komme ich an Verstand nicht
gleich diesen drei Männern, aber der Kaiser des zweiten Geschlechts
alters übertrifft an Gottlosigkeit Khie, Tschheu und Fu-tschai. Es
kann nicht anders sein, als dass ich sterbe meiner Redlichkeit willen.
Wie sollte auch die Herrschaft des Kaisers des zweiten Geschlechts
alters nicht eine ungeregelte sein? Vor Tagen vertilgte er seine
Brüder und setzte sich an deren Stelle. Er tödtete die redlichen
Minister und brachte zu Ansehen die gemeinen Menschen. Er baute
den Palast von O-fang, er belegt mit Abgaben und rafft zusammen
in der Welt. Ich habe nicht ermangelt, ihm Vorstellungen zu
machen, er aber hat mich nicht gehört. Alle höchstweisen Könige
der alten Zeit kannten im Essen und Trinken ein Mass. Für ihre
Wagen und Geräthe gab es eine Beschränkung der Zahl, für ihre
Paläste und Häuser gab es eine Beschränkung der Grösse. Wenn
sie Befehle erliessen und Dinge herstellten, ward dasjenige das kost
spielig war und von keinem Nutzen für das Volk, von ihnen gemieden.
Aus diesem Grunde konnten sie lange Zeit herrschen in Ruhe. Jetzt
zeigt er sich in seinen Handlungen feindlich gegen die Brüder: er
nimmt nicht Rücksicht auf ihr Unglück. Er überfällt und tödtet die
redlichen Minister; er kümmert sich nicht um ihr Verderben. Er
I
346 Ür. Pfizmaie r
baut in grosser Ausdehnung Paläste und Häuser, er belegt mit
schweren Abgaben die AVelt; er scheut dabei keine Kosten. Wo
man diese drei Dinge einmal gethan, ist die Welt nicht gehorsam.
Jetzt besitzen die Aufrührer bereits die Hälfte der Welt, sein Sinn
aber ist noch immer nicht erweckt, er macht vielmehr Tschao-kao
zu seinem Gefährten. Ich werde es noch sehen, dass die Räuber
kommen nach Hien-yang, dass Büffel und Hirsche umherwandeln an
dem Hofe.
Während der Kaiser die Untersuchung gegen Li-sse und dessen
Sohn Li-yeu einleiten liess, wurden auch alle Verwandten und die
Gäste dieser beiden Männer gefänglich eingezogen. Li-sse erhielt
auf Befehl Tschao-kao’s gegen tausend Streiche mit dem Bambus
stabe, so dass er den Schmerz nicht mehr ertragen konnte und fälsch
lich seine Schuld bekannte. Nach der Sitte des Landes hätte Li-sse,
ehe es mit ihm so weit gekommen, sich selbst das Leben nehmen
sollen; er that dies aber nicht, weil er auf seinen Verstand und
seine Verdienste rechnete, sich dabei auch keiner Schuld bewusst
war. Er hielt dafür, dass, wenn es ihm gelänge, dem Kaiser ein
Schreiben zu übersenden und sich darin zu erklären, der Kaiser
dann in sich gehen und ihn seiner Haft entlassen werde. Li-sse über
sandte daher dem Kaiser aus dem Gefängnisse den folgenden Brief:
Ich bin Reichsgehilfe und lenke das Volk bereits dreissig Jahre.
Ich fand das Land von Thsin eingeschlossen in enge Grenzen. Zu
den Zeiten der früher lebenden Menschen hatte das Land von Thsin
im Umfange nicht mehr als tausend Meilen, der Krieger waren einige
Hunderttausende. Ich machte vollständigen Gebrauch von meinen
geringen Gaben. Ich empfing ehrfurchtsvoll die Vorschriften, ich
hiess Männer heimlich umherreisen und Rath schaffen. Ich ver
wendete für sie Edelsteine und Gold. Ich hiess sie wandern und
Reden halten vor den Fürsten der Reiche. Ich bereitete im Geheimen
Panzer und Angriffswaffen. Ich bildete die Regierung, lehrte die
Obrigkeiten, ermunterte zum Kampf die Krieger, ehrte das Verdienst.
Ich liess Allen in reichem Masse zu Theil werden Ehrenstellen und
Einkünfte. Desswegen konnte ich am Ende einschüchterh Han,
schwächen Wei, zertrümmern Yen und Tschao, vertilgen Tsi und
Tsu. Zuletzt raffte ich zusammen die sechs Reiche, nahm gefangen
deren Könige und erhob den Herrscher von Thsin zum Himmels
sohne. Dies ist das eine meiner Verbrechen.
Li-sse, der Minister des ersten Kaisers.
347
Dem Lande fehlte es nicht an Ausdehnung. Ich vertrieb dazu
noch im Norden die Barbaren von Hu, im Süden brachte ich zur
Ordnung die hundert Stämme von Yue und zeigte dadurch die Macht
von Thsin. Dies ist das zweite meiner Verbrechen.
Ich hielt in Ehren die grossen Minister, verlieh ihnen in
reichlichem Masse Würden und Ehrenstellen, damit man versichert
sei ihrer Anhänglichkeit. Dies ist das dritte meiner Verbrechen.
Ich stellte an ihren Ort die Landesgötter, Hess Sorgfalt ange
deihen dem königlichen Ahnentempel, um in das Licht zu setzen die
Weisheit des Gebieters. Dies ist das vierte meiner Verbrechen.
Ich veränderte die Zeichnungen, brachte zur Gleichförmigkeit
Masse und Gewichte, so wie den glänzenden Schmuck der Schrift,
ich verbreitete dies alles in der Welt, um zu pflanzen den Ruhm
von Thsin. Dies ist das fünfte meiner Verbrechen.
Ich liess bauen den grossen Fahrweg, errichtete Gebäude für
Lustgänge und für Schauspiele, um zu zeigen, dass der Gebieter
erreicht hat seine Wünsche. Dies ist das sechste meiner Verbrechen.
Ich erliess die Strafen, verminderte die Abgaben, um dadurch
zu bewerkstelligen, dass der Gebieter gewinnt die Herzen der Menge,
dass die Zehntausende des Volkes ihn tragen auf ihren Häuptern,
dass sie sterben, und ihn nicht vergessen. Dies ist das siebente
meiner Verbrechen.
Dass ich aber Minister gewesen, dieses Verbrechens willen
hätte ich den Tod verdient gewiss schon vor langer Zeit. Dass der
Kaiser mich beglückte und mich Gebrauch machen hiess von allen
meinen Fähigkeiten und aller Kraft, hierdurch konnte ich erreichen den
heutigen Tag. Ich wünsche, dass der Kaiser dieses untersuche.
Als dieses Schreiben an den Hof gelangte, befahl Tchao-kao
den Gerichtspersonen, dasselbe bei Seite zu legen. Er selbst legte
es dem Kaiser nicht vor, indem er sprach: Wie kann es einem
Gefangenen gestattet sein, Briefe zu übersenden?
Tschao-kao biess jetzt zehn seiner Gäste und Genossen sich
für kaiserliche Schreiber, Vorsteher und Aufwärter des inneren
Palastes ausgeben. Dieselben verfügten sieh zu Li-sse in den Kerker
und verhörten diesen von neuem. Der Reichsgehilfe widerrief bei
diesem Verhöre seine früheren Aussagen und antwortete nur der
Wahrheit gemäss, indem er seine Betheiligung an dem Aufruhr in
Abrede stellte. Er ward jedoch auf Befehl Tscliao-kao’s nochmals
348
Dr. P f i z m a i e r
mit Stäben geschlagen. Als hierauf der Kaiser Leute absandte, um
Li-sse zu verhören, glaubte dieser, dass es ihm ebenso wie das letzte
Mal ergehen werde, und wagte es nicht, von seiner ersten Aussage,
in der,er sieh schuldig bekannt hatte, abzuweichen. Als der Bericht
dem zufolge Li-sse seine Schuld gestanden, an den Hof gelangte,
rief der Kaiser freudig: Wäre der Gebieter Tschao nicht gewesen,
wäre ich gewiss von dem Reichsgehilfen verkauft worden.
Unterdessen waren die Abgesandten welche der Kaiser mit der
Untersuchung der Schuld Li-yeu’s beauftragt hatte, an Ort und Stelle
angekommen, fanden jedoch den Statthalter nicht mehr am Leben-
Derselbe war von Hiang-liang, dem Anführer der Aufständischen,
angegriffen und getödtet worden. Als die Abgesandten zurück kamen,
war Li-sse bereits den Gerichten überliefert und Tschao-kao stellte
Alles in einem falschen Lichte dar.
Im zweiten Regierungsjahre des Kaisers des zweiten Geschlechts
alters (208 v. Chr.), und zwar im siebenten Monate desselben,
ward das Strafgesetz auf die vermeintliche Schuld Li-sse’s angewen
det. Das Urtheil lautete auf Abschneidung der Lenden , eine Strafe
die gewöhnlich mit der Säge vollzogen ward. Die Hinrichtung sollte
auf dem Markte von Hien-yang öffentlich stattfinden. Als Li-sse aus
dem Gefängnisse geführt ward, wendete er sich gegen seinen gleich
falls vernrtheilten zweiten Sohn und sprach zu ihm: Ich möchte
mit dir noch einmal an der Hand führen den gelben Hund, mit dir
hinaus gehen vor das östliche Thor von Schang-tsai und jagen
den listigen Hasen: wie sollte mir dies gestattet sein? — Vater und
Sohn weinten hierauf und litten gemeinschaftlich den Tod. Die drei
Seitenlinien des Reichsgehilfen wurden ebenfalls ausgerottet.
Nach dem Tode Li-sse’s ward Tschao-kao von dem Kaiser zum
mittleren Reichsgehilfen ernannt. Derselbe leitete jetzt alle Geschäfte
ohne, Unterschied und entschied in allen Angelegenheiten. Stolz auf
die Macht die er in dem Reiche besass, dachte Tschao-kao bald daran,
sich selbst an die Stelle des Kaisers zu setzen, vorher wollte er
jedoch des Gehorsams der Minister gewiss sein und stellte sie daher
auf die Probe. Er machte dem Kaiser ein Geschenk mit einem Hirsch
und behauptete, dass es ein Pferd. Als der Kaiser sich zu seiner
Umgebung wendete und bemerkte, dass dies ja ein Hirsch sei, sagten
Alle Tschao-kao zu Gefallen, dass das Thier ein Pferd. Der Kaiser
entsetzte sich hierüber und glaubte, dass seine Sinne verwirrt seien.
Li-sse, der Minister des ersten Kaisers.
349
Er berief seinen erstenWahrsager und fragte ihn um die Ursache dieser
Erscheinung. Der Wahrsager gab zur Antwort: Dass der Kaiser im
Frühling und im Herbst das Opfer bringt im freien Felde, dass er es
darreicht im Ahnentempel den Göttern und Geistern, dass er betet
und fastet, wird nicht in das Licht gestellt; desswegen ist es mit ihm
so weit gekommen. Er möge, gestützt auf das Übermass seiner
Tugend, in’s Licht stellen das Beten und Fasten.
Der Kaiser begab sich jetzt in eine Gegend, welche
Schang-lin, „der obereWald“ genannt wird, um daselbst zu fasten und
zu beten. Während er eines Tages umherwandelte und sich mit Jagen
die Zeit vertrieb, traf es sich, dass einige Reisende den Wald betraten.
Dieselben wurden von dem Kaiser mit Pfeilen erschossen. Tschao-
kao beutete dieses Ereigniss zu seinem Vortheile aus, indem er seinem
Schwiegersöhne Yen-Iö, dem Befehlshaber der bewaffneten
Macht in Hien-yang, die Weisung gab, unter dem Vorwände, die
unbekannten Mörder zur Strafe ziehen zu wollen, selbst auf den
Schauplatz der That zu eilen. Hierauf begab sich Tschao-kao zu dem
Kaiser und sprach zu ihm: Dass der Himmelssohn ohne Ursache
tödtet unschuldige Menschen, dies ward verboten durch den höchsten
Gott. Die Götter und Geister nehmen das Opfer nicht an, und der
Himmel sendet Unglück hernieder. Es geziemt sich, dass der Kaiser
sich entferne und sich zurückziehe in einen Palast, um dem Unglück
zu entkommen.
Der Kaiser zog nach dem in einiger Entfernung von Hien-yang
an den Ufern des Flusses King gelegenen Palaste 5^ Wang-I,
woselbst er vier weisse Pferde als Opfer in den Fluss versenken
wollte. Tschao-kao, der einen falschen Lärm schlagen liess, ver
sammelte um sich die kaiserliche Leibwache, während dessen
Schwiegersohn an der Spitze von tausend Kriegern sich gegen
den Palast in Bewegung setzte. Zugleich ward dem Kaiser gemeldet,
dass die Räuber von dem Osten der Berge in grosser Menge an
gekommen seien. Der Kaiser, der die vor seinem Palaste aufgestellten,
in grobe Gewänder gehüllten Krieger erblickte, hielt diese für ein
gedrungene Empörer und verlor die Fassung.
Nachdem der Palast durch die Krieger besetzt und das kaiser
liche Gefolge zerstreut worden war, erschien Yen-lö und redete den
Kaiser, der jetzt erst den wahren Sachverhalt erfuhr, mit folgenden
350
Dr. P f i z m a i e r
Worten an: Der Kaiser handelt übermüthig Und eigenmächtig, der
Kaiser lässt Hinrichtungen vollziehen und mordet gegen alles Gesetz.
Die Welt hat sich in Gemeinschaft aufgelehnt gegen den Kaiser. Möge
der Kaiser für sich seihst jetzt Rath schatfen.
Der Kaiser, die Bedeutung dieser Worte wohl erkennend, fragte,
oh er den Reichsgehilfen Tsehao-kao sehen könne. Als Yen-lö dies
verneinte, sagte der Kaiser: Ich will nur besitzen eine einzige Land
schaft und daselbst als König herrschen Yen-lö erklärte, dies
nicht bewilligen zu können.
Der Kaiser sprach hierauf: Ich will werden ein Fürst von zehn
tausend Wohnhäusern. — Nachdem ihm dies wieder abgeschlagen
worden, sprach er: Ich wöl mit Weib und Kind gehören zu dem
Volke und auf gleicher Stufe stehen mit den übrigen Prinzen.
Yen-lö erwiederte: Ich habe den Befehl erhalten von dem
Reichsgehilfen, im Namen der Welt hinrichten zu lassen den Kaiser.
Mag der Kaiser auch Vieles reden, ich wage es nicht, die Worte zu
melden. — Der Kaiser, jetzt auch von den eintretenden Kriegern
bedroht, tödtete sich selbst.
Tschao-kao nahm das kaiserliche Siegel zu sich und war Willens
sich zum Kaiser aufzuwerfen, aber weder die Hofleute noch die
Obrigkeiten schlossen sich ihm an. Als er zur kaiserlichen Halle
emporstieg, wollte diese dreimal über seinem Haupte einstiirzen.
Der Reichsgehilfe glaubte hieran erkennen zu müssen, dass der
Himmel sein Vorhaben nicht begünstige, und da auch die Minister
nicht einverstanden waren, liess er -J- Tse-ying, einen
jüngeren Bruder 1 ) des Kaisers des Anfangs, zu sich kommen und
übergab ihm das kaiserliche Siegel.
Tse-ying, auf den Thron erhoben , hatte vor Tschao-kao eine
grosse Scheu, so dass er eine Krankheit vorschützte, um nicht in
Angelegenheiten der Regierung Gehör geben zu dürfen. Unter
dessen berieth er sich mit dem Eunuchen Han-tan und
seihem eigenen Sohne über die Mittel, wie er Tschao-kao aus dem
Wege schaffen könne. Als demnach Tschao-kao an dem Hofe
erschien, um sich nach dem Befinden Tse-ying’s zu erkundigen, berief
*) Nach der Geschichte des Reiches Thsin war Tse-ying ein Bruderssohn des ersten
Kaisers.
Dr. Pfizmaier, Li-sse, der Minister des ersten Kaisers.
351
ihn dieser zu sich und liess ihn durch Han-tan erstechen. Gleich
zeitig wurden, so wie früher bei Li-sse, auch die Seitenlinien dieses
Reichsgehilfen ausgerottet.
Sechs und vierzig Tage nach der Thronbesteigung Tse-ying‘s
drang der Fürst von Pei, Feldherr von Tsu, nachdem er das
Heer von Thsin geschlagen, bis an die Ufer des Flusses Pa 1 ) und
liess den Herrscher von Thsin zur Unterwerfung auffordern. Tse-
ying band sich, zum Zeichen, dass er zu sterben bereit sei, um den
Hals die kaiserliche Schnur seiner Kopfbedeckung und ergab sich
zur Seite des nach dem Einkehrhause eJ|P Tschi 3 ) führenden Weges.
Der Fürst von Pei übergab hierauf den Herrscher der Aufsicht von
Gerichtspersonen und bezog wieder ein Lager an dem Flusse Pa.
Als jedoch nach einem Monat Hiang-yü, der oberste Anführer der
Empörer, in Hien-yang eintraf, liess er Tse-ying enthaupten, plün
derte und verwüstete die Hauptstadt, womit der Herrschaft des
Hauses Thsin (207 vor Chr.) ein Ende gemacht wurde.
J) Der Fluss Pa befindet sich dreissig Li östlich von dem heutigen Si-ngan.
2 ) Das Einkehrhaus Tschi lag dreizehn Li östlich von dein heutigen Si-ngan.
ßfl
9f£h
352
A. R. V. P e r g e r
Zur Geschichte der Falkenjagd.
(Nach bisher unbenutzten Quellen.)
Von A. R. v. Pcrgcr.
„Diese Jagd (die Falkenjagd), die wir nur noch aus
Gemälden kennen, wird zuletzt so weit vergessen,
dass uns selbst die Erinnerung und klare Vorstellung
davon fehlen wird. Um wenigstens ihre^geschicht-
liche Kenntniss zu retten — wollen wir etwas von
guten Meistern auftischen.“
(Spangenberg, Luftjagd der Vorzeit. S. 1.)
Diese Worte sind so wahr und treffend, dass für die folgenden
Blätter kaum ein besseres Motto zu finden sein dürfte. Die Falknerei
ist erloschen wie das Turnier. Sie gehörte zu den grössten Vergnü
gungen, ja gewissermassen zum höchsten Stolz des Adels, sie bedurfte,
besonders wenn man sie nicht auf gar zu alltägliche Weise betrieb,
eines bedeutenden Aufwandes und wurde, wie allgemein bekannt,
eine ganze Reihe von Jahrhunderten hindurch nicht nur mit Lieb
haberei, sondern mit Leidenschaft behandelt. Was war der Edle, was
die Dame, was der Abt, wenn sie bei ihrem Ritt nicht den kostbaren
isländischen Falken auf der Faust hatten und von Orcagna an, der
im Campo Santo zu Pisa den „Sieg des Todes“ malte, bis zu Wou-
vermann herab, sehen wir Falke und Habicht als Attribute des
Reichen und Vornehmen; freilich dort auf der Faust eines Castruccio
Castracani und hier nur in den Händen eines behaglichen Mynheer,
aber an beiden Orten unentbehrlich. -— Im siebzehnten Jahrhundert
war doch unzweifelhaft aller mittelalterliche Geist entwichen, der
Panzer und die schweren Dilgen mussten den grossen Halskrausen
und den Pluderhosen, die sittige Tracht der Frauen den geschmack
los steifen Reifröcken Raum geben; der freudige Tyost und das
stürmische Melee wurden von einem erbärmlichen Ringelrennen
verdrängt; nur die Falkenjagd hatte sich noch erhalten, nur sie
s
Zur Geschichte der Falkenjagd. 353
wurde noch mit der alten Pracht, mit der alten Verschwendung
getrieben und würde noch länger aufrecht erhalten worden sein,
hätte ihr die Natur nicht selbst Grenzen gesetzt.
Denn nicht die Verbesserung der Schiessgewehre war es, wie
Manche glauben*), durch welche die Falkenbeize unnöthig gemacht
wurde, sondern der eintretende Mangel an jagdbaren Vögeln, denn
man hatte gar zu arg gegen sie gewüthet, so dass sie theils ausge
rottet, theils weit hinweg verscheucht wurden. Konnte doch auch
noch Ludwig XIII. von Frankreich nicht ruhigen Gemüthes zur Messe
gehen, wenn er nicht zuvor mit seinen Pigriesches und Esperviers
einige Sperlinge oder andere kleine Vögel gebeizt hätte, die eigens
zu diesem Zwecke losgelassen wurden.
„Un jour“, so erzählt D’Arcussia in seiner „Fouconnerie“
(pag. 170), „l’accompagnant (Louis XIII.) ä ce plaisir, apres qu’il
„en eut pris demie douzaine, ie luy dy que son plaisir ne seroit pas
„de duree, s’il continuoit d'en prendre teile quantite. Et lors monsieur
„de la Vie-Ville repartit, et luy dit: Sire il vous en parle en Chasseur,
„et vous dit vray. Lors sa Majeste ouurant sa main et monstra six
„testes de sa prise de cette matin et cela fait, il s’en alla ouyr sa
„Messe aux Feuillans.“
Zu diesem fanatischen, schonungslosen Betrieb des Beizens
kam nun auch die um sich greifende Beurbarung der Länder. Grosse
Heideflächen wurden zu Äckern umgestaltet; die mit Buschwerk
besetzten Hügel wo sich so trefflich nach Repphühnern jagen liess,
wurden zu Weinbergen, die ausgedehnten Moräste die einst der
Aufenthalt von Hunderten von Reihern und zahllosen Wildenten
gewesen sein mochten, wurden ausgetrocknet, und so waren, so
glänzend und so wissenschaftlich die Falknerei zur Zeit Kaiser
Friedrich des Zweiten getrieben wurde, die wenigen Falkenritte in
den Tagen Maria Theresia's beinahe nur mehr eine Art von altem
Hofgebrauch, der bald darauf gänzlich verdämmerte und zugleich
den Schutz aufhören machte, den man einst den Falken und ihren
Besitzern in so hohem Grade angedeihen liess. Eben um dieses
Werthes willen, den man auf die Falkenjagd legte, spielt diese eine
so bedeutende Rolle in der Geschichte des häuslichen Lebens und
des Prunkes im Mittelalter; aus demselben Grunde wurde die Falk-
*) Z. 13. Beckmann, Beiträge zur Geschichte der Erfindungen, Vol. 2, p. 174.
I
354
A. R. r. P e r g- e r
nerei zu einer Art traditioneller Wissenschaft und bewog so manchen
des Schreibens Kundigen, die Feder zur Hand zu nehmen , um das
wäs er selbsteigen erfahren oder von anderen über diesen Gegen
ständ vernommen hatte, für sich, und dadurch für die Nachwelt fest
zu halten.
Die k. k. Hofbibliothek, obwohl schon hundertfach ausgebeutet,
birgt noch immer eine Menge von Schätzen und Seltenheiten grösserer
und kleinerer Art, die entweder nur so halbhin oder ganz und gar
nicht benützt wurden, und die beiden, in den folgenden Zeilen wieder
zu gebenden Handschriften über Falknerei, deren eine dem XV.
und die andere dem XVI. Jahrhundert angehört, dürften wohl zu
den letzteren zu zählen sein.
Der erste und ältere dieser Aufsätze mit der Überschrift:
„Hyrnäch uolget wie man die ualken czyhen, halden
vnd locken sali“ befindet, sich in dem Cod. Mss. Nr. 2977 und
füllt achtzehn Quartseiten (Fol. 172 b bis Fol. 180 6). Er ist im
Catalogus codicum Mss. medicoruin (p. 322) bei der Recension jenes
Codex der hier die Signatur 123, olim S. N. trägt und mit „charta-
ceus, foliorum 183, saeculi decimiquinti“ gekennzeichnet Wird, und
eben so in Hoffmann’s „Verzeichniss der altdeutschen Handschriften
der k. k. Hofbibliothek zu Wien“ (pag. 269 — 270 sub Nr. 205)
dem Titel nach angeführt.
Der zweite, bisher wohl gänzlich unbekannt gebliebene Aufsatz
befindet sich am Ende des, der k. k. Hofbibliothek angehörigen
Exemplares von Jacques de Fouilloux „Venerie“ (Paris 1564,4°).
Er ist auf die beiden, dem Buche angefügten Einsteckblätter geschrie
ben und erstreckt sich bis auf die Innenseite des Buchdeckels. Die
Zeilen scheinen ziemlich flüchtig entstanden zu sein und bieten
daher dem Leser so manche Schwierigkeiten. Sie rühren, dem
Schriftcharaktef nach, von einem der früheren, wo nicht vielleicht
von dem ersten Besitzer jenes Buches her, der ohne Zweifel Cävalier
und seine eigenen Falken hegend, seine Erfahrungen hier aufzeich
nete, wo er wusste, dass sie ihm nicht verloren gehen konnten und
wo er sie immer wieder leicht aufland, indem sie sich am Schlüsse
des für einen damaligen Huntsman so wichtigen Werkes des Foil-
loux befanden. Sie tragen die Aufschrift:
„Falken zu fallen, abzurichten vnd gesund zu
erhalten.“
-
\
Zur Geschichte der Falkenjagd. 355
Beide diese Schriften sind nicht nur durch den Stoff, den sie
behandeln, sondern auch in sprachlicher Richtung interessant, indem
sie eine gewisse Zahl von alten Falknerausdrücken enthalten, deren
Erläuterung, nächst den Berufungen auf hierher bezügliche Stellen
aus anderen Werken, die Mitaufgabe der den Text begleitenden
Noten sein soll.
I.
Hyrnach uolget wie man die ualken czyhen, halden vnd locken sali.
(Fol. 172 «.) Wer weidelichen welle sein, der neme das buch
yn seinen syn und wol her mit dem valken van, so sal her das nicht
enlan, her sal dis buch hören leszen, so mag her das gewisse wesen,
her mus ein meister sein genant, liie vnd ober alle land.
Welch man eynen wylden valken hat, der sal yn also lange
tragen 1 ) das her von rechter müde czam wirt, man sal ym ouch
swyrigen 2 ) bewaren, beyd, vff der handt vnd vif der ricke 3 ).
Du salt ouch wissen, wen du eynen wilden valken treist, so saltu
das gescliuhe 4 ) so kurz vnd so nahen vmb die vinger wynden, wen
her sieh swinge, das ym der zagel 5 ) vber die hant icht gereichen
möge, das sein geveder nicht czubreche, man sal yn ouch vynster
setczen, man sal yn ouch gar stetiglichen tragen, wen her denne
czam ist, vnd.du yn locken wilt, so saltu yn locken an eynir langen
snur ö ) die geringte sey, vnd salt das bewaren das die snur an ichte
haffte, du salt yn locken (fol. 172 b) das ym der wynt stetiglichen
vnder die ougen gee vnd nicht vff den rucke 7 ), man sal yn ouch
habin in ebener rnasz, das her weder czu mager noch czu veth sey,
ist her czu vett, so ist her vnsteth, ist her ouch czu mager, so toug
her nicht, dese mase saltu selber leren, du salt yn ouch mit gutter
lust haben, du salt ouch wissen das ym kein as s ) bessir ist, wen eyn
reyn rintfleisph, das nicht eines varren?) sey, jm ist ouch kein as
bessir wen das hun, wen du das nicht gehaben magest, so mustu
nemen was du hast vnd das saltu wol reynigen, allerley steudem
vedirspil ist allerley as gut, wisse ouch das is ym gut ist, was man
ym nasz gebit vnd gewenlich, wisse ouch das die junge taube vedir
spil gut ist, wen is machit is gar stolz, wisse ouch das scheffln fleisch
ist deni vedirspil nicht gut, wenne man ym czuvele gibit, wen is
gewypet den steyn, do.vo.n das is vnslith hot, swynen fleisch ist vedir-
I
356
A. li. v. P e r g e r
spil nicht gut, wen es wirt slymmig da von (fol. 137 a) das is smalcz
hat, der hunt vnd die katcze ist gut as dem vedirspil, wen sie mitt
enander lauffen, wen du ym das gebin wilt, so saltu es yn ein reyn
wasser legin, ein tag oder eine nacht, dornach wasche is reine so
magestu is ym geben.
Wen du deynen valken gelocket hast vff alle sein recht, so
saltu ym leren vmh dich vligen, des her czudyr fluget vnd nahen czu
dyr kumpt, so saltu dein luder 10 ) underrucken, so vert her dornach
vnd fleuget vmb dich, so saltu yn des ersten nicht vff vligen lan, du
salt ym das luder vorwerffen vnd salt yn doruff etczen vnd ym gar
guttlichen thun, das saltu also lange treiben vnd also manchen tag,
bisz du yn gar nach deinem willen gewenest vmb dich vligen, du salt
en ouch czu derselben czeith ettlich masze hungrig lasen, darumben,
das her deste lieber bey dyr bleibe, thut her denne deynen willen,
so thu ym deste bas an seynen essin, so libestu dich ym, das her
nach deynem willen thut (fol. 173 b) vnd von dyr nicht begert, du
salt dich in der ersten neuwe hüten, das du by brechm icht beisest
odir bei brachm t*), wen do tritt her gerne an ia ), du salt ouch
wissen wo du deynen valken setczs, du salt yn also setczin, das her
bewart sy vor rouch vnd ouch vor stöbe vnd vor aller vnrenykeit, du
salt ouch wissen, von der veiste die der valke hotli, das her nicht
vollen ödem yn ym hoth, so gewinst ym an, das her ödem gewynnet
vnd von dyr nicht geet, du salt yn ouch verren in den wint locken
vnd ducken i3 ) das ist ym gut. Dise kunst ist ouch czu dem blafus 14 )
gut als czu dem valken, du salt ym ouch in seiner wilde gewynnen,
an das her die houben 15 ) gern trage, du salt yn ouch yn seiner wilde
nicht czulange baden, wen her wirt wilde davon, du salt wissen, wen
du yn hast brocht jn alle sein recht, so ist ym baden gut, desselben
tages als her gebath vnd sich erstrichen 1(i ) hoth, saltu yn vinster
seczen an eyne reyne stadt vnd las ym eyne weyle sitczen, so nym
yn denne vff (fol. 174 a) die hant, vnd trag yn denne, bisz
vff die czeit das du yn beisen wilt, so vlöget her gerne noch
deynem willen vnd teteste ym andirs, her veruerete 17 ) leichte
deines teyles.
Welch valke us dem neste gewunnen ist, dem saltu andirs thun,
den saltu czu gutter müsse tragen, das her wol czam wirt, vnd salt
yn setcen von andirn vedirspelen, das her nicht schuende 18 ) werde,
vnd salt yn ebener veiste halten, das her nicht schreyende werde,
m2K~T h ik T?
Zur Gechichte der Falkenjagd. 357
ap her der art ist abir, das her schreyen wil, so saltu yn czu den
luthen i9 ) setczen, das her schreyens müde werde.
Welchis tagis der koniglinges 30 ) valke gebat, so vlug her gerne
honnd 31 ) mit lust, man sal ym ouch nach seyme bade nicht sere
lassen trincken, vnd sal yn vinster setczen, dornach so vluget
honnd 23 ) mit lust, also ist gesundert die kunst vnder konlinges
valken vnd deme wiltfange 23 ).
Welch valke bey rechter ueist vnlustig ist, den saltu also lustig
machen, du salt ym gehin nd geveder 34 ) mittenander gebin, das
sal wässerig sein vnd (fol. 174 ö) salt ym das dicke thun, sistu
abir, das is an ym nicht hilffet, so saltu em suberunge 25 ) machen
als ich dir sagen wil, du salt ein reyn luter tuch nemen, do saltu
salcz yn nemen, vnd salt das bynden mit eyme vademe, vnd das sal
so gros seyn als eyne welsche nusz, vnd salt das stoszen in eyn reyn
wasser, vnd lege is denne vff reyne kolen die do gluen vnd las is
doruff, bis das ouch eyne kole wirt, so saltu is denne usnemen vnd
darczu gerebin pfeffir vnd ein teil russes, das der czweier also vil
sei, als des salczes, das reib czusampne vnd gib is ym also. Du salt
nemen eines gevugen gelides lang vnd salt die geschaffen mächin
als ein echil 2 “) vnd lege sie in ein reyn wasser, das sie wol erhärten
vnd welger yn dem pulver vnd nym denne den valken suberlich czu
samen vnd stos ym der dreyer bissen eynen yn den munt, durch en
unclichen 37 ) mit dem vinger hyn yn, vnd geus ein wenig wassers.
Lere wie du dein vedirspiel haidist, das is 38 ) czu ueist, nach czu
mager, wedir czu (fol. 175 a) hungrik, nach czu sat, vnd halt is mit
guttem as czu vechter lust, so thut is deynen willen czu allen Zeiten.
Nv saltu ouch wissen, wie du ym der luse bussen 30 ) salt vnd
wisse, das her nymer eyn tag recht, gethut jm ir denn busz, du salt
nemen auripigment vnd salt das dein reyben vnd salt ym denn reyben
vnder sein geveder, aller enden an seynem leybe, so du meist magest,
vnd an seynem houpt, an dem nacken, an dem snabel vnd an seine
weiduensteren 80 ), vnd an seinen uittichen.
Wiltu eyne andere suberunge haben, die ouch gut ist, so saltu
nemen frawen myncze, die ouch gut ist, die saltu grasen 81 ) also das
sie doch bey ir sterke bleybe vnd salt sie denne begissen mit louge,
die gemacht sey von haberstro, domit bade in allen enden, domitt so
wirt im bas, wiltu ouch das gut ist vor die leuse, so nym yngeber 32 )
vnnd pulver die vnd geuss darczu eyn teil essiges, vnd salt salt das
Sitzb. d. phil.-hist. CI. XXXI. Bd. II. Hft. 24
358
A. R. v. Perger
vaste vmbruren vnd salt deynen valken vber all an seynem leybe vnd
an seynen geveder (fol. 175 b) daniete bestrichen, so wirt jm bas.
Ist das dein valke worme jn dem leibe hot, dassaltu daran merken,
her stellit sich trawruglichen vnder seynen ougen vnd syt offte vnder
sich an seynen leup vnd stellet sich czu Schottin ”) vnd schutt sich
kurczlichen, vnd ist ouch etwas blutt var geschaffen syn gesmeise,
das saltu ym also bussen, du salt ym eyne suberunge machen, als du
hast gehört, vnd salt yn vor der suberunge weich machen in dem leibe,
als dir ouch vor gesagt ist, odir nym cwelff springkernwurcz 3t ) vnd
czudrucke sye vnd derre merrettich vnd reib den klein vnd rere 35 )
des ein wenig in dy springkornenwurcz, ynd gyb ym das in eynen
fleisch, so sterben von dem merrettich die worme vnd (durch die)
sprinckwurcz geen sy von jm.
Nv saltu ouch wissen wen du den valken us der mouse 36 )
genomen host, wie du ym denne thun salt, wen du yn geczemet
host, das du yn locken wilt, so saltu nemen petircziligen samen vnd
nesselen samen, das ir beydir glich, vnd die sullen heyde druchen
dorre sein vnd (fol. 176 a) das mitenander stoszen czu puluer vnd
geus eyn reynes wasser daran, vnd rure is vaste unben vnd dringe es
durch eyn reyn tuch vnd lege dein fleisch doryn, vnd gib ym das
wol czu sechsmalin czu essin, des obendes vnd des morgens dornach,
rieht dich vff ein suberunge vnd thu also, du salt ym gebin ein
wenig fleisehes, domit sol her steen von dem morgen vff den mittag,
dornach saltu ym desselben tages vff den abent smalcz gebin, das
weichit ym den leib, des anderen morgens saltu ym ein suberunge
gebin mit den sprinckwurczen, als yn dem buche vorne host gehört.
Nv wisse ouch ein ander gutte suberunge, die saltu den valken
thun die vorsumet seyn in der muse, vnd übel gehalten synt, du
salt nemen sechs pfeffirkorner, wol derren, vnd salt das salcz wol
körnen, vnd salt die beyden vnderenander reywen, dornach der
byssen sullen czweene seyn, ab du yn (fol. 176 6) den dritten nicht
behefften 37 ) magest, so saltu denne den valken vff die hant nemen,
vnt trag yn hyn vnd her, vnd salt ym eyn weil wern, das her nicht
werffe vnd salt yn denne setzin an eyne schone stat, so wirstu
gewar was groszes vnflates her von ym worffen hoth, du salt ouch
wissen meisters, wen dein valke din luder treitt, so saltu yn darauff
lassen steen, vnd salt yn vmbgeen vnd salt en bestrichen, als gewon-
lieit ist des valken, vnd salt den hanthschuch vmb lassen geen
Zur Geschichte der Falkenjagd.
359
das her das gewon vnd das der gerne bey dyr bleibe vnd ist
euch weid ech.
Nv saltu ouch wissen, ab her suche 3S ) hot, wie du ym davon
helfin salt, du salt ouch 39 ) doran vorczagen, op her von ersten nicht
noch deynem willen tliut.
Nv wisse wie du ym des steynes bussen salt, dassaltu als vor
nemen wen sein gesmeise bosze sei, js das is sich Jang czuet-vnder
seynem weydefenster, vnd an seinem geveder hafft, so hot her den
stein, den saltu ym (fol. 177 a) also bussin, du salt nemen ledir 40 ),
kalch vnd salt, das begissen mit reynem wassir, vnd salt das vaste
vmb ruren, vnd salt is denne wol lassen lutem; vnd salt is denne
ap seygen, das des kalkes nicht bleybe, so saltu nemen ein reines
fleisch, das du ym doch gebin wilt, vnd salt das doryne lassen legen
ein tag oder ein nacht, des saltu ym denn geben czwene troppen
odir drey czum allermeisten, wo sich denne der stein gesammelt bot,
do czubricht her vnnd geet von ym, dornach saltu nemen petirczili-
gensomen vnd salt den klein reybin, vnd salt den reren vff sein as,
vnd salt ym ouch des drey troppen geben, so wird ym der stein
suche buss.
Von allen kranken vedirspill.
Nv wisse ouch dasz allem kranken vedirspil eyer, yn czegener
milch gemacht, gut sein, also daz sy nicht czu herte sein, magestu
esiline milch gehaben, die ist vil bessir, du salt ouch wissen das allen
vedirspil das vorstoppet ist, odir sich (siech) in dem leibe, odir
verstoppit in dem houbte, (fol. 177 6) gut (sei), das is esse vs
eziegener milch, odir vs esilsmilch.
Vor die worme.
Welch valke worme. hot, der gesmeise ist roth, das saltu ym
also bussen, du salt nemen reynen honig, der gelutert sei von dem
wachse, vnd thu des honiges in eyn hunerdarm der eines gevingers
geledes lang sey, vnd thu dorzu yn den darm eyn teil gutter cimey«),
in der masze vnd las yn den darm vorslingen, so vortreibt die eimey
die worme vnd wirt ym bas in dem leybe von dem honige.
Du salt ouch wissen, eyne gutte suberunge von dem springkorn
gesunt seyn vedirspil, der saltu nemen acht korner vnd salt die sere
drucken vnd salt die bewinden yn einem bissen fleisches, vnd las ym
das vorslingen, das ist ym gut, vnd das saltu vff den obent thun,
wiltu eyne andere suberunge haben, die ouch gut ist, so saltu nemen
24«
3ö0
Ä. R v. P e r g- e r
eyn ding yn der apotekenas heiset stranom ia 4a ), das saltu yn,
grosser wen eyn arbis, gebin jn eynem bissen fleischs, der bissen
(fol. 178 a) saltu ym mer wen eynen gebin, ap du ym sie bebefften
magst, du salt wissen das das dein vedirspil gesunt vnd lustig macht.
Du salt oucli wissen, das du czu allen deszen suberungen, salt
dein vedirspil vor in dem leybe weichen, als ich dich lere, du salt
nemen eyn reyn smalcz vnd salt das thun in ein vas, vnd salt das
lassen derwallen, vnd gus is denne vff ein wasser das do kalt sey,
das smalcz saltu denne von dem wasser nemen, vnd salt es winden
in ein bissen fleisch vnd las yn das vorslingen, so weichet her in
dem leibe.
Nv wisse ouch, ap dein valke worme yn ym hot, das saltu ym
also bussen, du salt nemen schorlattechin 4S ) vnd den schabin mit
eyne inesser, vnd ym das reren vff sein as, vnd lasz yn das essin,
du salt ouch wissen by aller deszer, vnd salt nemen reynen speck,
eynes gelides lang, vnd salt den czu slan, vnd salt das pulver reren
vff den speck vnd salt das vnderenander slan, vnd slacli is an czwey
huffelyn 44 ) vnd bewynth is in czwene bissen fleisch, (fol. 178 b)
die du ym doch geben wilt, vnd nym denne den valken czusampt in
ein schon tuch, vnd stos ym die suberunge suberlichen in den munth,
vnd geus ym ein wenig wassers dornach, vnd nym denne den valken
vff die liant, vnt trag yn eine kleyne weile vnd setcze yn denne hyn
yn ein vinster gemach, so wirstu denne gewar, was groszes vnflates
her von ym wirffet, dornach gib ym eynes reynen fleisches czwene
bissen odir drey, so magestu mit ym beysen wen du wilt.
Nv wisse, ap dein valke sich (siech) sey in dem houbte, so saltu
nemen eyn reyn topeliin vnd geus daryn weyn, vnd lege doryn rwte 45 )
vnd ysopp vnd poley, vnd las das mitenander syden, vnd salt das
topchin mit eime appil 40 ) decken, das der brodem nicht vs gee, so
saltu denne den valken vff die hant nemen, vnd salt nemen eyn ade
riges fleisch, do her sich wol an irczihen möge 47 ), wirret ihm denne
icht 48 ) yn seinem houbte, das wirtym von dem brodem (fol. 179 u)
der vs dem topchin an yn geet, wen du yn domete bestreuchest, vnd
gewynnet guten ödem donoli.
Nv wisse ouch, op dein valke anwel 40 ) vehet, wie du ym das
weren salt, du salt nemen aloe epaticum ■ r >°) vnd salt das puluern,
vnnd das puluer stete bey dir tragen, syestu denne das dein valke
augel vehet, vnd wen her doruff steet vnd vaste ranset 51 ) vnd en
Zur Geschichte der Falkenjagd.
361
erkeuczet 53 ), vnd essin beginnet, so saltu suberlichen czu ym komen,
vnd rere ym das puluer vff die augel, so leth her deste ee dorvon,
du salt ouch entian 5S ) reyben, vnd wirff das puluer vff den anwel,
wen yn der walke isset, do mitte werd man ym allerley anogel, vnd
wisse, allerley vogel die der valke vehet weder seynes meysters
willen, das heysen aurgel.
Nv wisse das ein jtczlich man, der diss buch dicke hört vnd
wil her gehorchen der lere, die an dem buche steet, do czweiffel
nymanth (fol. 179 ö) an, her wirt ein gutter velkener.
Dis leret eyn meister, ist das vedirspil we ist an den ougen, so
salbe sie ym mit boum ole, vnd thu das offte, vnd wechset ym ein
vel yn den ougin, so puluer venchel samen vnd nym gespinne, also
warm, vnd mische das unterenander vnd los es ym yn die ougen,
vnd sint ym die nazelocher vorvallen, so nym gereben pfeffir vndblos
ym yn die naseluocher mit eyme rore, vnd hot is denne suhtin, das
do heysset rewma, in dem houbte, das ist wen is snewbet vnd des
odemes nicht wol gehoben mag, vnd bet her der suche czu vil, so
nym eyn vledermus, oder eynen ldeynen vogel vnd thu vor yn
gereben pfeffir, vnd gib ym das czu essin, so nym cynamim 54 ), das
vindet man yn den Apoteken, vnd veltkomel vnd puluer das vnder-
einander vnd rere is vff veth sweynen fleisch, vnd gib ym czu essen,
adir gib ym das puluer (fol. 180 a) vff dem weiszen eynes eyes,
adir mache ym eyer jn czegener milch wol gesotin, vnd gib ym
czu essen.
Essen deyne vedirspil die schuppen von dem geveder, so gib
ym bocken fleisch ym essige geneczef, vnd bestrich ym denne seyne
uitechen mit essige vnnd mit lorole 55 ).
Wiltu deynem vedirspil eyne czubrochene vedir vs nemen ane
(mercze, so nym eynes kleynes tyres blut, das do heyszet squille 56 )
adir ejne maws, adir eyne katze vnd bestrich die stat domete do die
vedir steeth, so sie vellet vs, so nym honig do noch wachs ynne sey,
vnd mache dorvs eyn gerben 57 ) vnd stos is yn das louch, so wechst
ym ein ander veder 58 ).
Wiltu dein vedirspil vett haben, so gib ym rintfleisch, adir
sweynen fleisch, wiltu is mager haben so gib jm junge huner, wiltu
is bei der masze haben, so gib ym aide huner, wo dein vedirspil
steet do saltu haben myncze vnd saluie vnd ruthe, von kleyner
(fol. 180 (>) vogelin blut wirt das vedirspil krefftig vnd kune, wiltu
362
A. R. v. P e r g e r
das is seine vedern werffe, so stos ym sein as (in) magrimonien safft 59 ),
nym eyne natir 60 ) vnd slach ir das houbt abe, vnd den czagel, vnd
sewt das inittelteil biss das eyn wasser eyn gesyde, vnd sewt sie abir
in eynem anderen wasser, vnd stos ym sein as doryn, so rert 01 ) is
das geveder, stos ym yn natern bluth so rert is sich abir douon.
Anmerkungen.
*) „In der abrichtung des falcken sol man furausz auff zwey stuck lugen. Erst
lich dasz er auff die Hant gewent werde, darnach dasz er kun vnd mutig zu dem
beitzen werde. Er wirt aber der band leychtlich gewonen, so man jn allzeyt darauft'
ätzt.“ (Gessner, Vogelbuch fol. 147 ö.) Der Vogel musste drei, vier bis fünf Nächte
lang auf der Hand herum getragen werden, damit er durch Schlaflosigkeit seine
Wildheit verlor.
2 ) swyngen, schwingen, mit den Flügeln schlagen, eine Unart des Falken, sowohl
im Hause als bei dem Austragen auf das Feld. — „Etlich habich schwingend zu
vil so sy den vogel sehend.“ — „Der alt habich der vil gefanngen hat u. s. w.
schwinget er vil, der ist verschlagen vnd wi'l denn vogel verjagen.“ (Buchlin v. d.
beyssen, p. 19.) — „Setze ihn inn ein finstere kammer bisz zu dem abend dasz er
nit schwinge.“ (Tapp, Waidwerk vnd Federspiel, cap. 37.)
3 ) Iticke, recke, ryclce, ryk, der Schrägen, auf welchem der Falke im Hause
sitzt. — Wenn die Falken „nit wollen friedlich steil auft* der hand oder auff dem
rick.“ (Waidwergk p. 4.) — «Der rieke sol seyn eynes mans hoch oder höher vnd
da mitten gekerbet, da sol man den vessel eynpinden.“ (Buchl. v. d. beyss. p. 9.)
Seroux d’Agincourt hat im V. Bande seiner „Ilistoire de l’Art“ (Taf. 73) solche Ricken
(Sedilia) nach den Miniaturen der im Vatican befindlichen Handschrift der „Ars venandi“
Kaiser Friedrich’s II. (P. Palatina Nr. 1071) abgebildet, wo nebst den hohen Ricken
aber auch ganz niedere Vorkommen, die höchstens zwei Fuss vom Boden abstehen.
(Siehe hierüber Lib. II, Cap. oO „de sedilibus“ in der eben genannten Ars venandi.)
4 ) Geschuhc, das geschühe, die kurzen Riemen, die man dem Falken als Fesseln
an die Füsse legte. Sie tragen einen Ring, den wcrczcl oder wurfj'riemen, an welchem
dann der lange Riemen, das lang Gefesz, befestigt wird, an dem man dem Vogel die
ersten Kreise machen lässt. (Meurer, Adel. Weydwerk der Falken , p. 74.) — „Man
soll machen des habiches geschüch vonn zweyen Kurvämschen riemen (Corduanriemen)
die eynes fingers lang seyiul, vnnd als lange das herwider muge gereychen vmb den
finger der nächst dem mynsten ist eynes mitte wachsen manns.“ (Buchl. v. d. beyssen,
pag. G.)
5 ) Zügel, zäl, zöL age|s. tägel, engl, tail, isl. tagl, das Haarbüschel am Schwanz
eines Thieres oder der Schwanz selbst. (Schmell. IV. 229.) — „Man sol denn habich
als verr vonn der erde stellen das er mit dem schwanck die erden nitt eiirute.“
(Buchiin v. d. beyssen, p. 9.)
6 ) lange snur, das oben erwähnte lang Gefesz oder der lang nestel. „den langen
nestel vnd den werczel mit seynen riemen sol man abiiemen so der habich fliegen
sol.“ (Buchiin v. d. beyssen, p. 7.)
Zur Geschichte der Falkenjagd.
363
7 ) Kein Vogel fliegt ohne Noth mit dem Winde, sondern gegen denselben,
denn sonst würden sich seine Federn aufstellen und ihm die Luft auf die Haut dringen.
Eben so würde er nicht steuern können und die Witterung verlieren. Dagegen steigt
er gegen den Wind weit leichter auf. — „II doibt estre lasche contre vent — pour
avoir l’avantage de sa montee. (Franchieres: Fauconnerie p. 15.) Dagegen soll der
jenige der den Falken hält, unter dem Winde stehen; „et celuy qui tenra ton faulcon,
sera au dessoubz du vent.“ (Roy Modus, ed. p. Blaze. feuill. 87.)
8 ) As; über die Äsung (Atzung) der Falken herrschten die verschiedensten Mei
nungen, und ein Hauptstreit war der, oh die Nestfalken mit ungewaschenem Fleisch
oder mit eingewässertem (gewelltem) gefüttert werden sollten. Auch nach der Farbe
und der „Complexion“ des Vogels sollte sich die Äsung richten. Der schwarze Falke
wurde als melancholischer Natur betrachtet und sollte (Gessner, Vogelb. fol. 149) „nur
Hüner-, Tauben-, oder junger Gitzlein-Fleisch“ bekommen. Der weisse (phlegmatische)
Falke mit Fleisch von Böcken, Hunden, Mauleseln, „Atzeln vnd Hirtzen“ gefüttert
werden, denn alle diese Thiere betrachtete man als sehr hitzig. Der rothe Falke
endlich, der „vil erhitzigtes gebluets“ war, sollte nur „Hennerfleisch, Wasservögel
vnd Krebse“ zur Speise erhalten.
9 ) Farren, der Stier; wie Färse die Kuh.
10 ) Luder, das aus Tauben- oder Repphuhnfliigeln zusammengebundene Federspiel,
mit welchem der Falkner den abgeflogenen Vogel wieder an sich lockte, wobei er es
in die Höhe warf. — „das fäderspil oder luder sol auch gar grosz seyn damit ers von
verren wol sehen mög.“ (Gessn. Vogelb. fol. 150 b.) — „als er (der Habicht) vm-
flieget vnd nach zu dir kompt, so zucke dein luder vnnder, so vert er darnach vnd
fleugt vmb dich.“ (ßuchlin v. d. beyssen.) — „Wenn man den Vogel zu sich locket
mit Schwingung des Luders oder Händtschuchs so heisset mans ludern.“ (D'Arcussia,
übersetzt v. .Tennis, p. IGO.) Bei D’Arcussia heisst es Icurrc und das Zeitwort leurrer,
im Roy Modus: le loirrc, Zwt. loirrer; ital. il lodro, lodrare, il lodriero.
H) Bei brcchm odir brachm. Der Schreiber kann hier kein Brachfeld, sondern
nur einen Sumpf oder Moorboden (bruech, Sumpf, Schmell. I, 257) gemeint haben,
da hier der, noch nicht in seinem „vollen Recht“ befindliche, d. h. noch neu abge
richtete Vogel leicht hinüber fliegen könnte und nicht wieder einzuholen wäre, was
auf einer Brache hingegen sehr leicht stattfände. Alle anderen Autoren empfehlen
ebenfalls grosse freie Plätze. „Se tu vois qu’il ait bonne fain, va en ung pre“ (Roy
Modus, feuill. 86), — „andando in una bella e larga campagna“ (Sforcino p. 34) u. s. w.
Auf das „iht“, welches nach „daz“ verneint (Benecke, Wörterb. zu Hartm. v. d. Aue
pag. 200) ist hier nicht zu gehen , da es der Schreiber oft ganz bestimmt als ver
neinend gebraucht, z. B. „das die snur an ichte hafte“. Dass das Wort iht noch ziemlich
spät als bejahend gebraucht wurde zeigt sich in Meurer’s Jagd- und Forstrecht von
1618 (p. 73), wo es heisst: „Wann sie (die Falken) ichts fallen werden sie auff
dem das sie gefangen abgericht vnd geätzt. So sie aber nichts fahen, lockt vnd ätzt
man sie auff dem Luder.“
12 ) antreten, entweder den Boden antreten, sich setzen, und hier wohl vorzugs
weise um sich zu baden, oder: den Raub antreten, d. h. mit den Klauen ergreifen.
„Man sol den habich nit werffen auf den zaun, nocher über das wasser zu kleynen
vögeln, darumb daz jm der bunt noch der habicher (Falkner) nit bald gehelffen
möge. Oder nicht bei grossem Wasser das der vogel icht in das wasser kumme ee jn
der habich begreiffe.“ (Buchlin v. d. beyssen p. 15.)
13 ) ducken. Da der Jäger dem Falken nothwendig, so viel als nur möglich im
Gesichte bleiben muss, damit dieser leicht zurückfinde, kann hier von einem Nieder
ducken (sich niederbeugen, verbergen, unterducken u. s. w.) nicht die Rede sein.
Das Wort scheint sich daher wohl eher auf eine Art von Jagdruf zu beziehen, duck.
A. R. v. P e r g!e r
304
duck! (tocca! tocca!) wie das „such! such!“ hei dem Hunde. Dass es bei der Falken
beize nicht ohne Lärmen herging, lässt sich sowohl aus schriftlichen Andeutungen
als aus bildlichen Darstellungen ersehen. D’Arcussia führt den Falknerschrei (Part. 1.
Cap. 11) „Yo! Yd!“ oder „vallaus! vallaus!“ an, Sforzino sagt: „deve lo strucciere con
la mano destra alzare in allo il pasto, gridando con alte uoci e zifFolando“ (L. I.
Cap. 23) und (L. I. Cap. 30) „se (il falcone) si uolta a i gridi, uoce e zilfoli e
uiene a l’huomo.“ — Auf dein Miniaturhilde (fol. 71 b) der in der k. k. Hofbibliothek
befindlichen Handschrift des Roy Modus, ist hei der Reiherbeize ein Reiter angebracht,
der eine kleine Pauke (Sumper) am Sattelknopf hat, und einen Schlägel in der rechten
Hand trügt. Dieselbe Figur findet sich auch in der Edition des Roy Modus von
El. Blaze (feuill. 87) bei dem nämlichen Capitel („Cy devise comme on faict prendre
hairon par sori faulkon“. ln der Brüder Ilofmann „Paradiessgart“, derspätor, so wie
die auf die Falkenbeize bezüglichen Miniaturen des obigen Codex näher bezeichnet
werden soll, ist im zweiten Bande (Tafel 12) ein Trompeter unter den Falknern,
und viele dieser letzteren haben die eine Hand, wie rufend, erhoben. In den „Vena-
tiones“ des Stradanus (Tab. 70) bei der Beize auf Gänse und Enten sind Trompeter,
Trommler und Pauker zu sehen, und mehrere haben gleichfalls die Hand erhoben,
ln den „Several wayes of hunting, hawking and fisching“, invented to Bar low, etched
by W. Hollar (London 1671, fol. 10, 11 und 12), scheinen alle Jäger, sowohl die
zu Fu'ss als jene zu Ross, zu schreien und viele von ihnen haben gleichfalls die eine
Hand emporgestreckt. — Es lässt sich sehr leicht denken, dass bei der grossen Auf
regung welche das Steigen und Kämpfen des Falken in den Jägern hervorbrachte,
sich auch die Stimme Bahn brach, wie das in jeder leidenschaftlichen Stimmung der
Fall ist, und nach und nach mag sich dieses, anfänglich ganz wilde Schreien, in eine
Art von waidgerechtem Ruf umgewandelt haben. Bei den Armeniern ist dieser Falken
ruf g'haii! ghaii! (Allgem. Ztung. v. 1846. Beil. S. 1850.)
14 ) Blafus. „Die neünt art der adelichen falken etc. wirt ein Blawfusz genennt
darum dasz sy blawe füsz hat.“ (Gessn. Vogelbuch. fol. 155 ö.) In der Reihe der
Falken, welche Gessner (fol. 146 u. s. f.) aufzählt, ist der Blawfusz jedoch der
eilfte, nämlich:
1. Der Sacker, Kuppel- oder Stockahr (bei Alb. Magnus. F. sacer).
2. Der Gerfalk, Gierfalk oder Hierofalco (von Herodius) , bei Aldrovandi:
Gyrofalco, franz. Gerfault.
3. Der ßirgfalk, Falco montanus (b. Alb. Magn. F. montanärius, altfrz. F.
montagners).
4. Der Frembdling , Falco peregrinus.
5. Der Medianus.
6. Der Gentilus oder Edelfalk.
7. Der Hogerfalk (b. Alb. Magn. F. gibbosus?).
8. Der Kolfalk (b. Alb. Magn. F. niger).
9. Der weisse Falk, Falco albus.
10. Der rothe Falk, Falco rubeus.
11. Der Blawfusz, Falco cyanopus (Sternfalke, Falco candicans Gmel., bei
Alb. Magnus s. Falco qui habet pedes azurinos).
12. Der Steinfalk und Baumfalk, Lithofalco und IJendrofalco (Falco lithofalco
Gmel.). Das Weibchen heisst Schmerl, Merl, Myrle, Spreuz , Sprenzchen
(Winkel 1 Handbuch für Jäger II, 704).
13. Laneten und Schweimer (Lanius ä laniandis avihus). Die Deutschen nennen
ihn Schwimmer „dieweil er sich iin Flug bewegt wie einer so in einem
Wasser schwimmt.“ (Übersetzung D’Arcussia’s, p. 37.)
14. Vermischte Geschlechter.
Zur Geschichte der Falkenjagd.
365
Die Königinn Maria, Stntthalterinn der Niederlande, besass in ihrer Falknerei folgende
Falkenarten: Le sacre de la Tartarie, Je lanier de la Sicile, le fier geri'aut de la
Norwege, le faucon blanc, le montagnard gris, le charbonnier, le faucon rouge ou
diable, le faucon aux alouettes und den foucon a pieds bleues de l’Allemagne meri-
dionale et de l’IIongrie. (V. Revue d’hisloire T. I, p. 91 u. s. f. le Faucon par Coremans.)
Nach Winckell If, 695, bildet der Blaufuss ein Mittelglied zwischen Falken und
Habichten. Seine Zehen sind bald heller, bald dunkler blau gefärbt, woher er den
Namen bekam.
15 ) Hoube, die Haube, Falkenhaube. Sie war anfangs von weichem Leder, später
aber auch von Sammt und mit einem Federbusch geziert. — „Die weyl aber der Falk
was jm fiirkumpt beschawet vnd sich daran vergaffet, sol ma jn heuben, so man jn
auff der Faust tragt.“ (Gessn. Vogelb. fol. 149 «.) Die Falkner gebrauchten zweierlei
Hauben, abgenützte für frisch eingefangene Vögel, und neue für die abzurichtenden
Falken. „Wann sie gefangen werden, werden sie geheubt mit Reuschhauben. Wann
man sie anfangt zu tragen werden sie erst recht geheubt.“ (Meurer, Jagdrecht, p. 73.)
Friedrich II. (Reliqua P. II, Cap. 77) schreibt den Arabern die Erfindung des „Capellus“
zu, indem er einige gehaubte Falken von arabischen Fürsten zum Geschenke erhielt.
16 ) erstreichen; das durch das Baden in Unordnung gerathene Gefieder mit dem
Schnabel wieder glatt streichen. Der Vogel fasst dabei eine Feder dicht ober dem
Kiele und streicht die Rippe derselben so lange, bis ihre breite Fahne die schmale
Fahne der Nächstliegenden vollkommen deckt.
17 ) verucren, wahrscheinlich verlieren.
A8 ) sehnende, scheuend, wild, weil die Vögel gern zanken und raufen und dadurch
ihre Zähmung wieder verlieren. Wenn der Falkner ausser Haus gehen muss, soll er
seine Vögel nicht auf dem Ricke lassen, sondern jeden auf einen Stein setzen und
zwar „tanto lontani che non possino pigliare, ö col becco, ö con l'unghie conciosia-
che tali ne sono, che mordono cagnescamente per ilche molte uolte si stroppiano.“
(Sforzino L. I, Cap. 52.)
19 ) czu den luthen setezen, damit der Vogel zerstreut werde und seiner Unarten
vergesse. — „Dann werden sie bald gezämt wann sie auff der hand werden getragen
mit fleisch vnd nämlich fru in morgenrotte vnd vnder vil menschsn, vnd bey dem
tummeln der thyer vnd der schmid vnd der binder“. (Waidwergk p. 3.)
20 ) koniijlimjes valke, der Nestfalke; kon, kone, chone, chuena, queen, die Gattinn,
eonlich, ehelich, kunh das Geschlecht. (Schmell. II, 306.) Der Nestfalken sind zwei
erlei, nämlich die eigentlichen nidarii (franz. niaises), die noch im Neste hocken, und
die ramarii oder Ästlinge, welche schon so weit flügge sind, dass sie ihrer Mutter von
Zweig zu Zweig folgen können. (Vgl. Tapp. Cap. 12.)
21 ) honnd, wahrscheinlich verschrieben für vnnd oder vnd.
22 ) honnd, soll heissen: her.
23 ) Wiltfang, der wild eingefangene Falke im Gegensatz zu denen im Nest erzo
genen. „Auch werden etliche gefangen vff dem striche vnd vff dem raube ehe dann si
jre federn gewendet haben, die werden genannt Sorj, die wir deutschen ein Wildt-
fang heyschen.“ (Tapp. Cap. 12.) Der Wildfang ist schwerer zu zähmen , dafür aber
auch weit kühner als der Nestling.
24 ) gebin vnd geveder, die Gabe oder Atzung und das Gefeder, welches der
Falke zu seiner Verdauung nöthig hat. (S. Note ö bei der folgenden Handschrift.)
25 ) Suberunge, Reinigung, ein Purgiermittel.
26 ) Echil, eine Eichel, echilla, eichila. (Schmell. I, 18.)
27 ) Unclichen, die Halsenge, der Schlund: anclihem, anclihhem, auclihchem, angu-
stioribus — engodi, fauces (Graft*, Ahd. GIoss. I, 341), daher auch ehelich, der Kropf;
chelchoter, kropfig. (Schmell. II, 292.)
366
A. R. v. P e r g e r
28 ) hier fehlt das Wort „nicht“.
29 ) busscn; der krankheyt, des steins. bussen, bueszen, bessern. „Ein Arzt der
das zipper in Hand ynd Füeszen mit rechter bewerter Kunst kund büszen“ — buess-
wirdig = schadhaft, Buesswirdigkeit = Baufälligkeit. (Schmeli. I, 212.)
30 ) Weiduenster: im Buchlin v. d. beyssen p. 51 weydloch, weyduenster, die
Öffnung des Afters.
31 ) gruscn: griozan, klein stossen. (Schmeli. II, 121.)
32 ) Yngcbcr: Ingwer, Zingiber.
33 ) schuttin, scutan, scuttan, schütten (Äpfel oder Birnen) — entschiitten, sich
losmachen, „will sehen wil ich mich dessen entschiitte* — schütten, flüssige oder
trockene Massen, Wasser oder Sand in Bewegung setzen. Hier so viel als sich des
Kothes entschiitten. Bei Schmeli. (III, 410 und 417) ist Schosser der Knecht auf den
Alpen, der den Dünger besorgt.
34 ) Springkernwurz; Delphinium Platani folio, Stnphisagria dictum (Tournef),
Liiusekraut, Läusesamen, Liiusekörner, weil man damit die Läuse vertrieb, dann auch
Bissmüntzc und Speichelkraut genannt, weil die Körner bei dem Kauen derselben „viel
Speichel aus dem Haupte ziehen.“ Franchieres (Cap. 25) führt ebenfalls die „graines
de filandres aultrement nomees Stapaizagre“ als Purgirmittel an.
35) reren: roren, röre, reren, stark fliessen; reiren, in Menge fallen. (Fromman's
d. Mundarten, 1858, p. 128 u. 16G). — riren, re’n, reren, roren, dem Zug der
Schwere folgen lassen, fallen oder rinnen lassen. (Schmeli. II, 121.) — Hier sehr oft
für streuen gebraucht. In der Reimchronik Ottokar’s heist es (Cap. 159) in der
Beschreibung der Marchfeldschlacht:
„sy wurden tod auf das graz
von den orsszen gerert“.
und (Cap. 1G1), wo Ottokar um sein Leben bittet:
„— waz sol euch mein sterben
daz ir mein pluet weit verrer’n?“
36 ) Mause, die Mauser. „Wann im mertzen oder april, setzt man sie (die Habichte)
in grosz köffige die darzu gemacht ist, vnd in eyner warmen stat, als bey einer raaur
gegen mittag dan wirt die Wandlung seiner federn volbracht im äugst.“ (Waid-
wergk p. 3.) Gessner (Vogelbuch fol. 149 b) sagt „der Falk mausset sich im mitten
dess Hornungs“.
37 ) behexten, wenn du ihn mit dem dritten Bissen nicht behnften, d. h. ihm den
selben nicht eingeben willst (vgl. mit etwas behaftet sein).
38 ) Suche, Sieche, Siechheit, Sucht, Übel. Am Schlüsse dieses Absatzes: „so wird
ym der stein suche buss,“ so wird ihm das Steinübel geheilt.
39 ) Hier fehlt wieder das „nicht.“
40 ) ledir kalch, ledigen, reinen, ungelöschten Kalk.
41 ) Cimey, Zimnit.
42 ) Stramoniu, Strammoneum, Stramonium peregrinum, jetzt Datura Stramonium L.,
der Stechapfel, die Nux Methel des Avicenna, die durch die Zigeuner nach Europa
gebracht worden sein soll. Unter Datura verstanden die älteren Botaniker das auslän
dische Stramonium, das auf den canarischen Inseln Datiro genannt wurde.
43 ) Schorlattechin, Chalotten, Schalote, Echalotte, Cepa ascalonia Matthioli, Allium
Ascalonicum L. Die Pflanze wurde schon von Karl dem Grossen in seinem Capitulare de
villis imperialibus, §. 70. s. ascalonicas, zum Anbau empfohlen. (V. Pertz, Monura.
Germ. hist. Legum. T. I, p. 186.)
44 ) Huffelyn, Häuflein.
45 ) ' Rwte, Raute, ysopp und poley, Ruta suaveolens, Hyssopus officinalis (L.) und
Pulegium vulgare (Mill); Raute, Gartenysop und Ackerminze.
Zur Geschichte der Falkenjagd.
367
46 ) Appil, Deckel (mit Hiuweglassuug des ch oder k sonst: chappil oder kappil).
An einen Apfel ist hier schon der Schreibart wegen nicht zu denken, abgesehen davon,
dass der Apfel zufällig sehr genau auf das Töpfchen passen müsste um den Dampf
einzuschliessen.
47 ) Du sollst ein aderiges, sehniges Fleisch nehmen, woran er zu zerren habe
(damit der Falke bei der folgenden Manipulation beschäftigt sei).
48 ) icht, hier so viel als sehr. In den folgenden Zeilen, vielleicht nach „bestreu-
chest“ scheint das Wort „buss <f ausgelassen zu sein.
49 ) Anwel oder auwei. Durch den Schluss dieses Abschnittes wird dieses sonder
bare Wort von selbst erklärt: Alle Vögel die der Falke gegen seines Meisters Willen
Fängt, heissen awycl. Der Schreiber scheint übrigens dieses Wortes nicht ganz sicher
gewesen zu sein, denn man liest an den verschiedenen Stellen auch angel oder augel,
anogel oder auogel (da die n und u so ziemlich die gleichen Züge haben) und aurgcl.
So viel ich auch über dasselbe nachschlug, ich war nicht so glücklich irgend eine
bestimmte Auskunft zu finden. Vielleicht ist hier mir (wie das mit so manchem
terminus technicus geschah) das altitalienische Wort augel Iö (lat. hiicella, aucilla)
als allgemeiner Begriff für einen geraubten Vogel übertragen worden, vielleicht steht
es mit dem lat. aucupium, aucupatio; aucupari in Verbindung; ich wage um so weniger
darüber zu entscheiden, als ich jenes Wort auch in keiner jener Schriften wiederfand,
die ich um des vorliegenden Aufsatzes willen las. Das „augel vehen“ oder, wie es in
späteren Aufzeichnungen genannt wird „das führen“, war natürlicher Weise sehr ver
pönt und man ergriff harte Mittel, um den Falken diese Untugend abzugewöhnen. So
räth D’Arcussia (Fauconnerie Part. III. Epitre 33, podr un oyseau qui charrie et les
remedes), dass man dem Vogel den Nerv der Hinterzehe sengen soll (brusler le nerv
du doigt de derriere), spricht sich aber gegen das, vielleicht von Einigen geübte
Abschneiden der Hinterzehe aus: „couper le doigt d’oiseau: ce que ie ne voudrois
avoir pense pour rien du mond!“ Milder ist das Mittel mit dem Däumling. Wenn der
Falke „est sujet a charrier et pource vous luy pouuez prider vne serre de chasque
main auec du cuir, en leur faisant vn doitier dans le quel vous luy mettez la serre
en double et lierez si bien qu’il ne s’en puisse servir.“ (D’Arcussia p. 31.) Angel heisst im
Französischen übrigens auch jede Taube mit schwarzen Füssen und schwarzem Schnabel.
50 ) Aloe cpaticum. „Aloe in den Apotheken ist ein bitterer, harter, doch mürber
Saft, der aus dem Orient in Schafsfellen lind Kürbisflaschen zu uns gebracht wird.
Man hat dessen viererlei Arten: Die caballinam, die für Pferde gebraucht wird, die
hepaticam , welche wie eine Leber aussieht, die succotrinam , welche von der Insel
Socotara herkommt, und die lucidum, welche aus der succotrina bereitet wird. (Jab-
lonskie, Lexik. I, p. 61.) Schon im Roy Modus (feuill. 91) wird die aloes epatie zum
Vertreiben der Würmer angerathen. Mit Aloe wurden auch bissige Vögel zurecht
gebracht: „e quando il falcone tra a mordere, subito bisogna presentargli Poglio ö
Paloe e farlo mordere in essi — il sapor amarissimo si leveni da quella bizaria di
soffiare e di mordere per sempre. (Sforzino, p. 37.)
51 ) ransen, rensen, sich strecken, rannsen = alare, flügeln, ranggen vel rensen.
(Schmell. III, 113.)
52 ) erkeutzen, rupfen (chozza = penulum ; umblchtizi = amictus; cugilchozzo,
lacerna in modum cucullne, chuziahhan = chlamys (Graff, ahd. Sprach. IV, 338, 339);
erkeutzen ist also so viel als entkleiden, entfedern. —^ (chozza, der Mantel, kotzen,
kutzen, gausape, zottige Decke. (Schmell. II, 347.)
53 ) Entian, Bitterwurz, von dem bitteren Geschmack der Pflanze, besonders der Wurzel.
54 ) Cgnamim, wahrscheinlich Cyminum oder Cynamium dulce, wie einst der Anis
hiess, der aus Italien eingeführt wurde. Der Kümmel hingegen erscheint schon in KarFs
des Grossen Capitulare de Villis imp. §. 70. s. ciminura. (Pertz, I. c. p. 186.)
368
A. I!. v. Pei’g e r
55 ) Lorole, Lorbeeröl. Es wurde sehr häufig hei krankem Vieh gebraucht. Die
Angler wenden es noch an , um durch den damit bestrichenen Köder die Fische von
fern heranzulocken.
5G ) Squille, Asseln, Millepedes. D’Arcussia (IV. P. Cap. 17) erzählt, dass er auf
einer Beize im September ein Repphuhn aufjagen wollte, welches sich in ein Gemäuer
verkrochen hatte, und sah dabei dass sein Falke „tournoit avec Ies mains les pierres
aussi grosses que la moitie de son chapeau, et m’aprochant“ erzählt er weiter, „je
vey que l’oyseau auallait de pelite bestioles qui tenoient sous ces pierres, les quelles
bestioles s’amouceloient en rond en les tochant se forment comme de grosses dragees
qu'on tire au gibier.“ D’Arcussia befrug dann die Schäfer wie diese Thierchen hiessen
und erfuhr, dass man sie truves nannte (Schweinchen, truie = la femelle du porc).
Der Vogel hatte sich also selbst sein Heilmittel aufgesucht.
57 ) gerben, gärben, garben, = durchdrücken; kneten, bereiten, allerlei Speisen
durcheinander mischen. Das Gegiirb, Gärbet, Gegarb, ein Gemenge von allerlei Dingen.
(Schmell. II, 60.)
58 ) Von der Art und Weise wie man gebrochene Federn ergänzt oder für aus
gefallene neue einsetzt, ist zum Theile schon im Roy Modus (feuill, 96) die Rede:
Comme on doit enter la penne a ung oysel.“ Über das Einsetzen derselben spricht
die griechische Habichtslehre. (V. Falknerklee p. 931.) Das Ausführlichste über diesen
Gegenstand hat aber wohl D’Arcüssia im II. Th. Cap. 3ö bis 38.
59 ) Magrimoniensalft, Agrimoniensnft. Agrimonia Eupatoria L., Odermenig, Ager-
menig, Steinwurzel, Bruchwurz, Königskraut. Es wurde für ein ganz besonderes Wund
kraut und für sehr blutreinigend gehalten. Man schrieb ihm auch die Eigenschaft zu,
dass es unter ein Kissen gelegt, Schlaf bringe.
60 ) Auch im Roy Modus (feuill. 90) erscheint bei dem Cap: „Cy devise comme
et par quelle voye on fnit tost muer ung faulcon“ das Recept mit der Natter: „On
prent une culevre etc. et si soit ostie la teste et la queue, et tont l’autre est mis en
ung pot de terre tout neuf, plain de belle eaue clere de fontaine et soit si fait
boulir tant que totit la substance de la culevre soit en Tenne“ etc.
61 ) Hier ist reren auch für das Ausfallen der Federn (ausstreuen derselben)
gebraucht. — „SchöfTen fleysch (in der Mauser gegeben) ist das aller best denn dauon
rieret oder wechselt er gern.“ — (Tapp* 29. Cap.) — »Wie man den Federn so nit
rehren oder fallen wullen zu hillfe sali kommen.“ (Ibid. Cap. 31.)
Zur Geschichte der Falkenjagd.
369
II.
Falkhen zu fahen abzurichten vnd gesund zu erhalten.
Die falkhen oder plafuosz feht man also, mach an ein schnuen
yil masehen von roszhar. Ynd stekli derselben schnuer runt umb air
tauben, ain oder zween schritt weit von gemelter tauben.
Vnd der tauben mach auch etlich mäschen an vnd pint dj tauben
zu der erde, das sj ain fier finger dauon sich erheben mög. Vnd
riebt disz an das ort, wo diese fogl ire stände haben, wirstu sj also
paldt fallen *).
Item abzurichten.
Den wilden falkhen oder plafues sol ihr erstlich gar salich 2 )
vnd mit allem vleiss, tag vnd nacht, an vnderlasz tragen, piss er
mued wirt vnd also wird in der zeit in der finster zu aszen geben,
auch bey der nacht machen dje hauben leiden. Vnd nur mit kleinen
voglein oder mit tauben, auch ander lebendigen gess 3 ) ässen. Vnd
so er also heimlich, in vor allen schrekh verhueten, also oft ihr in
abheubl, oder oft ihr zu im gee, so ihr im aufgestört hab, sol ihr im
albeg ein klein vögele oder tauben flugl pringen, damit er sich erfrej.
Sol in nimmer anpundner auff die hohen stang stellen 4 ), aber wol
auf die erd ein grosz scheit legen, darauf, so ihr in stel, sol des
falken schwantz nit die erd rüeren. Vnd das scheit anmachen, damit
es nitvmbkugeln mag. Vnd so ihr in abheublen wil, zuuor vmbsehen,
das khainer hinter im stee, damit er nit erschrekhe vnd sich schwinge.
Alsdan sol ihr im loklien, zu der liant, von eines menschen haut zu
ewrer liant. Vnd sol also ie lenger ie weiter loklien, aber so er in
den ersten 4 tagen haimlich worden, solte ihr im alle abende mit
einem weissen nassen tuch (also zerschnitten wie hie bei Nr. 1) 5 )
sein gebel 6 ) geben. Vnd so ers zu morgens geworffen haben wirt,
alsdan eine halbe stunde hernach, sol ihr im geben acht steindl aus
einem fliessenden wasser, ain iedes der grösz als ain guete haslnusz
grosz, dieselben so er auch paldt hernach wirft, mag ihr in darauff
äszen vnd also in der zeit mit grossem vleiss verhueten vor schrekh.
Mit diesem gebel wiert er dermassen purgiret, das er lustig ist zum
ass vnd also pelder pereit wirt. Also solt ihr im das lueder kennen
370
A. li. v. P erg er
lernen, vnder tags, so ihr in auf der haut abheubl, solt ihr im aut
das lueder ain flügl von ainer tauben pinden vnd darauf!' rupfen. Vnd
das auch im feldtthuen. Vnd so er das lueder keilt, sol ihr dem knecht
den falkhen geben vnd euch ein zehen sclirit davon stelen vnd also
dem knecht den falkhen abheiblen lassen, vnd ihr im das lueder zeigen
vnd im wisplen 7 ), vnd so er an die schnüre khörribt, das lueder zu
nagst pej mir niderfallen lassen, so khombt er gern zu mir 6 ). So der
falkli an der schnuer gar hantgerecht ist, vnd das lueder wol kent,
sol ir in einsmals zu morgen desto weniger ässen vnd desto spetter
auf ain pulil °) gen. Vnd mein knecht den falkhen ain hundert sclirit
dauon halten lassen. Vnd im ledig khomen lassen. Vnd ihm das lueder
ziehen 10 ) vnd so er khombt, das lueder hei mir verpergen, also wirt
er in die hohe gen. Vnd ihr solt in nit mer als eine halbe scheiben 41 )
fliegen lassen. Vnd also paldt das lueder geben vnd des andern tags
ain gantze scheiben fliegen lassen, denn dritten 2 oder 3 scheiben
fliegen lassen, alsden den vierten tag, so er etlich scheiben geflogen,
für das lueder ain tauben fürwerfen , dieselb sol verprumbt 13 ) sein
vnd nur über sich sehen mögen, vnd so er dieselb nit schlecht
sondern feht 18 ) sol ihr meinem falkhen dj waffen 14 ) all, piss das
pluet hergen will, stutzen, so wirt er alsdan die tauben auff den
andern tag schlahen vnd nit fallen. Volgent sol ihr mit meinem
falkhen zu einer Iakhen oder puhl 15 ) gen, vnd darüber ain 3 oder
4 scheiben fliegen lassen. Vnd ser in das wasser schieben lassen.
Vnd alsdan ime eine anten fürwerffen die da fliegen klian, so er
dieselb feht, im wol darauf! - ain fuesz vnd das hertz ässen lassen
vnd im von der anten köpf oder flügl, dj klain federn so kain pluet
in kielen haben, zu einem gebel geben. Wo im die anten zu reseh 18 )
vnd er dieselb nit gefangen, im wieder rueflon vnd nach reiten, vnd
ein ander anten oder tauben fürwerfen, dj nit so rescli sej. Dar
nach 17 ) oder den anderen tag wider ain resche anten für zewerflen,
damit wirt er rescli fliegen vnd mer aufsehen, das sj im nit entgee.
Vnd also solltu all acht tag dein falkhen ain mall paden, zu morgens
an ainen schonen tag ... . (hier ist zwischen den Zeilen einge
schaltet: „vmb 7 Vt äsen vnd vmb 10 Vt 16 ) so er schier verdrukht
hat 10 ), pej einen puhl baden lassen.“) .... vnd gar ser wol
lassen drukhen werden vnd disen tag mit im nit paissen. Item: in
der mausz muess ihr im albeg mit lebendigen ass erhalten, vnd
dieselb im albeg aus meiner hant geben 30 ), vnd nit anders. Auch
Zur Geschichte der Falkenjagd.
371
dass er in des zimmer iri seinen fenster ain schonen frischen vnd
giwenen 21 ) wasser, auch sein sant vnd seine stainndl iedes pesonder
habe. Vnd all ander tag sein sauber wasser hab: ist offt pej im
vmbzugen, vnd auch hundt mit zu fueren, iedoch zu hueten damit er
nit geschrekht werde.
Item: dj falkhen werden also gehalten oder dj plabfuess,
nachdem sj sterkher sein vnd grober, so mag man dieselben mit rint
vnd kastraunen 2a ) fleisch, auch mit dem schwartzen ruclien 23 ) vnt
huntsflaisch äsen. Dergleichen die hahich vnd habichl 24 ). Denen
allen ist die obgemelt art abzutragen 25 ) vnd mit dem gebel vnd
steindl vnd paden, ser guett.
Item : Diese fogl all ob sj vvürrn haben im leib oder im kröpf 26 ),
dj man vilandros 27 ) heist, dauon sj gar paldt sterben. Diss zu sehen
aus dem geschmais. So der fogl schmeitzt da er gar verdrukht het,
ist sein geschmais recht weiss vnd das schwartz darinnen recht
schwartz, so ist der fogl gesunt, wo nit, so schau wol darein in den
schmeitz, du wirst zu Zeiten ein wurm finden, alsdan nimb aloes
cicotrinum 28 ) aines haslnus grosz, vernee denselben in ain ainfache
leinhat, vnd gibs dem fogl vnder dem assen auf den abent, vnd das
gib im also, darumben wo er den etwas cicutrinum mit der zungen
anruert, so wirt er den ganzen kröpf 23 ) werffen, vnd diser aloes
zerget in leib vnd tot all dj wurm so er hat, vnd wirt gar frisch vnd
gesunt darnach. Wo nit, so nimb vber 4 tag hernach, ain kleines
stiikl aus ein knobleehhapl vnd stich mit einer glufen 30 ) 2 oder
3 lochl darein, vnd gibs dem fogl auch also vnder dem äsen auf den
abent, des wirt er zu morgens wieder werffen vnd darnach
frisch sein.
Item: gib ain fogl der dise würm hat, zu äsen von ainer alster,
wirt er gesunt.
Vnd ob sich ain fogl hart gesthossen hat, gib im ein mit dem
ass caromonie 31 ), so vil als ein haslnuss gross.
Item: khannstu ainem maussgeir 32 ) pekhomen so man nennt
buliaro vnd ain khra, dieselben pint im felde auf der erde zu nagst
zusamen, iedoch das sj sich nit gar peruren mögen. Vnd stekh
ieimbspindl auff 2 oder . . . . 33 ) schrit vmb dieselben, in der
scheiben herumb, alle dj geil* vnd kran werden khomen, vnd werden
diesen helfen wollen vnd, so viel leimbspindel vorhanden sein, sich
daran fallen.
372
A. R. v. P e r g e r
Item: merkh so der falkh oder plafuess oder hebich vnd
hebüchl, die zwei weissen tuecli, damit du in auf den abent gebelt
hast, zu morgens wirft, so solstu dieselben austrukhen vnd so das
wasser so daraus gedrukhet gelb ist, vnd die tuehl nit wol bej
einander sein, wie ein gebet sein sol, sein diess di Zeichen, das der
fogl noch vnrein vnd nit genug purgirt sej. Derhalben sol man mit
dem fogl nit paissen. Vnd solst im dieselben tuehl teglich geben vnd
sehen, wan das wasser so du heraus drukhst, gar schön klar vnd
lauter sj, alsdan magstu mit im peissen, da wirt er wol fliegen vnd
khein schaden nehmen etc. vnd mit diesen tuehl die fogl stettigs
halten.
Item des falklien .... 34 ) so man zu den rephünern braucht,
ist ser guet, aber er wirt gern am gaum in dem maul, ob der zung,
krankh aus grosser hitz, vnd darumben muess man im oft dj steindl
geben vnd all tag ins maul auff den gaumen schauen, ob im platerlein
khomen wollen, dieselben gar salich mit ain klein tuechlin vnd
federlin herab thuen. Vnd also teglich zu morgens den gaumen mit
ain finger abwischen, das khan nit sein dan ain ander halt den
fogl 35 ).
Item: diese fogl all, so man sj ast, sol man albeg auff ir ass,
obs gleich frisch ist, ein weiss wasser 36 ) giessen. Vnd derhalben
in einem patschwammen ain wasser mit füren das im felde man stet
wasser pej sich habe, etc.
Anmerkungen.
*) Auch D’Arcussia erwähnt in seiner 15. Erinnerung-, wie die Passagiere (Wan
derfalken) zu fangen, dieser Schlingen: „faites une armure auec des las de soye de
cheual, pour armer un pigeon, de sorte qu'il ait son corps tout couuert desdits las,
mais qu’il ait les aisles libres, en fa$on qu’il en puisse voler.“ Auch im Roy Modus
ist ein Capitel: „Cy devise comment on prent les faulcons au Iaz.“ Sonst wurde er
auch (Wiener Handschr. des Roy Modus fol 93 a) mit einer besonderen Vorrichtung
auf einem Baume, oder mit einem Netz, in dessen Mitte inan eine Eule (chuetle)
setzte (il)id^ fol. 94 &), gefangen.
2 ) salich, sorgfältig; saliglich vollendet, mit Sorgfalt beendet.
3 ) Gess, Geiisse.
4 ) Die hohe stang. (S. Note 3 zur vorigen Handschrift.)
5 ) Die mit Nr. 1 bezeiclinete Figur ist auf die letzte Druckseite gezeichnet und
stellt einen schräg-dreiseitigen, beiläufig zwei Zoll grossen Leinwandlappen dar, in
Zur Geschichte der Falkenjagd.
373
welchem drei Einschnitte gemacht sind. An der Spitze des Dreiecks ist eine Steck
nadel gezeichnet. Neben dieser Figur stehen die Worte: „Vnd ain pisl fleisch in das
(da wo die Stechnadel ist) gethan vnd also das tuch zu samen gemacht zieht der
falkh mit dem fleisch das tuch yn sich.“
6 ) Gebel, guel, guele, gewel, gewäle, ein kleiner Ballen aus Wolle, oder Flaum
federn , den man dem Falken zur Reinigung seines Magens gab. Im Naturzustände
verzehrt er seinen Raub sammt den kleinen Federn, die er dann als Gewölle von sich
gibt. — „Wan man ein weile gepaysst hat mit dem habich so sol man jm vnderweilen
gewale geben daz er sich ernere von boszheit die er auff dem vogel ysset.“ (Buch-
lin v. d. beyssen, p. 30.) — „Oise kugele macht man aus kuder oder flunsfedern gleych
wie pillule oder ölbaumbeere.“ (Gessn. Vogelb. fol. 133 «.) — „Man gibt ihnen zu
zeitten gegen abend zu werlTen, das ist auf grob deutsch ein gewell.“ (Tapp. Wörter
vom Vederspil.)
7 ) wisplen, pfeiflen, — wispeln, wispen, vox serpentem, sibulare, pfeifTen, zischen,
wispelwort, verbum sibilantis. (Scherz. Gloss. II, 2047.) Engl, to whistle.
8 ) Dieser ganze Vorgang ist auf der Miniatur fol. 67 b des Roy Modus im
erwähnten Cod. d. k. k. Hofbibliothek genau abgebildet.
9 ) Puhl, Bühel, Anhöhe. Fast in allen Werken über Falknerei werden sanfte
Anhöhen als besonders günstig für das Beizen angepriesen, und zwar vorzüglich dess-
halb, weil man da eine weite Rundsicht hat und der Falke leicht emporsteigt.
10 ) Das lueder ziehen, nämlich das ausgeworfene Federspiel heranziehen, dass
sich der Falke dem Falkner immer mehr nähere. Ist der Falke ganz heran, so ver
birgt jener das Luder, damit sich der Falke auf die Faust setze. Er hält ihm desshalb
den Handschuh vor, an den der Vogel vor allem gewöhnt sein muss.
u ) Scheiben, Kreis; „scheib um und um.“ (Western*. Beitr. I, 130.) „Eine drei
fache Krön, scheibs herum.“ — »Die Schilf in einem Wirbel gehen gescheibeweis
herum.“ (Sclnnell. III, 310). scheibelecht = rotundus. (Scherz. Gloss. II, 1386.) Der
Falke soll es nämlich lernen, sich über dem Falkner zu drehen, d. i. Kreise zu ziehen.
„Wenn du deinen Falk wol abgerichtet dass er folget vnd über dir drehet.“ (Übsetz,
v. D’Arcussia’s Fauconnerie B. 1, Cap. 12, im Originale „Ie faisant tourner sur vous“.)
1S ) verprumbt, verpfählt, angepfählt (prum = Pfriem, prama, vepres, pramum,
rubos etc.) „Andere binden die Taube an einen langen Hasenzwirn oder Schnur, die
durch einen durchlöcherten Pflock gezogen wird, doch muss dieser Pflock sehr fest
eingeschlagen sein etc.“ (Florini II. Th., V. B., Cap. 5, p. 289.)
13 ) nit schlecht, sondern fehl. Schlagen bedeutet in der Falknersprache so viel
als stossen, fehen oder fangen hingegen, das als unwaidlich erkannte Erhaschen mit
den Fängern oder Klauen. (Winkeil. Ilandb. f. Jäger. II, 613.) „Auch schlagenn sie
(die Astures aus dem Land Asturia) also die Rehböcklin, das sie den hunden nit ent-
lauflen mugen.“ (Waidwergk p. 6.) „Der Falk hat ein scharpfTs bei'n an seiner brust,
das ist gar hört, das hat im die natur geben daz er den raub damit stosz.“ (Meydenb.
B. d. Natur, Cap. v. d. Falken.) Dieser Knochen ist das Brustbein, franz. la carcasse.
14 ) Die wallen: die Klauen an den „Händen“ der Falken „car aux faucons nous
disons la main et aux autours Ie pied.“ (D’Arcussia P. III, Epitre 32.) Denn der
Habicht glich nach der Ansicht der alten Falkner (ibid. P. I, Cap. 4) dem Falken eben
so sehr „als der Esel dein Pferd.“ Sonst findet man für „Füsse“ auch häufig „Ständer.“
15 ) Puhl, Pfuhl, ein Sumpf, oder „lakhen.“ Bei der schwankenden Schreibart des
XVI. Jahrhunderts eben so geschrieben wie (Note 9) der Bühel.
16 ) resch, rasch, „vnd wie wol daz der sperwer minder sey, doch ist er dem
habich geleych kun vnd röschlich nach seyner macht.“ (Buchlin v. d. beyssen, p. 2.)
17 ) Darnach. Dieses Wort ist sehr undeutlich geschrieben, kann aber wohl kaum
anders gelesen werden, da sonst der Sinn gänzlich gestört würde.
Sitzb. d. phil.-hist. CI. XXXI. Bd. II. Hft. 25
374
A. R. v. Per^e r
18 ) „Wenn du jhn also verlüfFtet hast biss gegen 10 vhren, so magstu ihnt lassen
zum badt tragen.“ (Übers, v. D’Arcussia Tb. I, 14, Cap. p. 21.) Der Roy Modus enthält
ein eigenes Capitel über das Raden des Falken. (Feuillet 83: „Cy devise comment on
doit baigner son faulcon.“)
19 ) Verdrukhen, verdauen. „Du salt ihn nit iissen ehe dann er wol verdruckt vnd
ein weyl dar vir gestanden hab.“ (Tapp. 27. Cap.)
20 ) Vornehme Herren fütterten ihre Lieblingsfalken überhaupt mit eigener Hand,
um sie desto mehr an sich zu gewöhnen, und am Besten war es, sie dabei auf der
linken Faust zu tragen, die desshalb schon von den Skalden haukströnd (Falkenstrand)
so wie der Falkner selbst haukstaldr genannt wurde. (Grimm, Gesch. d. d. Spr. 1, 44.)
21 ) giwenen Wasses, fliessendes Wasser, zum Unterschiede von Brunnenwssser. —
Wanne, = jedes tliessende Wasser. (Schmell. IV, 93.)
22 ) Kastrauneu.fleisch; Schöpsenfleisch (castratus, verschnitten).
2S ) Rüchen, die Saatkrähe, Ackerkrähe oder Feldkrähe, Recke, Rücke, Corvus
frugilegus Gmel., auch Saatrabe, Haferrücke, Karachel, Nacktschnabel und Grindschnabel
genannt (ßechstein, Jagdzoologie 10. Th., B. 1, p. 859), agls. hroc, engl. rook. —
„Grosse Hauffen der Storcken, Hatzen, Tulen, Rüchen vnd Krähen“ — „dass ffiro
niemand keinen jungen Vogel mehr von den Nestern trage, ausgenommen Arn, Raben,
Kran, Ruechen etc.“ (Schmell. HI, 20.)
24 ) habich vnd habichl; „die habich seyud zweyerhand, eyner ist der grösser
habich, der ander ist der tertzel,“ — „der tertzel ist der mynder vnnd der kleyner
vnd ist das eer.“ (Buchlin v. d. beyssen, p. 2.) — „Trysoli oder tryselli, dauon das is
werden drey in einem nest, zwei weiblin vnd ein mänlin, darumb würt das mänlin
Trysolus genannt als ein dryling oder dritman, die seint auch nit so groszer personen
als die weyhlin, noch so groszer krafft im rauben.“ (Pet. de. Crescent. fol. 102 b.)
25 ) abtragen, abrichten.
26 ) Kropf. „Die zunge dienet jhnen auch darzu dass sie die speise biss an den
Schlundt geleytet, durch welchen sie in ein Säcklein fället so vnd daran hanget, das
wir kröpft' nennen, in welchem die speise so der Vogel zu sich nimpt erstlich eine
zeitlang auflgehalten wirdt.“ (Übers. D’Arcussia’s IV. Th., 1. Cap., p. 211.)
27 ) Vilandros. „Es haben vnsere Vögel in jhrem Leib vmb die Nieren etliche
dünne vnd lange Wurm welche wir Filandres nennen, dieweil sie gleichsam wie Faden
sehen.“ (Übers, v. D’Arcussia Th. II, Cap. 1.) Im Roy Modus (feuill. 95) „Comment
on garist ung faulcon qu a les filandres.“ — „Wann ihnen die spülwürm im leybe
wachsen, so soll man ihn das saft't von Plirsiehblettern etc. geben.“ (Tapp. Cap. 63.)
28 ) Aloes cicotrinum. Siehe Note 50 zur vorigen Handschrift.
29 J Kropf, hier bildlich so viel als Mahlzeit. „Man soll ihm nit zu grosse kröpft'
geben“ — „den morgenkropfl' soll er verdawet haben gegen mittag, den abendkroplf
aber soll er vortage verdawett haben.“ (Tapp. Cap. 11.) „überkröpfen“ zu stark füttern.
(Tapp. Cap. 16.) „kröpften oder er kröpftet, heisst wenn er frisst.“ (Döbel, Jsig. Pr. I, 75.)
30 ) Glufen, acus, acicula. (Scherz. GIoss. I, 558.) glufen, klufen, klufelein,
Stecknadel. (Schmell. III, 354.)
31 ) Caromonie, Cardamonen. D’Artheloucbe (p. 32) sagt: die weissen Falken
sind phlegmatisch und bedürfen wärmender und trockener Arzneimittel, nämlich: cyna-
mome, garofili, cardainomi, und chair de bouc et de corneilles.“
32 ) Maussgeir so man nennt buliaro, der Buzzard, Falco buteo L., Buteo vulgaris
(Rechst.). Mauser, Miiusefalk, Ruttelweih, Rundschwanz, Unkenfresser (Winkcll. II,
658). mhd. musar, miuseaer, müsaere, muser. (Renecke u. Müller I, 49.)
83) Die zweite Zahl des Abstandes der Leimspindeln vergass der Verfasser bei
zufügen.
*
Zur Geschichte der Falkenjagd.
37 ä
:i4 ) Das auf „falkhen“ folgende Wort ist so undeutlich geschrieben, dass man es
nicht enträthseln kann, doch dürfte, da es so kurz ist, und das Wort Falke im
Genitiv steht, die Lesung „art“ (des falcken art so man etc.) nicht unrichtig sein,
da sie zu dem folgenden Texte genau passt.
35 ) „ein anderer halt den fogl.“ Es lässt sich denken , dass hei dieser Operation
ein „anderer“ den Vogel halten musste, da sich dieser sonst mit Schnabel und Waffen
tüchtig gewehrt haben würde. In den Abbildungen, die Seroux (Hist, de l’Art. Taf. 78)
nach dem Friedricianischen Codex gibt, werden die Falken bei derlei Vorgängen in
Tüchern gehalten.
36 ) Weisswasser, ohne Zweifel so viel als reines, ungetrübtes Wasser. Aus diesem
Mitführen eines nassen Badeschwammes geht, wie aus den zahlreichen Recepten die
sich in allen Falknerschriften finden, nur zu deutlich hervor, in welchem Grade jene
in der freien Natur so kräftigen und ausdauernden Vögel durch „kunstgemässe“ Behand
lung weich und kränklich wurden. Den grössten Beweis dafür liefert aber D’Arcussia's
„Estuy des instrumens“ (Falconier-Futter, Falknerbesteck), in welchem sich acht, nach
der Vermehrung dessselben durch Jennis aber fünfundzwanzig Instrumente, nämlich :
Messer, Scheren, Fliedmen, Löffel, Pfriemen, Röhren, Nadelköcher u. s. w. befinden,
die einem heutigen wohlversehenen Chirurgen Ehre machen würden !
Ich erlaube mir nun am Schlüsse noch einige Andeutungen über
diejenigen schriftlichen und bildlichen Quellen zu geben, von
welchen ich, in Betreff der beiden hier abgedruckten Handschriften,
Einsicht nehmen konnte. Diese Andeutungen dürften vielleicht um so
weniger unwillkommen sein, als sie mehrere Denkmale berühren,
welche bisher noch nicht genauer beschrieben wurden und einem
künftigen Geschichtsschreiber der Falknerei wohl manchen nützlichen
Wink geben können. Die älteste, der christlichen Ära angehörige
schriftliche Aufzeichnung*) welche bisher bekannt wurde, ist jenedes
Julius Maternus Firmicus, der unter den Nachfolgern Constantin des
Grossen lebte, und um das Jahr 34S auch noch ein anderes Buch:
„De errore profanarum religionum“ verfasst haben soll. Jene Stelle
über Falknerei findet sich im fünften Buche (Cap. 8) seiner „libri
astronomicorum" (Edit. Aldiu. Venetiis 1497) unter der Aufschrift
„Mercurii decreta per singula Zodiaci signa.“ Sie lautet:
„In TfP si fuerit inuentus, quicunque sic eum habuerint, fortes
erunt, industrii, sagaces, equorum nutritores, acciptrum, falconum,
*) Aristoteles (Hist, auiin. lib. 9, Cap. 36) erzählt, (lass im inneren Theile Thrnciens
mit Sperbern gejagt werde. Antigonus Carist. (Hist, mirab. Cap. 34.) Aelian (Hist,
anim. L. 2, C. 42.) (PI in. L. IO, C. 68.) ti. A. erzählen ihm nach. (Vergl. Beck
mann, Gosch, d. Erf. II, p. 160.)
26 ■'
376
A. R. v. P erg er
caebrarum que avium, quae ad aucupia pertinent, similiter et canum,
molossorum, uertagorum, et qui sunt ad venationes accomodati.“
Dass Karl der Grosse als ein besonderer Jagdfreund auch die
Falknerei liebte, ist eben so bekannt, als dass er sie den Geistlichen
verbot und ihnen selbst die sonst so gering geschätzte Beize mit
dem Habicht nicht erlaubte. Dass er seine eigenen Falkner hatte,
wird durch eine Stelle seines „Capitulare de villis imperialibus“
belegt. (47: „ut venatores nostri et faleonarii“ etc. V. Pertz. Monum.
Germ. hist. Legum T. I, p. 186.)
Über die Falknerei der Angelsachsen gibt ein Miniaturbild
Kunde, welches Strutt in seinen „Sports and pastimes“ (Taf. III)
nach einer angelsächsischen Handschrift vom Ende des neunten oder
vom Anfang des zehnten Jahrhunderts (Cotton library. Tiberius.
C. VI.) abbildete. Ein angelsächsischer Edelmann reitet am Ufer eines
Gewässers, bei welchem sich ein Reiher und mehrere Enten befinden.
Sein Falke scheint, so eben vom Flug zurückgekommen, wieder den
Sitz auf der Hand eingenommen zu haben. Auf der anderen Seite des
Bildes steht der Falkner, der mit der Rechten seinen Falken wirft,
während er in der Linken den Falknerstock (la baquette) hält, den
man dazu benützte, um die Repphühner oder Enten die sich im
Gebüsche verkrochen hatten, wieder heraus zu jagen. Das Bild ist
schon desshalb sehr interessant, weil es zeigt, dass in jenen grauen
Tagen dieselben Gebräuche in Übung waren, die sich bis zum
Verfall der Falknerei erhielten.
In der ersten Hälfte des dreizehnten Jahrhunderts wurde aufBefehl
Kaiser Friedrich’s II. ein eigenes Werk über Falknerei geschrieben.
Viele halten den Kaiser selbst für den Verfasser, und zwar um so
mehr, als das Buch von König Manfred mit Zusätzen begleitet wurde.
Seroux d’Agincourt gab, wie schon früher angeführt, in seiner
„Histoire de l’art“ einige Abbildungen nach den Miniaturen der im
Vatican befindlichen Handschrift. Auch die k. k. Hofbibliothek besitzt
eine Abschrift dieses Werkes (Cod. Mss. 10948), und zwar aus dem
sechzehnten Jahrhundert, auf Papier und mit mancherlei Miniaturen
geziert*), die aber meist nur aus einzelnen Figuren bestehen und
sehr viel von dem ursprünglichen Gepräge ihrer Vorbilder verloren
*) Diese Handschrift beginnt mit den Worten : Libri titulus talis est. Liber divi August!
Friderici secundi Romanorum Imperatoris etc. De arte venandi cum avibus.
Zur Geschichte der Falkenjagd.
377
haben. Vielleicht um fünfzig Jahre später, als jener Papiercodex
geschrieben sein mag, erschien die Vogeljagd Kaiser Friedrichs zu
Augsburg in Druck, und zwar nach einer Handschrift, welche dem
Nürnbergischen Arzt Joachim Camerarius gehörte, und zwar unter
dem Titel:
„Reliqua librorum Friderici II. Imperatoris, de arte venandi cum
avibus, cum Manfredi Regis additionibus. Ex membranis vetustis nunc
primum edita.“ Denselben ist angefügt: Albertus Magnus de Falco-
nibus, Astoribus et Accipitribus.“ (Augustae Vindelicorum 1596. 8.)
Es ist diesem schon zu Beckmanns Zeiten (1788) sehr selten
gewesenen*) Buche ein Holzschnitt beigegeben, der den Kaiser
und zwei Falkner vorstellt. Der Kaiser sitzt auf dem Thron und hält
in der Linken das mit einer Lilie gekrönte Zepter. An seiner Seite
knien die beiden Falkoniere, deren jeder einen Falken auf der linken
Faust trägt. Der Falkner-Handschuh reicht bis an den Ellenbogen, ist
am Rande gestickt und trägt an seinem Endzipfel eine Schelle. Der
Erstere oder Ober-Falkner hat rückwärts im Gürtel das Federspiel
(la leurre), der Zweite hält aber in seiner Rechten eine Adler- oder
Geierklaue, vielleicht ein Zeichen des Triumphes, den ihre kühnen
Falken über einen Vogel jener Art errangen. Dieser Holzschnitt ist
ohne Zweifel nach einer Miniatur des camerarischen Codex gefertigt.
Der gleich neben dem Throne knieende Falkner ist auch bei Seroux
(pl. 73) abgebildet, woraus sich schliessen lässt, dass eine dieser
beiden Handschriften von der andern copirt wurde.
Die k. k. Hofbibliothek besitzt von dieser Ars venandi ebenfalls
eine Abschrift (Cod. Mss. 10948, olim C. I). Oben auf dem Titelblatt
ist Kaiser Friedrich, auf dem Throne sitzend, mit einer Lilie in der
Hand, abgebildet. Neben dem Kaiser steht ein Falke auf einem nied
rigen Rick. Unten auf demselben Blatt ist der Kaiser wieder gemalt
und zwar mit einem Zepter in der Hand. Neben ihm knien derselbe
Oberfalkner und der Unterfalkner. Die Lichter sind mit Gold aufge
höht. Die Handschrift gehörte früher der Fugger’schen Bibliothek.
Über die Falknerei der Engländer im vierzehnten Jahrhundert
geben zwei Gruppen Auskunft, welche Strutt auf der oben angeführten
Tafel nach einer Handschrift in der Bibliothek zu London (2. B. VII)
copiren liess. Die eine dieser Gruppen stellt drei Damen dar, die
*) Beckmann, Gesch, d. Erfind. II, p. 173.
378
A. H. v. P erg e r
sich, und zwar zu Fuss, mit der Falkenbeize unterhalten. Sie tragen
alle drei eine eigentümliche Jagdkleidung, nämlich einen Überwurf,
der aus Linnen gemacht zu sein scheint. Auch das Haupt ist in
solches Linnen gehüllt. Die zweite Gruppe zeigt zwei Damen zu
Pferd in Begleitung eines ebenfalls reitenden Jünglings, die zusam
men an einem Flussufer beizen, Der Falkner oder Treiber kniet am
Strande und scheint den Falken der so eben auf eine Ente stösst,
durch Schreien und Schwingen seines Stahes anzufeuern, wie denn
in beiden Darstellungen alle Figuren den einen Arm erhoben haben,
was jedenfalls (vgl. Note 13 zur ersten Handschrift) auf eine gewisse
Erregung oder auf eine Art von Jagdeeremoniell hindeutet.
Die älteste französische Schrift über Jagd und Falknerei ist das
zu Anfang des XIV. Jahrhunderts aufgezeichnete „Livre du Roy
Modus et de la Reine Racio“. Die k. k. Hofbibliothek besitzt ebenfalls
(Cod. Mss. 2573) eine Abschrift davon, und zwar auf Pergament
und mit Miniaturen geschmückt, die auf die erste Hälfte des
XV. Jahrhunderts schliessen lassen. DieserCodex der, wie derEinband
und die Klappen auf demselben anzeigen, einst der Sammlung des
Prinzen Eugen angehörte, enthält hei den betreffenden Capiteln*)
über Falknerei folgende, den Text illustrirende Abbildungen:
I. (fol. 63 «). König Modus sitzt unter einem Baldachin und
docirt. Vor ihm stehen drei Falkner welche ihm zuhören. Jeder trägt
auf der behandschuhten Rechten seinen Falken und jeder hat an
seinem Gürtel die eigenthümlich geformte (oben enge und unten
weite) Falknertasche. Zwei dieser Falkner, deren Vögel wahrschein
lich noch nicht vollends gezähmt sind, halten in der Linken ein
Stäbchen gegen den Falken, um ihn damit von sich abzuhalten.
Sforzino sagt in seinen „Tre libri degli vcelli di rapina“ (Vinegia
1568, p. 36) über dieses Stäbchen: „Guardasi lo strucciere, di non
lasciarsi pigliare il dito col hecco, perciocche stringono come tenaglie.
Adunque si piglia una bacchettina di grossezza poco manco del dito
piccolo, e con questa uadi il falconiero toccando destramente la testa
del lälcone e leggiermente stroppiciando il collo e le spalle e come
si dice nel Vicentino pronandolo e se egli soffiando morde il bacchet-
Diese Capitel beginnen mit fol. 63 a. Auf fol. 62 b steht mit rother Schrift :
„Cy fine le liure qui traite des deduis des chiens et commence le livre des deduis
des oyseaux.“ Der Text beginnt mit den Worten : „Quant le roy Modus ot monstir a
ses aprentis“ etc.
Zur Geschichte der Falkenjagd. 379
tino, ilche fa di sua natura, lascisi mordere a suo piacere avvertendo
sempre alle mani.“
II. (fol. 65 b). Zwei Falkner, jeder mit Vogel, Tasche und
Stäbchen. Die Vögel sind, wie auf dem vorigen Bilde, behaubt.
III. (fol. 67 6). Der Edelmann lässt den Falken an der Schnur
fliegen (siehe Note 11 zum zweiten Manuscript). Der Falkner steht
ihm gegenüber und schwingt das Federspiel, um den Vogel darauf
zu locken.
IV. (fol. 70 a). Falkenbeize auf Wildenten an einem Weiher.
Die beiden Jäger sind beritten. Der Jäger links hat hinter sich auf
dem Sattel einen Spitzkorb (Reuse aus Weidengerten), vermuthlich
um die Tauben oder Hühner darin zu halten, welche man bei jeder
Beize mitnehmen musste, um dem Falken nach vollbrachtem Stoss
„sein Recht“ d. i. seine Belohnung zu geben. Der andere Jäger hält
in der Rechten den abgezogenen Handschuh.
V. (fol. 71 b~). Reiherbeize an einem Gewässer. Zwei Falken
stossen auf einen Reiher. Ein Hund schwimmt im Wasser um den
Reiher durch Bellen zu verscheuchen, wenn dieser die Fluthen oder
das Schilf suchen sollte. Der Jäger ist zu Ross und trägt eine Pauke
am Sattel (vgl. Note 13 zum ersten Manuscript). Gegenüber steht
der Falkner mit der Baquette.
VI. (fol. 82 «). Der Ritt zur Falkenjagd. Voran reitet die Dame
in langem Jagdkleide. Sie trägt den Falken auf der Rechten. Der
Schimmel auf dem sie sitzt, ist ein Passgänger (Zelter, der immer
die Füsse der einen Seite hebt und nicht verschränkt geht, wie
gewöhnliche Pferde). Voran läuft der Hund, der bei jeder Beize
unentbehrlich war. Hinten nach reitet der Cavalier auf einem Rappen.
Er trägt den Falken ebenfalls auf seiner Rechten.
VII. (fol. 82 b). Die Beize in vollem Gange. Die Dame wie im
vorigen Bilde voran. Jeder der beiden Falken hat bereits seinen
Raub erfasst.
VIII. (fol. 83 «). Der Streit zwischen dem Falkner und dem
Jäger. Zur Erklärung dieses interessanten Bildes ist es nöthig
einige Stellen des Textes anzuführen. Es heisst (fol. 82 b\:
„Veneurs et fauconniers estoient herbegiez en hostel, si buvent et
mengierent ensemble puis commencierent a parier de leurs deduis.
Certes dist Pun, il na nulle comparaison entre le deduit que vient des
chiens et cellui qui vient des oyseaux. Car le deduit que vient des
380
A. R. v. Pergev
oyseaux vault mieulx et est plus plaisant que nest cellui que vient
des chiens. Atant sailli un des veneurs avant et dist que fauconniers
nestoient mie creables et qu'ilz nestoient que menteurs.“
Diese hitzige Äusserung des Jägers wird von dem Falkner sehr
übel aufgenommen:
„Donc (fol. 83 a) prist le fauconnier son loure et en donna
au veneur parmy la teste. Et le veneur prent son cor et fiert le fau
connier parmy la siene et tous les autres saillent si les depaturent a
grant peine, et furent tant qu’ilz s’apaisierent. Adons dist Fun d’eulx,
vous nous debates de neant, car deux dames firent un argument de
ceste matiere et se firent mettre en rime et le envoyerent au conte
de Tancarville pour estre jugie.“ *)
Der Miniaturist stellte eben die Scene dar, wie der Falknersein
Federspiel dem Jäger an den Kopf wirft und jener sein Horn erfasst
um Vergeltung zu üben. Zwei Falkner und zwei Jäger kommen von
beiden Seiten heran, um dem Streit Einhalt zu thun. So wie die
Falkner die Falkentasche, tragen die Jäger ihr Hifthorn als Abzeichen.
IX. (fol. 89 a). Dieses in seiner Art zierliche Bild stellt die
beiden oben erwähnten Damen dar, die über Jagd und Falknerei
argumentiren. Sie sitzen in einen umgitterten Rasenrund, das von
einem Baum beschattet wird. Der Text hat hier folgende Über
schriften (fol. 83 6): „Cy devise le jugement des chiens et des
oyseaux le quel est le plus beau deduit.“ (fol. 86 a): „Comment la
dame des chiens replique“ und (fol. 91 «) : »Explicit le jugement du
conte de tancarville.“ Dieses Urtheil ist übrigens so gestellt, dass
keiner der Parteien besonders wehe geschieht. Es endet mit den
Worten : „Et par arrest lui est rendu, si prie ä tous qu’il soit tenu.“
— Die folgenden Miniaturen beziehen sich auf den Fang der Falken
und zwar:
X. (fol. 93 «). „Cy devise comment l’en prent toutes les
maniers d’oiseaux.“ Auf einem Baum, von dem man weiss, dass ihn
*) König; Johann von Frankreich, t(er von 1350 bis 1364 regirte, liess während seiner
Gefangenschaft zu Hereford (Helfort) in England, eine Abhandlung in Versen über
Jagd und Falknerei niederschreiben und benützte dazu die Feder seines ersten
Chätelains: Gasse de la Vigne (Gaston de Vineis). Auch hier wird der Streit über
Jagd und Falknerei behandelt, auch hier vereinigt der Graf von Tancarville die
beiden Parteien. (V. De la Curne de Sainte Palaye, Memoiressur l’ancienne Chevalerie.
. T. III, p. 215 ff.)
Zur Geschichte der Falkenjagd.
381
der Falke oft zu besuchen pflegt, ist eine eigentümliche Art von
Falle aufgerichtet, die von einem queren Baumast herabhängt und
mittelst zweier Sti’icke so angezogen wird, dass sie sich über den
Falken hinaufschlägt.
XI. (fol. 95 a). Der Fang des Falken mit Wandnetzen in deren
Mitte eine Eule sitzt. Der Jäger kauert in einem dichten Gebüsche und
hält die Schnur der Wandnetze die, sobald er anzieht, über den
Falken zusammenfallen.
XII. (fol. 95 6). Der Falkenfang mit dem dreiseitigen Schlag
netz; als Locke ein Nusshäher.
XIII. (fol. 97 a). Der Falkenfang mit den gewöhnlichen grossen
Netzen (Doppelgarn) auf der Vogeltenne. Als Locke ein Stieglitz.
Das Livre du Roy Modus wurde im Jahre 1839 von Eleazar
Blaze (Paris, gr. 8°) nach den Pariser Handschriften edirt und ein
fache (blos contourirte) Holzschnitte nach den dortigen Miniaturen
beigegeben, die häufig mit denen des Wiener Codex correspondiren,
aber im Ganzen etwas minder gut gezeichnet scheinen.
Von ganz besonderem Interesse ist aber das in der k. k. Ambra-
sersammlung befindliche Falkner-Kartenspiel (Nr. 194,
V. Primisser: Ambr. Samml. p. 297. 4. Ein ebenfalls gemaltes Karten
spiel mit Falken, Hunden und Jägern). Nicht nur dass Karten aus
dem XV. Jahrhundert überhaupt zu den grössten Seltenheiten
gehören und zu fast unglaublichen Preisen bezahlt werden, zeichnet
sich dieses Kartenspiel noch dadurch aus, dass es als Unicum dasteht,
indem es nicht gedruckt, sondern mit der Feder gezeichnet und
gemalt, und, was einerseits freilich Bedauern erregt, noch nicht
vollendet ist, wodurch aber eben das Primitive desselben am besten
bewahrt wurde. Dem Costüme nach, so wie der Zeichnung und der
Faltenlegung zufolge, scheint es burgundischen Ursprunges und
beiläufig um oder nach dem Jahre 1450 gemalt zu sein, und verdient
daher eine besondere Beschreibung*).
Das Spiel ist, wie gewöhnlich, in Quadrillen getheilt. Jede
Quadrille besteht aus einem „Unter“, einem „Ober“, einer Dame und
einem König, welche von neun kleinen Karten (von Ein bis zur Neune)
*) Unwillkürlich erinnert man sieh hei dem Anblick dieses Kartenspiels an den
unglücklichen Sturz, den Maria von Ilurgund (12. März 1482) auf einer Reiher-
beize machte. Wer kann es errathen oder verneinen, ob diese Karten nicht einst
auch in ihren Händen waren?
382
A. K. v. Perge r
und von dem Ask (der Speer, der die übrigen Karten stiebt, daher
noch das heutige „Ass“) begleitet werden.
Die erste Quadrille ist die des Falken. Die Figuren tragen
rot he Kleider. Der Hintergrund ist blau. Bei Dame und König
Goldgrund. Der Falken-Unter ist von seinem Falben abgestiegen
und streut dem Vogel der zur Erde fliegt, Stückchen Fleisch. Der
Falken-Ober reitet und hält den Falken auf seiner ausgestreckten
Rechten. Die Dame ist vom Rücken zu sehen und in Sammt
gekleidet. Sie trägt den Falken anf der Linken. Ihr Kopfputz so wie
das Pferd sind nur contourirt und noch nicht gemalt. Der König trägt
einen breiten Hut und ein mit Hermelin verbrämtes Oberkleid. Er
reitet einen Schimmel und trägt den Falken (oder Habicht?) auf
der rechten Hand. (Von den „kleinen“ Karten der Falken-Quadrille
fehlt die Acht.)
Die zweite Quadrille ist die des Reihers. Die Figuren
tragen gelbe Kleider. Der Hintergrund zeigt meist Sumpfland
schaften und blauen Himmel. Der Reiher-Unter steigt eben zu
Pferd. Ein todter Reiher liegt zu seinen Füssen. Der Reiher-Ober
reitet auf einem Grauross. Er trägt eine turbanähnliche Kopf
bedeckung und ein eigenthümlieh geformtes, langes Jagdmesser. Er
hält den Reiher (der nur mit einigen Strichen angedeutet ist) auf
seiner Rechten. Die Reiher- Dame reitet auf einem Schimmel, hat
den Reiher auf der Linken und trägt auf dem Kopfe eine sonderbar
gehörnte Goldhaube. Der Reiher-König reitet (wie die Maler
sagen) aus dem Bilde heraus, d. h. das Pferd ist von vorne zu sehen-
Er ist bärtig, hat eine rothe Mütze nach Art der Armenier und trägt
den Reiher auf der Linken.
Die dritte Quadrille ist die des Windes (Windhundes). Die
Figuren haben blaue Kleider. Grund lackroth (bei König und
Dame Goldgrund). Der Unter sitzt auf einem Falben und droht dem
zu den Füssen des Rosses sitzenden Wind mit einem Stock. Der
Ober, mit Falknertasche und Armbrust, trägt, so wie die Dame und
der König, ein Hündchen auf der linken Hand. Bei der „Achte“ ist
eine Hündinn mit sieben Jungen, und bei der Neune sind neun Hunde,
die in einem Kreise um eine Wildkatze stehen, abgebildet.
Die vierte Quadrille ist die des Federspiels (Luders,
du leurre). Die Figuren sind grün gekleidet, der Grund zinnober
rot!) (bei König und Dame Goldgrund) und das Luder durchaus mit
Zur Geschichte »1er Falkenjagd.
383
Gold gemalt. Der Unter hat das Federspiel gesenkt, der Ober
schwingt es in der Luft, bei König und Dame ist es noch nicht
gemalt. Auf den kleinen Karten ist es deutlich viertheilig, d. h. aus
vier vergoldeten Flügeln zusammengebunden, und hängt an einer
blauen Schnur.
Die Aske oder Lanzen tragen eine Fahne, auf welcher das zu
jeder Quadrille gehörige Thier auf Goldgrund abgebildet ist. Nur
die Fahne des Federspiel-Ass ist rolh, weil das Federspiel selbst
mit Gold gemalt wurde. Die Karten bestehen aus starkem (beiläufig
‘/ )6 Zoll dickem) Papier, welches rückwärts (an der Tarotseite)
roth angestrichen ist, und messen 5 Zoll 10"' Höhe und 3 Zoll 7"'
Breite, ln der Ambrasersammlung befinden sich auch Falkenkappen
und Luder (vgl. Primiss. Ambr. Samml. p. 207). Sie sind von Leder,
Sammt und Seide und mit Gold und Stickereien reich verziert. Im
alten Invenlare heisst es: „Mit Gold gestlnickhte Falkhenhauben.“ —
„Äin Lueder sehen gestückht, auf Roten Carmesin Atlas, auf der
ainen seiiten ein Mannsch vnd ain Weibs Person, auf der anndern
seüten ain Mann zu Rosz, darneben ain hundt mit ainer Falckhen
Paiss.“
Die k. k. Hofbibliothek besitzt noch eine deutsche Handschrift
über Falknerei und zwar von Meister Eberhard Hitfeld (Cod.
Mss. 2437, auf Pergament in 4° früher zu Ambras Nr. 247. Sie ist
bei Hoffmann nicht angegeben, vermuthlich weil der Eingang in
lateinischer Sprache verfasst ist). Da sie, verglichen mit den beiden
hier edirten Handschriften, nicht eigentlich Neues bringt, seien, um
Weitschweifigkeit und Wiederholungen zu vermeiden, nur die Über
schriften der Capitel angeführt:
Fol. i a. Incipit aucupatorium herodiorum ex antiquorum philo-
zophorum ductis per magistrum ebirhardum hitfeit collectum et trans-
latum in layeum ydeoma.
Fol. 2 a. Das irste capittil von der nature vnd sitten der falken.
Fol. 2 b. Das andir capittil des ersten teil wy du dy seybirlich-
keit vnnd edilkeit der falken irkennen salt etc.
Fol. 3. das andir teil des buchelin von der czemunge vnnd lere
der falken. Czum irsten den irsten wilden falken disse iaris czemunge
vnde lernunge vnde speysunge.
Fol. 5 a. Das andir capittil wy man czemen vnd lernen vnnd
irneren dy neest falkin sal etc.
384
A. 1!. v. P ei'g e r
Fol. 7 a. Da dritte capittil von den walt falken wie man den czemen
vnnd lernen vnd irneren sal der sieh iczunt in der loft gemaussethot etc.
Fol. 8 b. Das iiij capittil von der lerninge dy inan haldin sal in
dem anbebin des beyssen vnde in dem nochfolgenden beyssen.
Fol. 10 a. Das V. capittil von dem maussen vnd czu welch czeit
man dy falken sal seczczen in dy mawsse vnd von der speisunge der
maussenden falken.
Fol. 12 a. Das VI. capittil wenne man dy falken aus der mausse
nymt wy man sy regiren vnd speisen sal.
Fol. 12 b. Das sebinde capittil, wy der falke feist sal werden.
Fol. 12 b. Das achte capittil, von magerkeit.
Fol. 13 a. Das IX. c. wy man machet das der falke seyn fusze
nicht beist.
Fol. 13 a. Das cehende capittil, wi man machet daz die falken
nicht sehreyen.
Fol. 13 a. Das dritte teil disses btiches vnd daz leczste von der
falke krangkeit. vnd wy man sy erczstyen (erznyen) sal vnd czu dem
irsten von der seuclie febres.
Fol. 14 ft. Das andir capittil von der falken haubt seuchen vne
er arcztyen.
Fol. 14 «. Das dritte capittil der seuclie dy do heysset der steyn
yn dem haubte vnde sein arcztge.
Fol. IS ft. Das virde capittil von der seuclie dy do heyssz fallent
obil vnd sein erzstie.
Fol. IS ft. Das fünfte c. von der flösse des hoptis durch dy
naselochir.
Fol. 17 b. Das sechst capittil von den pippis der falken vnd
ere erczstye.
Fol. 18 b. Das sibbende capittil von dorste des falken vnd seyn
erczstye.
Fol. 19 a. Das achte capittil von dem domphe wy man den dern
falken mit des erczstye vertreibt.
Fol. 19 6. Das newende capittil vom verlossin adir verwerlfin
seye oesse wy man ym das bussen vnd erczstyen sali.
Fol. 21 u. Capitulum decimum de malo congregatione humorum
in gorgia seu pulmone et modo purgandi et mundificandi.
Fol. 23 tt. Das eylfle capittil von der wetage der ougen vnde
erer erczsteye.
Zur Geschichte der Falkenjag-d.
385
Fol. 23 b. Das xij capittil von der wetage der oren vnde erer
erczsteye.
Fol. 23 b. Das dreyczende capittil von den grinden umedensnabil.
Fol. 24 a. Das xiiij capittil von eytir auswerfen vnd seyne
erczsteie.
Fol. 24 b. CapittulumXV. von der crankheit dergalleaddircolera.
Fol. 25 a. Capitulum XVj. von der crankheit der lebir vnd von
der Wassersucht.
Fol. 25 b. Das sbinczende capittil von den wormen wy man dy
mit erczstie vertriben sal.
Fol. 27 a. Capitlum XVjjj. wy man vortriben sal dy eyer der
falken dy do seeleyn seyn (selbein; Windeier).
Fol. 27 b. Das newenczende Capittil. Wy man vortriben vnd
erczstyen sal dy gicht der falken.
Fol. 30 b. Das XX. Capittil wy man sal vortriben dy scherlfe
der haut an den beinen vnd füssen.
Fol. 30 b. Da eyn vnd czweynczigiste c. von den obirbeyn vnd
knotten der fuszen.
Fol. 31 a. Das XXij. c. von den worczeln vnd obrigem fleische
das wechset den falken an den fuessen.
Fol. 31 b. Das XXIij von der swolst der fuessen des falken.
Fol. 31 b. Das XXiiij c. wenne sich der lalke czuslet oft’ dem
ricke vnd seyner ercz stye.
Fol. 32 a. C. XXV. von der müdikait noch den heissen vnd
seines erczsteye.
Fol. 32 b. Das XXVj c. wenne der falke wunt wirt von dem
geyer vnd seyner erczstie.
Fol. 33 a. Das sibbin vnd cweinczigiste capittil von der schebi-
keit des falken und seyner erezstie.
Fol. 33 a. C. XViij von den motten der federn vnde seyner
erczstye.
Fol. 34 b. Das XXIX. capittil. wy man czubrochene federn
hussen sal unde mag.
Fol. 35 a. Das dreysigiste capittil wy man dy leuse toten sal.
Fol. 36 «. Das eyn vnd XXXste capittil von der Vorsichtigkeit
dy man habin sal in der erczstyunge der grymmende fogil etc.
Auch Maximilian I. zeichnete Mehreres über die Falknerei auf,
und Leon gab im Bragur (T. VII, II. Abth. p. 166 u. s. f.) Proben
38ß
A. R. v. Perger
von solchen in der k. k. Hofbibliothek befindlichen Schriften dieses
jagdliebenden Kaisers, und zwar Seite 181 bis 188 über Falknerei.
Maximilian schreibt darin dem Herzog von Österreich die Regeln vor,
die dieser in Beziehung auf die Falken und die Falkenmeister zu
beobachten habe. Die von Leon beigefügten erklärenden Noten sind
ganz gut bis auf die letzte (Nr. 16, p. 187) zu der Stelle „und die
kraen“ (sind zu fangen) „mit dem schlagnetz oder mit dem aufen“;
wo Leon das Wort „aufen“ als „eine Art Reiger“ erklärt, die
sich im Wasser oder Schlamme aufhalten etc. und daher Fischreiger,
Fischweihen, auch Rohrdommeln genannt werden. Nun sind dies
aber erstens drei ganz verschiedene Vögel, nämlich Ardea major,
Falco milvus und Ardea stellaris, und zweitens ist der „aufen“ nichts
anderes als der Uhu, der seit undenklichen Zeiten zum Krähenfang
gebraucht und bei unseren Landleuten noch heute Auff oder Auhf
genannt wird. — Das Geschlecht der Auffensteiner führt von diesem
Vogel seinen Namen.
Von Incunabeln ist hier. Meydenberg’s „Buch der Natur“ zu
erwähnen, in welchem sich ein besonderes Capitel von den Falken
befindet. Meydenberg sagt unter andern: „Falco heyszt ein falck der
hat die art daz er daz haubt vmb vnd umb reidet oder kert mit einem
reiden, also daz sein brust doch vnuerreide bleibt.“ (Er verwechselt
hier offenbar die Eule mit dem Falken.) — „Das äugen reiden des
falcken ist so behend daz sein äugen czweyhundert äugen geleich
seind, kreftig mit erkennen.“ Er scheint überhaupt mehr nach dem
Hörensagen als nach eigener Anschauung geschrieben zu haben und
ist daher von keinem besonderen Belang. — Schriften ohne Jahrs
zahl, aber aus dem XVI. Jahrhundert, sind das in den Noten mehr
mals angeführte „Waidwergk“ (gedruckt zu Augspurg durch
Haynrich Steiner, 4°) und G. B. Recueil de tous les Oyseaux de
proye qui servent a la Voilerie et Fauconnerie (Rouen, 4°). Als
weitere Rehelfe sind anzuführen: „Ein schönes buchlin von dem
beyssen mit dem lrabich vnd eim hund“ etc. Strassburg 1510, 4°,
dann: Petrus de Crescentiis, der in seinem Werke „Von dem
nutz der ding, die in ackeren gebuwt werden etc.“ (Strassburg
1518, fol.) im X. Buche vom Vogelfang, Weydwerck u. s. w., und
Cap. II, von der Raubvögel Natur, so wie Cap. XIV vom Gyrfalken
u. s. w. spricht. Des weiteren: Eberhard Tapp, „Waidwerk vnd
Federspiel“ (Strassburg 1542, 4"). Dieser Autor benützte Vieles
Zur Geschichte der Falkenjagd.
387
aus dem Werke Petrus de Crescentiis und aus dem oben angeführten
„buchlin v. d. beyssen“. Er sagt selbst in seiner Vorrede an den
Bürgermeister von Cöln, Jakob Rodekirclien: „ist mir da ein gutt
büchlin zu banden kommen, doch on titei vnd namen, welches da
arizaygt vnd berichtet wie man die habich lock machen soll etc.“
„Vnd aber dieweil kein Ordnung noch keine Geschiklichkeit der
zierwort gehabt, so hab ichs in ein Ordnung so vil mir möglich,
gebracht vnnd auss anderen büchern das furnembst an seinem ort
herein geflickt.“ Er bekennt sich also selbst als Compilator, hat aber
doch manche ganz gute Stellen zusammen getragen. — Gessner's
„Vogelbuch“ (Zürich 1557, fol.) ist bekannt und in den Noten zu
den vorliegenden Handschriften mehrmals citirt. An französischen
Werken treten in diese Reihe:
Franehieres, F. Jean de. La Fauconnerie etc. (Poitiers
1567, 4°). — Arthelouche de Alagona. La fauconnerie
(Poitiers 1567, 4°). — Tardif, Guilliaume: La fouconnerie
(Poitiers 1367, 4°). Diese beiden letzteren Werke sind der Faucon
nerie von Franehieres in der Ausgabe von 1567 beigegeben. Eine
andere Ausgabe von Franehieres (Grandprieur d'Aquitaine) Werk
erschien zu Paris (1607, 4°) mit dem Titel: „La fauconnerie avec
tous les autres auteurs.“
Von Italienern bekam ich zur Hand: Giorgi, Federigo: Libro
del modo di conoscere i buoni Falconi, Astori, Sparuieri etc.“
(Vinegia 1567, 8°) und Sforzino, Francesco da Carcano:
Tre libri de gli vccelli di rapina (Vinegia 1568, 8°).
In des Joh. Stradanus: Venationes, Ferarum, Avium, Piscium,
Pugnae bestiariorum etc. edite Joanne Gallaeo, Carmine illustratae
a C. Kiliano Dufflaeo. Antuerpiae. s. ao. (um 1570?) Querfol., ist
Taf. 65 eine Reiherbeize, Taf. 70 eine Falkenjagd auf Gänse und
Enten und Taf. 71 der Lerchenfang mit Habichten dargestellt. Jost
Ammou’s: „Künstliche Wolgerissene New Figuren von allerlei Jagt
vnd Waidwerck“ etc. (Frankfort a. M. 1592, 4°) zeigen: Tafel IV
(„Wie man sol die Falcken berichten“) einen Falkner mit seiner
Falknertasche, der inmitten einer Stube auf einer Bank sitzt und auf
der Linken einen Habicht hält, den er eben füttert. Auf dem Boden
steht ein niederer Rick mit einem Falken. Rückwärts am Fenster
sind drei andere Falken und im Vordergründe drei Jagdhunde. An
derWand hängen das Federspiel, Gewehre, Pistolen, Pulverhörner u.a.
388
A. R. v. Perger
Taf. V: eine Beize auf Reiher und Hasen, mit der Unterschrift :
Wie man sol die Falcken oder Sperber an die Hasen werden. Taf. X:
Wie man allerley Vögel mit Sperbern vnd Garn fangen soll, und
Taf. XXVI: Wie man den Hasen mit Falcken fangt. In der Vorrede
zu diesem Buche wird ganz gemüthlich erzählt dass „das fröhlichste
vnd lustigste Jagdwerk des Federspiels“ von niemand anderem als
von dem „kluge vnd abgerichte Vlysses“ erfunden wurde, welcher
„nach dem die Statt Troia eingenommen war, der erst die Vögel
zum Jagdwerck abgericht vnd bekleidet hat vnd die Griechen damit
gelernet vmbzugehen“. Als Naturforscher tritt nun Ulysses Aldro-
vandi*) in seinen: Ornithologiae libri XII. (Bononiae 1399. Toi.
3 Vol.) auf, der im ersten Bande (Liber VI) eine besondere Abhand
lung „de Falconibus“ bringt, in welcher er die verschiedenen Arten
dieser Vögel einzeln beschreibt.
Der bekannteste Schriftsteller über Falknerei im Beginne des
XVII. Jahrhunderts ist D’Arcussia, Charles de Capre,
Seigneur d’Esparron, dessen „Fouconnerie“ in erster Auflage
schon 1598 zu Aix erschien und so vielen Beifall fand, dass mehrere
Auflagen nach einander folgten (Paris 1608, Paris 1627, Rouen 1643,
Rouen 1644), welche mancherlei Zusätze (z. B. die Ausgabe von
1644: La fauconnerie du Roy avec la Conference des fauconniers
u. s. w.) erhielten. Das Werk wurde auch von Lucas Jennis (Nürn
berg 1617, 4°) in’s Deutsche übersetzt. D’Arcussia hat einen äusserst
angenehmen Styl und eine lebhafte Darstellung, die er wohl nur
dadurch erlangen konnte, dass er, der selbst ein ausgezeichneter
Falkner war, alles aus eigener Anschauung niederschrieb. Sehr
schön und wirklich mit Empfindung ist der Trostbrief verfasst
(P. III, Lettre 23, du 20. octobre), den er an einen Freund schreibt,
der bei der Beize seinen Falken verlor. Eben so gern liest man das
Schreiben (lettre 38), in welchem er den Falknern anempiiehlt, sich
den Falken gefällig zu machen und sie nicht roh zu behandeln. Auch
gibt er (besonders in lettre 32) Aufschlüsse über die Falknersprache,
so z. B. über das „werfen“ der Falken: Vous dites que vous lä-
schastes votre Lanier oü vous deuiez dire que vous le iettastes.
*) Das Bildniss Aldrovandi’s befindet sich, von Tizian’s Hand gemalt, im k. k. Belve
dere. Mechel. Catalog. p. 29, Nr. 54. Aldrovandi hält hier merkwürdiger Weise
eine Vogelklaue in der Linken, wie der zweite Falkner des Holzschnittes zu den
Reliqua Fried. II.
Zur Geschichte der Falkenjagd.
389
Pource qii'aux oiseaux de Fauconnerie, il se faut servir des termes
propres ä l’art, et non des mots prins en la cuisine des Autoursiers,
qui ne font qu’ ouvrir la main au depart que fait l'oyseau de sa propre
volonte, et per ainsi ils peuuent bien dire lascher, mais nous qui
portons les nostres avec le chaperon et les jettont seulement quand
bon nous semble, les faisant voler, ou du poing, ou les mettant ä
mont ä nous suivre.“ Nicht minder interessant ist seine Abhandlung
über das Heilen gebrochener und das Einsetzen der ausgefallenen
Federn, so dass man sein Buch mit grosser Befriedigung aus der
Hand legt.
In die chronologische Beihe der Falknereischriften tritt hier
das Jagd- und Forstrecht von Noe Meurer (Marpurg 1618, fol.),
welches übrigens nur wenig Besonderes enthält.
Weit wichtiger und noch nicht beschrieben ist der in der
k. k. Hofbibliothek befindliche und durchgängig aus Miniaturen
bestehende „Paradissgart“ in vier Querfoliobänden, dessen vollstän
diger Titel folgendermassen lautet:
„Paradissgart vnnd Thierbuch Darinn Der Durchleuchtig Hocli-
geborne Fürst vnd Herr Herr Friderich Achilles Hertzog zu
Wirtemberg vnd Teckh, Grave Zu Mömpelgart, Herr zu Haiden
heim*) allerhand Thier vnd Vögel neben vielen schönen Früchten,
gewachsen Zweigen vnd Landschafften eigentlich vnd natürlich abge
bildet repraesentiret. Hoch gedacht Ihre fürstliche Gnaden Mit
Besonderem grossen Fleiss mühe vnd vnkosten von vnderschidlichen
Orthen dess Herzogthums Würtemberg Vnd Anderen Ländern zu
sammen gebracht auch guten theils selbsten gefangen, geschossen
Vnnd Innerhalb Acht Jahren Nämlichen von Anno 1622 biss A. 1630
Durch Valentin vnd Johann Ludwig Hofmannen gebrüdere
vnd Mahlern in Stuttgartten Dem Leben nach Warhafftig contrafaiten
vnd der Posterität zu gutem so bilden Lassen. Stuttgarten Anno T630.“
Die durchaus mit grösstem Fleisse in Deckfarben gemalten, oft
wirklich meisterlich schönen Tafeln haben 13 Zoll'Länge und 8 Zoll
Höhe und verdienen, sowohl in kunsthistorischer als in naturwissen
schaftlicher Beziehung eine eigene ausführliche Beschreibung. Hier
kann nur bemerkt werden, dass der zweite Band eine Reihe von
*) Friedrich Achilles, Sohn des Herzogs Friedrich von Württemberg, geh.
25. April 1591, gest. 20. December 1630.
Sitzb. d. phil.-hist. CI. XXXI. ßd. II. Hft.
26
390
A. R. v. P erjer
zweiunddreissig Blättern enthält, auf welchen die Rapaces abgebildet
sind, denen oft merkwürdige Namen beigegeben wurden, wie z. B.
Taf. 2: Ein Melgrisz, Taf. 5: Ein Leck-Weyhe, Taf. 17: Ein Schlecht-
falckh, Taf. 18: Ein Schlechtfalken Terz, Taf. 26: Ein Schwermerlain
und Taf. 29: Ein Krälz, die erst näher bestimmt werden müssten.
Für die Falkenjagd selbst haben besonders 3 Tafeln Interesse;
nämlich Taf. 10, Taf. 12 und Taf. 46, auf denen im Mittelgründe
Falkenjagden gemalt sind, die, bei zwar kleinen Figuren manchen
Aufschluss über die Gebräuche bei der Reiherbeize geben (vergl.
Note 13 zur ersteren Handschrift).
Ein ähnliches Unicum, und eben so wichtig für ältere Natur
forschung ist das, gleichfalls in der k. k. Hofbibliothek aufbewahrte
Miniaturwerk: Recueil d’Oyseaux de la menagerie royale du parc de
Versailles par Ordre de J. Bapt. Colbert, Ministre d’Etat, peint par
Nicolas Robert, Peintre ordinaire du Cabinet du Roy. Fünf Bände
in Folio, Alles mit Deckfarbe auf Pergament gemalt und mit eben so
grossem Fleisse vollendet als das Vorige. Hier enthält der erste
Band (auf den Tafeln 1 bis 25) die Tagraubvögel (Volans de jour),
denen Namen beigegeben sind, durch welche die Beschreibungen
des Ulysses Aldrovandi erklärt und erläutert werden. Übrigens ist
N. Robert nicht der Einzige, der für dieses Werk malte, denn es
finden sich unter den Bildern auch die Namen und Buchstaben:
N. d. L.; N. Vil. und M. L. Roy.*) Die zur Falknerei gehörigen
Vögel sind: Taf. 6: Buteo, Buse; Taf. 7: B. vulgaris, Buse commune,
Busard; Taf. 8: B. leucocephalus; Taf. 9: B. variegatus; Taf. 10:
Pygargus, Jean le blane ou Oyseau St. Martin; Taf. 11: Milvus caudä
bifida; Taf. 12: M. albus Aldrovandi; Taf. 13: Circus Bellony,
Feau-Perdrieu; Taf. 14: Falco; Taf. 15: Gyrfalcus Aldrovandi, Ger-
fault; Taf. 16: Lanarius, Lanier; Taf. 17: Lanarius mas, Laneret.
Taf. 18: Lanarius alter; Taf. 19: Conchris seu Tinnunculus, Cresse-
relle; Taf. 20: Smerillus, Esmerillon; Taf. 21: Accipiter Fringillarum
*) An dieses prachtvolle Werk schliesst sich ein ähnliches, ebenfalls von Colbert
angeordnetes, von Robert ausgefiihrtes lind in der k. k. Ilofbibliothek aufbewahrles
Miniaturwerk mit Pllanzenabbildungen in nicht weniger als zehn Foliobiinden,
die meines Wissens ebenfalls noch nirgends beschrieben wurden, obwohl sie
unstreitig zu dem Vorzüglichsten gehören, was in jener Zeit von botanischen
Abbildungen geleistet wurde. Beide stammen aus der Sammlung des Prinzen Eugen
von Savoyen.
Zur Geschichte der Falkenjagd.
391
mas, Mouchet; Taf. 22: Aleph, Oyseau de Proye; 23: Lanius cine-
reus foemina Aldrovandi, Pie-grieschegrande espece fern, und Collurio
minor mas cinereo Aldrov, Pie-griesche de la petite espece; Taf. 24:
Collurio minor primus Aldrovandi, Pie-griesche a teste rousse, und
Taf. 25: Collurio parvus Aldrovandi, Pie-griesche grise. So weit es
der Raum des Pergamentes zugab, sind alle diese Vögel in Lebens
grösse gemalt.
Das englische Werk: Severall wayes of hunting, hawking and
fishing, according to the English manner, invented by Francis
Rar low, etclied by W. Hollar, London 1671, Quer 4° enthält
(vergl. Note 13 zur ersten Handschrift) drei Tafeln mit Falken
jagden, nämlich Taf. 10: Feasant hawking, Taf. 11: Hern hawking
(heron, Reiher) und Taf. 12: Partridge hawking. Um alles anzuführen
was ich in Reziehung auf den vorliegenden Stoff in der k. k. Hof
bibliothek vorhanden fand, sind noch zu bemerken: Traitö de toute
sorte de chasse et de peche. Amsterdam 1714, 8°, 2 Vol. Im 2. Rande
ein Index des mots de venerie. — v. Hochberg Georgica curiosa
aucta. Nürnberg 1749, fol., 3 Vol. Im III. Th., XII. Ruch, Cap. XIV:
Von Raub-Vögeln, ibid. Cap. XV: Vom Amt etc. eines Falconier. —
Florini, Franz Philipp. Adelicher Haus Vatter. Nürnberg,
Frankfurt und Leipzig 1750, fol. Im 2. Rande, II. Th., V. Buch,
II. Cap. Von übermachten Grossen Stosz- Baitz- Wayd- und Raub-
Vögeln. — Döbel, Heinr. Willi. Neu eröffnete Jägerpractica.
2. Aufl. Leipzig 1754, fol., 4 Thle. — Spangenberg, H. G. Über
die Luftjagd der Vorzeit. Erfurt und Gotha 1831,8. (fast durch
aus nur ein Auszug aus D’Arcussia’s Fouconnerie). — Hammer -
Purg stall. Falknerklee. Pesth 1840, 8. und Grimm, Gesch. d.
deutschen Sprache. Leipzig 1848, 8°, 2 Vol. (IV. Falkenjagd,
pag. 43 bis 52).
Noch muss ich hier des Marmor-Monumentes auf der piazzetta
di S. Pietro Martire zu Neapel erwähnen, welches 1361 für Frances
chino de Brignale errichtet wurde, denn auf demselben ist der Tod
als Falkner vorgestellt. Er ist als Skelet abgebildet, trägt merkwür
diger Weise zwei Kronen (wie der Papst drei) auf seinem Haupte,
hält in der Linken den Falken oder Sperber und in der Rechten das
Luder (il logaro), welches, unbegreiflicher Weise von Sigismondi
(Descrizione della cittä di Napoli, T. II, p. 197) für einen Bogen
gehalten wurde. (V. Ritis: I metri arabi. Napoli 1833, 4°, p. 331.)
26*
392
A. R. v. P e r g e r , Zur Geschichte der Falkenjagd.
Das neueste Gemälde, welches auf Falkenjagd Bezug hat, ist:
„The return from hawking“ von Sir Edwin Landseer (später von
S. Cousins gestochen), mit welchem diese Aufzeichnungen geschlossen
werden sollen, obgleich mir noch eine Menge von Noten zur Hand
liegen, die vielleicht an einer anderen Stelle Platz finden werden.
Ich fühle mich nur noch verpflichtet eine Note anzuführen, die mir
mein freundlicher College Herr Adolph Wolf über die in Calderon’s
Werken vorkommenden, auf Falknerei bezüglichen Stellen mittheilte.
Sie lautet wörtlich:
„Die Schauspiele Calderon’s, dargestellt und erläutert von
Leop. Schmidt. Elberfeld 18S7, 8°, S. 192 sq., Nr. 47: El Conde
Lucanor (bei Keil II, 478, Hartzenb. III, 418):
„Que Ia generosa liicha
Bo real de la cetreria
Que es la caza de que gustas,
Te divierfe en estos montes.“
Diesen Jagdterminus liebt Calderon sehr. El mayor encanto
amor. K. I. 291, H. I. 397. En tanto que de una caza Boreal el
termino llega .... Dario todo y no dar nada. K. IV. 9. H. III.
144.... Hasta que ala ö testa en Boreal venatorio exämen, A
mis umbrales no sea Adorno de mis umbrales. Vollständig erklärt ihn
die Stelle in Basta callar. K. III. 173, H. III. 2S5. LIevabamos en
dos tropas, Divididas en dos bandas, La caza y la monteria, Porque
eligiese en sus varias Lides ärbitro el deseo, De cual de las dos le
agrada, 6 boreal ö Venator ia. Viendo iguales las distancias, Que
alle el montero tenia desde la noche en las jaras Coneertado un jaball.
Y allf el cazador cebada Desde la aurora ä la orilla De una laguna
una garza. Caza boreal ist Falkenbeize und steht der Jagd mit Hunden
entgegen. Boreal in diesem Sinne fehlt in den gewöhnlichen Wörter
büchern."
Das Wort Boreal stammt übrigens, wie das französische la
volerie, von volare, fliegen.
Verzeichniss der eingegangenen Druckschriften. 393
VERZEICHNIS
DER
EIN GEGANGENEN DRUCKSCHRIFTEN,
(MAI.)
Aka demie der Wissenschaften, Monatsberichte. Februar, 1859; 8°.
American Journal of Sciences and arts. Vol. XXVII, Nr. 8. New-
Hawen, 1859; 8°.
Annales des Mines. V. serie, tome XIV, livr. 4. Paris, 1858; 8°.
Austria, XI. Jahrgang, Heft 17, 18. Wien, 1859; 8°.
Beobachtungen, magnetische und meteorologische, zu Prag, von
Dr. J. G. Böhm und J. Karlinski. XIX. Jahrgang, 1858.
Prag, 1859; 4°.
Berichte über die Verhandlungen der Gesellschaft für Beförderung
der Naturwissenschaften zu Freiberg, redigirt von dem Secretär
der Gesellschaft Dr. Maier. Heft 3, 4. Freiburg i. B. 1857
und 1858; 8».
Chlumetzky, P. Ritter von, Des Rathsherrn und Apothekers
Georg Ludwig Chronik von Brünn (1555 —1604). Brünn,
1859; 8°.
Clausius, Dr. R., Die Potentialfunction und das Potential. Leipzig,
1859; 8».
Cosmos, VIII. annee, vol. XIV, livr. 15—18. Paris, 1859; 8».
Gewerbeverein, n. ö., Verhandlungen und Mittheilungen. Jahr
gang 1859, Heft 1— 3; 8".
— Die Landtafel Mährens. XI. — XIV. Lieferung.
Giessen, Universität, akademische Gelegenheitsschriften pro anno
1858 und 1859.
Göttin gen, Universität, Akademische Gelegenheitsschriften pro
anno 1858 und 1859.
4 Verzeichniss der eingegangenen Druckschriften.
Heidelberg, Universität, Akademische Gelegenheitsschriften pro
anno 1858 und 1859.
Jahrbuch der k. k. geologischen Reichsanstalt, 1858. IX. Jahrgang
Nr. 4; 8°.
Kornhuber, Prof. Dr. G. A., Beitrag zur Kenntniss der klimatischen
Verhältnisse Pressburgs. Pressburg, 1858; 4».
Land- und forstwirtschaftliche Zeitung. Jahrgang IX, Nr. 14, 15.
Wien, 1859; 4°.
Mittheilungen aus Justus Perthe’s geographischer Anstalt von
Dr. Petermann. Nr. IV. 1859; 4°.
— der k. k. geographischen Gesellschaft. III. Jahrgang, Hft. 1.
Wien, 1859; 8».
Monumenti Artistici e Storici delle Provincie Venete descritti
dalla Commissione istituita da Sua Altezza I. R. il Serenissimo
Arciduca Ferdinando Massimiliano Governatore Generale.
Milano, 1859; 4«.
Schell, Dr. Willi., Allgemeine Theorie der Curven doppelter Krüm
mung in geometrischer Darstellung. Leipzig, 1859; 8°.
Studer, Prof. Alb., Einleitung in das Studium der Physik. Elemente
der Mechanik. Bern und Zürich, 1859; 8°.
Toderini, Teodoro, Cerimoniali e Feste in occasione di Avve-
nimenti e passaggi nelli Stati della Repubblica Veneta di Duchi,
Areiduchi ed Imperatori della Augustissima casa d’Austria
dall'anno 1361 — 1797. Venezia, 1857; 4.
Verein, naturhistorischer, zu Heidelberg. Verhandlungen. VI.
1859; 8°.
— für Naturkunde zu Pressburg. Verhandlungen, red. von Dr.
Kornhuber. III. Jahrgang, 1858, Hft. 1 und 2. Pressburg,
1859; 8°. Populäre naturwissenschaftliche Vorträge gehalten
im Vereine von Prof. Albert Fuchs. Pressburg, 1858; 8°.
Verein, literar. Serbischer, Glasnik. Bd. X. 8°.
Verein, historischer für Unterfranken in Würzburg, Archiv. Bd.
XIV, Hft. 3; 8°.
■
J. B er gm a nn , Die Edlen von Embs zu Hohenembs in Vorarlberg. 397
SITZUNG VOM 8. JUNI 1839.
Gelesen:
Die Edlen von Embs zu Hohenembs in Vorarlberg,
tlargelegt und beleuchtet in den Ereignissen ihrer Zeit»
(Auszug aus einer fiir die Denkschriften bestimmten Abhandlung.)
(Fortsetzung.)
Von dem w. M. Joseph Bergmann.
Die Edlen von Embs, Dienstmannen der Grafen von Monfort,
wussten sieh von denselben die in drei Linien sieh getheilt hatten
und gegenseitig befehdeten, in der ersten Hälfte des XIV. Jahr
hunderts dienstfrei zu machen. Sie wussten durch Ankäufe von
Gütern, Höfen und Weingärten diesseits und jenseits des Rheines
sich zu erwerben, vor Allen den karolingischen späteren Reichshof
Lustnau, erst 1395 als Pfandschaft und im Jahre 1326 als volles
Eigenthum.
Im Kronstreite und Kampfe zwischen den Herzogen Friedrich
von Österreich und Ludwig dem Raier standen die von Embs erst
auf Österreichs Seite, traten dann aber zum Sieger über, der dem
Vorhof und dem Flecken zu Embs die Freiheiten welche die Stadt
Lindau hatte , im Jahre 1333 verlieh und dem Ritter Ulrich I. von
Embs 1343 erlaubte, die neue Veste und Burg zu Hinterembs
zu bauen, indem es dem Kaiser daran lag, inmitten der Landschaft
Vorarlberg einen festen Platz zu haben, ja sie ward 1345 sogar einer
kaiserlichen Besatzung als vorgerückter Posten gegen Churrhätien
geöffnet.
27*
398
Joseph Bergmann
Als Herzog Rudolf IV. im Jahre 1363 Landesherr von Tirol
geworden, ward Rudolf von Embs dessen Kammermeister und des
Herzogs Leopold III. Hauptmann zu Innsbruck. Von nun finden wir
dieses Geschlecht bis zu dessen Erlöschen im Mannsstamme mit dem
Reichsgrafen Franz Wilhelm, der als General und Commandant zu
Grätz am 5. November 1759 starb, in österreichischen Diensten.
Am heissen 9. Juli 1386 theilten mit dem genannten Herzog
Leopold nebst vielen anderen vom Adel auch Eghof von Embs
und dessen Neffe Ulrich III. das Todeslos. Beide ruhen in Königs-
felden.
Im Jahre 1392 traten auch die von Embs der schwäbischen
Ritterschaft vom St. Georgen-Banner bei, und Herr Bergmann weist
nach, dass auch anfänglich sowohl Graubündner Adel wie die
Freiherren von Brun zu Razmüris, die von Marmels Planta, Sax,
Schauenstein, als auch tiro lisch er wie die Herren von Schanders-
berg, Starkenburg, Trautson, Trossburg (Wolkenstein) und andere
an diesem Vereine Theil nahmen.
In dem verheerenden Appenzeller Kriege von 1405 —1408,
während dessen sich „der Bund ob demSee“ bildete, standen auf
dem rechten Rheinufer vermöge ihrer Lage die von Embs und der
gleichnamige Flecken in erster Linie. Goswin und Wilhelm von
Embs fielen für Österreich im Treffen amStoss den 17. Juni 1405,
beide Vesten, die alte und neue Embs, wurden von den Söldnern der
Appenzeller die ihre von ihnen besoldeten Pfeifer batten, belagert,
wobei man wohl zum ersten Male in Vorarlberg Donnerbüchsen
(n. der Stadt St. Gallen her) und Pulver gebrauchte. Endlich wurden
beide Vesten im Juli 1407 genommen und gebrochen; alles was man
vorfand, Pfeile, Salpeter, Büchsen und ander Zeug ward als erobertes
Gut aus der alten Emps fortgeschleppt und verkauft, auch fand man
Raubgut, besonders Pfeffer, denn einige von Ems waren nicht frei
geblieben von der Weglagerei.
Für einige Zeit war ihre Kraft wenn nicht gebrochen, doch
gelähmt, indem wir keinen von Ems bei der ruhmvollen Vertheidigung
von Bregenz vom October 1407 bis 13. Jänner 1408, an welchem
Tage die Appenzeller in und um die Stadt auf’s Haupt geschlagen
wurden, unter der siegreichen schwäbischen Ritterschaft finden. Die
von Ems haben jedoch, wie aus deren späteren Geschichte erhellet,
sich bald wieder erholt und waren hausväterlich bedacht, das Dorf
Die Edlen von Embs zu Hohenembs in Vorarlberg.
399
Torenbüren und die Weingärten zu Kniiwen (bei Haselstauden) satz
weise zu erwerben.
Der römische König Sigmund verlieh zu Ulm am 9. November
1430 Hanns Ulrichen v. Embs den Vorhof in dem Flecken zu Embs,
den Blutbann daselbst und in Torenbiiren, die neue Burg in der
(Emser) Büti, ferner das Silber- und Bleierz und Bergwerk bei Embs,
das Schwefelbad, dessen Gebrauch somit in jene Zeit hinaufreicht,
endlich die Schildhuben im inneren Bregenzer Walde; die erneuerte
Bestätigung dieser Verleihung erfolgte vom römischen König Fried
rich IV. aus Wiener-Neustadt am 8. August 1441 und seinem Sohne
und Nachfolger K. Maximilian I. am 21 Juli 1494.
Die Gebrüder Hanns und Jakob v. Embs geloben am 28. Decem-
ber 1434 dem Erzherzog Albrecht VI. das Schloss Neuembs mit allen
Zugehörungen offen zu halten. Marquard erwirbt 1438 den Kelnhof
zu Wolfurt, Jakob I. von Embs erbaut 1463 im Oberdorf zu Toren
büren ein Schlösschen, das um das Jahr 1827 abgetragen wurde,
nebst einer Capelle, in der das Erbbegräbniss der Hohenemser Linie
zu Torenbüren war.
Vorgelegts
Über einige Benennungen synagogaler Gesänge des Mittel
alters, wie über die Namen der Accente im Hebräischen.
Von dem c. M. Professor Dr. (ioldenllial.
Ein tiefes Dunkel herrscht noch über die Benennungen
Schalmonith, Schelischijah und n’Mty Schenijah, die sich
bei mehreren rituellen poetischen Stücken des Mittelalters finden,
welche insgesammt unter dem hebräisch-technischen Namen Seli-
choth, oder Bussgesänge, bekannt sind. Trotz der vielfachen biblio
graphischen Bearbeitung welche man in der neuesten Zeit dieser Art
Poesien gewidmet, so dass gewiss kein einziges Stück selbst in Hand
schriften zu finden sein dürfte, dessen Verfasser man nicht bereits
namentlich, auf welche Weise es sei, herausgeklügelt hätte, stehen wir
in Bezug des Verständnisses dieser Benennungen noch so ganz auf
demselben Puncte der Ungewissheit, wie in jener nonchalanten Zeit,
wo gar kein geschichtlicher Sinn in der hebräischen Literatur rege war.
Das Verständniss dieser Benennungen, sagen wir, wenn schon
an sich wichtig genug, um die ernste Untersuchung des Forschers
zu veranlassen, führt vorzüglich noch das Interessante mit sich,
dass es die gerechte Richtschnur zur Beurtheilung der Leistungen
jener historischen Schule darbietet, welche wir bereits in unserem
früheren Vortrage (Sitzungsberichte der kais. Akademie, 1852)
besprochen und die bibliographische genannt haben. Es bestätigt
sich hier abermals, dass diese, als das Extrem historischer Forschung,
von gewaltiger Trockenheit sei, und dass sie vor lauter Büchertiteln
und Verfassernamen nicht an das Herz und den eigentlichen Inhalt
der Literatur vorzudringen vermöge.
Schon vor mehreren Jahren stellte Dukes (Zur Kenntniss der
neuhebräischen Poesie. Frankfurt am Main 1842. Seite 37) die
Erklärung hin , dass jene Gedichte darum mit Schalmonith,
Über einige Benennungen synagogaler Gesänge des Mittelalters, etc. 401
überschrieben seien, weil deren Verfasser grösstentheils ,pav>E>
Salomo, hiessen. Seitdem hat sich Keiner mehr darum bekümmert,
gleichviel ob aus Unkenntniss oder Gleichgiltigkeit, his endlich Zunz
dieser Erklärung seine volle Zustimmung gab. Dieser äussert sich
in seinem Werke: Die synagogale Poesie des Mittelalters
(Berlin 1855, Springer) auf Seite 167 in folgender Weise: „Der
älteste Selicha-Dichter dieser Epoche ist Salomo b. Jehuda oder
Salomo der Verfasser einer Aboda, des Pesachjozer und
einiger anderer Piuiim, und alten Nachrichten zufolge (ist er!) der
Lehrer von Meschullam b. Kalonymos; er wird ein Heiliger und neben
Kalir genannt. Seine Selichas die fast alle vierzeilig (sind!), und
später npjia$>t£> hiessen u. s. w“.
Abgesehen davon, dass es gar nicht Sitte war und auch bei
keiner andern Art ritueller Poesien sich vorlindet, dass irgend eine
Composition mit dem Namen des Verfassers benannt wäre, lesen wir
ja unter den Selichoth des Versöhnungstages (*yiDD DP *]DiaP nin’^D)
z. B. eine welche ebenfalls die Überschrift Sclialmonith trägt, und
deren Verfasser nicht Salomo, sondern vielmehr Mardochai hiess.
Wir wollen, um nicht scheinbar etwas Vages zu behaupten, diese
Selichah näher bezeichnen. Sie fängt an:
’jian tnpn jtiw» mpa >a6a
♦J11N NEPP PDPI
Malkhi mikkedem poßl jesclmoth bekereb hamonaj,
Nozer chesed laaldfim venosse peschaaj v'avonaj;
„Mein König, der Du von Alters her Hilfe verleihest unserer Gesainmt-
heit, und Genade bis ins tausendste Geschlecht übest, und mir Sünden
und Vergehen verzeihest“; und endigt nach dem in jeder Strophe
wiederkehrenden Hajom (nPPi) mit der folgenden Schlussstrophe:
»jnr ^aa innai upj ttmp
’junn i^ipi D»am nno
Kadosch nakkenu vetaharenu mikkol sedonaj,
Pethach schaarc rachmim veja'alü thachnunaj;
„0 Heiliger! läutere und reinige uns von allen unseren Vergehen,
öffne die Thore der Erbarmung, dass aufsteige unser Flehen.“ Das
Akrostichon zeigt den Namen patt! pm ’rp 1D1D “]PiNPT ApJP 'aia ’avia
Mardokhai, Sohn des Rabbi Jacob des langen, der Schreiber, er lebe
gesund und stark. Nach der obigen Erklärung müsste also diese Seli-
chnh nicht rPJia^ta Sclialmonith, sondern ri’JiaTlü Mardokhonith,
402
G oldenthal
überschrieben sein, und wenn der Verfassername DnDN Ephrajim
lautete, die Selichah rpJlö'iDN Ephraimonith genannt werden,
und ebenso wenn der Verfasser gar Schlemiel hiesse,
sein Gedicht nicht anders als Schlemielonith betitelt
werden!
Gleicherweise berichtet Zunz in seinem Werke: „Oie Ritus
des synagogalen Gottesdienstes, geschichtlich entwickelt (Berlin 1839,
Springer)“, S. 135 über das Recitiren der Bussgebete in Deutschland
mit folgendem Ausdruck: „Jener Bestimmung zufolge wurden zehn
Nummern recitirt, und zwar: Eine Pethicha, drei Selichas, eine
rrtp^tp“.
Drei Selichas und eine Schelischiah! Auf diese Weise dürfte
man eben so gut sagen können: Drei Körbe Obst und eine Birne.
Als wenn die Birne kein Obst wäre?
Betrachtet man jedoch den Bau dieser Bussgedichte, und die
Anordnung bei der Recitation derselben, so erklärt sich Alles auf
das Leichteste. Die gewöhnlichste Form der Selichoth ist nämlich
die, dass eine jede Strophe vier Verse (nicht vier zeitig, wie
Zunz sich ausdrückt. Im Alterthum füllte man nicht die Zeile blos
mit einem Verse aus, wie in moderntr Zeit; man schrieb vielmehr
fortlaufend, und die rituellen Poesien werden auch noch gegenwärtig
so gedruckt) enthält. Manche dieser Gedichte gibt es aber, deren
Strophen aus blos zwei oder drei Versen bestehen; solche werden
vermittelst der Überschrift: rP’JtP Schenijah, die zweit heilige
oder zweiversige, und nwbw Schelischijah, die dreitheilige
oder dreiversige, jedesmal gekennzeichnet.
Bei der dreiversigen Selichah springt dies gleich in die Augen,
weil diese immer mit Endreimen versehen ist; hingegen hat die
zweiversige eben so oft keine Endreime, wo nur der Inhalt als ein
in jedem Verspaar abgeschlossener Gedanke sich zeigt. Wie z. B.
folgende Schenijah:
Akli bakh ladal maos,
Bazar lo mezo sether.
Gones cliet goel rescha,
Dan liskhuth mechappes zedek.
„Nur in Dir hat der Arme eine Veste, um in Nöthen sich zu flüchten.
Du verbirgst die Sünde und die Missethat, hast Nachsicht und suchst
Verdienste hervor“.
npn bib -p px
iriD Naa ib -Ufa
pan ^pu Ntan nu
piü tpono p
Uber einige Benennungen synngogaler Gesänge des Mittelalters, etc. 4Ü3
Alle diese Selichotli aber sind der Art nach von einander nicht
im Geringsten verschieden. Alle werden Selichotli benannt, wegen
ihres Inhaltes als Bussgedichte, in welchen um Verzeihung (nCP^D
Selichah) der Sünden gebeten wird. Schenijah, Schelischijah und
Selichah sind demnach eins und dasselbe, und kann auch die vier-
versige Selichah mit n'jt’Ti d. i. die vierversige, überschrieben
sein, ohne damit etwa eine neue Gattung poetischer Production
bezeichnen zu wollen.
Dem ähnlich verhält es sich mit der Überschrift Schalmonith,
welche sich hlos auf die Ordnung in der Recitation bezieht.
An jedem Tage, wo solche Selichotli gebetet werden, ist die
Ordnung derart, dass zuerst die Bussgedichte von der Gemeinde und
dem Vorbeter zusammen einfach hergesagt werden; darauf folgt ein
Pismon (pnta), d. i. melodischer Gesang, ein Gedicht nämlich,
welches der Vorbeter versweise mit Gesang vorträgt, und die
Gemeinde dasselbe ebenso versweise nachspricht.
Die anfangende, oder die erste Selichah bekam also zur
Überschrift das Wort nrpJiD Pethicluih, d. i. Eröffnung, Ein
leitung, und ebenso ist nichts natürlicher, als dass die letzte
Selichah, nämlich die welche jedesmal dem Pismon vorangeht,
die beschliessende, oder die SchUiss-Selichah genannt
werden müsste.
Schalmonith deutet auf keinen eigenen Namen, am wenigsten
auf des Verfassers Namen, sondern auf die Recitations-Ordnung der
Selichah, dass sie die beschliessende sei. Das Wort
schalem entspricht ganz und gar dem arabischen jSkhamala, und
beide bedeuten: ganz sein, ergänzen, vervollständigen und
daher auch beschliessen.
Von der Entlehnung arabisch-wissenschaftlicher Terminologie
im Hebräischen haben wir bereits ausführlich in unseren: „Grund
zügen und Beiträgen zu einem sprachvergleichenden
rabbinisch-pbilosophischen Wörterbuche“ (Denkschriften I. Band)
gesprochen, und so stellt sich hier wiederum der Fall heraus, dass
arabische Terminologie normgebend war, und wurde aus
gebildet, entsprechend dem arabischen ÄUÜ. Man hätte freilich
auch das Wort na’Jin Chathimah gebrauchen können, aber das
Schalmonith war mehr arabisirend, sonach modern und nach dem
Zeitgeschmäcke ästhetischer.
404
G o 1 d e n t h a I
Pethichah und Schalmonith haben dem Auseinandergesetzten
zufolge entgegengesetzte Bedeutung: Pethichah, d. i. Anfang und
Schalmonith, d. i. Schluss.
Wenn nun manchmal in den gedruckten Ausgaben der Selichoth
das Wort Schalmonith auch über einem Stücke in der Mitte sich
findet, so ist dies unbedingt Druckfehler, oder vielmehr Unwissen
heit desCorrectors. Und so missversteht hinwiederum Zunz die Über
schrift Pethichah, wenn er sich in seinem bereits gedachten Werke:
„Die Ritus“ (S. 134) folgendermaassen ausdrückt: „In Deutsch
land waren zu derselben Zeit (1280) höchstens für die Tage vor
den beiden Festen die Stücke oder gewisse Petichas und Akeclas
bestimmt. Peticlia ward nur am Eröffnungstage gesagt“. Pethichah
ist keine der Art nach verschiedene Poesie-Gattung, wie aus diesen
Ausdrücken hervorgehen soll, sondern bedeutet blos Einleitung,
und so kann eine jede Selichah welche zur Einleitung dient, mit
diesem Namen benannt werden.
Überhaupt machen alle diese rituellen Poesien so wenig auf
poetischen Werth Anspruch, dass ein so umständliches Besprechen
derselben, wie in dem obigen Werke, welches 249 Seiten umfasst,
geschieht, gar keinen Nutzen für die Wissenschaft abwirft. Am
wenigsten lässt sich folgender hochtrabende Satz (Zunz, die
synagogale Poesie des Mittelalters, Seite 8S): „Die Ent
wicklung des Pint und der Selicha geht demnach einen ununter
brochenen, obwohl nicht an jeder Stelle sichtbaren Weg die Länder
und die Zeiten hindurch, und wie in dem Inhalt, ist auch in der
Gestalt organisches Gesetz, und in der Mannigfaltigkeit eine die
Einförmigkeit abwehrende Einheit“, hieranbringen; er ist, bezüglich
der in Rede stehenden Poesien, wie eine hohle Nuss ohne Inhalt.
Die Selichoth, wie sie uns da alle vorliegen, zeigen eben so wenig
Entwicklung, wie organisches Gesetz. Sie gleichen sich einander,
mit geringen Unterschieden, rücksichtlich ihres frommen Inhaltes, und
sehen sich zu allen Zeiten und in allen Ländern zum Sprechen ähnlich.
Nicht weniger bezeichnet folgende Stelle diese Art Wichtig-
thuerei und Hervorhebung ganz geringfügiger Objecte (die Ritus,
Seite 71): „Der Gebrauch, am Nachmittage des grossen Sabbat die
Stücke Nil oder D’-DJ? aus der Hagada zu sagen, war
in Österreich, und ist erst vor kurzem in Polen abgeschafft“. Wahr
lich, man möchte glauben, dass es nichts Wichtigeres in der Welt
Über einige Benennungen synagogaler Gesänge des Mittelalters, etc. 405
gebe, als diesen vermeintlichen Gebrauch in Österreich, und dass er
erst eines feierlichen Abschaffens bedürfe. Wir, unseren Theiles,
wissen durchaus nichts von derlei österreichischen Gebräuchen,
und können uns auch nicht erinnern, dass je eine Rabbinersynode
zusammengetreten sei, um über solche Lappalie zu verhandeln.
Eine fernere Überschrift bildet das Wort nnaifl Thokhdchah,
die Ermahnung. Aus Missverständniss schreibt Zunz dieses Wort
mit e nach dem Kaf: Tochecha, welches eine ganz andere Bedeu
tung gibt. Merkwürdig, während er (Synagogale Poesie, Seite 135)
gegenüber De Rossi Lorbeeren zu erringen glaubt, wenn er ihm
Äkida in Akeda corrigirt, führt er in derselben Zeile die Über
schrift nrain auf in der deutschen Umschrift Tochecha (auch über
dies ein Idiotismus, als wenn nnm'n mit cheth und Schtva geschrieben
wäre), und zwar noch in dem neuesten Werke (die Ritus), zu wieder
holten Malen Tochecha, und immer nur Tochecha! —
Wohl findet sich dies Wort in der Bibel mit zere geschrieben,
aber doch in anderer Bedeutung. Es ist gar leicht in der Bibel nach
zuschlagen, wie dies oder jenes Wort geschrieben sei; allein die
richtige Sprachkenntniss ist es vorzüglich, welche die Verschie
denheit der Bedeutungen herausfinden lehrt. ■
Dreimal blos kommt dies Wort in der Bibel vor, und da hat es
die Bedeutung: Strafe und Züchtigung. Z. B. nroiPl mst DP dom
zarali vetholcliechah (II König. 19, 3), ein Tag der Noth und des
Strafgerichtes. Der Pluralis mTuTn Thokhechoth hat dieselbe
Bedeutung. Für Ermahnung und Ermahnungsrede aber hat die heilige
Schrift einen Singular nilDin Thokhächath, von dem der Pluralis
rnnm'fi Thokhdchoth lautet.
T
Den Singular auf af/i-Auslaut fanden die Dichter für den Zweck
als Überschrift zu hart, und so bildeten sie sprachrichtig einen
neuen Singular auf ah. Die Benennung nrDlfi ist also nicht das
biblische nnai'fi Thokhechali, dessen Bedeutung Strafe, Unglück
und Züchtigung; sondern vielmehr eine neue grammatische
Form, und lautet nilDlfl Thokhdchah, d. i. Ermahnung und
Ermahnungsrede.
In ähnlicher Weise will Steinschneider das Wort ’Djaih
Romance, welches manche der Hymnen Nagara’s (befinden sich
handschriftlich auf der hiesigen k. k. Hofbibliothek , und daraus in
Folge unserer Veranlassung durch Herrn Dr. M. H. Friedländer
406
G o 1 d e ii t ii a i
mit Sachkenntnis im vorigen Jahre liier zu Wien veröffentlicht)
als Überschrift tragen, trotz der gegebenen Erklärung in unserem
Kataloge, derart verstehen, als wenn die Hymne selbst eine Romance
wäre. Zeigt ja schon das arabische Wort jsl an, dass alle über
den Hymnen Nagara's sich vorfindenden Aufschriften blos die
Melodien anderer Lieder angeben, nicht aber die Hymnen selber
charakterisiren.
Und wie will man überhaupt nur meinen, dass Nagara
Romancen geschrieben, da der Inhalt für jeden Kenner deutlich
genug besagt, dass es heilige Gedichte seien, athmend Frömmigkeit
und Andacht im schönsten poetischen Gewände. Nagara ist einer
der grössten und erhabensten Dichter in der späteren hebräischen
Literatur, und wir haben schon darum seine Poesien, in unserem
Aufsatze über die den Arabern entlehnte Metrik (Zeitschrift Kochbe
Jizchak, Heft 24, Seite 32) zum rituellen Gebrauche empfohlen, weil
seiner Feder durchaus nichts Profanes entflossen sei, und er, fern
von aller arabischen Kunst-Liberlinage, seine hohe moralische und
religiöse Regeisterung nur in eben so heilige dichterische Form goss.
Herr Steinschneider jedoch, schon seit Jahren unseren
Katalog recht fleissig studirend und, was uns übrigens nicht unan
genehm ist, seinen Nutzen davon ziehend, möchte sich jedesmal
den Ton geben, als wenn er daran zu mäkeln hätte. Ob er Grund
und das Recht dazu habe, liefert sein hebräischer Styl (Zeitschrift
nartJ UfiN Ozar Nechmad, Wien, zweiter Jahrgang, Seite 144)
kaum einen Beweis. Er schreibt: n>7DDn iTiDm niö’ttn na ’n’Bl
„mein Haus hier, die ist voller Kataloge (vielleicht voller Notizen,
von db>7 zeichnen, verzeichnen?), und sie hat Mangel an Werken“.
Das Wort n’B ist bekanntlich masculin; aber Herr Steinschneider
glaubt wohl, dass jedes Wort auf fA-Auslaut feminin sei.
Ebenso schreibt Dukes (ibid. Seite 79 und öfter) »niüDon
n^Nii D'Y’ti’n „denn ich habe zerstreuet diese Gedichte“. Er
wollte wahrscheinlich, wie aus dem Contexte zu ersehen, sagen:
ich habe veröffentlicht diese Gedichte.
Also nicht einmal Kenntniss der Elementar-Grammatik, und der
einfachen Redeutung eines Wortes, und doch so grosssprecherisch
herumwühlen in der Literatur! —
Mit Vergnügen bemerken wir übrigens, dass seit wir in unserem
bereits erwähnten Aufsatze „die neueste historische Schule“ gegen
Über einige Benennungen synngogaler Gesänge des Mittelalters, etc. 407
die Einseitigkeit und Ausartung dieser Schule in eine blosse biblio
graphische Richtung mit strenger Kritik aufgetreten waren, sich
Niemand mehr, vorzüglich in unserem Vaterlande, zu derartigen
oberflächlichen , leicht zum Schriftsteller-Ruhme führenden, litera
rischen Beschäftigungen verleiten Hess. Und während man in
Deutschland alle hebräischen Gebet- und Gesangbücher, gedruckte
wie handschriftliche, ausbeutet, dann umständlich und haarklein
angibt, in welcher Gemeinde man das eine oder das andere Gebet
hersagt, z. B. da und dort p'a 1 ? Nül, und dies in Ermangelung
reeller wissenschaftlicher Leistungen sonderbarer Weise zu einer
Wissenschaft stempeln will: liegen uns Arbeiten von vaterländischen
Verfassern aus der neuesten Zeit über wirkliche wissenschaftliche
Disciplinen, wie Archäologie, Geschichtsforschung, Grammatik,
Hermeneutik und Exegese vor, deren erspriessliche Resultate wir
zur Ehre der hebräischen Literatur, zur Ehre der Wissenschaft und
unseres Vaterlandes, hier in den Schriften der kaiserlichen Akademie,
dieser grossen und hochgeachteten Vorrathskammer der Wissen
schaft , nächster Zeit niederzulegen gedenken.
Was ferner die Namen der Accente im Hebräischen betrifft,
so herrscht hierüber ein noch tieferes Dunkel. Rereits seit einem
Jahrtausende wird über Accentuation geschrieben, deren Gesetze,
Stellung und Werth man bis in’s kleinste Detail zergliedert haben
wollte, wogegen über die Namen der Accente selbst in den neuesten
Schriften keine genügende Auskunft dem begierigen Leser geboten
wird. Ja, noch schlimmer! Die älteren Schriftsteller wenigstens
übergingen, was sie nicht zu erklären wussten, mit Stillschweigen.
Aber die neueren, aus Sucht einmal für allemal Alles erforscht zu
haben, warfen durch ihre bizarren, ja sehr oft lächerlichen Erklä
rungen, über den Gegenstand ganz und gar einen verdunkelnden
Schleier, und schnitten durch ihre im bestimmtesten Tone ausge
sprochenen Behauptungen dem Wissbegierigen zu jeglichem erneu
erten Erklärungsversuche den Weg ab.
Heiden heim in seinem übrigens schätzbaren Werkchen
DWün ’iaatwa Misclifete liataamim die Regeln der Accen
tuation (Rödelheim 1S0S), gab blos zu zwei Accenten Namens
erläuterungen, und die sind nicht stichhaltig. Gesenius und
Ewald Hessen sich schon über den Gegenstand mehr aus, lieferten
Erklärungen zu allen Accenfennamen, wodurch sie aber, vor-
408
Gol dentha I
züglich der Letztere, zu unserer eben erwähnten Klage den Grund
gaben*).
Der Hauptfehler ist der, dass Beide in den Accentennamen das
Wesen oder die Functionen der Accente suchten, und auch zu finden
glaubten. So drückt sich Gesenius in seinem ausführlichen
grammatisch-kritischen Lehrgebäude der hebräischen
Sprache (Leipzig 1817), Seite 110, folgendermassen aus: „Die
Namen sind meistens auffallender chaldäisch gestaltet, als die
Vocale. Sie sind theils von der Gestalt, theils von der Bedeutung
hergenommen, und beziehen sich im letzten Falle ziemlich deutlich
nur auf Abtheilung und Verbindung". Und ebenso behauptet auch
Ewald (ausführliches Lehrbuch der hebräischen Sprache. Leipzig
1844. Seite 179), dass mit Ausnahme einiger, welche die Gestalt
andeuten, die Namen aller anderen Accente für den Bau derselben
bedeutsam seien.
Nimmt man aber das Gegentheil an, und dazu benöthiget man
freilich nicht blos gründliche Kenntniss der Sprache, sondern auch
vorzüglich des Sprachgeistes, so stellt sich ein ganz anderes Resultat
heraus. Man findet dann in den Namen nichts Zufälliges und nach
Willkür Gemodeltes, sondern vielmehr durchgängig Absichtlichkeit
und System.
Ausser zweien welche nämlich den Bau des Satzes in seiner
Totalität bezeichnen, sind alle Namen blos von der Gestalt herge
nommen. Ethnach mriN' (N)Ruhe, und Silluk pi^o (K) Aufhören,
Schluss sind es, von welchen der erstere Name den Ruhepunct
mitten im Satze, und der letztere den Schluss des vollständigen
Satzes andeutet. Alle übrigen haben auf die Function der Accente
gar keine Beziehung, und wir wollen dies einzeln erhärten.
1. n Dieser Accent wird genannt mö ’J*ip Karne Parah
Kuhhörner. Die Stellung dieser zwei Ringe über dem einen Buch
staben, rechtfertiget zu sehr den Namen, als dass nicht Alle in der
Erklärung übereinstimmten.
*) Was die Schrift „Thorath Emcth, sivc libcr ct praecepta et doclrinam plcnam
pcrfcctamqxie acccntuwn libb. psalmorum provcrbiorum et Jobi contincns etc. cornpos.
S. Baer. Rödelheim 18S2“ betrifft, so enthält diese bezüglich der Namen nichts
Neues, sondern begnügt sich mit dem von Hei den heim Recipirten.
über einige Benennungen synagogaler fiesiinge des Mittelalters, etc. 409
2. N nb&bl£> Schdlscheleth Kette. Die Form des Accentes
ist ebenso deutlich.
3. N löV p m> Jeracli ben jomo, der erste Neumond.
Ebenfalls deutlich.
4. N Nfm Darga. Diesen Namen erklärt Gesenius mit:
„wahrscheinlich Fortgang, Fortschreitung (von der Bedeu
tung)“. Rein aus der Luft gegriffen; es hat gar keine Beziehung.
Im Aramäischen bedeutet Nim eine Stufe, Treppe und der
entspricht vollkommen die Gestalt.
3. N ^ud ND7UD Segol oder auch mit Feminin-Endung
Segoltha die Traube. Der Name ist den Grammatikern schon aus
den Vocalen bekannt, und die Form auffallend dem Namen entspre
chend, daher keine Divergenz in den Erklärungen. Aber um so merk
würdiger ist es, dass Niemand das Rechte finden konnte im Betreff
des folgenden Accentes:
6. n Thelischa. Gesenius erklärt: Ntt^>n,
ND“in clypeus, munitio“. Er benutzt den Umstand, dass manche
Punctatoren das kleine Thelischa NDin genannt hatten, und sucht so
die beiden Namen in Einklang zu bringen, vermöge der Verwech
selung des 1 mit b und des D mit et. Wenn auch eine solche Etymo
logie bizarr genug ist, so gibt es doch zuletzt einen Sinn.
Aber Ewald! Der übersetzt ganz trocken: Zug, und
zwar zählt er diesen Namen unter denen der Bedeutung nach, und
die an sich ziemlich deutlich seien. Schwerlich, dass er selber
etwas Deutliches und Klares sich dabei gedacht haben möge!).
Zug, was soll das heissen? —
4 ) Es erging; Herrn Ewald nicht selten derart bei seinen sprachlichen Erklärungen.
So z. B. bezüglich des Vocales e, der im Arabischen Kesre genannt wird,
gibt er (Grammatica critica linguac arabicae pag. 44) folgende Erläuterung:
fr actio, de sono depresso, subtilique, quasi fracto u . Wenn aber die
arabische Benennung des Vocales a Fatha lautet, wegen der vollen Öffnung
des Mundes bei dessen Aussprache, und ebenso A~«o für u, wegen der Zusam-
menziehung des Mundes, warum sollte sich nicht auch die Benennung des Vocales
i auf die Form des Mundes bei dessen Aussprache beziehen? Und wirklich kann
man das i nicht anders aussprechen, als vermittelst der Zertheilung, gleichsam
Zerbrechung des Mundes, die obere Lippe nach oben, die Unterlippe nach unten.
Her Vocal i wurde also benannt, weil Kesre Bruch bedeutet, und
410
Goldenthal
Nichts desto weniger ist hier eine Erklärung leicht. wbr\
bedeutet im Aramäischen: abreissen, abpflücken. Wenn nun
der Accent Segol (n) die ganze Traube vorstellt, so stellt Thelischa
(t£) die abgepflückte einzelne Weinbeere vor, mit ihrem
kleinen Holzstiel. bedeutet demnach die abgepflückte,
wo es ersichtlich, dass noch etwas zu ergänzen sei, nämlich die
Weinbeere.
Ferner ist dieser Accent in doppelter Gestalt vorhanden, in der
Lage von der Rechten zur Linken (n), welchen man Thelischa
gedolah n^im das grosse Telischa nennt, und auch in ent
gegengesetzter Lage ({*) , und dieser wird map Nti^n Thelischa
ketanah genannt. Nach dem Auseinandergesetzten müsste also die
Verschiedenheit der Benennung auf die äussere Form Bezug haben,
und das fände Statt, wenn man, wie wahrscheinlich ursprünglich,
das grosse Thelischa durch einen grossen Ring, vorstellend eine
grosse Beere, und das kleine Thelischa durch einen kleinen Ring,
vorstellend eine kleine Beere, unterscheiden möchte. Jedoch durch
das Missverstehen des Namens hat sich auch die richtige Form des
Accentes verloren, wie dies bei Rebia klar vor Augen liegt, von
welchem weiter unten die Rede sein wird.
der Mund einen Bruch erleidet hei der Aussprache desselben. Diese Erklärung
g-ahen wir bereits in unserer hebräischen Vorrede zu Averrois Commentarius in
Aristotelis rhctoricam (Leipzig 1842), und nachher auch in unserer Grammaire
arabe ecrite en hebreu (Wien, k. k. Hof- und Staatsdruckerei 1857). Das
Interessanteste aber dabei ist, dass die Benennung pVH Chirek für den
nämlichen Vocal iin Hebräischen, in gleichem Sinne sich erklären lässt, während
kein einziger unter den Grammatikern diese noch bis jetzt richtig zu deuten
wusste. Gesenius (a. a. 0. Seite 38) versteht unter p*vn Chirek das Knir
schen, Kreischen; auch Ewald in seinem Lehrhuche (S. 121): „Riss, von
der wie gebrochenen, feinem, zitternden Aussprache“. Aber alle diese gezwun
genen, nur durch viele Worte plausibel gemachten Erklärungen, sind gar nicht
vonnöthen. p*pn bedeutet im Aramäischen Bruch, und wird in derselben Weise
auf den Vocal i angewendet, wie im Arabischen. Auch der hebräischen
Wurzel pnn, welche immer nur mit py Zahn construirt ist, und die Lexico-
graphen sie mit Zähne knirschen wiedergeben, muss die aramäische Urbe
deutung zu Grunde gelegt werden. p*in würde also nicht Zähne knirschen
heissen, sondern Zähne fletschen, indem durch die Zertheilung der Lippen
die Zähne sichtbar werden. Das alte pvn ist daher auch eine viel treffendere Über
setzung des arabischen als das von späteren Schriftstellern gebrauchte
Über einige Benennungen synagogaler Gesänge des Mittelalters, ete. 411
7. X S]pt Sakef. Gesenius (a. a. 0.): „suspensor, quasi
suspendendus sermo est“; auch Ewald: „der Erheber, soll wohl
die im Gegensatz zu dem tiefen a und b höher gehobene Stimme
andeuten“.
Wiederum unnütze Anstrengung! fjpr bedeutet im Aramäischen
aufrichten, davon Jpp? aufrechtstehend. Dieser Accent wird
so benannt, wegen der aufrechten Stellung der Puncte, im Gegen
sätze zu dem Vocale Zere, der aus zweien der Breite nach liegenden
Puncten (ist) besteht.
Die doppelte Benennung desselben, als grosses Sakef f]pt
und kleines Sakef |iap f]pt, bezieht sich ebenfalls auf nichts anderes,
als auf die äussere Form, so nämlich, dass beim grossen Sakef noch
ein aufrecht stehendes Strichelchen oder Metheg & zu den Puncten
hinzu kommt.
Zu verwundern ist nur, dass trotz der einfachen, und in die
Augen fallenden Richtigkeit der Benennung, keiner der Grammatiker
diese zu deuten wusste,'als höchstens einer der ältesten, Ben-Bileam
in seinem Werke N*ipnn ’aDB Taame hamikra, der sie mit folgenden
Worten (citirt bei Heidenheim D’aittän ’S3Qt£>n fol. S 1 ’) angedeutet
zu haben scheint: irmam pöp ?]p? Nin iriNn tpauwi Nin oj P)pf
nmpj 'n inJiam P|pf xin inttm niNn bv moipt nmpj ’n»
. bl> P)lpt KtN ^pöl „Das Sakef ist ebenfalls zweierlei, das
kleine Sakef, dessen Form in zwei aufrecht stehenden Puncten
über dem Buchstaben besteht, und das grosse Sakef, dessen Gestalt
zwei Puncte und einen Strich aufgerichtet zu ihrer Linken zeigt“.
8. n kd Baser. Gesenius: „KD Theiler, von KD dispersit,
arab. fidit, rupit“. Dessgleichen Ewald: „Paser ist Zertheiler,
Abschnittmacher“.
Aber abgesehen davon, dass solche Erklärungen vom Verkennen
des inneren Spraehgeistes zeigen, könnte man mit demselben Rechte
die anderen disjunctiven Accente ebenso Paser nennen, und worin
bestände dann das Eigenthümliche ? —
Noch schlimmer macht es Baer, der in seinem bereits
erwähnten Thorat Emetli, obgleich blos Heidenheim folgend,
doch eben dessen Worte gänzlich missversteht. Heidenheim
nämlich, indem er das Paser nach der Ordnung des Ben-Bileam
aufführt, bemerkt einfach hiezu: Wiö (lf? rtb D’NKpttt tm
Sitzb. d. phil.-hist. CI. XXXI. Rd. III. Hft. 28
412
Goldenthn I
Manche nennen das Paser Mansch d. i. Lärmer“. Diese Bedeutung
des Lärmens bezieht nun Baer auch auf den Namen Paser, und
bildet aus diesem Worte (a. a. 0. Seite 37) ein Zeitwort, in folgen
dem Satze: n'oana an jap tmi nbwbwi hd nnr omntton
1‘IDÜI Ht£> Sipa „Die Accente Paser, Schalscheleth, Zinnor und
Rehia katan erheben sich im singenden und lärmenden (mefmar)
Tone“. Unter HÖ ist weder Singen noch Lärmen zu verstehen, und
wollte dies Heidenheim keinesfalls.
Überhaupt muss bemerkt werden, dass manche Accente von
einigen Autoren noch Beinamen erhalten haben, welche öfter sich
auf die Function beziehen, aber mit der eigentlichen allgemein
gebrauchten Benennung in gar keiner Beziehung stehen. So wird
Schalscheleth n’jna und Hjna genannt, Geresch hat Dia, und
Segoltha hat nty zum Beinamen, ohne dass diese im Geringsten mit
einander was gemein hätten.
Wenn nun aber keiner der genannten Autoren das Wort Paser
nach seiner wahren Bedeutung zu erklären weiss, so hat es doch
schon ein alter Schriftsteller, Rabbi Nathan der Römer, in seinem
thalmudischen und chaldäischen Lexicon Aruch (“jny) auf das ein
fachste enträthselt. Unter dem Artikel N'HD Pisra, welches er mit
dem hebräischen ayv Scheb et Stock wiedergibt, fügt er ausdrück
lich hinzu: na ait£>3 f|lpta> Ylp»J$> J’llp pl „und so nennt man den
Accent, der wie ein Stock aufrecht steht, Paser“.
Das Paser sieht auch ganz treffend einem Stocke ähnlich, der
aus einem Baumast geformt ist, und auf den man sich mit dem Arme
stützen kann.
9. N NpH Sarka. Gesenius: Theilung, Abtheilung,
von pH talm. disseeuit, diremit“.
Also schon wieder theilen! Er scheint allen Accenten ein und
dieselbe Bedeutung mittheilen zu wollen. Dass pH von theilen
weit entfernt liege, kann wohl Gesenius nicht fremd gewesen sein;
er wollte sich nur bereden, um nicht in die Lage zu gerathen, ein
fach gestehen zu müssen: ich weiss es nicht, was einem Schriftsteller
schwer ankommt. Solche Art Erklärung bedarf daher keiner Wider
legung.
Hingegen erklärt Ewald diesen Namen nach der Gestalt des
Accentes, und zwar mit Röhre, hinzufügend: „nach Heidenheim
fol. 6 heisst Zarka auch HHä, welches im Hebräischen dasselbe
Über einige Benennungen syuagogaler Gesänge des Mittelalters, etc. 413
bedeute, was Npur im Aramäischen". Wohl behauptet dies Heiden
heim am angeführten Orte, aber wahrscheinlich aus Versehen.
Denn weder bedeutet nj’jj im Hebräischen Röhre, noch findet man
an den beiden Stellen, wo mjpü in der Bibel vorkömmt, dass es der
Chaldäer mit NpU übersetzt habe.
Die Benennung Sarlta rührt, wie alle übrigen Accentennamen,
allerdings von der Gestalt her, nicht aber als Röhre, sondern als
Wurfspiess, welchen der Accent sarnmt seinem Griffe vorstellt.
Nplt wurde hier statt N'npli substituirt, welches letztere man in
dem bereits erwähnten rabbinischen Wörterbuche Aruch nach
schlagen kann.
Und will man damit allenfalls den von einigen Autoren
gebrauchten Namen Zinor in Einklang bringen, so muss dieses
Wort, gleich Sarka, als ein aramäisches, nicht als hebräisches
betrachtet werden. Im Aramäischen wird unter NYiüt eine Gabel,
oder überhaupt eiserner Stab, als Instrument von verschiedenem
Gebrauche, verstanden. NUJif bedeutet auch den eisernen gebogenen
Haken an der Spindel (Aruch, sub v. et gleich dem arabischen
ä>lLo, welchen also unser Accent ebenfalls vorstellen könnte.
10. n Rebia. Gesenius und Heidenheim betrachten
das Wort als aramäisch, bedeutet nach ihnen ruhend, synonym mit
dem hebräischen pm. Was das jedoch für einen Sinn geben soll,
verlautet bei keinem von Beiden. Natürlich, es hat gar keinen Sinn.
Seinen übrigen Erklärungsweisen gemäss, bemerkt Ewald
»It’tn d. i. Viertel unser 3 als das stärkere d bezeichnend“ !! —
Aber die Wahrheit ist doch das einfachste. steht anstatt
, d. i. V i e r e c k. die Form dieses Accentes ist ein viereckiger
Punct.
Heidenheim hat wohl auch in seiner äusserst schätzbaren
Pentateuch-Ausgabe das Rebia als Viereck angebracht, aber wie
ersichtlich blos instinctmässig, ohne sich darüber Rechenschaft geben
zu können, warum das so und nicht anders gestaltet sein müsste.
Dass wir aber in der von uns selbst im Aufträge des hohen k. k.
Ministeriums des Unterrichtes besorgten Ausgabe des Pentateuch,
nicht das Rebia als Viereck, und auch das kleine Thelischa nicht in
der oben angegebenen Form setzen Hessen, hat seinen Grund darin,
dass der erste Bogen unversehens bereits gedruckt war, und wir die
Ausgabe nicht durch Ungleichmässigkeit im Satze verunstalten wollten.
28*
414
Goldenthal
Wir können auch nicht umhin, bei dieser Gelegenheit dem
hohen k. k. Ministerium für Cultus und Unterricht unseren tiefge
fühlten Dank hiemit auszusprechen, für die väterliche Fürsorge,
mit welcher es Schulbücher für die hebräische Sprache anfertigen
liess, und die Correctur des, in der k. k. Hof- und Staatsdruckerei
gegenwärtig noch unter der Presse sich befindenden, und in kürzester
Zeit zu erscheinenden Pentateuchs im Urtexte uns übertrug.
Es ist bekannt, dass die meisten Editionen der Bibel in Bezug
auf Accentuation und Punctation fehlervoll seien. Welchen Accent,
nach der Disposition des Satzes, ein Wort verlange, und auf welchem
Buchstaben im Worte er zu stehen kommen müsse, danach fragen
die Editoren niemals. Man nimmt das erste beste Exemplar als Unter
lage, lässt danach die neue Edition verfertigen, mit noch vielen
Nachlässigkeitsfehlern vermehrt.
Zwei Männer sind es blos, welche in der neuesten Zeit diesem
Gegenstände Aufmerksamkeit gewidmet, und sich durch ihre kriti
schen Arbeiten unvergessliche Verdienste erworben haben. Wir
meinen Isak Premisla und Wolf Heidenheim. Der erstere gab
den Pentateuch ungefähr vor einem Jahrhundert in Amsterdam heraus,
der letztere that es zu Rödelheim im Jahre 1818. Beide benutzten
die ältesten Druckausgaben und Handschriften, wie auch die wich
tigsten massoretischen Werke. Jedoch befolgen Beide verschiedene
Systeme, und eine entscheidende vermittelnde Kritik ist von Neuem
nothwendig.
Man glaube aber nicht, dass diese Muster-Arbeiten von irgend
jemand Anderem bei späteren Editionen benutzt worden seien. Viel
mehr tragen alle nachher veranstalteten Ausgaben des Pentateuch’s
das Gepräge der alten Fahrlässigkeit an sich, und bleiben blosse
Buchhändler-Speculation nach wie vor.
Um also den liberalen Act des hohen k. k. Ministeriums auch
unserer Seits gehörig zu würdigen, und dessen Wirkung zu einer
nachhaltigen zu machen, haben wir die uns übertragene so ehrende
Satz-Correetur in eine mehrfach gewünschte literarische Leistung
umgewandelt.
Die erwähnten Vorarbeiten treu benützend, suchten wir den
Extremen verschiedener Systeme auszuweichen und durch eine ruhige,
nüchterne Kritik die gerechte Mitte zu halten. Auch ist die äussere
Ausstattung derMunificenz des hohen k. k. Ministeriums entsprechend,
Über einige Benennungen synagogaler Gesänge des Mittelalters, etc. 415
so dass wir uns im Voraus schmeicheln dürfen, diese Ausgabe werde
zu den nicht unbeliebten gehören.
11. O Nülp Kadma und Asla. Gesenius: „Nanp
Anfang?“ Er stellt sieh also selbst die Frage über die Richtigkeit
seiner Erklärung, und erspart uns die Mühe; fügt indessen hinzu:
„Auch bw# (funiculus) genannt, vielleicht von Bedeutung
und Gestalt zugleich“. bringt er mit zusammen, das heisst
so viel als Ost und West! Und wo liegt die Bedeutung und die
Gestalt eines Seiles in diesem Accente?
Ähnlich Ewald: „Der Vorlaut vorn oder voran
gegangen ist an sich deutlich“. Wir, und mit uns gewiss alle
übrigen Leser, sehen die Deutlichkeit nicht heraus. Und wenn wir
es nun schon rücksichtlich des Kadma zugeben wollten, wie wird das
Asla, das heisst der Accent, der eigentlich genannt und von
der Linken nach Rechts gebogen ist, dadurch erklärt? Dieses ist
weder vorn noch vorangegangen, sondern folgt immer auf das
Kadma, als dessen treuer Begleiter.
Aus der Stellung aber dieser beiden Accente gegeneinander
ist ersichtlich, dass das Kadma (k) von der Rechten zur Linken,
dagegen das Asla (5*) von der Linken zur Rechten hin sich neigt.
Und da der Semite beim Schreiben und Lesen von der Rechten zur
Linken fortschreitet, so beugt sich das Kadma vor, und das Asla
rückwärts. Kadma bedeutet demnach vorwärts, von anp. vor d. i.
was vor dem Gesichte ist, gleichwie im Arabischen; und rück
wärts. zeigt wohl einfach gehen an, aber in der Verbindung
mit Kadma erhält es den Nebenbegriff rückwärts gehen.
Dass übrigens manche Punctatoren das Kadma auch Asla
nennen, beruht auf einem Missverständnisse.
12. K "Pin Thebir. Gesenius: „Ruptio, Interruptio (so sagt
Diomedes gram, vom Komma: lectionis tenorem interrumpit)“.
Also von Bruch, welches doch die eigentliche Bedeutung des
Wortes Thebir, wird Unterbrechung des Satzes? Das ist ein
wenig zu weit für den mit dem Sprachgeiste Vertrauten. Überdies
könnte man dieser Erklärung gemäss noch so manch anderem Accente
denselben Namen beilegen.
Auch Ewald erklärt folgenderweise: „Das Thebir, d. i.
gebrochen, könnte füglich so viel wie Abschnitt oder die Hälfte
Golden t h a
41(5
der fünf ruhigen Glieder bezeichnen?“ Wiederum bezweifelt ein
Commentator seine eigene Erklärung! Wir bleiben somit der Mühe
überhoben.
Unserem Systeme gemäss beziehen wir den Namen auf die
Gestalt, und es hat keine Schwierigkeit. Die Form des Accentes
stellt einen Halbkreis sammt dem Mittelpuncte vor. Der Accent wird
also Thebir Bruch benannt, d. i. Fragment eines Kreises.
13. Khi Geresch. Gesenius: exfidsio, propulsio
(sermonis) würde mehr zu einem Conjunctivus passen, der andere
Name die, Dlh bedeutet aber: Widerstand, repugnantia“. Auch
Ewald: „gru oder DIE vielleicht eigentlich Stoss“.
Hier ist es ersichtlich, dass Beide ihre Erklärungen blos hinge
stellt hatten, um sie nicht ganz mit Schweigen zu übergehen. Es
benöthiget daher keiner Widerlegung oder vielmehr Aufmerksam-
machung auf das unbegreiflich Fernliegende solcher Conjecturen.
Vor Allem muss aber doch bemerkt werden, dass der Beiname
DIE Teres für Geresch, welcher von Ben Bileam herrührt, wahr
scheinlich auf einem Missverständnisse beruhe. DIE kann weder
Stoss, noch irgend etwas Anderes bezeichnen, als blos Schild,
indem es als Verwechselung mit Din zu betrachten sei, das sowohl
im Chaldäischen, als auch im Syrischen und Arabischen Schild
bedeutet.
Wenn nun Manche das Thelischa mit dem Beinamen NDin
benennen, so kann dies wenigstens insoweit seine Richtigkeit haben,
als man die Form des Thelischa (St) mit dem Bilde eines runden
Schildes sammt Griff vegleichen will. Für Geresch hingegen gibt es
gar keinen annehmbaren Grund.
Wir haben es daher hier blos mit der Benennung Geresch zu
thun, und zwar entsteht die Frage, ob das Wort nicht eher mit ü>
statt tü zu schreiben, und daher Geres zu lesen sei.
Die Lexicographen geben die Radix zwar als mit DU ver
wandt an , und übersetzen fenj , das Gestossene, Zermalmte,
nämlich Getraide. Dieses Wort findet sich aber nur zwei Mal in der
Bibel, im dritten Buche Mosis Cap. 2, V. 14 und 10. Im ersteren
Verse steht es mit ^aiD zusammen, könnte desshalb eigentlich zur
näheren Bestimmung desselben dienen, in der Bedeutung von junger
Ähre. Demzufolge müsste auch im zweiten Verse ruatitöl WUö
Über einige Benennungen synagogaler Gesänge des Mittelalters, etc. 417
übersetzt werden: von ihrem Getraide und von ihrem Öhle. Und
so dürfte auch gar kein Unterschied sein zwischen tt>Ti Geres und
Bl) Gereich, welches nach dem Ausdrucke D'ITP tsnj mnn Deut.
Cap. 33, V. 14 nichts anderes als Getraide und Ähre bezeichnet.
Die Form des in Rede stehenden Accentes bietet also ein
Gerescli dar, d. i. eine Ähre. Und so wird der doppelt geschriebene
Accent (n) Gerschajim genannt, d. i. zwei Ähren. Man
nennt das Gerescli auch As/a Gerescli, weil es mit der
Spitze, gleich der Ähre, deren Haupt vom Winde bewegt, rückwärts
gebogen erscheint.
14. N Paschta. Gesenius: „Steigung, Fall (des
Tones), von inclinavit — das hebräische n&J (man wird an
i'f/J.coiz und vox enclitica erinnert)“. Unseres Wissens hebt sich
vielmehr hier der Ton, und bilden nt£>Q und ntäJ eher einen
Gegensatz.
Am merkwürdigsten ist die Art und Weise, wie sich Ewald
ausdrückt: „Ziemlich deutlich sind folgende, wie Ausbrei
tung (von der sich ausbreitenden Aussprache im Vorlaute?)“.
Wenn man Etwas für ziemlich deutlich hält, wozu das Infrage
ziehen der eigenen, so eben als ziemlich deutlich hingestellten
Behauptung ? —
Ferner fügt derselbe in einer Anmerkung hinzu: „oder ist
Ntttyo so viel als Strich?“ Ja, Pasclita, kann auch so viel sein als
Haus, sofern es blos auf willkürlicher Annahme beruht.
In der That liegt die Deutlichkeit irgend welcher Erklärung
dieses Accentennamens nicht so klar vor Augen; ist aber doch nicht
so ganz und gar im Dunkeln. Wir müssen nur noch vorerst einen
anderen Accent besprechen, nämlich den folgenden:
15. k min Munach. Da der vollständige Name min *iDit£>
lautet, so war leicht einzusehen, dass Munach blos Adjectiv und der
Hauptname eigentlich iDltt> Schophar, Posaune sei. Gesenius
bemerkt daher richtig: „min vollständig min 1D1E> angesetzte
Trompete; auch -j^in, itt» iDin> gerade fortgehende Trompete (von
der Gestalt)“.
Ewald dagegen erklärt hier wiederum der Bedeutung nach,
und zwar nach manchem von Heiden heim blos Hingeworfenen;
das hier Vorgebrachte gleicht aber an Fremdartigkeit allen seinen
übrigen Erklärungen.
418
G o 1 d e n t h s» I
Es bedarf übrigens noch einer kleinen Auseinandersetzung, um
auf den richtigen Sinn dieses Accentennamens zu kommen. Manchen
Accenten nämlich gab man die Form einer Posaune und zwar ver
schieden, je nach der Richtung, wie die Posaune an den Mund
gesetzt wird und nach der Form der Linie, welche sie dadurch in
der Luft beschreibt.
Das Wort mi» Munach, eigentlich liegend, wird für hori
zontal gebraucht. Daher unser Accent so benannt wurde, weil
er die Form der Posaune vorstellt, horizontal oder geradeaus am
Munde liegend.
Ebenso muss dem unter Nummer 14 erwähnten Paschta noch
das Wort Schophar Posaune vorgesetzt werden, so viel als
£31t5>ö d. i. ausgedehnte Posaune, nämlich die Posaune,
wenn man sie vom Munde aus nach oben (») gerichtet hält. Daher
16. N NJna Merkha, welches bei Manchen richtiger -piNS
lautet, sich in ähnlicher Weise erklären lässt.
Gesenius zwar in gewohnter Manier: „NSia erklärt sich aus
der vollständigen Form "p*iKn, N'DlNn verlängernd (die Rede), oder
anpassend, anfügend (von “pN aptavit. conveniens reddidit)“.
Auch Ewald: „Das N wird gewöhnlich geschrieben und
könnte dann von der Wurzel "pa oder auch von -pi abzustammen
scheinen in der Bedeutung weicher, sanfter Laut; Andere aber
schrieben den Namen hebräisch "plNa verlängernd“.
Wir bekennen aufrichtig, dass wir nicht so scharfsinnig sind,
um das Anpassende, Anfügende, Weiche und Verlän
gernde an diesem Accente herauszufinden. Wahrscheinlich wird
dies auch kein anderer Leser können. Denn wenn etwas erklärt sein
soll, so muss es dann wirklich klar vor Augen liegen, nicht aber wie
hier, wo die Erklärung noch viel dunkler ist als das zu Erklärende.
Wenn wir uns aber die Posaune an den Mund derart gesetzt
vorstellen, dass die zweite Mündung nach unten gekehrt sei, so haben
wir die Form des Merltha. N3*lö wird daher soviel heissen als -|öia>
■pNJ verlängerte Posaune, d. i. nach unten verlängert, im
geraden Gegensätze zu Paschta.
Denn warum weiss selbst Ewald, dass das
17. n “|ana Mahpakh, die umgekehrte Posaune, deren
Form das umgekehrte Munach sei, bezeichne? Darum, weil es auch
wirklich traditionell “pan “iait£> heisst.
Über einige Benennungen symigogaler Gesänge des Mittelalters, etc. 419
Das an sich Klare und Deutliche muss daher sein Licht auf das
noch im Dunkel Verharrende werfen; eine andere Norm gibt es nicht.
18. KM' Jetliib. Gesenius: „s eclens i. e. sistens, deponens
sermonem, sonst mpia, ^otyo tuba inferior, anterior (von
der Gestalt und Stelle des Accentes)“. Auch Ewald: „SW d. i.
fest, länger anhaltend“.
Da das Jetliib auch Schophar heisst, so wird sich der
Name jedenfalls der Analogie nach auf die Stellung und Gestalt
beziehen. Es hat dieselbe Form, wie Malipakh, nur steht es am
Anfänge des Wortes. Nimmer aber kann sw die Function des
Accentes bezeichnen, wie Gesenius und Ewald in ihrer gewohnten
Weise meinen.
Zu verwundern ist auch, dass Heiden heim das hebräische
Wort stwa, welches Manche als Benennung des Accentes Rebia
gebrauchen, für eine Übersetzung des aramäischen j»ss hält. Dem
aramäischen j»s“i entspricht blos die hebräische Radix psi, nach der
gewöhnlichen Verwechslung des p mit
Wenn das Wort stWö mit irgend einem aramäischen Accent
namen gleiche Bedeutung haben soll, so könnte es nur mit eben
diesem Jetliib der Fall sein, da an’ dasselbe was Die Puneta-
toren mögen aus Missverständniss das Rebia so benannt haben, und
der tiefe Respect vor dem Überlieferten hatte auch Heiden heim
verleitet, zwei ganz entfernte Radices zusammenzubringen, gegen
alle bessere Sprachkenntniss und Wahrheit.
19. N N'riDtJ Tipcha. Gesenius ganz richtig: „flache Hand
(von der Gestalt)“. Und wenn.es Ewald mit: Dehnung des Tones
erklärt, so kann er doch nicht umhin, auf die richtigere Bedeutung
wenigstens in der Anmerkung aufmerksam zu machen.
420
.1. Bergmann
SITZUNG VOM 22. JUNI 1859.
Gelesen:
Die Edlen von Ernbs zu Holienembs in Vorarlberg,
(largelegt und beleuchtet in den Ereignissen ihrer Zeit.
(Auszug aus einer für die Denkschriften bestimmten Abhandlung.)
(Fortsetzung.)
Von dem w. M. Joseph Bergmann.
Der Herr kaiserliche Rath Bergmann setzt seinen Vortrag über
„die Edlen von Embs in Vorarlberg, dargelegt in den Verhältnissen
ihrer Zeit“ fort mit ihrer Theilnahme am sogenannten verheerenden
Schwabenkriege 1499, in den sie durch die Lage ihrer Burgen und
Besitzungen hineingezogen wurden. Der riesige Marx Sittich von
Embs erlegt den Bruder des Fiirstabtes von St. Gallen, Rudolf Giel
von Glattburg der mit einer Freischaar von 400 Gotteshausleuten
am 7. April den Rhein überschritten hatte.
Am ruhmvollsten tritt dies Geschlecht in drei Generationen
im 16. Jahrhunderte hervor in den Kriegen welche in Italien, Deutsch
land, in den Niederlanden und in Afrika geführt wurden.
Als Nachbarn der Eidgenossen lernten und kannten die v. Embs
deren Kriegsbrauch. Schon im Jahre 1488 kennt man Landsknechte;
ihre Entwicklung, an der Marx Sittich und sein Vetter Jakob v. Embs
wesentlichen Antheil haben, fällt noch in die Zeit vor Georg von
Fruntsperg, der ihnen als ihr geliebter Vater die weitere Ausbildung
gegeben hat.
Seit jener Zeit gab man dem Landstriche am rechten Rheinufer
von Feldkirch gegen Bregenz herab, in deren Mitte Embs gelegen,
den Namen „Landsknechtlandl“, und in späterer Zeithies Feldkirch,
das manchen ausgedienten Kriegs-und Edelmann in seinen Mauern
und seiner Umgebung zählte, bezeichnend das Officier- Städtchen.
Unsern Marx Sittich finden wir im folgenden Jahre 1500 in dem
Die Edlen von Embs zu Hohenembs in Vorarlberg.
421
Heere des vertriebenen Mailänder Herzogs Ludovico il Moro, treu
mit seinem Soldherrn, als er am 10. April zu Novara an die Franzosen
durch Rudolf Turmann, einem Insassen aus Uri, durch sein halb
lautes Da! verrathen wurde, das Los der Gefangenschaft theilend.
Mit dem tapferen Fürsten Rudolf von Anhalt machte er von
Triest aus zur See einen Zug über Ancona und Aquila nach Apulien
gegen die Franzosen, war Mitsieger bei Seminara (1502) und am
28. April 1503 in der Schlacht bei Cerignola über den feindlichen
Feldherrn Louis d’Armagnac, Herzog von Nemours, welcher fiel,
worauf Gonzalo de Cordova am 16 Mai in Neapel einzog. Sicherlich
reich an Erfahrung und militärischen Kenntnissen kehrte er aus der
Kriegsschule dieses grossen Capitäns in die Heimath zurück.
In den blutigen Kriegen jener Zeit welche in ihrer arglistigen,
treulosen und selbstischen Politik voll Heuchelei in der unserer Tage
ein frappantes Nachbild hat, traten Marx Sittich und sein Vetter Jakob
und dessen Bruder Burkard v. Embs durch ihre Waffenthaten ruhm
voll hervor.
Im Jahre 1508 führte Maximilian I. Krieg gegen die Republik
Venedig wegen des verweigerten bewaffneten Durchzuges durch ihr
festländisches Gebiet nach Rom, um dort vom P. Julius II. sich als
Kaiser krönen zu lassen. Bekanntlich nahm Maximilian, bisher
römischer König, in Trient am 10. Februar 1608 feierlich den bis
dahin nie gehörten Titel eines erwählten römischen Kaisers an.
Beleidigt liess er von Tirol aus naturgemäss in drei Richtungen
die Venetianer angreifen: a) an der Etsch hinab gegen Verona; b)
durch das Valsugan, durch das Georg v. Fruntsperg vorrückte und
Fürst Rudolf von Anhalt (nach einem Manuscript und nicht K. Maxi
milian, wie es bei Fugger S. 1246 heisst) über Levico in die Sette
Communi vordrang, und cj überAmpezzo in’s Cadober-Thal (Cadore),
wo der Feldoberst Sixt von Trautsohn wider den Rath unseres Marx
Sittich am 10. März mit dem venetianischen Feldhauptmann Alviano
sich in einen ungleichen Kampf einliess und mit 1100 Mann erschlagen
wurde. Marx Sittich und andere Hauptleute wurden gefangen und nach
Venedig geführt. Feldkirch stellte zu diesem Kriege 84 Mann unter
Othmar v. Pappus in's Feld. Der Kaiser, zu schwach, den Krieg fort
zuführen, schloss zu Riva am 6. Juni mit Venedig einen dreijährigen
Waffenstillstand, welcher aber in Folge der Liga von Cambray
(10. December 1508) im nächsten Jahre gebrochen wurde.
422
Aschb:icl). Über die Zeit des Abschlusses
Über die Zeit des Abschlusses der zwischen Rom und Kar
thago errichteten Freundschaftsbündnisse.
Von dem w. M. Hrn. Prof. Aschbach.
In das erste Jahr der römischen Republik oder in das Jahr 509
vor Christus wird der älteste Handelsvertrag, den die Römer und
Karthager mit einander errichteten, gesetzt. Zwar erwähnen die
beiden Hauptschriftsteller über die ältere römische Geschichte, Livius
und Dionysius von Halikarnass, dieses Vertrages auch nicht im min
desten, aber der pragmatische Geschichtschreiber Polybius, der nach
allen Nachrichten über die mannigfachen Beziehungen Roms und Kar-
thago’s zu einander mit ungemeiner Sorgfalt und Genauigkeit geforscht
hat, gibt in seinem grossen Werke nicht nur Bericht über diesen
Handelsvertrag im Allgemeinen, sondern er theilt uns auch dessen
ganzen Inhalt mit. Man könnte versucht sein zu glauben, dass er die
Originalurkunde des Vertrages, die auf einer ehernen Tafel beim
capitolinischen Jupitertempel im Reichsarchive unter der Aufsicht der
curilischenÄdilen aufbewahrt wurde 1 ), selbst eingesehen und sie aus
dem ursprünglichen Texte mit Beiziehung des Rathes sachkundiger
Männer in die griechische Sprache übersetzt habe. Denn er fügt die
Bemerkung bei, dass der Vertrag in so alter (lateinischer) Sprache
abgefasst sei, dass selbst die kundigsten römischen Paläographen den
Inhalt nur mit Mühe hätten entziffern können 3 ).
0 Polyb. III. 26. Toüztuv di] zoiouzuix bxapyuvziDy xai zrjpoujieviuv zcüv am-
Otjxüiv ezt vüv iv yatxtu/xacn napä zbv Ata zbv KamzwXtov, iv züi zwv
äyopavüßwv za/neiu). Die Tafeln , worauf die karthagischen Handelsverträge
geschrieben waren, gingen wohl beim Capitolsbrande im J. 671 d. St. in der
Sullanischen Zeit zu Grunde.
2 ) Polyb. 111. 22. ° Aq (auv&r/xaq) xaböoov duvazuv äxptßeazaza Step-
[Ayveuaavzeq rpidq unoysypafpaiAev zrjhxaozrj yäp rj diatpopa yeyove zrjq
diaXixzov, xai izapa 'Pwpaioiq, zijq vuv 7rpoq zrjV apyaiav, tuqze zouq
der zwischen Rom und Karthago errichteten Freundschaftsbündnisse. 423
Damit man nicht wegen des Jahres des Abschlusses des Ver
trages in Zweifel sei, gibt Polybius ausdrücklich die Consuln an,
unter welchen die Sache zu Stande kam. Der Geschichtschreiber
sagt: „Dieser erste Vertrag zwischen den Römern und Karthagern
ward geschlossen unter L. Junius Brutus und M. Horatius, welche
nach der Vertreibung der Könige die ersten Consuln waren und von
welchen auch der Tempel des Jupiter auf dem Capitolium eingeweiht
wurde“'). Diese Angabe steht mit der anderwärts überlieferten
Geschichte im grellen Widerspruche, denn L. Junius Brutus und
M. Horatius waren wohl im ersten Jahre der Republik Consuln, aber
nicht zu gleicher Zeit mit einander. Nach den Geschichtschreibern
und denConsularfasten 3 ) waren unmittelbar nach der Vertreibung des
Königs Tarquinius Superbus zuerst L. Junius Brutus und L. Tarqui-
nius Collatinus, der Gemahl der Lucretia, Consuln. Nach der Ver
bannung des Collatinus ward P. Valerius Poplicola an dessen Stelle
gesetzt, so dass Brutus und Valerius Collegen im Consulat waren.
Da aber Brutus bald in der Schlacht gegen Aruns Tarquinius fiel,
blieb Valerius einige Zeit allein Consul, bis endlich Spurius Lucre-
tius Tricipitinus, der Vater der Lucretia, College des Valerius
wurde. Aber auch der neue Consul überlebte seine Wahl nicht lange,
er starb schon nach wenigen Tagen, und es wurde als fünfter Con
sul des ersten Jahres der Republik Marcus Horatius Pulvillus ein
gesetzt, der mit Valerius Poplicola das Consulat bis zumAnfange des
zweiten Consulatjahres führte 3 ). Es konnte demnach auch nicht von
Brutus und Horatius der capitolinische Tempel des Jupiter einge
weiht werden. Livius und Dionysius von Halikarnass berichten um
ständlich, dass die Tempel weihe von M. Horatius allein vorgenommen
<TWETiOTarovt; ’ivia pöXci; i? eTZtardaciug äieuxpcvetv. Markhauser (der Ge
schichtschreiber Polybius. München 1858. S. 76) sagt, auf vorstehende Stelle
gestützt, zu viel: „Iin Lateinischen hatte Polybius es zu einer solchen Sprachkennt-
niss gebracht, dass er Urkunden zu entziffern vermochte, an denen geborne
Römer und noch dazu sehr gebildete vergeblich ihren Witz versucht hatten“.
*) Polyb. III. 22. I'iyvovzai zocyapoüv auvüijxai 'Pwpaiou; xai Kap^rjdovtocg
npüzat, xara Aeuxtov ’lovviov Bpoüzov xai Mdpxov ’äpaztov, roti? Tzpcu-
zoug- xazacrzaßivzas uxdzous pezä züv ßaaUiwv xazdXuaiv, b(p' idv
tmveßr/ xaflcepajtfrjvat xai za zoü Jt'ov hpuv zoü KaxizioAiou.
2 ) Brücker, Untersuchungen über die Glaubwürdigkeit der altrömischen Geschichte.
Basel 1855. S. 281 ff. Die Consularfasten V. 244—262 d. St.
3 ) Schwegler, Römische Geschichte. Tübingen 1856. II. S. 95.
424
AschI)«ich, Über die Zeit des Abschlusses
ward, als Brutus nicht mehr lebte und Valerius Poplicola der College
des Horatius war ‘).
Der Inhalt des Vertrages aber war nach Polybius 2 ) folgender:
„Es soll Freundschaft sein zwischen den Römern und ihren
Bundesgenossen einerseits und den Karthagern und ihren Bundes
genossen andererseits unter folgenden Bedingungen“':
„Die Römer und ihre Bundesgenossen sollen nicht über das
Schöne Vorgebirge hinausfahren, es sei denn, dass sie durch Sturm
oder Feinde dazu gezwungen sind 3 ).“
„Wenn man (in Afrika) zu landen genöthigt sein sollte, so ist
es nicht erlaubt irgend etwas zu kaufen oder zu nehmen, ausser
was man zur Ausbesserung der Schiffe oder zu Opfern braucht,
und selbst dieses soll nicht über die Zeit von fünf Tagen gestattet
sein.“
„Die als Kaufleute kommen, sollen keine anderen Abgaben
bezahlen, ausser was dem öffentlichen Ausrufer oder Handels
schreiber zukommt: was in deren Gegenwart, sowohl in Libyen als
in Sardinien, in Handelsverkehr kommt, dessen Zahlung wird dem
Verkäufer vom Staate garantirt“ 4 ).
1 ) Wacbsmuth (ältere Geschichte des röm. Staates. Malle 1819, S. 243) hält die
Angaben über die ersten Inhaber des Consulats für verfälscht. „Denn im Handels
verträge mit Carthago bei Polybius heissen Brutus und Horatius erste Consuln
und Collegen, und diese urkundliche Angabe schlägt alle anderen Nachrichten
nieder.“
2) Polyb. III. 22
3) Mij tcXelv c Pioixaioüs, fif/re tous e Patpataw trüßfid^oug inexeiva rou
Kakoö dxf)(j)T7]pLou, iäv ßi] uxu %eißwoq r] tzoXejuujv dvayxaad-yjvai.
Polyb. III. 23 sagt, dass das Schöne Vorgebirg (Promontorium Pulchrum oder Pr.
Apollinis von den Römern genannt [Liv. XXX. 24]) nördlich von Karthago gelegen.
Das Schöne Vorgebirg ist nicht, wie Heyne (Opusc. Acad. Gott. III. 47), Schwegler
(R. G. I. 790), und Ni eh uh r (Röm. Gesch. 2. A. I. 558) angeben, identisch mit dem
Promontorium Hermaeum (Strabo XVII. p. 832), das auch Pr. Mercurii heisst
(das jetzige Cap Bon oder Ras-Adder) und östlich von jenem, in der Nähe von
Clupea liegt. Bei Livius XXIX. 27 ist das Mercurii promontorium mit dem
Pulchrum promontorium irrthümlicher Weise identificirt.
4 ) Tocg de xaz Ißizopioy 7rapayiyvoßevois, ßydev e<rrw zekog 7zkijv i7cl xij-
puxi vj Ypappazer daa d’ äv tuutcuv napüvTüJv 7rp<xtyrj, drjßoaia Tziozei
u<peiXe<T#(ü T(p änodojievu) * daa d.v r] ev Acßur] 9] iv Zapddvi Tzpaftyj.
Heyne (opusc. acad. Gott. III. p. 51) übersetzt diese von den Erklärern ver
schieden aufgefasste Stelle: Qui ad mercaturum venerint, vectigal nullum pen-
dunto, extra quam ad praeconis aut scribae mercedein: quicquid autem hisce
praesentibus fuerit venditum, publica lide venditori debetur: quod quidem in Africa
der zwischen Rom und Karthago errichteten Freundschaftsbündnisse. 425
„Wenn ein Römer nach Sicilien (in den Theil der Insel) kommt,
wo Karthager herrschen, soll er in aller Weise (mit dem Karthager
in Bezug auf den Handel) gleichberechtigt sein“ *),
„Die Karthager sollen keine Feindseligkeiten verüben gegen
die Bürgergemeinden von Ardea, Antium, Laurentum, Circeji,
Terracina, noch gegen andere Latiner, die (den Römern) unter
worfen sind. Von den latinischen Städten, die nicht unterworfen
sind, sollen sie sich entfernt halten; haben sie aber eine solche
genommen, so sollen sie sie den Römern unbeschädigt übergeben 3 ) :
sie sollen in Latium keine Vesten haben. Wenn sie aber einmal
feindlich ins Land einfallen, sollen sie darin nicht über Nacht ver
weilen dürfen.“
Nach dem Inhalt dieses Vertrages erscheint Rom nicht nur als
ein bedeutender Handelsstaat, dessen Schiffe die Inseln Sicilien und
Sardinien und die afrikanische Nordküste besuchen, sondern auch
als eine ansehnliche Seemacht, welche über die ganze Meeresküste
von Latium bis Terracina die Herrschaft führt. Die Bewohner von
Antium, der Hauptstadt der Volsker, von Laurentum, von Ardea,
von Circeji, von Terracina, für die Rom auch denVertrag abschliesst,
heissen seine Unterthanen, in Widerspruch mit der geschichtlichen
Überlieferung, welche solche Ausdehnung der Herrschaft Roms
nicht nur viel später setzt, sondern auch in dieser frühem Zeit von
einem besondern Verkehr der Römer auf der See mit den benach-
et Sardinia fuerit venditum. In den Addendis p. 442 hat Heyne den Anfang’nach
Schweighiiuser’s Auffassung anders übersetzt: Nullum negotium ratum esto, nisi
quod adhibito praecone vel scriba fuerit confectum. Heeren (Ideen üb. d. Politik II,
2. Beil. S. 7,31) schliesst sich dieser Auffassung an und übersetzt das Folgende :
Was in dieser (deren) Gegenwart verkauft wird, soll auf öffentlichen Credit
dem Verkäufer schuldig sein. Vgl. Haitaus, Geseh. Roms im Zeitalterd. 1. pun.
Kriegs. S. ltf.
*) 'Eäv 'Pü)[±aiu)v zcg e!g ScxeXiav Tzapayiyvrjzai, Kapyrjduviot hnap-
youaiv, LG Cf. £(TT(o zd ' Pcopatcuv Tid'JTO.. Die Erklärung der Schlussworte ergibt
sich aus dem letzten Artikel des 2. Karth. Vertrags.
2 ) Kapyyjduvioi 8h pi) 88ixeiz wcrav dvj/iQV ’Ap8eazwv, 'Avtkmc&v, Aaopev-
rtvtov*), Kcpxauzcbv, Tappaxtvizujv, p.rj8' ällov p.v)8£va Aaztvcov, u<roi
äv UTüijxoov iäv 8£ zcvsg pr] oktcv bizrjxooi, zcuv noÄeatv äTreyeu^üJuav •
äv 8h XdßojuCj 'Pajp.aw'ig aTzodidüziocrav dxepacov.
*) Niebuhr (Rom. Gesch. 2. A. Berl. 1827. I. S. 557. Note 1109) bemerkt; Die Handschriften
haben ' Apzvzivwv, welches eben so wohl aus Aptxyviov verschrieben sein kann als aus
Aaupsvztvuiv. Aricinischer Kauffahrteischiffer und vieler gedenkt Dionys. VII. G. p. 421. e.
Laurentum war ein geringer Ort; eher würde Lavinium genannt sein: der Ordnung
nach das eine oder andere vor Ardea.
426
Asch ha cli, Über die Zeit des Abschlusses
barten grossen Inseln und dem nord-afrikanischen Küstenlande nichts
weiss. Ferner erwähnt der Vertrag auch der karthagischen Besitzun
gen auf Sicilien und Sardinien. Auch dieses widerstreitet der ander
weitigen historischen Überlieferung, welche die eigentlichen Er
oberungen der Karthager auf Sicilien erst in einer viel späteren Zeit
angibt.
Schon der scharfsinnige Perizonius 1 ), der Vater der neueren
historischen Kritik, hat in seinen geschichtlichen Untersuchungen
auf den Widerspruch des Polybius mit den römischen Consularfasten
aufmerksam gemacht und seine Lösung versucht, indem er dessen
Entstehung zu erklären sich bemüht. Er glaubt, Polybius habe in
dem Vertrage nur den Namen des M. Horatius gefunden, aber eigen
mächtig den Namen des Brutus beigefügt, um besser das Datum
des Documents zu bezeichnen. Denn da Horatius allein den capito-
linischen Tempel eingeweiht habe, so sei es auch möglich, dass
sein Name allein dem Vertrage beigesetzt worden sei. Wären mit
dieser Annahme alle Schwierigkeiten beseitigt, so könnte man viel
leicht der Ansicht des Perizonius beipflichten. Da aber alle übrigen
historischen Widersprüche ungelöst bleiben, so verdient sie keinen
Beifall. Auch war Polybius ein viel zu gewissenhafter Geschicht
schreiber, als dass er sich eine solche eigenmächtige Entstellung an
einer öffentlichen Urkunde würde erlaubt haben.
Dem Franzosen Beaufort, der von seinem Skeptieismus ver
leitet, in den fünf ersten Jahrhunderten der römischen Geschichte
überhaupt nichts Zuverlässiges erkennt, hat in seinen kritischen
Untersuchungen unserem von Polybius mitgetheilten Vertrage beson
dere Aufmerksamkeit zugewendet 2 ). Indem er sich auf des Polybius
Auctorität stützt und die Vertragsurkunde als ein echtes unzweifel
haftes Document über alle anderen historischen Überlieferungen,
die mit ihm in offenbarsten Widerspruch stehen, setzt, zieht er
für seine Auffassung von der Unzulässigkeit der älteren römischen
Geschichte mehrere sehr gewichtige Folgerungen:
1. Die Nachrichten der römischen und griechischen Schrift
steller über das erste Jahr der römischen Republik sind falsch, und
selbst die Angaben der fasti consulares sind ungenau.
*) Perizonii animadversiones historic. Amstelod. 1687. Dissert. VII. Nr. 8.
2 ) Beaufort, dissertation sur P incertitude des cinq preiniers siecles de Phistoire
Romaine. Nouv. ed. a la Haie. 1760. p. 34—46.
der zwischen Rom und Karthago errichteten Freundschaftsbündnisse. 427
2. Die Römer hatten schon in der Königszeit eine ausgedehnte
Schifffahrt.
3. Das römische Gebiet unter den Königen war viel grösser als
von den Geschichtschreibern Livius und Dionysius angegeben wird,
aber in den ersten Zeiten der Republik wurde es sehr vermindert,
da Antium, Circeji, Terracina verloren gingen und viel später erst
von neuem erobert werden mussten.
4. Die Belagerung Ardea’s durch den König Tarquinius Super
bus ist eine eben so fabelhafte Angabe, wie das Bündniss dieser Stadt
mit Rom, wovon ebenfalls Livius und Dionysius ausführlich berichten.
5. Die Karthager hatten in der letzten Zeit der römischen
Könige bereits ihre Eroberungen in Sicilien begonnen; Livius
berichtet (IV. 29) falsch, wenn er den Anfang derselben erst achtzig
Jahre nach der Vertreibung des Königs Tarquinius in’s Jahr 324 der
Erbauung der Stadt setzt.
Die meisten neueren Schriftsteller, die sich genauer mit der
älteren römischen Geschichte beschäftigen, schlossen sich mit gerin
ger Ausnahme der Beaufort’schen Ansicht an und führten sie theil-
weise auch noch weiter aus ')■ Selbst der so kritische Niebuhr
stimmt den Folgerungen Beaufort’s, die derselbe aus dem Vertrage
hei Polybius zieht, vollkommen bei. Dass Livius von dem wichtigen
Vertrage gar keine Notiz nimmt, obschon er doch den Polybius
kannte, der ihn demnach der Mühe überhob selbst nach dieser
Urkunde zu forschen, diesen auffallenden Umstand erklärt Niebulir
in einer Weise, die den berühmten römischen Geschichtschreiber
in doppelter Hinsicht herabsetzt. „Es ist,“ meint Niebuhr a ), „wohl
ausgemacht, dass Livius, wie er überhaupt den Stoff seines Werkes
nur im Fortgang gewann, Polybius (dessen Werth damals durch-
gehends gar nicht anerkannt ward) erst hei den punischen Kriegen
l ) Über den Inhalt der römisch - karthagischen Handelsverträge haben gehandelt:
Heyne, foedera Carthaginiensium cum Romanis in Opusc. Acad. Gott. III. 39sqq.
und Addend. p. 442. Sa i n te - C r oix, sur les deux premiers traites conclus
entre les Romains et les Carthag. in den Meinoir. de FAcad. des Inscript. XLVI.
p. I —13. Par. 1793. Heeren, Ideen über die Politik etc. der Volk. d. Alterth.
II. S. 729 1F. Wulff, de primo inter Romanos et Carthagin. foedere. Neobrand.
1842. Ha I taus, Geschichte Roms im Zeitalter der punischen Kriege. Lpz. 1840.
I. S. 15 ff.
*) Römische Geschichte. 2. Ausg. I. S. 556.
Sitzb. d. phil.-hist. Ol. XXXI. Bd. II. IIft.
29
428
Aschbach, Über die Zeit des Abschlusses
zu Hand nahm. Er hat wahrscheinlich von dem Dasein dieses Ver
trages, als er sein zweites Buch schrieb, gar nichts gewusst. Sonst
würde er übrigens auch nicht unzugänglich für einen Beweggrund
gewesen sein, der manchen Börner bestimmen konnte, wissentlich
die Urkunde zu verschweigen, dass sie, gänzlich unvereinbar mit
der dichterischen Erzählung welche zur Geschichte geworden war,
das Geheimniss der Grösse Borns vor der Tarquinier Verbannung
und ihres Verfalles enthält, ein Geheimniss welches die späteren
Enkel mit thörichter Ängstlichkeit zu verbergen suchten, als sei es
ein unauslöschbarer Flecken auf der Vorfahren Ehre.“
Nach diesen Worten schwankt Niebuhr, ob er Livius der
Unwissenheit oder der absichtlichen Verschweigung eines so wichti
gen historischen Factums zeihen soll. Wie aber das Stillschweigen
des Griechen Dionysius von Halikarnassus zu erklären sei, hat Nie
buhr unerörtert gelassen. Sicher kannte Dionysius den Polybius
genau, ehe er sich au die Abfassung seiner römischen Archäologie
machte, die ja eine Vervollständigung des Polybischen Werkes sein
sollte, und dass Dionysius absichtlich den höchst wichtigen Vertrag
nicht mitgetheilt habe, um nicht den Römern das Geheimniss der
Grösse Roms in derZeit der Tarquinier zu enthüllen, ein solcher
Beweggrund ist bei dem griechischen Schriftsteller durchaus nicht
vorauszusetzen.
Indem Schlosser *) sich dahin ausspricht, man müsse entweder
die geschichtliche Überlieferung verwerfen, oder aus dieser einen
Urkunde eine ganz neue Geschichte von Rom herleiten, suchte
Ulrich Becker 2 ) dadurch einen Ausweg zu finden, dass er den Ver
trag für unecht und unterschoben, für eine Fabrication oder Erdich
tung des Polybius erklärte. Niebuhr 3 ) fertigt diese MeinungBecker’s,
die er eine wunderliche Grille nennt, derb ab und spricht sich für
die unzweifelhafte Echtheit aus. Auch alle anderen namhaften neueren
Geschichtschreiber greifen nicht die Echtheit des Vertrages an, aber
sie gleiten meist mit einer nicht zu lobenden Leichtfertigkeit über
das Problem hinweg, das sie nicht zu lösen vermögen.
*) Schlosser, Universal!». Übersicht der Geschichte der alten Welt. II, 1. S. 298.
2 ) U. Becker, Vorarbeiten zu einer Geschichte des zweiten pun. Krieges. Altona
1823, und in Dahlmann’s Forsch, auf d. Gebiete der Gesell. Bd. II. 1.
3 ) Nieb uhr’s Vorträge üb. d. römische Geschichte. I. S. 197.
der zwischen Rom und Karthago errichteten Freundschaftsbündnisse. 429
Auch die neuesten Geschichtsforscher des römischen Alter
thums, Schwegler 1 ) und Mommsen 2 ), bezweifeln in ihren Geschichts
werken nicht die Echtheit des Vertrages, obschon sie nicht über
sehen, dass damit zahlreiche Überlieferungen der traditionellen
Geschichte zu Boden fallen. Wie Beaufort schon gethan hatte,
ziehen sie aus dem Vertrage, den sie nach des Polybius Angabe in
die Zeit des Anfangs der Republik setzen, höchst wichtige Folge
rungen, und gerathen somit in die auffallendsten Widersprüche und
werden zugleich zu den gewagtesten Behauptungen veranlasst.
Mommsen 5 ), der sich in den Hauptpuncten Schwegler's 4 ) Auf
fassung angeschlossen hat, meint, es sei kein Grund weder zu
bezweifeln, dass Brutus und Horatius die ersten Consuln gewesen
und den Vertrag mit Karthago abgeschlossen hätten, noch dass der
capitolinische Jupitertempel am 13. September S09 vor Christus
dedicirt worden.
Es ist höchst auffallend, dass der so kritisch forschende
Schwegler nicht in den Gegenstand tiefer eingegangen ist; er
gesteht zu, dass gegen die Glaubwürdigkeit der Angabe des Poly
bius in Bezug auf die beiden ersten Consuln Brutus und Horatius
manche Bedenken sich nicht unbedingt abweisen lassen, zumal da
Polybius nicht ausdrücklich sage, dass die Namen der beiden Con
suln in der Urkunde selbst genannt werden 5 ). Schwegler musste
um so mehr in eine weitere Erörterung dieser Controversfrage sich
einlassen, als ihm nicht unbekannt war, dass bereits ein deutscher
Geschichtschreiber, P. v. Kobbe, die Streitsache von einem neuen
Gesichtspuncte aufgefasst hatte 6 ). Aber er würdigte die Sache keiner
weitern Beachtung, wahrscheinlich weil die neue Ansicht nicht von
einer grossen historischen Celebrität ausgesprochen wurde. Momm
sen, dem bei der Publicirung der zweiten Ausgabe seiner römischen
Geschichte bereits das von ihm benutzte Schwegler’sche Werk Vor
gelegen hat, kannte Kobbe’s Meinung wenigstens mittelbar, aber
nahm davon nicht die geringste Notiz.
1 ) Schwegler, Römische Geschichte. Bd. 1. Tüb. 1853. Bd. 2. Tiih. 1856.
2 ) Th. Mommsen, Römische Geschichte. Bd. i. Lpz. 1834. 2. Ausg. Berl. 185G.
3 ) Mommsen, I. S. 97 u. Note** zu S. 907. 2. Ausg.
4 ) Sch wegler , II. 95 ff.
5 ) Schwegler, II. 97.
6 ) Schwegler I. c. Notel.
29 *
430
Aschbach, Über die Zeit des Abschlusses
Kobbe') hält den Vertrag für unzweifelhaft, echt, aber behaup
tet, Polybius habe ihn irrtümlicher Weise in die Unrechte Zeit
gesetzt. Er habe in der höchst schwierig zu lesenden Urkunde die
Namen der Consuln des Jahres 406 d. St. Valerius und Popillius
gefunden und daraus Valerius Poplicola, einen Consul des ersten
Jahres der Republik, herausgelesen. Da aber das Jahr nicht mit
einem Consul bezeichnet werden konnte, so habe er dafür den
L. Junius Brutus und M. Horatius genannt, wobei er freilich einen
doppelten Irrthum begangen, indem diese Consuln zu Collegen
gemacht wurden, was sie nicht waren, und dem M. Horatius, der
den capitolinischen Jupitertempel allein eingeweiht hatte, ein Theil-
nehmer an dieser Function beigelegt ward. Polybius sage aber auch
nicht, dass die von ihm genannten Consuln in der Urkunde gestanden,
sondern er gebe sie nur als seine eigene Combination. — Aus der
verkehrten Zeitangabe bei dem ersten Vertrage lasse sich auch
erklären, warum Polybius des Vertrages vom Jahre 406 d. St. keine
Erwähnung thue, wovon andere Quellen sprechen. Er würde sonst
denselben Vertrag doppelt angegeben haben.
Wenn auch Kobbe die Sache nicht ganz vollständig begründet hat,
so muss doch zugestanden werden, dass sie in den Grundzügen von ihm
richtig dargelegt ist. Anstatt dieses anzuerkennen und das Fehlende
in dem Beweise Kobbe’s zu ergänzen, blieb Schwegler bei der alten
Auffassung Beaufort’s und entstellte sein sonst so vortreffliches Werk
durch gewagte Folgerungen, die er aus dem angeblich im ersten
Jahre der Republik geschlossenen Vertrage zog. Dahin gehören seine
Behauptungen, dass schon ganz frühzeitig die latinischen Küsten
städte mit Sicilien und Nordafrika in Handelsverbindungen gestan
den; dass das Verhältniss der Latiner zu Rom vor der Zeit des Sp.
Cassius ein unterthäniges gewesen; dass die Patricier nicht blos
Ackerbau, sondern auch bedeutenden Seehandel getrieben und
dadurch ihre Reichthümer erworben; ferner dass die junge Repu
blik ein glänzendes Erbe von der Monarchie überkommen, aber
rasch verloren habe; dass die Ausdehnung und die Macht des Tar-
quinischen Reiches eine sehr bedeutende gewesen; endlich dass der
damalige lebhafte Seehandel der Römer unter den Tarquiniern mit
‘) Römische Geschichte. Leipz. 1841. I. S. 125.
"
der zwischen Koin mul Karthago errichteten Freundschaftsbündnisse. 431
den Culturbestrebungen jener Epoche zusammengehangen, den grie
chischen Einfluss hervorgerufen und so den Geist der Aufklärung,
der religiösen und politischen Neuerung, durch den sich das Zeit
alter der drei letzten römischen Könige charakterisirt, befördert
habe. Ähnliche Folgerungen zieht Mommsen: Roms bedeutende
Handelsstellung in der älteren Zeit, meint derselbe, lege der Ver
trag unverkennbar an den Tag; die grossen römischen Grundbe
sitzer hätten den Grosshandel in Händen gehabt; Rom sei das Em
porium von Latium gewesen; dieses habe schon in alten Zeiten die
Hegemonie über die latinischen Städte geführt und seine Macht schon
unter den Tarquiniern über Latium verbreitet; der Handelsvertrag
mit Karthago, der im ersten Jahre der Republik seinen Abschluss
gefunden, sei wahrscheinlich auf Grund eines gleichlautenden älteren
errichtet worden.
Mommsen änderte jedoch bald seine Ansicht. Er fand bei
näherer Untersuchung, dass sie nicht haltbar sei und auf falschen
Voraussetzungen beruhe. Er sah ein, dass er sich geirrt habe. In
seiner neuesten Schrift über die römische Chronologie 1 )
schliesst er sich im Grunde der Kobbe’schen Ansicht, ohne sie
jedoch zu erwähnen, in den wesentlichsten Puncten an; er gibt zu,
dass er in seiner römischen Geschichte den ersten Handelsvertrag
Roms mit Karthago in die unrichtige Zeit (in den Anfang der römi
schen Republik) gesetzt habe, dass die Polybische Datirung eine
durchaus unhaltbare, und nicht allein eine nicht urkundliche, son
dern auch eine irrige sei. Mit diesem Zugeständuiss fällt aber auch
zugleich ein Hauptargument für seine eigenthümliche Auffassung
von Roms bedeutender Handelsstellung und früherer Hegemonie in
Latium. Nur in der Beziehung weicht Mommsen von Kobbe ab, dass
er meint, es sei unmöglich, die Quelle des Polybischen Versehens
in Retreff des falschen Datums aufzudecken. Wenn auch des Poly-
bius Auctorität auf seinem eigenen Forschungsgebiete gewiss eine
der höchsten sei, die es im Alterthume gebe, so räumt doch Momm
sen ein, dass dieser griechische Geschichtschreiber nicht mehr ein.
solches Gewicht habe, wenn er über eine Epoche berichte, die er
nicht selbstständig erforschte und wo er die Thatsachen auf gutem
*) Mo inmsen, Die römische Chronologie bis auf Cäsar. Berlin 1858. I in Anhang- IX:
Die römisch-karthng. Bündnisse. S. 272—277.
i
432
Asch l»ach, Uher die Zeit des Abschlusses
Glauben irgend einem römischen Buche entnahm. Schliesslich
erklärt er sich wie Kobbe dahin, dass der erste Vertrag zwischen
Rom und Karthago in’s Jahr 406 d. St. zu setzen sei.
Nachdem somit der Stand der Frage dargelegt ist, versuchen
wir über die Streitsache unsere Ansicht zu entwickeln und dabei
soll auch die Frage über die Entstehung des Polybischen Versehens
hinsichtlich des falschen Datums, deren Auffindung Mommsen für
eine Unmöglichkeit erklärt, einer näheren Erörterung unterzogen
werden.
Es steht nach den übereinstimmenden Angaben der alten
Schriftsteller, zu denen auch seihst Polybius gehört, vollständig
fest, dass zwischen Rom und Karthago vor der Zeit des Ausbruches
des ersten punischen Krieges mehrere Verträge geschlossen worden
sind. Polybius, der nur von drei Verträgen weiss, hat den Irrthum
veranlasst, dass Livius von vier Verträgen spricht, indem dieser
den Polybischen Vertrag vom Jahre 245 d. St., den er doch uner
wähnt lässt, stillschweigend mitzählt, dagegen den Vertrag vom
Jahre 406 der Stadt, wovon Polybius nicht spricht, anführt, dem
nach einen und denselben Vertrag doppelt in Rechnung bringt *).
Polybius gibt in zwei Verträgen Zeitbestimmungen an: den
ersten setzt er in’s Jahr 245 d. St. (also in's erste Jahr der Repu
blik), den zweiten gibt er ohne Datirung (daher streitig, ob er
im Jahre 406 oder 448 d. St. geschlossen) und für den dritten
bestimmt er die Zeit des epirotischen Königs Pyrrhus (um 475
d. St.).
Die übrigen Schriftsteller, denen entweder der Annalen
schreiber Fabius Pictor, oder der Sicilianer Timäus, oder irgend
ein anderer alter Geschichtsschreiber zu Grunde gelegen, bestimmten
für die Verträge die Jahre der Stadt 406, 448 und die Zeit unmit
telbar nach der Schlacht bei Asculum, also wohl 475 d. St. Dem
nach fallen sämmtliche drei Verträge in dasselbe fünfte Jahrhundert
der Stadt.
Die Hauptdifferenz bestand also nur in Bezug auf den ersten
Vertrag, den Polybius 245 d. St., die anderen 406 d. St. setzen.
1 ) Selbst Haitaus, Gesch. Koms Im Zeitalter des ersten pun. Krieges. Lp/.. 1846,
S. 60, hat sich durch des Livius irrthiimliche Angabe bestimmen lassen, noch
vier Verträge anzunehmen.
der zwischen Rom und Karthago errichteten Freundschaftsbündnisse.
Sprechen wir zunächst von dem dritten Vertrage, gehen wir
dann rückwärts auf den mittleren und handeln wir von der bestritte
nen Chronologie des ersten zuletzt.
Polybius J ) gibt ausdrücklich an, dass die Römer ihren letzten
Freundschaftsvertrag mit den Karthagern schlossen, als Pyrrhus
nach Italien hinübergegangen, noch ehe er mit den Karthagern in
Sicilien den Krieg führte. Die Stipulationen des früheren Vertrages
wurden erneuert und nur zum Behuf des Trutz- und Schutzbünd
nisses gegen Pyrrhus Einiges beigefügt, welches dahin lautete,
dass die Karthager gegen den gemeinschaftlichen epirotischen Geg
ner die Schilfe zur Überfahrt und zum Angriff liefern sollten, aber
die Unterhaltung seiner Soldaten und Matrosen läge einem jeden
Staate selbst ob. Wenn auch die Karthager sich dazu verbindlich
machten, den Römern auf dem Meere mit einer Flotte zu Hilfe zu
kommen, so verpflichteten sie sich doch nicht zu Hilfstruppen auf
dem Lande, im Falle sie die Landung derselben für ihr Interesse
nicht für räthlich fanden 3 ).
Polybius erwähnt nicht, in welchem Jahre dasBündniss geschlos
sen worden; Livius 3 ) gedenkt desselben unmittelbar nach der
Schlacht bei Asculum, also im Jahre 478 d. St. 4 ).
Valerius Maximus gibt an, dass damals die Karthager den
Römern eine Hilfsflotte von 130 Schiffen zur Disposition an die
Mündung der Tiber schickten 5 ), womit auch Trogus Pompejus
oder sein Epitomator Justinus übereinstimmt.
1) Polyb. III. 23.
*) 'Ea.v <n>iißa-/iav zzonbvzai Ttpos llößpov eyypaizzov, TzoteiaftiDoav äp.<po-
t spot, eva eßij ßaijß-eiv äXXvjXots Sv rjj r iäv TioXetioo/ievcuv X^Pf' äxuzepoi
3'äv ypeiav e^cxrt zijs ßoy&eias, zä nXoia Tzapeyezioaav hapyrjSuvim,
xal eis zyv ödöv, xai eis ztjv e<poSov za 3e dipwyia zois aözäiv kxä-
zepoi- Kapyijhiivioi 3e xazä üäXazzav 'Fwpaiois ßuT)üeizu>oav, äv XP^ a
rj • zä 3e nXrjpuiiiaza. p.vj3eis ävayxaCezat ixßaivetv äxiiurruus.
3) Liv. Epit. 13. Cum Carthaginiensibus quartum foedus renovatum est.
■>) Niebuhr (Rom. Geschichte III. 593. Note 83) meint, man könnte auf die Ge-
nauigkeit dieser Angabe nicht viel bauen.
v 5 ) Valer. Max. Memorab. lib. VH. 7. 10. Cum eo beilo, quod adversus Pyrrhum
gerebatur, Carthagiuienses C-ac XXX navium classem in praesidium Romanis
Ostiam ultro misissent, senatus placuit, legatos ad dueem eorum ire, qui dicerent,
populum Rom. bella suscipere solere, quae suo milite gerere posset: proinde
classem Cartbaginem ducerent. Justin. XVIII. 2. Mago,. dux Carthaginiensium in
auxilium Romanorum cum CXX navibus missus senatum adiit, aegre tulisse Car-
434
As c h b a ch, Über die Zeit des Abschlusses
Den mittleren Vertrag, welchen Polybius vor dem eben bespro
chenen setzt, gibt er ohne Datirung, es unterliegt aber keinem
Zweifel, dass er derselbe ist, von dem Livius im neunten Buche
seiner Geschichte 1 ) beim Jahre 448 der Erbauung der Stadt spricht.
Polybius gibt den Inhalt dieses Vertrages folgendermassen an:
„Es soll Freundschaft sein zwischen den Römern und ihren
Bundesgenossen einerseits, und den Karthagern, Tyriern, Uticen-
sern und deren Bundesgenossen andererseits. Jenseits des Schönen
Vorgebirgs und Mastia 2 ) und Tarseion 3 ) dürfen die Römer weder
Raub verüben, noch Handel treiben, noch eine Stadt gründen.“
„Wenn die Karthager in Latium eine den Römern nicht unter
worfene Stadt nehmen, so sollen sie das (erbeutete) Geld und die
gefangene Kriegsmannschaft behalten, aber die Stadt wieder räumen.
Wenn aber die Karthager von Solchen die mit Rom in einem förm
lichen Bundesverhältniss stehen, aber ihnen nicht unterworfen sind,
Jemand gefangen genommen haben, sollen sie ihn (zum Verkaufe)
nicht in die römischen Hafenstädte bringen: führen sie ihn doch
dahin, so wird er sogleich frei, wenn ihn ein Römer berührt.“
„Ingleichen sollen sich die Römer Eingriffe (in die karthagischen
Rechte) enthalten: wenn die Römer Wasser oder Lebensmittel aus
einem den Karthagern zuständigen Gebiete holen, so sollen sie sich
keine Beschädigung oder Beeinträchtigung derer erlauben , die mit
thaginienses adfirmans , quod bellum in Italia a peregrino rege paterentur: ob
quam caussam missum se, ut quoniam externo hoste oppugnarentur, externis auxiliis
juvarentur. Gratiae a senatu Carthaginiensibus actae, auxiliaque remissa.
1 ) Liv. IX. 43. Cum Carthaginiensibus eotlem anno foedus tertio renovatum: lega-
tisque eorum, qui ad id venerunt, comiter munera missa.
*’) Nach B i s c h o f f undM oller (W. d. Geogr.) war Mastia eine Stadt in Mauretania Tin-
gitana, welche Angabe wohl unrichtig ist: Forbiger setzt sie richtiger nach
Spanien in die Nähe der Gaditanischen Meerenge. Ihre Einwohner, die nach Heea-
taeus von Stephan. Byz. p. 448Mastieni genannt werden, heissen bei Polybius III. 33
Mastiani. Hannibal verpflanzte sie nach Afrika; sie kommen daher später nicht mehr
unter den spanischen Völkerschaften vor. Ob der aus Theopomp bei Steph. Byz.
p. 447 erwähnte Ort Massia in der Nähe von Tartessus identisch ist mit dem
polybischen Mastia, dürfte zu bezweifeln sein. Heeren (Ideen üb. d. Politik etc.
II. S. 730) übersetzt oder paraphrasirt die Stelle nach Heyne’s Erklärung (Opusc.
Acad. III. p. 61): „Jenseit des Schönen Vorgebirges, nach der einen Seite, nämlich
nach Osten hin , und jenseit der Städte Mastia und Tarseium nach der andern,
nämlich nach Westen hin £< etc. Sainte-Croix (Remarques sur les deux traites
conclus entre les Rom. et les Carth. in d. Memoires de l’Acad. des Inscr. XLVI.
p. 1 sqq.) hält Mastia identisch mit Cap Blanc und Tarseion gleich mit Cap Serra.
3 ) Stadt bei den Säulen des Hercules, cf. Stephan. Byz. 637.
der zwischen lloni und Karthago errichteten Freundschaftsbündnisse. 435
den Karthagern in Frieden und Freundschaft stehen. (Ebenso soll
sich der Karthager der Eingriffe enthalten.) Wenn es (auf der einen
oder der andern Seite) dennoch geschehe, so soll es nicht erlaubt
sein, sich selbst Genugthuung zu verschaffen, sondern es soll als
ein öffentliches Vergehen betrachtet werden.“
„Kein Hörner soll in Sardinien und Libyen eine Handels-
Niederlage haben, noch eine Stadt anlegen (die Fahrten dahin
sollen nicht gestattet sein), ausser wenn es nöthig ist Lebensmittel
einzunehmen oder die Schiffe auszubessern. Wenn ein Sturm dahin
verschlagen hat, so soll in 5 Tagen das Land wieder verlassen
werden.“
„In Sicilien, so weit es den Karthagern gehört, und in Karthago
soll er (der Römer) Alles tliun und kaufen dürfen, wie es einem
(karthagischen) Bürger erlaubt ist. Gleiches Recht soll dem Kartha
ger in Rom zustehen.“
Es muss auffallen, dass in dieser Urkunde neben den Kartha
gern auch die Tyrier als Theilnehmer an dem Vertrage genannt wer
den. Man hat aus diesem Umstande folgern wollen, dass Tyrus,
welches nach der Zeit Alexander's des Grossen nicht selbstständig
mit einer auswärtigen Macht habe Verträge schliessen können, auch
seine frühere Bedeutung nicht mehr gehabt habe, diesen Freund
schaftsbund nicht im Jahre 448 d. St. (306 v. Chr.), sondern viel
eher im Jahre 406 d. St. (348 v. Chr.) eingegangen sei, dass dem
nach, weil dieser Vertrag, an dem die Tyrier Theil genommen, der
zweite war, ein noch älterer vor dem Jahre 406 exisfirt haben
müsse.
Diese Einwendungen gegen die Richtigkeit des Jahres 448
d. St. erweisen sich bei näherer Prüfung der Verhältnisse durchaus
nicht als stichhaltige. Da Tyrus vor Alexander dem Grossen unter
persischer Herrschaft stand, so würde gleicher Einwand auch für
das Jahr 406 d. St. gelten; es hätte Tyrus nicht selbstständig mit den
Römern ein Bündniss schliessen können, ohne die Zustimmung des
persischen Königs. Ob die staatsrechtlichen Verhältnisse der phöni-
cischen Handelsstädte mit ihrem persischen Oberherrn solche Sepa
ratverträge gestatteten, darüber liegen keine alten Zeugnisse vor 4 ).
1 ) Mommsena. a. 0. S. 276 bemerkt über diesen Punct: dass Polyhius’ zweiter
Vertrag sich für das Jahr 448 darum nicht wohl zu schicken schien, weil Tyros
436
Ascbhach, Über die Zeit des Abschlusses
Wir müssen einen so frühen Abschluss um so mehr bezweifeln,
als um die Mitte des 5. Jahrhunderts der Stadt die Römer mit dem
entfernteren Tyrus in gar keinem erweisbaren Handelsverkehre stan
den. Aber nachdem Alexander der Grosse die Stadt Tyrus zerstört
hatte, war der grösste Theil ihrer Bewohner auf eigenen und kar
thagischen Schiffen in den westlichen Theil des Mittelmeeres in ihre
alten Colonien entflohen, welche sie in Spanien und in Nordafrika hatten,
ein Theil mag sich auch in oder hei Karthago niedergelassen haben »)•
So wie Utika’s Bewohner, standen nun die Tyrier, die in ihrer neuen
Heimath einen selbstständigen Staat bildeten, mit den stammverwand
ten Karthagern in dem engsten politischen Verkehr. Der neutyrische
Staat im Occident bestand aber kaum ein Menschenalter. Die aus-
gewanderten Tyrier kehrten bald wieder in ihre alte Heimath zurück,
nur ein geringer Theil blieb im Occident und verschmolz ganz und
gar mit den Karthagern. Die nach Phönizien zurückgekehrten Tyrier
standen dann unter den Seleuciden, die ihnen besondere Begünsti
gungen ertheilten und sogar eine gewisse Selbstständigkeit verliehen a ).
Das zerstörte Tyrus erhob sich bald wieder aus seinen Trümmern
und blühte von neuem als volkreiche Handelsstadt auf 3 ). Schon
Antigonus, einer der Diadochen (also bald nach Alexander dem
nach Alexander d. Gr. nicht wohl mit einer auswärtigen Macht selbstständig habe
stipuliren können, war von einigem Belang, so lange man zwischen 406 u. 448
die Wahl frei zu haben meinte, aber die staatsrechtlichen Verhältnisse sowohl
zwischen den griechischen und phönicischen Kaufstädten und der Krone Asiens,
als auch zwischen Tyros und Karthago sind hei weitem nicht in der Art festge
setzt, um darauf hin anderweitigen gewichtigen Zeugnissen den Glauben zu ver
sagen.
*) Arrian. de expedit. Alex. 11. 24 berichtet, dass Alexander bei der Erstürmung von
Tyrus 60.000 Gefangene gemacht und dieselben als Sclaven verkauft habe. Bei
dem Sturme hatten 8000 Tyrier das Leben verloren. Es musste demnach bei
weitem der grössere Theil der städtischen Bevölkerung, die ohne die Sclaven
Hunderttausende zählte, sich gerettet haben. Diodor. Sic. XVII. 46 bestätigt dieses:
Zw/iaza d* acyjidXcoza zoaabza zö tzXrjtkog ebpe&r], wäre zd) v nXeca-
tojv elg Kapy-fjd ova xoxofxcafiEVtov, zd bnoXECcp&evza yeviaftac
tzKeIuj zwv [LUpcoJV xac zpcgycXcwv. Dass Tyrus auf den Beistand einer kar
thagischen Flotte gerechnet hatte, erzählt auch Oros. III. 16. (Alex.) Tyrum,
Hducia Carthaginiensiurn cognatorum sibi obsistentem oppressit et cepit.
2 ) Strabo XVI. 757. Ouy U7cb zd>v ßaackicov d' exptövjoav abz öv o poc
jxbvov — dXXä xac bub zujv r Pwfiacüjv.
3 ) Strabo XVI. 757. 'Hzoyrjas de xac biz' ' AXegavdpou noXtopxia Xvjfp&ecaa,
dXXä zwv zocouztov aü[L<popü>v xaziazrj xpeczzwv xac äviXaße abzrjv zfj
ze vaozcXia — xac zoeg nopipvpecocg.
der zwischen Hon» und Karthago errichteten Freundschaftsbündnisse.
437
Grossen) belagerte Tyrus mit ansehnlicher Heeresmacht längere Zeit
hindurch 1 ); es lässt sich schon daraus entnehmen, dass die Stadt
schnell wieder zu Bedeutung gekommen ist. Dass in unserem Ver
trag neben den Karthagern und Uticensern die Tyrier erwähnt wer
den, gibt eben einen wichtigen Anhaltspunct ab, dass jener nicht
vor, sondern nach der Zeit Alexander’s des Grossen geschlossen sein
muss 2 ). Damit stimmt die Angabe des Livius sehr gut, dass von
neuem ein Freundschaftshund zwischen Rom und Karthago ge
schlossen worden, und zwar in der Zeit, wo die Römer noch in dem
schweren samnitisch-etruskischen Krieg verwickelt waren, in dem
es das Interesse der Römer wie der Karthager erheischte, einig
gegen die ihnen gleich gefährlichen Samniter zu sein.
Der zweite Vertrag lautet allerdings für die Römer ungünstiger
und einschränkender als der erste oder älteste, denn er untersagt
ihnen allen Handel mit Sardinien und Afrika, die Stadt Karthago
selbst ausgenommen: der ältere Vertrag dagegen erlaubt ihnen diesen
Handel unter gewissen Bedingungen und Einschränkungen. Man
kann zugeben, dass aus dem zweiten Traetat eine comparative
Superiorität Karthago”s über Rom gefolgert werden könne, woraus
aber keineswegs der Schluss zu ziehen ist, dass derselbe eher der
letzten Hälfte des fünften Jahrhunderts vor Christus, als der letztem
Hälfte des vierten Jahrhunderts angehöre. Grote, der neueste eng
lische Geschichtschreiber Griechenlands, der noch nach der alten
Auffassung den ältesten Vertrag in das erste Jahr der Republik setzt,
zieht jene Folgerung: er meint, dass der zweite Traetat nicht nach
der Angabe des Livius um die Mitte des vierten Jahrhunderts vor
Christus zu setzen sei, sondern man müsse ihm ein früheres Datum
und zwar zwischen 480 und 410 vor Christus anweisen, welche
1 ) Diodor. Sic. XJX. 59.
2 ) Die Meinung Heerens (Ideen üb. d. Polit. II. 55) hat keinen besonder»
Beifall bei den Gelehrten gefunden. „Tyrus — kann unmöglich das phönicische
Tyrus sein. Schon die Lage desselben macht es höchst unwahrscheinlich, dass
es mit Rom einen Vertrag geschlossen, auch stand es damals unter persischer
Herrschatt; aber die Hauptsache ist, dass in dem ganzen Bünditiss durch
aus nichts vorkommt, das auf jene Stadt Beziehung haben oder für sie wichtig
sein könnte. Ich glaube, dass entweder statt Tyrus ein anderer Namu,
z. B. Tunis oder Tysdrus oelesen werden muss oder, was mir wahrschein
licher ist — eine der grossen Seestädte in dem karthag. Gebiet. — hiess damals
wirklich so.“
i
438
A s c h b a c h , Über die Zeit, des Abschlusses
Behauptung aber nur auf der falschen Voraussetzung beruht, dass
der erste Vertrag im Jahre 509 vorChr. geschlossen worden sei').
Nachdem festgestellt worden, dass von den drei Polybischen
Verträgen Roms mit Karthago die beiden letzteren in die Jahre 448
und 473 der Stadt gehören, wenden wir uns zu dem ersten oder
ältesten, den Polybius in eine bestimmte Zeit, in das erste Jahr
der Republik setzt, freilich mit einer seltsamen Datirung von dem
Consulpaar L. Junius Brutus und M. Horatius, die zwar in demselben
Jahre Consuln, aber nicht Collegen gewesen, nach denen daher
auch nicht das Jahr datirt werden konnte.
Zuerst drängt sich uns die Frage auf, ob es üblich gewesen,
schon in den ersten Zeiten der Republik den öß’entlichen Verträgen
die Namen der Consuln zur chronologischen Bezeichnung beizusetzen.
Es lässt sich wohl vermuthen, dass in der Zeit des Königthums den
Staatsverträgen die Namen und Regierungsjahre der Könige beige
fügt wurden.
N i e h u h r 3 ) behauptet, dass die öffentlichen Urkunden Roms mit
der Angabe der Consuln seit der Zeit der Republik hätten versehen
sein müssen, unter denen sie ausgestellt worden seien. Mommsen
bestreitet diese Ansicht im Allgemeinen mit Recht, aber dass für
internationale Verträge gewöhnlich die Consuln beigefügt worden
sein könnten, gibt er zu 3 ). Er meint, man werde daher auch dem
Polybischen Consulat Glauben schenken dürfen, um so mehr, als
schlechterdings nicht abzusehen sei, was Polybius sonst gerade
auf dieses Jahr hätte führen können; wir wenigstens würden, bemerkt
Mommsen weiter, aus der Urkunde, wie sie uns vorliegt, nur
entnehmen, dass sie älter sein muss als 416, weil Antium darin
noch als eine selbstständige Gemeinde erscheint.
*) Grote, Gesch. Griechenlands, übers, v. Meissner. V. 622. Note 25.
2 ) Niebuhr, Rom. Gesch. 3. Ausg. I. 595.
3 ) Mommsen, Röm. Geschichte. I. S. 97. Not. 2. Ausg. „Es findet sich in der
ganzen republikanischen Zeit in den öffentlichen Documenten wohl der Monatstag,
aber nicht die Angabe der Consuln, ausgenommen natürlich wo sie als Antragsteller
Vorkommen. Aber eine Ausnahme gilt wenigstens im 7. Jahrhundert für internatio
nale Verträge (Cod. Inscr. Gr. 2485. 5879), und die Ursache dieser Abweichung
liegt so nahe, dass sie wohl als uralt betrachtet wurden darf. Vermulhlich begann
der Vertrag mit Karthago eben wie der Vertrag mit Astypalaea (C. J. Gr. 2485)
mit dem Senatsbeschluss über die Billigung des Bündnisses, worin die Consuln
genannt wurden, worauf dann der Bundesvertrag und die Eidesformel folgten."
(Polyb. III. 25 b.)
der zwischen Rom und Karthago errichteten Freundschaftsbündnisse. 439
Mommsen hat diese seine Ansicht, dass man des Polybius
Angabe hinsichtlich des Consulats von Brutus und Horatius Glauben
schenken könnte, wie bereits oben bemerkt worden, später in seiner
Schrift: „Die römische Chronologie *)“, selbst verworfen; er gibt zu,
dass das Polybische Datum nicht aus der Urkunde selbst entnom
men sein könne, sondern dass es von Polybius anders woher gefol
gert worden und als irrig verworfen werden müsse.
Polybius sagt auch nicht, dass das erwähnte Consulpaar in
der Urkunde gestanden, es ist offenbar, d.ass er mit dessen
Angabe nur seine subjective Meinung ausspracb, in welche Zeit er
die Errichtung des Vertrags setze.
Wie aber Polybius dazu gekommen, ein unrichtiges Consulpaar
für das erste Jahr der Republik anzugeben, ist eigentlich eine beson
dere Frage, die aber hier nicht unerörtert bleiben soll. Die Chro
nologie der ersten Jahre der Republik war den Römern selbst nicht
genau bekannt und angefüllt mit Widersprüchen; dieses batte darin
seinen Grund, dass man aus dieser frühem Zeit selbst keine oder
nur höchst unsichere Aufzeichnungen hatte, und dass man den Über
gang vom Königthum zur Republik mit jährlich gewählten Vorstehern
oder Prätoren nicht mehr recht kannte und spätere Einrichtungen
auf das erste Jahr der Republik als schon fertige übertrug. Es ist
höchst wahrscheinlich, dass nach der Vertreibung des Königs Tar-
quinius Superbus ein Prätor Maximus an die Spitze des Staates, und
zwar noch aus der Tarquinischen Familie und ihren Verwandten
gestellt wurde, ähnlich wie nach dem Tode des Codrus in Athen
noch einige Zeit aus seiner Familie der Archon als höchste Magistra
tur in dem Freistaat genommen wurde 2 ). In Rom gehörten so der
Tarquinischen Familie durch Blutsverwandtschaft oder Verschwäge
rung Brutus, Collatinus und Lucretius an; sie folgten einander in
der höchsten Magistratur. Mit Valerius Poplicola beginnt erst die
vollständige Verdrängung der Tarquinier durch eine mächtige andere
patricische Familie; es ist nicht unwahrscheinlich, dass P. Valerius
Poplicola unter den Namen Dictator oder Magister Populi als Prätor
Maximus allein dem Staate Vorstand, bis er endlich gezwungen war,
einen Collegen in der Person des M. Horatius anzunehmen, mit
*) Im Anhang' dazu S. 272.
2 ) Schwegler, Röm. Geschichte II. S. 79 11’., 92 ff. und 131.
440
Aschbac li , Über die Zeit des Abschlusses
welchem des Consulat, oder die jährlich wechselnde Magistratur
der zwei Prätoren erst begann ')• In den ältesten Überlieferungen
gab es wohl zweierlei Magistratsverzeichnisse: das eine begann mit
Brutus, dem weiter Collatinus, Lucretius und Valerius (eine Vari
ante nennt erst Valerius, dann Lucretius) folgten, das andere mit
M. Horatius, vorzugsweise der College (Consul), weil durch ihn
erst die Doppelmagistratur eingeführt war. Die Einweihung des
capitolinischen Jupitertempel durch ihn ward als der Anfangspunct
für die neue römische Jahreszählung genommen, wie man vorher
nach der Königsvertreibung das Jahr angegeben hatte. Im fünften
Jahrhundert der Stadt verstand man die älteste echte Überlieferung
nicht mehr, man drängte die ganze Übergangsperiode der Einzel
prätoren von Brutus bis auf Valerius in ein Jahr zusammen und wies
dieses seihst noch dem M. Horatius, als dem ersten Mitconsul, zu.
Polybius, der von diesen alten Verzeichnissen noch Kenntniss mag
erhalten haben, folgte nicht den herrschenden chronologischen
Angaben der gewöhnlichen Consularfasten, sondern er combinirte
sich die Sache in der Weise, dass Brutus und Horatius, die an der
Spitze der beiden Verzeichnisse standen, die ersten Consuln und
Collegen sein müssten, und demnach auch zusammen den capitoli
nischen Jupitertempel eingeweiht hätten. In der alten Original
urkunde des Vertrags fand Polybius oder der Schriftsteller, der
seine Quelle war, die Namen der Consuln des Jahres 406 d. St.
VALER. ET POPILL, welche chronologische Bezeichnung bei der
schwer zu entziffernden Schrift irriger Weise gelesen wurde
VALERIO POPLICOLA. Da mit einem Consul das Jahr nicht
bezeichnet werden konnte, combinirte sich Polybius aus dem Namen
des Valerius Poplicola, des berühmten Urhebers der valerischen
Gesetze im ersten Jahre der Republik, die Zeit für den Abschluss
des ersten Vertrags, und rectificirte nach seiner Ansicht die Datirurig
durch das von ihm neu geschaffene Consulpaar L. Junius Brutus und
M. Horatius, die wenn auch nicht Collegen, doch als Consuln des
ersten Jahres der Republik in den Fastis erscheinen.
Ungeachtet Polybius in seinem eigenen Forschungsgebiet eine
der ersten Auctoritäten ist, die es im Alterthum gibt, so kann man
*) Des Horatius Amtsantritt wird vom Tage seiner Dedication des capitolinischen
Jupiter-Tempels, d. i. vom 13. September gezählt.
der zwischen Rom und Karthago errichteten Freundschaftsbündnisse. 441
ihm doch nicht gleiche Glaubwürdigkeit in thatsächlichen und chro
nologischen Fragen, die in einem andern Kreise als den er behan
delte lagen, zugestehen. Dass er sich in derartigen Dingen geirrt
habe , lässt sich mehrfach nachweisen >).
Ohne auf den Inhalt des Vertrags selbst Zusehen, kommen
aber auch noch besondere Gründe hinzu, die bestimmen müssen,
eine Verbindung zwischen Rom und Karthago in so früher Zeit zu
verwerfen. Kein einziger Schriftsteller ausser Polybius erwähnt
eines solchen Vertrags im Anfang der Republik, selbst die Auctorität
eines so gewichtigen Geschichtschreibers konnte die Späteren nicht
bewegen, ihm in einer Sache zu folgen, wofür sonst keine Quelle
vorlag und wogegen so Vieles sprach. Im directen Widerspruch mit
Polybius wird dagegen von einigen Schriftstellern der erste Vertrag,
der zwischen Rom und Karthago geschlossen worden, ausdrücklich
um anderthalb Jahrhundert später gesetzt. Auch dürfte es nicht
wahrscheinlich sein, dass der vorsichtige Handelsstaat Karthago
sogleich unmittelbar beim Sturz des Königthums einen solchen
Freundschaftsbund mit der noch keineswegs befestigten republikani
schen Regierung abgeschlossen habe.
Halten wir uns aber einfach an den Inhalt des Vertrags und
suchen wir hier Anhaltspuncte für die Zeit des Abschlusses zu
gewinnen, so begegnen wir hier einigen Momenten, die von Wich
tigkeit für die Lösung der Frage sein müssen.
Nach dem Inhalt des Vertrags waren die Karthager bereits im
Besitz von einem Theil der Insel Sicilien. Dieses konnte aber nicht
schon im Jahre 245 d. St. (509 v. Chr.) sein; aus griechischen
Schriftstellern und aus Livius wissen wir, dass ihre Eroberungen
daselbst über hundert Jahre später fallen 3 ). In demselben Jahre,
als der grosse Persereinfall unter Xerxes in Griechenland und dessen
Niederlage bei Salamis stattfand (480 v. Chr.), machten die Kartha
ger einen missglückten Versuch zur Eroberung Siciliens. Ihr Feld-
1 ) Z. B. die Fixirung des Gründungsjahres von Rom, das gar nicht historisch fest
steht (vgl. Schwegler R. G. I. 808). Die fabelhafte Tradition von der Dauer
der Königsregierungen hat Polybius ziemlich adoptirt; desshalb sind diese un
sicheren Überlieferungen doch nicht zuverlässige Geschichte geworden.
2 ) Allerdings mögen einzelne Kriegszüge der Karthager gegen Sicilien und Sardinien
schon im 6. Jahrhunderte v. Chr. unternommen worden sein, ohne dass auf diesen
Inseln von ihnen bleibende Eroberungen gemacht wurden. Von solchen Zügen
ist. die Rede bei Justin. XVIII. 7 und Oros. IV, 6.
442
Aschbach, Über die Zeit des Abschlusses
lierr Hamilkar ward damals erschlagen und das zahlreiche karthagi
sche Heer von dem syracusanischen Despoten Gelon in der Schlacht
von Himera besiegt 1 ). Siebzig Jahre hindurch (von 480 bis 410
vor Chr.) machten die Karthager keine ernstlichen Versuche mehr,
sich Sicilien zu unterwerfen, so gewaltig war der Eindruck den
jene Niederlage hinterlassen hatte 3 ). Erst im Jahre 430 vor Chr.
machten sie wieder Versuche, sich in die inneren Parteibewegun
gen auf der Insel zu mischen 8 ). Aber erst als die grosse Seemacht
der Athenienser in Folge des für sie so unglücklichen Ausganges des
peloponnesischen Krieges ganz gesunken war, begannen die Kar
thager wieder ihr aggressives Vorschreiten gegen Sicilien. In der
Zeit des älteren Dionysius von Syracus fand ein wechselvoller Kampf
zwischen den Griechen und Karthagern auf der Insel Statt; um die
Mitte des vierten Jahrhunderts, als der jüngere Dionysius alles in
Verwirrung gebracht hatte, schickte Karthago, seine Bündnisse mit
den Despoten in den sicilianischen Städten befestigend, zahlreichere
Flotten und grössere Heere auf die Insel 4 ), setzte sich in den
Besitz eines ansehnlichen Theils derselben und bedrohte nunmehr
auch Unteritaliens Unabhängigkeit. Damals im Jahre 406 d. St.
(348 v. Chr.) konnte sehr wohl ein Vertrag zwischen Rom und Kar
thago geschlossen worden sein.
Es walteten aber auch noch andere Umstände vor, welche
Rom und Karthago damals bestimmten, sich zu nähern und einen
Freundschaftsbund mit einander abzuschliessen.
Es erschien gerade im Jahre 406 der Stadt eine griechische
Flotte an der latinischen Küste, welche mehrere Male landete, die
Ortschaften ausplünderte und sich längere Zeit in den Gewässern
zwischen der Westküste Italiens und den Inseln Corsica, Sardinien
und Sicilien herumtrieb, ebensowohl als Feinde der Karthager wie
der Römer. Letztere kämpften nach der römischen Überlieferung
damals zuerst mit den Griechen: man wusste nicht, aus welchem
Lande die neuen Feinde gekommen waren. Livius spricht die Ver-
*) llcrodot. VII. lS8sq<|. und 165, Diodor. Sic. XI. 21—24.
2 ) Grote, Gesell. Griechenlands, übers, v. Meissner. V. 621.
3 ) Liv. hist. IV. 29. Karthaginienses tanti hostes (Romae) futuri, tum primuni
per seditiones Siculorum ad partis alterius auxilium in Siciliam exercitum tra-
jecere. Diese Stelle hat Grote übersehen.
4) Platon, epist. VIII. p. 353. E.
der zwischen Rom und Karthago errichteten Freundschaftsbündnisse. 443
muthung aus, sie seien aus Sicilien gekommen 1 ). Niebuhr verwirft
dieselbe, weil in jener Zeit die Griechen in Sicilien, unmittelbar
vor Timoleons rettender Ankunft in sich zerfallen, ohne Flotte, völlig
unfähig zu einer Unternehmung auf der See gewesen wären, welche
Karthago beherrschte. Er findet es viel wahrscheinlicher, dass es
geworbene griechische Truppen unter dem spartanischen König
Archidamos, zum Theil Trümmer des phocensischen Heeres unter
Phaläkus, gewesen, die ihre Dienste den Tarentinern im Krieg gegen
die Lucaner verkauft hatten und zuletzt auf tarentinischen Schiffen
die latinische Küste mit Plünderung heimsuchten 2 ). Das Interesse
der Karthager verlangte es, die Küstenländer des westlichen Italiens
und die Inseln Sardinien und Corsica gegen die räuberischen Schiffe
zu sichern und sie zu vertreiben 3 ); dagegen war es nothwendig mit
den Römern in Betreff ihrer und der Latiner Schiffe sich zu ver
ständigen und darüber in einem Vertrag besondere Stipulationen zu
treffen.
Ein weiterer Punct der einen wichtigen Fingerzeig abgeben
kann für die wahre Zeit, wann der erste karthagische Vertrag abge
schlossen worden, ist der darin vorkommende Artikel über die lati-
nischen Städte. Gerade der Umstand, dass in dem Vertrage unter
schieden wird zwischen den den Römern unterworfenen und nicht unter
worfenen latinischen Städten deutet schon im Allgemeinen auf die
*) Liv. VII. 25. Mare iiifestum classibus Graecorum erat, oraque litoris Antiatis,
Laurensque tractus et Tiberis ostia. — Cum Graecis — nulla memorabiiis res
gesta: nee illi terra, nec Romanus mari bellator erat. Postremo , quum litoribus
arcerentur Ilaliam reliquere. Cujus populi ea, cujus gentia classis fuerit,
nihil certi. Maxime Siciliae fuisse tyraunos crediderim. Nain ulterior Graecia
ea tempestate intestino l'essa bello, jam Macedonum opes horrebat.
2 ) Niebuhr, Röm. Gesell. S. 99 ff. — Dass die Trümmer des phocensischen Heeres,
welche im J. 346 v. Chr. unter Phaläkus erst nach dem Peloponnes abzogen, sich
dann einschifften, anfänglich nach Italien, dann nach Creta, wo Phaläkus umkam,
zeigte, dass ihnen viele Schiffe zu Gebote standen: Archidamas kam in Italien im
Jahre 338 an demselben Tage um , an welchem der König Philipp von Mace-
donien den Sieg bei Chäronea gewann. Diodor. Sicul. XVI. 88.
3 ) Interessant ist die Stelle Diodor’s (XVI. 66 sq.), wo von Timoleon’s Expedition nach
Sicilien im J. 409 d. St. (345 v. Chr.) die Rede ist. Die Karthager wollten den
korinthischen Heerführer an der Überfahrt nach Sicilien verhindern. Timoleon
fürchtete sehr, dass dieses den Karthagern, die das Meer beherrschten,
gelänge. Sie hatten bereits mehrere Städte auf der Insel in ihr Bündniss gezogen,
und zwangen andere durch ihre grosse Übermacht mit Gewalt zur Unterwürfigkeit.
Die kriegerischen Campanier die am Ätna sich niedergelassen hatten, mussten sich
damals auch der karthagischen Herrschaft unterwerfen.
Sitzb. d. phil.-hist, CI. XXXI. Bd. III. Hft.
30
444
Aschbach, Über die Zeit des Abschlusses
Verhältnisse der ersten Zeit des fünften Jahrhunderts der Stadt, denn
damals war Rom noch nicht im vollständigen Besitz von ganz Latium;
von den in der Nähe des Meeres gelegenen Städten hatte es nur die
Orte von Laurentum bis Terracina. Latium erstreckte sich aber
in jener Zeit auch noch weiter als Terracina über den Liris-Fluss
bis an die Grenze Campaniens. Noch mehr Anhaltspuncte aber erhält
man, wenn die namentlich angeführten Städte Laurentum, Ardea,
Antium, Circeji und Terracina, die als Rom unterthänige Ortein
dem Vertrag angegeben werden, in Beziehung auf die Geschichte
ihrer Unterwerfung näher in’s Auge gefasst werden. Mit diesen
Städten an der Meeresküste, welche nicht unbedeutenden Seehandel
hatten und dabei auch Seeraub trieben, hatte Rom lange und wechsel
volle Kämpfe zu führen, ehe sie ganz unterworfen waren; sie
trugen dann aber auch wesentlich zur Vermehrung der römischen
Seemacht bei, welche im Laufe des fünften Jahrhunderts sich rasch
entwickelte.
Laurentum, Ardea und Circeji waren im Jahre 261 d. St. als
der Cassische Bundesvertrag geschlossen wurde, unter den verbün
deten latinischen Städten 1 ), also noch nicht in dem Verhältnis als
Unterworfene zu Rom. Antium und Terracina kommen nicht in dem
Cassischen Bundesvertrag vor, sie mussten damals von jedem Ver
band mit den Römern ganz frei sein. So viel ist sicher, dass Lauren
tum , Ardea und Circeji von den genannten Städten zuerst unter die
römische Herrschaft kamen. Ardea kommt schon im Jahre 312 der
Stadt 2 ), Circeji im Jahre 361 als römische Colonie vor 3 ). Terracina,
das auch Tarracina heisst, wird schon im Jahre 361 als römische
Colonie genannt 4 ); ihre bleibende Eroberung aber fällt in das
Jahr 403 d. St., wo sie erst ihren alten volskischen Namen Anxur
in den neuen Terracina oder Tarracina veränderte 6 ).
Antium erscheint im dritten Jahrhundert der Stadt von den
Latinern getrennt als volskische Stadt. Nach langen und hartnäckigen
*) Schwegler, Rom. Gesell. 11. 198. Note 2. u. 706.
a ) Liv. IV. 7. 9. 11. Dionys. XI. 62.
3 ) Diodor. Sic. XIV. 102. Liv. VI. 17. 21.
4 ) Das Nähere bei Schwegler 1. c. S. 194.
5 ) Liv. IV. 59. Diodor. Sic. XIV. 16 (Ol 'PuJjj.atoL) i^EZoXuipxrjirav de xal
rr/V Obdkoxto'j nbXlv, -q nhe p.ev ”Avljajp ixaXeiro, vüv de dvoßdCerou
Tapaxivp.
der zwischen Rom und Karthago errichteten Freundschaftsbündnisse. 445
Kämpfen mit den Römern wird sie endlich im Anfang des fünften
Jahrhunderts vollständig von ihnen unterworfen. Im Jahre 416 bil
det sie keine selbstständige Gemeinde mehr. Den Antiaten wurden
ihre Schiffe, mit denen sie Seeraub trieben, genommen. Es ward
ihnen verboten das Meer mit bewaffneten Fahrzeugen zu befahren.
Ihre Stadt wurde zu einer römischen Hafencolonie gemacht und erhielt
demnach 300 Colonen 1 )-
Aber das was aus dem Inhalt des Vertrags zu schliessen ist,
wird auch durch ausdrückliche Berichte der Geschichtschreiber
bestätigt. Diodorus von Sicilien, der hier wahrscheinlich seinen
Landsmann Timäus von Tauromenium vor sich gehabt hat 2 ), gibt an,
dass zuerst unter dem Consulate des M. Valerius und M. Popillius
(im Jahre 406 der Stadt) von den Römern mit den Karthagern ein
Vertrag geschlossen worden sei 3 ). Livius 4 ) bestätigt, dass in dem
angegebenen Jahre zwischen Rom und Karthago ein Bündriiss
geschlossen worden, wenn er auch nicht beifügt, dass es das erste
gewesen, so ist es doch daraus zu schliessen, dass bei ihm keine
frühere Erwähnung von einem Vertrage zwischen den beiden Staaten
vorkommt.
Welcher Quelle Livius seine Angabe entnommen hat, kann
kaum mit Zuverlässigkeit ermittelt werden, sicher nicht aus Poly-
hius, der mit ihm in Widerspruch steht, vielleicht aus dem Aunalen-
schreiber Fabius Pictor, wohl nicht aus den Origines des Cato,
deren Benützung durch Livius sich nicht nachweisen lässt. Orosius
*) Das Nähere ist nachzusehen hei Niebuhr R. G. III. 164. Schwegler R. G. II.
S. 705 1F. u. 721. Mommsen (Röm. Chronol. S. 273) bemerkt sehr richtig: „Wir
wenigstens würden aus der Urkunde (des karthag. Vertrages), wie sie uns vorliegt,
nur entnehmen, dass sie älter sein muss als 416, weil Antium darin noch als
selbstständige Gemeinde vorkommt.“
2 ) Mommsen meint, Diodor habe seine Angabe ohne allen Zweifel aus Fabius
Pictor entnommen. Diese Ansicht dürfte nicht richtig sein. Dieser Annalen
schreiber liegt doch sonst den Angaben des Diodor über die römische Geschichte
nicht zu Grund. Schon die chronologische Zusammenstellung von dem athenien-
sischen Archonten und den römischen Consuln mit der Olympiadenrechnung bei
Diodor deutet auf seine Quelle Timäus, in dessen Werk solche vorkam.
3 ) Diodor. Sic. XVI. 69. 'En' äp/ovros d’ 'A&vjvrj&c Aöxiaxou, c Pcu/iacoc xa-
T£(TT7](Tav ÜTZ&TOöq M&pXOV OdciAiptOV Xdl MäpXOV TIoTTL^XlOV — £7TC dk
toutüjv , f Ptofiaiois fikv 7tpb<z Kap%7)üovioiq tzpCbz ov crüv#rjxai iyivovro.
4 ) Liv. VII. 27. Eodem anno (M. Valerio Corvo et M. Popillio Laenate II1I Coss.)
cum Karthaginiensibus legatis Romae foedus ictum, quum amicitiam ac societatem
petentes venissent
30
446
Asch ba ch, Über die Zeit des Abschlusses
der dem Livius häufig folgt, aber auch noch andere ältere Quellen
vor sich gehabt hat, kaum jedoch den Fabius Pictor selbst einge
sehen haben dürfte*), gibt hei demselben Jahre 406 der Stadt noch
den Zusatz, dass es das erste Bündniss gewesen, welches Rom
mit den Karthagern geschlossen 2 ).
Dass die Freundschaftsverträge Roms mit Karthago schon vor
Polybius den Annalisten oder Geschichtschreibern bekannt gewesen,
dürfte nicht zu bezweifeln sein. Es ist irrig, wenn behauptet wird,
Polybius habe sie zuerst aufgefunden und sie in seinem Werke
benutzt. Zwischen dem zweiten und dritten punischen Kriege hatten
allerdings nach der Äusserung des Polybius 3 ) die kundigsten Staats
männer in Rom und Karthago keine Kenntniss von dem Inhalt dieser
Verträge, die kein praktisches, sondern nur noch historisches
Interesse hatten. Auch Philinus, der sicilianische Geschichtschreiber,
der zu Gunsten der Karthager schrieb, erwähnt sie nicht; es ist
dieses Stillschweigen weniger seiner Unkenntniss zuzuschreiben, als
vielmehr seiner Absicht nur die Kämpfe und kriegerischen Beziehun
gen der Karthager zu den Römern zu beschreiben. Wenn Fabius
Pictor schon den Vertrag vom Jahre 406 d. St. anführen konnte,
so musste derselbe vor Polybius in Rom nicht unbekannt gewesen
sein.
Mommsen meint, die Verträge seien bei den langen diplo
matischen Verhandlungen die dem dritten punischen Krieg voraus
gingen, zum Vorschein gekommen, und damals habe es sich eben
gezeigt, dass die leitenden Staatsmänner im römischen und kartha
gischen Senat sie vorher nicht gekannt hätten. Wahrscheinlich habe
sie Cato an’s Licht gezogen, indem er in den römischen Archiven
nachgeforscht, um die Beweise von den karthagischen Friedens-
*) Wie aus der Stelle bei Oros. IV, c. 13 (in utriusque consulis exercitu oelingenta
millia armatorum fuisse referuntur, sicut Fabius historicus, qui eidein bello inter-
fuit, scripsit) zu schliessen wäre, falls diese nicht etwa aus Eutrop. lib. IJI. oder
einem andern spätem Schriftsteller entnommen ist.
2 ) Oros. lib. III. c. 7. Numerandum etiam inter mala censeo primu m illud ictum cum
Carthaginiensibus foedus, quod iisdem temporibus (M. Valerio Corvino Consule)
fuit. — Anno siquidern ab urbe condita CCCCI1 legati a Carthagine Romam missi
sunt, foedusque pepigerunt.
3 ) Polyb. III. 26, 2. Tavra — yjfiag ert xal 'Pajjiacaiv xal Kap^ydovccuv
oc npeaßuTaTot xal ßdXcara doxouvTeg izepl Ta xowä crnoudd&iv rjy-
vdouv.
der zwischen Rom und Karthago errichteten Freundschaftsbündnisse.
briichen beizubringen. Denn er gab den Karthagern Schuld, bis zum
Jahre 336 d. St. (218 v. Chr.) sechsmal die Verträge mit Rom
gebrochen zu haben *). Er musste daher nothwendig sich um den
nähern Inhalt der älteren Verträge bekümmern. Mommsen meint,
Polybius habe dieselben entweder durch mündliche Mittheilung Cato’s
oder eines dritten kennen gelernt, oder auch, sie herüber genom
men aus Cato’s Geschichtswerk.
Indem Livius theilweise dem Polybius, theihveise dem Fabius
Pictor (oder einer andern alten Quelle) folgte, gerieth er in Wider
spruch mit sich selbst und mit der Geschichte. In Bezug auf den ersten
Vertrag hielt er sich an den römischen Annalenschreiber, und erwähnt
zuerst eines karthagischen Vertrages beim Jahre 406 der Stadt; da
er jedoch den mit Stillschweigen übergangenen Vertrag des Polybius
vom Jahre 243 d. St. auch zählt, so musste ihm der zweite Vertrag,
der im Jahre 448 d. St. geschlossen wurde, der dritte, und der
vom Jahre 473 in der Zeit des Pyrrhus errichtete, der vierte sein 3 ).
Die Ergebnisse unserer Untersuchung sind in der Kürze folgende:
Zwischen Rom und Karthago wurden vor der Zeit der punischen
Kriege nicht vier, sondern nur drei Verträge geschlossen.
Der früheste fällt nicht in das erste Jahr der Republik, sondern
fast anderthalb Jahrhundert später, in’s Jahr 406 der Stadt. Die
*) Mommsen fügt eine gelehrte Note bei, die wir hier vollständig mittheilen: „Cato
Orig. lib. IV. bei Nonnius v. duodevicesimo p. 100 M.: Deinde duodevicesimo
(vielmehr duo et vicesimo) anno post dimissum bellum, cpiod quatuor et viginti
annos fuit, Carthaginienses sextwm de foedere decernere (vielmehr decesse e).
Als fünfter Friedensbruch galten ihm wahrscheinlich die Vorfälle, die 517 Sar
diniens Abtretung herbeiführten: als vierter die Kriegserklärung 490, als dritter
der Versuch auf Tarent 482. Die zwei ersten weiss ich nicht zu bestimmen. Für
die Zahl und Folge der Bündnisse, für die man die Stelle oft benutzt hat, folgt
daraus gar nichts. u Wir können diesem nur beistimmen.
2 ) Mommsen bemerkt sehr richtig: „Der Vorschlag, Livius dadurch mit sich selbst in
Einklang zu bringen, dass man die diplomatische Gratulation der Karthager im J.411
(Liv. 7. 43) als zweites Bündniss zählt, setzt nur eine Nachlässigkeit an die Stelle
der andern, da Livius doch dies hätte sagen müssen; vor Allem aber ist es unmetho
disch, da der Widerspruch zwischen Fabius und Polybius constatirt ist, die unver
kennbaren Spuren desselben bei Livius wegzudeuten.“ — Mommsen behauptet
ferner, es hätten sich zu Cato’s Zeit im römischen Bundesarchiv nur zwei Verträge
mit Karthago gefunden, die dem Jahr 475 vorausgingen: das passe sehr gut, wenn
dies der dritte, nicht aber wenn es der vierte Vertrag mit Karthago gewesen,
namentlich da ja nicht etwa der erste, sondern entweder der zweite oder dritte
von den 4 Verträgen gefehlt haben sollte.
448 As chb ach, Üb.d.Zeit d. Abschi.d. zw. Rom u, Karthago erricht. Bündnisse.
Datirung des Polybius ist in doppelter Beziehung eine unrichtige und
irrige. Die Quelle des Versehens ist eine nachweisbare. Damit fallen
aber auch alle Folgerungen, welche aus dem Inhalte des Vertrags
die neuesten deutschen Geschichtschreiber Roms über dessen frühe
bedeutende Handelsstellung und Seemacht wie auch über seine in
der tarquinischen Zeit schon bestandene Hegemonie in Latium gezo
gen haben.
Der zweite Vertrag gehört in das Jahr 448 der Stadt, nicht
wie Grote meint, in eine frühere Zeit.
Der dritte ist in der Zeit des Pyrrhus, aber nicht vor der
Schlacht bei Asculum, sondern bald nachher, vor seinem Übergang
nach Sicilien, noch im Jahre 475 der Stadt, abgeschlossen worden.
Dr. Fr. Maassen, Paucapalea.
449
Vorgelegts
Paucapalea.
Ein Beitrag zur Llterargcschichfe des canonisckcn Rechts im Mittelalter.
Von Dr. Friedrich IHaassen,
ord. Professor des Rechts in Innsbruck.
Im Juniheft des Jahrganges 18S7 dieser Sitzungsberichte ist
eine Abhandlung von mir veröffentlicht: Beiträge zur Geschichte
der juristischen Literatur des Mittelalters, insbesondere der
Becretistenliteratur des XII. Jahrhunderts. Ich habe seit dem Er
scheinen derselben meine Studien auf demselben Gebiet fortgesetzt
und bin zu dem Entschlüsse gelangt, was ich auf diesem Wege
bereits gefunden habe und noch finden werde, zu einem Ganzen zu
verbinden. Es gilt einen ersten Versuch, die Geschichte des cano-
nischen Rechts, seiner Quellen und seiner Literatur, von Gratian’s
Decret bis zum Ausgang des Mittelalters in zusammenhängender und
zugleich ausführlicher Darstellung zu behandeln.
Jede grössere Arbeit auf einem bisher nur wenig angebauten
Gebiet der Wissenschaft erfordert mehr oder minder Specialunter
suchungen, die für das Ganze lediglich die Bedeutung von Vorar
beiten haben. Von den Fragen, mit denen sich diese Untersuchungen
beschäftigen, ist dann wohl die eine oder die andere geeignet, zum
Gegenstände einer selbstständigen Behandlung gemacht zu werden.
In diesem Sinne bitte ich die nachfolgende Arbeit aufzufassen. Ich
habe geglaubt, dass es der Mühe werth sei, dem Andenken des
ältesten Decretisten, des einzigen unmittelbaren Schülers von Gra-
tian, von dem wir wissen, eine besondere Aufmerksamkeit zu
schenken. Nicht blos gewährt es einen grossen Reiz, eine in ihrer
Art bedeutende und folgenreiche geistige Richtung in ihrem Ur
sprünge aufzusuchen; es ist ohne das auch kein rechtes Verständniss
ihrer späteren Schöpfungen denkbar. Wer von den Arbeiten der
450
Dr. F r. M a a s s e n
ältesten Glossatoren des Decrets nichts kennt, der hat auch keinen
genügenden Maassstab für die Beurtheilung der Glossa ordinaria.
Yon der Person des Paucapalea lässt sich die Frage der Paleä
nicht trennen. Es hat mir aber zweckmässig geschienen, ihrer
Betrachtung eine besondere Abhandlung zu widmen. Bei den Paleä
handelt es sich nicht mehr um die Wirksamkeit des Paucapalea
allein. Das ist Ein Grund. Was mich aber vorzugsweise dazu be
stimmt hat, mein Thema in zwei gesonderten Abtheilungen zu behan
deln, ist die Rücksicht auf die verschiedene Natur der Gegenstände.
Der vorliegende Aufsatz ist wesentlich ein Beitrag zur Literar-
gescliichte, während der zweite, demnächst folgende, unter den
Gesichtspunct eines Beitrages zur Geschichte der Quellen’fällt.
Literatur.
(M. SartietM. Fattorini) De Claris Archigymnasii Bononiensis Profes-
soribus a saec.XI. usque ad saec. XIV. T. I. P. I. ßonon. 1769. p. 281. sq. *)•
J. G. Bickeli De Paleis, quae in Gratiani Deereto inveniuntur, disqui-
sitio historico-critica. Marb. 1827. (Festprogramm.)
G. Phillips Kirchenrecht B. 4. S. 133 fg., S. 167.
1. Es sollen zuerst die Zeugnisse welche sich auf die Person
und die Wirksamkeit der Paucapalea im Allgemeinen beziehen, ange
führt werden. Die meisten derselben finden sich in bisher unbekann
ten Werken. Hier genügt natürlich die blosse Mittheilung nicht. Um
den Werth einer Nachricht beurtheilen zu können, muss man ihren
Urheber, oder doch Zeit und Umstände, unter denen sie entstanden
ist, kennen. Alles aber, was nicht unmittelbar mit diesem Zweck in
Verbindung steht, ist von der nachfolgenden Untersuchung über die
hier in Betracht kommenden Werke ausgeschlossen.
1. Rolandus. (Alexander III.)
2. Der früher dem Kloster Weingarten gehörige Cod. H. 71.
der königlichen Handbibliothek zu Stuttgart, saec. XII., membr.,
kl. Fol., enthält auf den ersten 34 Blättern eine Arbeit über Gra-
tian’s Decret mit Ausschluss der Pars III., überschrieben: „Incipit
eximium perpulchrum Stroma Rolandi ex Decretorvm corpore
i ) Die vor S a r t i fallende Literatur ist ganz unbrauchbar. M. s. u. i$. Ul.
P a u c a p a
e a.
4SI
carptum“. Anfang der Vorrede: „Quadrificlo ciborum genere tri-
partitum hominum genus pius pater in mensa propositionis
satiare cupiens“. Schluss des Werkes: „quamvis patre contra-
dicente fuerit traducta. Et haec dicta sufficiant“.
Dasselbe Werk ohne die Vorrede und die Pars I., welche
letztere übrigens lediglich in einem kurzen Inhaltsverzeichnisse zu
den einzelnen Distinctionen besteht, findet sich in dem ebenfalls aus
Weingarten stammenden Cod. H.72. derselben Bibliothek, saec.
XIII., membr., kl. Pol. Anfang auf der inneren Seite des Vorder
deckels : „Quidamhabens filium“. Schluss Fol. 57. wie in Cod. H.71 2 ).
In Cod. H. 72. stehen Fol .57'.—70. und Fol. 118'.—121. von
gleichzeitiger Hand Quästionen aus dem canonischen Recht. In einer
derselben mit dem Anfang: „Quidam juvenis nobilem quandam“
wird auf die Summa eines Magisters Rolandus verwiesen.
Es heisst hier nämlich:
„Primum genus affinitatis constituit vir cum consanguini-
tate uxoris suae et e converso ubi [\. ut]
reperiri potest in summa magistri rolandi, ubi tractat
de tribus generibus affinitatis“.
Wenn wir damit folgende Stelle zu C. XXXV. in dem als
Stroma Rolandi ex Decretorum corpore carptum bezeichneten
Werk vergleichen:
„Affinitatis genera, i. e. maneries, tria esse dicuntur . .
Primum genus affinitatis vir cum uxoris suae
consanguineis constituit et e converso
so kann kein Zweifel sein, dass die in jener Quästio genannte Summa
des Magisters Rolandus und dieses Stroma identisch sind.
3. Nachdem dies vorausgeschickt ist, soll nunmehr diejenige
Stelle aus der Summa des Magisters Rolandus, auf die es für den
gegenwärtigen Zweck allein ankommt, folgen.
2 ) Von diesen beiden Stuttgarter Hss. hat zuerst B icke II in der oben angeführten
Schrift Kenntniss gegeben. Ich habe sie durch die Güte des Vorstandes der genann
ten Bibliothek, Herrn Hofrathes Dr. KI um pp, hier in Innsbruck benutzen dürfen. —
Einige Wochen nach der Vollendung dieses Aufsatzes sah ich noch ein drittes
Exemplar, mit der Stuttgarter Hs. H. 72. übereinstimmend, in der Sammlung Sr.
Excel!, des Herrn Ministers v o n Savigny. (Cod. ms. 14., membr., 4°., saec. XIII.)
Auf der innern Seite des vordem Einbanddeckels steht: „Hie codcx est monasterii
sanctissimi Johannis Baptiste in Rebdorff canonicorum Regulariinn ordinis sancti
Autjustini Eistetensis dyocesis“.
452 Dr. Fr. M a a s s e n
Rol. in c. 13. C. XXXII. q. 1. Dict. Grat.: „Hane ceteras-
que historias in Rationibus p aucae paleae diligenter
legendo reperies
Seinem besonderen Inhalt nach kommt dieses Zeugniss erst
weiter unten in Betracht, wo von den Schriften des Paucapalea
die Rede sein wird. Hier ist es angeführt wegen seiner Bedeutung
für die Zeitbestimmung.
Es lässt sich nämlich zeigen, dass der Verfasser jener Summa
zum Decret, der Magister Rolandus, kein anderer ist, als Rolandus
Bandinellus, der unter dem Namen Alexander III. im
Jahre 1159 Papst wurde. Ich will die Gründe kurz zusammenstellen.
4. Dass Alexander III. in Bologna Theologie gelehrt hat,
wissen wir aus Huguccio.
Hug. in c. 31. C. II. q. 6. Dict. Grat. verb. anno incar-
nationis MC V.:
„Hinc potest colligi, quantum temporis effluxerit, ex qm
liber iste conditus est. Sed credo, liic esse falsam liier um;
nee credo, quod tantum temporis effluxerit, ex quo liber iste
compositus est; cum fuerit compositus domino Jacobo Bono-
niensi jam docente in scientiu legali, et Alexandro ter-
tio Bononiae residente in cathedra magistrali
in divina pagina, ante apostolatum ejus“ 3 ).
Robert de Monte berichtet, dass er sich auch mit der Bear
beitung des canonischen und römischen Rechts beschäftiget habe.
Roberti de Monte Cronica a. 1182:
„Anno superiori 1181. obiit Alexander papa tertius; ad
cujus litteraturam pauci de predecessoribus ejus infra cen
tum annos attigerunt. Fuit enim in divina pagina preceptor
maximus, et in decretis et canonibus et in Romanis legibus
precipuus. Nam multas questiones difficillimas
et graves in decretis et legibus absolvit et
enucleavit“ 4 ).
Gervasius Dorobornensis setzt ihn mit Gratian’s Decret
in Verbindung.
3 ) So in zwei von Savigny (Gesch. B. 4. S. 141) und vier von mir verglichenen
Handschriften. Sarti, der eine vaticanische Handschrift benutzt hat, liest P. I-
p. 264. „episcopatum“ statt „apostolatum“, p. 46. dagegen ebenfalls „apostolatum“.
Wahrscheinlich ist also das erstemal ein Schreibfehler Sarti’s unterlaufen.
4 ) Pertz Scriptt. T. VI. p. 531.
■
P a u c a p a 1 e a.
453
Gervasii Dorobornensis actus pontificumCantuariensium:
„Tune leges et causidici in Angliam primo vocati sunt.
Quorum primus erat Magister Vacarius. Hic in Oxonefordia
legem doeuit, et apud flomam 5 ) magister Gracia-
nus et Alexander qui et Rodlandus in proximo
futurus canon es c ompilavit“ 6 ).
Bis zum Entstehen der Schule der Canonisten in Bologna hatten
die sacri canones einen Zweig der Theologie gebildet 7 ). Ihre Ab
scheidung von der Theologie und die Begründung des canonischen
Rechts als einer selbstständigen juristischen Disciplin ist natürlich
nicht sofort mit dem Erscheinen von Gratian’s Decret eine vollendete
Thatsache gewesen 8 ). Die ersten Lehrer des canonischen Rechts
in Bologna sind ohne Zweifel Theologen gewesen. Die schriftstel
lerische Thätigkeit eines Lehrers der Theologie auf dem Gebiet des
canonischen Rechts kann daher für jene Zeit am allerwenigsten
als etwas Auffallendes gelten. Für Alexander III. wird diese That
sache durch die angefüh rten Zeugnisse zur Gewissheit 9 ).
5. Es käme jetzt noch darauf an, einen Beleg dafür zu finden, dass
der MagisterRolandus, derVerfasser der Summa über Gratian’s Decret,
auch Lehrer der Theologie gewesen ist. Durch folgende Stelle der Summa
zum Tractatus dePoenitentia wird auch dies ausser Zweifel gesetzt:
„Tertio quaeritur, utrum sola contritione cor dis et secreta
satisfactione absque oris confessione possit Deo satisfieri.
Verum pro sui prolixitate ejusque quoad Causarum tractatum
inutilitate eam ad praesens dimittimus atque Sententiis
inserendam et pertractandam reservamus.“
Dem Verfasser scheint es nicht zweckmässig, den Tractat über
die Busse in einem canonistischen Werke zu erläutern; erbehält
sich diese Erläuterung für die Sententiae vor.
5 ) Sollte statt „Romani“ nicht zu lesen sein „Bononiam“ ?
6 ) Hist. Anglicanae Scriptt.X. col. 1G6S. Man vgl. Savigny B. 4. S. 412 fg., Wen ck
Magister Vacarius. Lips. 1820. p. 10. sq.
7 ) Man vgl. Sarti P. I. p. 247., Savigny B. 3. S. S14.
8 ) Eine in Cod. lat. M o n. 18467. erhaltene Vorrede einer Summa über Gratian's
Decret beginnt so: „Inter cetera.s theologiae disciplinas sanctorum patrum decreta
et conciliorum statuta non postremum obtinent locum“. (M. s. u. Beil. II.) Hier wird
also das canonische Recht noch zur Theologie gerechnet.
9 ) Man vgl. noch Sarti P. II. p. 3. und Reuter Geschichte Alexander’s III. und
der Ki rche seiner Zeit. Berlin 1845. S. 45. Für die Vorgeschichte des Papste*
bietet das zuletzt genannte Buch wenig.
454
Dr. F r. M nassen
Im 12. Jahrhundert ist der Name Sententiae, den schon ein
theologisches Werk des heil. Isidor führt, ein technischer Titel
für eine bestimmte Art theologischer Schriften. Die Summa Sententi-
arurh Hugo’s von S. Victor und der Liier Sententiarum des
Petrus Lombardus gehören zu den berühmtesten Stücken der
theologischen Literatur dieser Zeit.
Ohne Frage gibt sich daher der Magister Rolandus durch jene
Bemerkung als einen Theologen zu erkennen.
Beides ist demnach gewiss: 1. dass Rolandus Bandinellus,
später Alexander III., nicht blos Lehrer der Theologie, sondern auch
canonistischer Schriftsteller, und 2. dass der Magister Rolandus, der
Verfasser der erwähnten Summa des Decrets, nicht blos Canonist,
sondern auch Theologe gewesen ist 9 “).
6. Im Jahre 1159 ist Alexander III. Papst geworden. Allerdings
hat es manche Päpste gegeben, die noch als solche fruchtbare Schrift
steller gewesen sind. Innocenz IV. hat sein berühmtes canonistisches
Werk, den Commentar zu Gregor’sIX. Decretalensammlung, verfasst,
als er bereits die päpstliche Würde bekleidete. Hätte aber Ale
xander III. als Papst diese Summa geschrieben, so würde er in dem
Titel und in späteren Anführungen, z. B. in den oben erwähnten
Quästionen, und bei Stephan von Tournai, bei dem er häufig vor
kommt 10 ), nicht Rolandus, sondern mit dem Namen den er als Papst
führte, genannt sein. Um ihn für den Verfasser der Summa halten zu
können, muss sie also vor dem Jahre 1159 geschrieben sein.
Ein Grund der uns anzunehmen nöthigte, oder es auch nur
wahrscheinlich machte, dass die Schrift nach diesem Jahre verfasst
sei, ist nicht vorhanden. Folgende Umstände machen ihr hohes Alter
gewiss: 1. Es wird keine einzige nachgratianische Decretale in ihr
citirt. 2. Sie fällt vor die Summa Stephan’s von Tournai, die
9 *) Nachdem dieser Aufsatz bereits vollendet und abgeschiekt war, fand sich auch dafür
der Beweis, dass der Canonist Rolandus, wie der Theologe, in Bologna gelehrt hat.
Auf der königl. Bibliothek zu B e rli n ist eine Handschrift der Summa Stephan’s von
Tournai zum Decret mit Glossen (Cod. ms. lat. 4°. 193., membr., saec. XIII.).
Stephan bemerkt zu c. 8. C. I. q. 3., dass die Rubrik dieses Capitels falsch sei. Dazu
steht am Rande folgende Glosse: „Uncle mayr. rol. bononie eam emendavit, apponens
hanc seil.: de eodem u .
10 ) In Cod. lat. Mon. 17162. wird „May. Ro. u sehr häufig angeführt; in den anderen mir
bekannten Handschriften des Stephanus steht statt dessen regelmässig, aber nicht
immer, „quidam“. Einmal ist in der erwähnten Münchner Handschrift „M. ro-
lando“ ausgeschrieben, in Cod. Bamb. B. III. 2J. einmal „rollandus“.
Paucapalea.
455
früher als die des Johannes Faventinus verfasst ist 41 ). 3. Sie
citirt die Capitel des Decrets regelmässig mit Zahlen 12 ). Dies kann
offenbar nur zu einer Zeit geschehen sein, da die Anzahl der Capitel
einer Distinctio oder Quästio nicht schon durch die Aufnahme von
Paleä in den Text eine sehr verschiedene in den Handschriften
geworden war.
Nach allem bin ich der Ansicht, dass die Autorschaft Alexander's III.
nur dann als zweifelhaft gelten könnte, wenn die Existenz eines
zweiten Rolandus bekannt wäre, den für den Verfasser zu halten
ebensowohl möglich wäre. Von einem solchen findet sich aber
keine Spur.
II. ßufiims.
7. Savigny hat in einer Note zum dritten Bande seiner Ge
schichte des römischen Rechts im Mittelalter ls ) aus einer Mainzer
Handschrift einer Summa zum Decret eine Stelle mitgetheilt, die
nicht unwichtige Aufschlüsse über den Paucapalea gibt. Diese Hand
schrift ist von mir zum Gegenstände einer näheren Untersuchung
gemacht worden 14 ), deren Ergebniss, so weit es hieher gehört, mit
getheilt werden soll.
Die ihrem wesentlichen Inhalt nach bereits bekannte Stelle
lautet auf Fol. 2. vollständig folgendermassen:
„Nihilominus sciendum, quod hoc opere scripto quidam
alius nomine paucapalea non minorem adliihens diligen-
tiarn ad decretorum int eilig entiam, quatenus certior posset
fieri assignatio contrarietatum et concordantia 15 ), partem
primam in centum et unam sive duas distinctiones divisit.
Secundam partem non distinxit, quia a magistro gratiano
sufficienter distincta est per causas, themata, quaestiones.
Tertiam in V distinctiones divisit. Nihilominus etiam quae-
11 ) M. s. meine Beiträge zur Geschichte der juristischen Literatur des Mittelalters, S. 31.
12 ) Davon wird in der Abhandlung über die Paleä ausführlicher die Rede sein.
t3 ) S. 51S.
14 3 Der Vorstaud der Mainzer Stadtbibliothek, Herr Dr. Külb, ist dem Wunsche, diese
Handschrift für einige Zeit an meinem Wohnort benutzen zu dürfen, in der freund
lichsten Weise entgegen gekommen.
15 ) Diese Stelle ist unverständlich. Der Sinn ergibt sich aus dem Vergleich mit der
unten §. 11. angeführten Stelle der Pariser Summa: Paucapalea hat Parallelstellen
an den Rand geschrieben. M. vgl. auch u. §. 38. fg.
456
Dr. Fr. M a a s s e n
dam decreta apposuit, quae, licet non sint minoris auctori-
tatis, quam alia hic posita, tarnen, quia a principali auctore
hujus libri non sunt posita, non leguntur“.
Diese Handschrift 16 ) die eher dem Anfang als dem Ende des
13. Jahrhunderts angehört, enthält auf 116 Pergamentblättern in
Fol. einen Commenlar über alle drei Theile von Gratian's Decret.
Die angeführte Stelle findet sich in der Vorrede die Fol. 1. mit
dem Satz beginnt: „Antiquitate et tempore prius est jus forense
et humanum quam jus ecclesiasticum et divinum“. Paucapalea wird
ausser an dieser Stelle in der ganzen Handschrift nur noch zweimal
erwähnt und zwar zur Dist. I. Von diesen Anführungen wird erst
weiter unten, bei den Schriften des Paucapalea, die Rede sein.
Der in dieser Handschrift vorliegende Commentar ist aber nicht
das Werk Eines Verfassers, sondern aus den Werken verschiedener
zusammengesetzt. Die Pars I., zu der auch die Vorrede gehört, ist von
Rufinus; sie endigt auf Fol. 37. mit den Worten: hule dicuntur
pragmaticae sanctiones, i. e. imperiales constitutiones“. Die Pars II.,
Fol. 37. —107.,ist die Summa Stephan’s von Tournai zu diesem
Abschnitt von Gratian’s Decret. Diesen nicht auch für den Verfasser
der Pars III. zu halten, liegt kein Grund vor, wenn es sich zur Zeit
auch nicht mit Gewissheit behaupten lässt 17 ). Rufinus kann nicht
der Verfasser sein, da er einmal in einer Weise erwähnt wird, welche
die Annahme, dass er sich selbst redend einführe, ausschliesst ls ).
Für den gegenwärtigen Zweck kommt indess nur der Commen
tar zur Pars I. in Retracht.
8. Dass Rufinus eine Summa de decretis geschrieben habe,
wussten wir schon aus einem uns erhaltenen Rücherverzeichnisse des
12. Jahrhunderts 10 ).
16 ) Auf dem Einband steht die Nummer 52.
17 ) In den beiden Handschriften der Summa des Stephanus, Cod. lat. Mon. 17162.
(Seheftl. 162.) und Cod. B ainb. B. III. 21., fehlt die Pars III. gänzlich. In Cod. lat.
Mon. 14403. (Rat. S. Eni. 403.), der ebenfalls die Summa des Stephanus zu den
beiden ersten Theilen von Gratian's Decret enthält, steht vor dieser die aus Cod.
lat. Mon. 3873. (Aug. eccl. 173.) und Cod. B a m b. P. II. 27. bekannte Summa
des Johannes Faventinus zur Pars III.
18 ) Es heisst nämlich zu c. 73. Dist. II. de consecr: „Hoc loco quidam praeceptoruin
nostrorum 3 inter ccclesiasticos nostri tcmporis viros mcrito connunicrandus,
rufinus, inquam, vir clarissimus, ita scripsit: vcrba ista magis, fatcor per veri-
tatem mcam, ad terrorein admirationis, quam ad diligentiam expositionis invitant“<
* 9 ) Cf. Sarti P. I. p. 287. Not. e.
Paucapalea.
457
Es ist jetzt der Beweis zu führen, dass der in dem Mainzer Manu-
script enthaltene Commentar zur Pars I. ein Theil dieses Werkes ist.
Erstens. In der Einleitung zur Dist. LX. wird die Frage aufgeworfen,
wie es komme, dass zu Bischöfen Personen wählbar seien, die einen ge
ringeren Ordo hätten, als ihn die Wahl zum Archipresbyterat und Archi-
diakonat erfordere, da doch die bischöfliche Würde eine viel höhere sei.
„Quaeritur aut cm hic, cum episcopalis dignitas longe
major sit archipresbyteratu vel archidiaconatu, cur ex in-
ferioribus gradibus eligi valeat magis episcopus quam arclii-
presbyter vel archidiaconus?“
Diese Frage wird folgendermassen beantwortet:
„Ad quod sciendum, quod ecclesiastica dignitas alia est
amministrationis, alia auctoritatis. Item amministratio alia
spiritualium, alia saecularium; spiritualium amministratio
sicut arcliipresbyteri et decani, saecularium ut archidiaconi.
Dignitas vero auctoritatis est episcopi. Dignitas ergo ammi-
nistrandi in ipsa clectione plene traditur. Cum enim archi
diaconus eligitur, plene instituitur, et instituendo eligitur;
sic de decano, sic de archipresbytero exaudiendum est et de
ceteris liujusmodi
Cum autem quis in episcopum eligitur, non continuo plenam
potestatem adipiscitur, sed usque in consecrationem differtur,
et ideo tune satis est, si etiam ex subdiaconatu eligatur.“
Die hier entwickelte Ansicht wird aber von Huguccio zu c. 2.
Dist. ead. als die des Rufinus bezeichnet. Es heisst hier:
„Nonne episcopalis dignitas multo major est quam arclii-
diaconatus vel decanatus et liujusmodi. Cur ergo ex inferi-
oribus gradibus potest eligi episcopus, quia ex subdiaconatu,
quam archidiaconus vel decanus et liujusmodi? Rufinus
suam voluit assignare rationem, seil,: quia dignitas istorum
consistit tantum in administratione, et talis dignitas plene
confertur in electione; cum enim tales eliguntur, institu-
untur, et cum instituuntur, eliguntur, quod non est in epis-
copo. Sed hoc falsum est“ rel.
Zweitens. In einer Innsbrucker Handschrift von Gratian's
Decret 30 ) kommen zur Pars I. zwei Glossen vor mit den Siglen r u,R.
ao ) Cod. Oenip. 90. M. s. über diese Handschrift meine Beiträge S. 10 fg.
458
Dp. Fr. M a a s s e n
Das in diesen Glossen Gesagte findet sich nicht blos dem Sinne nach,
sondern wörtlich in der Mainzer Summa wieder, wie folgende Zu
sammenstellung zeigt.
Glosse des Cod. Oenip.
c. 6. Dist. LXXXVI.:
„Infra Dist. LXXXV1II.
Episcopus iiullnm contra.
Sed aliud est nulla faciente
necessitate curam rei famili-
aris suscipere et lectionum
et orationum studio tepide
inhaerere, qiiod ibi interdici-
tur, aliud in necessitatibus
aliis subvenireet propter pro-
ximos contemplationis Studi
um temperare, quod hicprae-
cipitur. r.“
c. 23. Dist. XC1I1.:
„SupraD.XXI. Clericos 21 )
contra. Sed aliter se habet in
corpore, aliter in calice; crcdo
propter secretae rationis mi-
sterium. Cum enim calicem
sumimus, redemptionem ani-
mae nostrae designamus.Sedes
namque animae in sanguine
est. Cum vero corpus accipi-
mus, futuram nostri corporis
resurrectionem figuramus.
Quia ergo nunc misterio [\.
ministerio] praedicatorum et
Summa des Cod. Mogunt.
c. 6. Dist. LXXXVI.:
„Hoc caput videtur eicon-
trarium esse, quod alibi dici-
tur, infra D.
LXXXVIII. cap. Episcopus
nulla. Sed aliud est nulla
faciente necessitate curam rei
familiaris suscipere et lectio
num atque orationum studio
tepide inhaerere, quod ibi
interdicitur, aliud quibusdam
in necessitatibus subvenire et
propter proximos contempla
tionis Studium temperare,
quod hic praecipitur. “
c. 23. Dist. XCIII.:
„Mirum est, quomodo non
audeat sacerdos accipere ca
licem, nisi sibi diaconus tra-
dat, cum supra in XI. cap. ai )
dictum sit, quia diacones non
debent porrigere corpus Chri
sti sacerdotibus. Sed aliter se
habet in corpore, aliter in
calice; credo propter secre
tae rationis ministerium /l.
mysterium]. Cum enim cali
cem sumimus, redemptionem
animae nostrae designamus.
21 ) Gemeint ist e. 14. Dist. XCIII. Das Citat des Cod. M o g\ braucht kein Schreibfehler zu
sein. Die c. 7., 9., 12. Dist. XCIII. haben in den Ausgaben die Rubrik De eodem. Diese
Rubrik fehlt in den alten Handschriften sehr häufig und das Capitel ist dann mit dem
vorausgehenden verbunden. Auf diese Weise würde aber c. 14. = c. 11. sein. Wiedas
Citat in Cod. Oenip. entstanden ist, weiss ich nicht; c. 1. Dist. XXI. passt gar nicht.
F
ä
Paucapalea. 459
Seeles namque animae in san-
guiheest. Cum enim [\. vero]
corpus sumimus, futurum no-
stri corporis restaurationem
figuramus. Quia ergo nunc
mysterio [\. minister io] prae-
dictorum [\. praeclicatorum]
et baptistarum deus animas
redimit, recte non sine mini-
stro sacerdos calicem Mbit.
Qui [l. Quia] autem solum
sua virtute sine exteriori
alicujus hominis officio Cor
pora suscitabit, non imme-
rito ipso eodem sibi levante
corgus Christi accipit. “
In beiden Fallen bildet eine solutio contrariorum, eine Vereini
gung zweier scheinbar widersprechenden Stellen, den Gegenstand
der Erörterung. Der einzige Unterschied zwischen den Worten der
Glossen und denen der Summa besteht, abgesehen von einigen Vari
anten, darin, dass in den ersteren beidemal die widersprechende Stelle
blos citirt wird mit dem Zusatz contra, während in der letzteren der
Punct des Widerspruches selbst bezeichnet wird. Diese Abweichung
erklärt sich aus der verschiedenen Natur einer einzelstehenden Glosse
und eines zusammenhängenden Commentars 33 ). Wenn wir daher nicht
annehmen wollen, dass entweder der Verfasser der Summa zwei
fremde Glossen oder der Glossator mit der Sigle R zwei Stellen aus
einer nicht ihm gehörigen Summa wörtlich abgeschrieben habe, ohne
den Verfasser anzugeben — was doch ohne besondere Gründe nicht
zulässig erscheint —, so sind wir auch genöthigt, beide für eine und
dieselbe Person zu halten.
Möglich wäre es ja nun freilich noch, dass die Sigle R hier
auf einen andern Glossator als auf den Rufinus wiese, und dass
dieser Glossator ebenfalls eine Summa zum Decret verfasst hätte, in
der er die von Huguccio erwähnte Ansicht des Rufinus gleich
falls ausspräche. Wäre dem so, so könnte, das ist nicht zu leugnen,
baptiz cito rum [\. baptistarum]
deus animas redimit, recte
non sine ministro sacerdos
calicem Mbit. Quia vero solum
sua virtute sine exteriori ali
cujus officio corpora suscita
bit, non immerito ipso eodem
levante corpus Christi acci
pit. R.“
23 ) M. vgl. u. §. 39.
Sitzb. d. phii.-hist. CI. XXXI. Bd. III. litt.
31
460
Di'. F r. Maasse n
die in der Mainzer Handschrift enthaltene Summa zur Pars I. des
Decrets das Werk dieses Glossators sein. Aber was möglich ist,
das ist darum noch nicht wahrscheinlich.
9. Um indess von den Gründen welche für die Autorschaft des
Rufinus sprechen, keinen unerwähnt zu lassen, sei noch Folgendes
bemerkt.
Drittens. Johannes Faventinus hat in seiner Summa
ganze Distinctionen zum Theil aus dem in der Mainzer Handschrift
enthaltenen Commentar zur Pars I., zum Theil aus der Summa des
Stephan von Tournai wörtlich entlehnt, so dass nach einer
Stelle aus dem ersteren wieder eine aus der letzteren folgt, und
umgekehrt. Für die Pars II. ist Stephan von Johannes ebenso benutzt
worden, wie für die Pars I.. Liesse sich nun ein Commentar zur Pars II.
finden, von dem gezeigt werden könnte, dass er in gleicher Weise,
wie die Summa der Mainzer Handschrift, neben Stephan für die Parsl.,
für die Pars II. von Johannes Faventinus ausgebeutet wäre, so würde
man gewiss mit einigem Recht auf die Zusammengehörigkeit beider
Stücke schliessen dürfen.
Einen solchen Commentar zur Pars II., wenngleich unvollständig,
besitzen wir in derBambergerMiscellanhandschriftP. I. 11., membr.,
4°. 2S ) Er beginnt mit C. I. auf Fol. 147. und bricht ab auf Fol. 162.
zu C. XXIII. q. 6. Die Anfangs worte sind: „Conditio ecclesiasticae
religionis movetur circa tria“. Die sehr kleine Schrift gehört dem
13. Jahrhundert an.
Die Vergleichung lehrt, dass Johannes grosse Stücke bald aus
Stephanus bald aus dieser Summa wörtlich abgeschrieben hat.
Dass aber Rufin us der Verfasser ist, lässt sich durch die
Anführungen späterer zur vollkommenen Gewissheit bringen. Ich
stelle einige Belege zusammen.
Johannes Faventinus Summa des Cod. Itainb.
c. 4. C. XVII. q. 4.: c. 4. C. XVII. q. 4.:
„Quamvis magister R. di- „Sacrilegium aliquando
xerit, quod sive in persona s, committitur in ipsas ecclesias,
23 ) Unter anderen interessanten Werken enthält diese Handschrift auch die bisher
nur nach einer Ca ss ersehen Handschrift bekannte, in Böhmer’s Corp. jur.
can. abgedruckte dritte der Decretalensammlungen (sog. Casselana), die vor die
Sammlung Bernhardts von Pa via fallen. Auch das von Reimarus nach einer
Hamburger Handschrift herausgegebene Specvlum jurin canonici des Petrus
ß 1 e s e n s i s findet sich hier.
Paucapalea.
sive ecclesias, sive res eccle-
siasticas, sacrilegium commit-
titur, immunitas ecclesiae
violatur ei eadem poena debe-
tur; quod confirmare nititur
ex praesignato c. Joannis
papae et decreto Gregorii,
quod est supra C. XII. q. II.
c. VIII.“
Summa Decr. Cod. Bamii. I). II. 17. 34 )
c. II. q. ä.:
„Rufinus purgationem
dividitin vulgarem et canoni
cum. D e purgatione vul
gär i. Vulgaris est ferri can-
dentis et aquae ferventis et
frigidi contactus
De canonica
purgatione dicamus. De ca
nonica purgatione se-
cundu ni R u f i n u m. Int er-
dum accusati subest mala
fama, interdum non. Cum
subest, aut ex inimicorum
461
aliquando in personas eccle-
siasticas, aliquando in res
ccclesiarum
Denique, qui
sacrilegium committunt, sive
in personas ecclesiasticas,
sive in res ecclesiae, sive in
ipsa loca ecclesiae, pro emu-
nitate violata sunt mulctandi
poena XXX librarum argenti
purissimi
Si quis Johannis papae saepe
signatum cap. et decretum
Gregorii, quod est supra XII.
q. II. c. VIII. diligenter adver-
terit, videre poterit in illo c.
triplici sacrilegio pro violenta
j \. violata] emunitatepoenam
esse statutam“.
c. II. q. H.:
„Nota, quod purgatio alia
vulgaris, alia canonica: vul
garis, ut candentis ferri et
aquae ferventis
Sed cum canonica exigitur
purgatio, aliquando subest
mala fama, aliquando non.
Cum subest, aut inimicorum
confictione, aut ex verisimili
suspicione. lnde ~ 5 ) nulla
subest mala fama, nulla exi
gitur purgatio. Quo casu in-
telligitur illud VII. [\. VI.]
24 ) Membr., saec. XIII., 4°, 312 Seiten. Diese Summa ist von einem Deutschen
verfasst. Der Autor spricht von „nostra Germania“ (p. 129).
25 ) Johannes Faventinus, der im übrigen diese Stelle wörtlich entlehnt, hat:
„Si ilaque
31 *
462
Dr. F r. Maassen
confictione, aut ex verisimili
suspicione. Sic, cum nulla
subest mala fama, nulla exi-
gitur purgatio, qvo casu in-
telligitur illud VI. C. ult. q.
Cum mala fama subest, sed
ex aemulorum confictione,
nec tune inquirenda purga
tio, quo casu int eilig itur illud
Leonispapae: Auditum est
qualiter in me mali ho-
mines gravia“ rel.
Causae in ultima quaestione.
Si autem mala fama subest
ex inimicorum confictione,
non est exigenda purgatio,
infra e. quaestione: Audi
tum“ rel.
Glossa ordinaria
C. IX. q. 1. in summa:
„Dicit Jo. fa. et Rufinus,
quod, qui recipit ultimam
manus impositionem, i. e. or-
dinem episcopalem, in eccle-
sia, ordines confert, sed non
executionem ordinis ; si autem
extra, nihil confert, i. e. nec
ordinem, nec executionem,
cum tales nihil habeant, ar.
I. q. VI. D aib er tum“.
I. q. 1.:
„ Si vero ab haereticis
solummodo ordinentur, qui
ultimam manus impositionem
in ecclesiaacceperant, sacra-
mentum ordinis executionem
accipiunt
Item si ab illis haereticis or-
dinati fuerint, qui ultimam
manus impositionem non ac-
ceperint in ecclesia, Herum
ordinentur ut
hubes c. Lab. infra q. ult.“
In der zuletzt angeführten Stelle der Bainberger Handschrift
ist nach „sacramentum ordinis“ etwas ausgefallen, da die Worte,
wie sie hier stehen, keinen Sinn geben. Die Ergänzung ist aus Jo
hannes Faventinus möglich, der zu c. 17. q. ead. diese Stelle
unserer Summa wieder stark benutzt hat. Es heisst hier:
„Qui autem apud haereticos ordinati sunt ab his, qui
ultimam manus impositionem in ecclesia receperunt, vere
quidem sacramentum ordinis receperunt, sed executio
nem ordinis vel vir tut em sacr am ent i non accepe-
runt Si ab illis haereticis ordinati sunt, qui
ultimam manus impositionem non susceperunt, cum ad
Paucapale a.
463
ecclesiam reversi fuerint, ..... in ecclesia Herum ordina-
buntur ex novo et hoc est infra q. ult. c. D ai-
b er tum.“
Mit Hilfe dieser Stelle des Johannes ergänzt, enthält aber die
aus der Bamberger Handschrift angeführte Stelle eben die von der
Glosse nicht blos dem Johannes, sondern auch dem Rufinus zuge
schriebene Ansicht.
10. Durch die angeführten Thatsachen halte ich den Beweis
für geliefert, dass die in der Mainzer Handschrift enthaltene Summa
zum ersten Theil von Gratian's Decret den Rufinus zum Verfasser
hat. Mit diesem Ergebniss steht die in einer Formel dieser Summa
zu c. 2. Dist. LIV. sich findende Jahreszahl 1164 26 ) vollkommen
2<i ) „Actum puta in civitatc bononiensi, in ecclesia S. Petri XI. kal. maji anno domi-
nicae incarnationis MCLXIIII., praesidente in cathedra praedictac civitatis Ale-
xandro episcopo , indictione IIII. In Dci nomine Amen. Qui debitum sibi nexum
aut competens rclaxat servitium, praemium in futuro apud Deum sibi provenirc
non dubitet. Quapropter ego Jeremias in Dci nomine pro remcdio animac meae et
aeterna retributione in ecclesia S. Petri sub praescntia episcopi Mexandri et
sacerdotum ibi consistentium ac nobilium laicorum ante cornu ultaris istius ecclesiae
absolvo servum meum Johannem per haue cartam absolutionis et ingenuitatis ab
omni vinculo servitutis, ita ut ab hac die et dcinceps sit ingenuus et ingenuus perma-
ncat, tamquam si ab ingenuis parentibus fuisset procreatus. Eam pergat partem,
quam maluerit, vel quam ei canonica auctoritas per mittat, et sicut alii ingenui
vitam ducat ingenuam. Nullt autem heredum meorum nec cuiquam personae alii
quidquid debeat servitutis et libertatis obsequium, nisi soli Deo, cui omnia sub-
jecta sunt et pro cujus amore ipsum devotus ad ejus servitium obtuli. Peculiare
vero suum, quod dominus ei dederit, vel Deo auxiliante laborare potuerit, con-
ccssum in perpetuum habcat, ut inde faciat, quidquid sibi placucrit sccundum
ecclcsiasticas sanctioncs. Si vero , quod futurum esse non credo , ego ipse aut
aliquis heredum meorum, vel quaelibet opposita persona, contra hanc ingenuitatis
cartam venire tentaverit, aut eam quolibet modo infringere voluerit, inprimis iram
Dci incurrat et a liminibus sanctae Dei ecclesiae extraneus efficiatur, et insuper
cui litem intulit LX solidos componat, et quem repetit vendicare non valeat; sed
praesens ingenuitas mea et aliorum bonorum hominum manibus roborata, cum
astipulatione subnixa, in omni tempore maneat inconvulsa.“ Die vierte Indic-
tion passt nicht zu der Jahreszahl, und einen Bischof von Bologna mit Namen
Alexander hat es, soviel ich habe finden können, niemals gegeben. Dass aber
die Jahreszahl der Mainzer Handschrift die von dem Verfasser selbst geschriebene
ist, wird durch folgenden Umstand in hohem Grade wahrscheinlich. Bei Johannes
Faventinus findet sich dieselbe Formel. Die Bamberge r IIs. desselben hat aber
ebenfalls „MCLXIIII.“ Diese Übereinstimmung würde ein merkwürdiger Zufall sein,
wenn nicht beide, der Verfasser der in der Mainzer Hs. enthaltenen Summa und
Johannes Faventinus selbst diese Jahreszahl in die Formel geschrieben haben. Die
abweichende Lesart der Münchner Hs. des Johannes „MCLXIII.“ ist lediglich
ein Schreibfehler. — Nun wären, an und für sich betrachtet, drei Fälle möglich :
4(54
Di*. Fr. Maasse n
in Einklang. Rufinus wird in dem Verzeiclmiss der Decretisten
von Durantis zuerst aufgeführt 37 ). Ist er nun auch mit Gewissheit
nicht der erste Glossator des Decrets gewesen, so gehört er doch
zu den ältesten. Dass seine Summa in den sechziger Jahren des
zwölften Jahrhunderts verfasst ist, hat die grösste Wahrscheinlich
keit für sich.
Erstens. Der Verfasser der Mainzer Summa hat die Formel dem Johannes
entlehnt.
Zweitens. Beide haben unabhängig’ von einander diese Formel aus einer gemein
schaftlichen Quelle geschöpft.
Drittens. Johannes hat die Formel aus der Mainzer Summa.
Für die erste Annahme könnte man geneigt sein Folgendes geltend zu
machen. In der Formel des Johannes heisst der Bischof nicht Alexander, son
dern Victor. Ein Bischof von Bologna mit dem Namen Victor hat wirklich
existirt. Sein Episcopat fällt von 1104 bis 1129 (schon im 7. Jahrhundert
kommt ein Bischof Victor vor, an den hier natürlich nicht zu denken ist).
Johannes fand also, könnte man schliessen, eine Freilassungsformel aus der Zeit
dieses Bischofs (die vierte Indiction würde zu den Jahren 1111 und 1126 passen).
Er nahm diese Formel auf, indem er alles bis auf die Jahreszahl unverändert Hess.
Der Verfasser der Mainzer Summa veränderte dann bei der Aufnahme der Formel in
sein Werk den Namen Victor in den lingirten Namen Alexander. Gegen diese An
nahme spricht aber zweierlei. 1. Wenn wir annehmen , dass Johannes die Jahres
zahl veränderte, so dürfen wir auch nicht zweifeln , dass er die Zahl des
gerade laufenden Jahres gesetzt hat. Nun kommt aber bei Johannes noch
eine Formel vor, die in beiden Handschriften die Formel 1171 hat. (Meine Bei
träge S. 30.) Vollendet kann seine Summa also nicht sein vor diesem Jahre.
Dass er aber sieben Jahre an seinem nicht eben. umfangreichen Werk gearbeitet
habe, ist kaum vorauszusetzen. Entscheidend ist aber 2. dass die Priorität der
Mainzer Summa ausser allem Zweifel ist. Johannes hat, wie oben bemerkt ist,
viele Stellen wörtlich aus ihr entlehnt. Dass nicht das umgekehrte Verhältniss
Statt findet, ist desshalb gewiss, weil Johannes neben diesem Werk auch den
Stephanus benutzt hat. Hätte die Mainzer Summa den Johannes ausgeschrieben,
so müssten auf diesem Wege auch manche Sätze aus Stephanus in sie überge
gangen sein, was nicht der Fall ist.
Die zweite Möglichkeit ist die, dass der Verfasser der Mainzer Summa und
Johannes beide an einem dritten Ort diese Formel mit der Jahreszahl 1164 ge
funden haben, wobei es dann nur zweifelhaft bleiben müsste, ob in ihr der Name
des Bischofes Victor oder Alexander war. Dass der Sachverhalt dieser sei,
lässt sich apodictisch nicht bestreiten; für viel wahrscheinlicher halte ich aber
die dritte unter jenen Möglichkeiten: dass Johannes aus der Mainzer Summa,
wie so vieles Andere, so auch diese Formel entlehnte, indem er nur den Namen
des Bischofes veränderte.
27 ) Bei Savigny Bd. 3. S. 631.
P a u c a p a 1 e a.
465
III. Anonyme Summa zum Dccrct.
11. In der Summa des Cod. Bamb. P. II. 26. 3S ) findet sich zu
c. 1. Dist. I. das folgende schon hier zu erwähnende Zeugniss über
den Paucapalea:
„Distinctiones apposuit in prima parte et ultima pau
capalea, et concordantias aique contrarietates notavit in
margine sic: infra, supra, tali causa vel distinctione.“
DerName des Paucapalea kommt auch später noch häufig vor zs ).
Für die Bestimmung seines Verhältnisses zu den Paleä ist dieses
Werk die wichtigste Quelle.
Es soll jetzt angegeben werden, was sich über die persönlichen
Umstände des Verfassers und die Zeit der Abfassung dieser anonymen
Summa bestimmen lässt.
12. Dass der Verfasser, als er schrieb, nicht Lehrer in Bologna
war, erhellt aus dem Gegensatz, in den er sich zu den Magistri
bolonienses stellt 30 ).
Seine Studien scheint er aber in Bologna gemacht zu haben.
Er ist nicht blos mit den Lehrmeinungen der Bologneser, sondern
auch mit den Eigenthümliehkeiten des in der Lombardei herrschen
den Sprachgebrauches bekannt 31 ). Den Bulgarus führt er häufig an,
28 ) M. s. meine Beiträge S. ii. Not. 6. u. fg., S. 57., 62.; ferner meinen Aufsatz
in Bekker und Muther Jahrbuch des gern, deutschen Rechts, Bd. 11.1858.
S. 220. Not. 3., 4., S. 221., 235. fg.
29 ) Im Ganzen noch achtzehnmal.
30 ) Z. ß. zu c. 5. Dist. XVI. Dict. Grat. verb. sextae sgnodi : „Hie bolonienses
emendaverunt sextae sinodi. u — c. 18. C. XXXII. q. 7.: „Istud decretum non
fdel. non\ canonicac scriplurae obviarc videtuv et idcirco omnino reprobatur.
Mayr, tarnen bol. illud salvare volentes dicunt, decretum istud loqui de uiciato
[1. initiato] conjugio, non autem consummato, ut in eo casu, qui continere non
potest, nilbat in domino, si mutier incorrupta viro debitum persolvere non pote-
rit. Sed, sicut frequentius dictum, [add. ei\ contrahendo legitimae fuerint per-
sonae, quantumeunque deinceps contingat horribile, nullomodo potest primi thori
fides violari. u — C. XXXV. q. 2. u. 3. Einleitung: „ ... . Est autem quod-
dam decretum, quo consanguincorum conjunctiones prohibentur, quamdiu compu-
tari potuerit generatio. Sed m ay r i b o l. ita decretum interpretant, ut eo prohi-
beantur consanguineorum conjunctiones usque ad VII. gradum , quia ulterius,
computari cognatio non potest, quia ulterius non protenditur“. U. a. m.
31 ) Zu c. 3. Dist. X. verb. ut cum de causis Bei: „i. e. rebus Bei i. e. ad
Beum pertinentibus. Nee debes intclligerc causis, i. e. placitis, secundum
communem usum hu jus nominis causa; sed ubi dixi [dixit ?J causam, intelligere
466
Dr. Fr. Mutten
Die besondere Rücksicht welche der Verfasser auf die Ver
hältnisse der ecclesia Franciae oder Gallicana nimmt 33 ), weisen
auf Frankreich als das Heimathland. Erweiss, dass in französi
schen Bibliotheken, in Orleans und St. Denys, Exemplare des Codex
Theodosianus sind 33 ). Er ist mit französischen Sprüchwörtern be
kannt 3 »).
13. Aus zwei Äusserungen lässt sich aber noch näher auf
Paris als den Ort der Abfassung schliessen.
In c. 13. und 14. Dist. XII. wird bestimmt, dass sämmtliche
Kirchen einer Provinz die in der Metropolitankirche übliche Weise
bei der Abhaltung der Officien befolgen sollen. Zu c. 13. bemerkt die
Summa:
„Hoc decretum generale est, et bonum esset, si ita fieret,
nec tarnen cogit Parisiensem ecclesiam longas snas de-
serere consuetudines propter Senpnensem.“
Der Erzbischof von Sens war der Metropolit der Kirchenprovinz,
zu der die Pariser Diöcese gehörte. Die specielle Bezugnahme auf
die Gewohnheiten der Pariser Kirche fällt desshalb in’s Gewicht, weil
die Nichtbefolgung der erwähnten Vorschrift nicht blos in dieser, son
dern in vielen andern Kirchen üblich geworden war 35 ). Was aber ent
scheidet, ist die Weise der Bemerkung. Der Verfasser referirt nicht,
sondern setzt als bekannt voraus die Thatsache , dass in Paris die
Officien anders abgehalten werden als in Sens. Worauf es ihm ankommt,
ist nur, das Bedenken zu heben , ob diese Übung gegenüber der in
c. 13. und 14. ausgesprochenen Vorschrift rechtswidrig und darum
zu verlassen sei. Das hatte offenbar nur Sinn, wenn der Verfasser
pro re; sic enim eo utuntur L o ny ob ardi secundum gdioma linyuae suae. u —e. 102.
C. I. q. 1. verb. Trcmissem: „quarta [tertia ?J pars uncee vcl Solidi , quasi ter
mittitur ad faciendam suminam. Secundum quod l om bar di termissum ununi
dicunt 11 Ilor nummos. u
32 ) ß. in der Einleitung- zu C- II. q. 7.: „ ... . gallicana ecclesia in nulla causa
civili criminali recipit laicos adversus clericos“, und o. §. 14.
33 ) M. s. meinen Aufsatz bei ßekker und Muther a. a. 0. S. 221.
34 ) Zu c. 10. Dist. XXXVIII. verb. Quicunque stultus rel. : „quasi quod dicitur
francigena lingua: peccasti per tuam stultitiam, et tu emendaberis per tuum
sapere ic . Wie das Spruch wort im Französischen heisst, weiss ich nicht.
3o ) Hug-. in c. 14. Dist. cit. : „Quod in his duobus cap. habetur de consuetudine celc-
brandi officia, quae est in metropolitana ecclesia , ab omnibus servanda, non servatur
nunc praesertim in episcoputu et metropolitanatu Mcdiolancnsi et in multis aliis,
et sic contraria consuetudine derogatum est istis cap. lt
Päucapalea.
467
zunächst für Leser schrieb, die in Paris selbst sich aufhielten und
für die Verhältnisse der Pariser Diöcese ein besonderes Interesse
hatten.
Zu c. 1. Dist. XIV. Dict. Grat, bemerkt der Verfasser, dass die
Schlüsse der acht ersten allgemeinen Concilien unverbrüchlich zu
befolgen seien. Dagegen könne derPapst aus Gründen von den durch
seine Vorgänger erlassenen Gesetzen dispensiren, sie abändern und
aufheben. Ebenso die Pariser Kirche in Betreff des bei
ihr geltenden Herkommens.
„Octo enimconciliaet aliaadnotata, ut habemus in seq-uen-
tibus, immutilata servantur. Seel in ediis scripturis praede-
cessorum suorum papa potest dispensare, derogare vel ab-
rogare considerata ratione; similiter Paris iensis ecclesia
in suis consuetudinibus.“
Unter allen andern Verhältnissen, als wenn der Verfasser für
Pariser Leser schrieb oder vor Pariser Scholaren Vorträge hielt,
würde die specielle Hervorhebung der Pariser Kirche in diesem
Falle unerklärlich sein.
14. Für die Zeitbestimmung kommen folgendePuncte in Betracht.
Die Summa des Placentinus zum Codex war dem Verfasser
schon bekannt. Er bemerkt nämlich zu c. 2. C. VI. q. 5. (d. i.
1. 23. C. de probationibus 4. 19.):
„Placentinus melius 30 ) sic exponit: per rerum natu-
ram, i. e. secundum naturam negativorum,. negantis mdla
est probatio, i. e. negativa non postulant, ut negans probet“
rel. 37 ).
Dagegen waren ihm wichtige Decretalen Al exander’s III. nicht
bekannt. Nicht blos wird ausser einer Decretale Hadrian’s IV. 3S )
überhaupt kein nachgratianisches Stück citirt, sondern auch an
einigen Stellen das geltende Recht in einer die Unbekanntschaft
36 ) Früher war die Ansicht des Bulgarus angeführt.
37 ) In der Summa des Placentinus heisst es nach der Mainzer Ausgabe von
1536. (der einzigen gedruckten; m. s. Savigny B. 4. S.271.) zu I. 23. cit. :
„Negantis enim factum per rerum naturam, i. e. per causarum consuetudinem, nulla
est probatio. Non dico, quod non possit probare; sed dico , quod non compellitur
probareMit dieser Erklärung stimmt freilich die oben dem Placentinus zugeschrie
bene nicht ganz überein. Es kann übrigens auch eine Glosse dieses Legisten der
obigen Anführung zu Grunde liegen.
38 ) M. s. die gleich folgende Stelle zu c. 41. C. XVI. q. 1. Dict. Grat.
Dr. Fr. M a a s s e n
408
des Verfassers mit widersprechenden Decretalen Alexander’s III.
unmittelbar bezeugenden Weise dargestellt. Ich habe folgende
Fälle gefunden.
Erstens. Zu c. 11. i. f. Dist. XI. verb. alterius ecclesiae
quam Romanae existimant consuetudinem esse
s er van dam: „i. e. contrariae vel huic non subditae. In-
venitur quaedam consuetudo, quae aliter hodie in Francia,
aliter in ecclesia Romana observatur. Si enim aliquis aliquam
verbis de praesenti desponsaverit et benedictionem cum ea
sacerdotalem acceperit, sed antequam eam cognoscat, ab
alio desponsata carnaliter cognita fuerit, ecclesia Franciae
cogit eam redire ad primuni, sed non ecclesia Romana, et
adhuc quid sit melius ignoratur“ S9 ).
Diese Stelle beweist mit völliger Gewissheit, dass dem Ver
fasser die in c. 3. 40 ), 7., 8. Comp. I. de sponsa duorum 4. 4. ent
haltenen Vorschriften Alexander’s III. nicht bekannt waren. Aller
dings erhielt sich die diesen Decretalen widersprechende Gewohn
heit noch längere Zeit in Bologna, Imola, Modena 41 )» Parma und
Reggio; ebenso soll Lucius III. wieder eine Decretale im Sinne
dieser Gewohnheit erlassen haben; Urban III. bekennt sich aber
wieder zu der Auffassung Alexander’s III. 42 ). In der Comp. I. finden
sich nur Bestimmungen in dieser Richtung.
39 j Damit ist noch zu vergleichen folgende Stelle zu c. 19. Dist. XXXIV. : „Sed
ecclesia Francorum indicat, guod si facta desponsatio verbis praesentis temporis,
i. e.: ego accipio te in meam et e converso, exindc est matrimonium ratum. Unde
et si alii desponsata carnaliter adjun gatur, cogitur redire ud primum, qui eam
[add. non] cognovit. u
4Ü ) c. 3. X. eod. 4. 4.
41 ) Für Modena wurde desshalb später eine eigene Decretale von Innocenz III. erlassen,
c. ult. X. eod.
42 ) H ug. in c. 4ö. C. XXVII. q. 2. Dict. Grat.: „Mirum est, quod sic determinavit,
cum omnia sequentia cap. et multa alia sint ei contrario, et nulla faciunt pro co,
et Alex, expresse sententiat contra, ut in extra. Licet praeter, Signi-
ficasti. Qualiter ergo homo tarn discrelus sic determinavit et sententiavit contra
multos patres sine aliqua auctoritate ? Sed tune temporis liaec pessima consuetudo
erat in his partibus et in multis aliis locis, et idco forte sic sententiavit. Sed
nunc per Dei gratiam et auctoritate Alex, et Urban i tertii hacc pessima
consuetudo abolita est per ultra montes et fere per totam Italiam; sed adhuc
inqüinat B ono ni am, J m olam, M u tinam , R eg i u in et P a r m a m, ut
audio. Papa etiam Lucius fuit in hac opinione pessima, et pro hac dedit sen-
tentiam reddens talem rationem: ne a pluribus cognosceretur in illa IJecretali
Quae situ m. u
P a u c a p a 1 e a. 469
Zweitens. Zu c. 41. C. XVI. q. 1. Dict. Grat.: „Hic quaeritur,
an monachi de praediis debeant solvere decimas?
Solvimus ergo dicentes, quod de his, quae proprio labore,
id est propriis colant manibus, i. e. de novalibus, nullas
solvant decimas; de eis, quae emerunt, vel de eis, quae eis
data sunt, solvant decimas ecclesiae, cui ante solvebantur.
Ille enim, qui eis dedit vel vendidit haec, licet eis daret
vel venderet ecclesiis, tarnen priorem decimis non potuit
privare. Vel possumus dicere, quod nec de his, quae eis
dantur vel venduntur, decimas dabunt, quia haec dum boni
homines conferunt, apostolicus sua eis auctoritate decimas
remittat. Prior em sententiam Adrianus papa probavit.“
Hadrian IV. hatte die bestrittene Frage, ob und von welchen
Grundstücken religiöser Orden Zehnten zu leisten seien, dahin ent
schieden, dass nur. die praedia novalia befreit sein sollten 43 ). Diese
Vorschrift war dem Verfasser der Summa bekannt, nicht aber die
ihr derogirende Gesetzgebung Alexander’s III., wie sie sich na
mentlich in der DecretaleFraternitatem 44 ) ausgesprochen findet 45 ).
4:i ) M. s. c. 15., 16. Comp. I. de decimis 3. 26. u. a. Der Begriff der praedia no
valia wird in einer Glosse des Cod. B a in b. P. II. 7. zu c. 18. Comp. I. eod.
folgendermassen bestimmt: „Quae sunt ergo novalia ? Resp. Quae prius
erant quasi inutilia, ut montana, nemora et paludes“.
44 ) c. 8. Comp. I. eod.
45 ) Dies wird am deutlichsten, wenn wir mit der oben angeführten Stelle unserer
Summa die Darstellung' zweier Schriftsteller vergleichen, denen die Gesetzgebung
Alexander’s III. schon vorlag. 1. S im. d e B i s i n i a n o (Cod. B a m b. D. II. 20.) in
c. 46. q. cit.: „Nota quod circa praescntem articulum multa contrarictas in
canonibus invcnitur et sic grammatici certant et ad hoc sub judice lis est. In
antiquis narnque canonibus romanorum pontificum generaliter fuerat Institut um,
ut religiosi a decimationum praestationibus essent immunes; sed
piae recordationis papa Adrianus, quod alii dixerant generaliter, in no
valia pro sua voluntatc convertit in illo extrava c. N ob i s in e m i-
n ent i s p e c ul a. Alex, vero III., q u i n u n c est in e m inenti sp ecula
disponente d omino constitutus, concordans antiquis canonibus et
Adriano praejudicans, statuit“ rel. „Hoc autem totum invenies in extra, c.
f rate mi täte m tu am sei re volumus. Hoc ergo teneas, quod ultimo loco
posuimus, quoniam durum est satis et asperum contra stimulum recalcitrare apo-
stolicae constitutionis, maxime cum ei soll sit licitum interpretari conones, penes
quem est et potestas condendi.“ — 2. H ug. in c. 41. eil.: . . Alex. III. . . . de-
fendit omnes monachos et religiosos in antiquo privilegio, ut in extra. Fr aterni-
tatem, ubi dicit, quod suos antecessores in hoc vult imitari. Ibidem etiam noti
Adrianum dicens: Adrianus pro sua voluntate laborcs in novalia convertit, quod
non de ratione.“
470
Di*. F r. M a a s s e n
15. Was sich aus dem angeführten für die Zeit der Abfassung
der Summa ergibt, ist dieses: Placentinus, der im Jahre 1192 starb,
hat seine Summa zum Codex geraume Zeit vor seinem Tode ver
fasst 4 6 ). Alexander III. ist im Jahre 1181 gestorben, nachdem er
zweiundzwanzig Jahre die päpstliche Würde bekleidet hatte. Dass
die Lehrer des canonischen Rechts in Paris viele Jahre hindurch
mit seinen Decretalen gänzlich unbekannt geblieben sein sollten, ist
nicht anzunehmen. Als äusserste Grenze aber muss das Erscheinen
der Comp. I. gelten. Darnach ist die Summa in die siebenziger oder
achtziger Jahre des zwölften Jahrhunderts zu setzen.
IY. Sicardus von Crcinona.
16. In der Vorrede zu seiner Summa findet sich folgende den
Paucapalea betreffende Stelle 47 ):
„Distinguitur Uber iste in tres partes. Prima est usqne
ad primam. causam. Secunda usqne ad consecrationem.
Tertia usqne ad finem. Primam divisit, ut quidam ajunt,
p au c a p a, l e a in C et I disti. Secundam gratianus
in XXXVI causas et liarum quamlibet in quaestiones. Eas
tarnen non a numeris, sed more hebraico a principiis de-
nominavit. Tertiam, ut ajunt, paucapalea inV d. Sed quis -
quis fuit Ule deorinn 4S ), meo judicio 49 ) minus sufficienter et
discrete divisit, ut evidenter apparet in d. IUI. et XXV. et
XLVI1I. et in pluribus aliis“ 50 ).
Y. Huguccio.
17. Sarti hat in einer Handschrift der bibl. Casanat. von
Gratian’s Decret folgende Marginalglosse antiquis admodum literis
scriptum nach c. 10. C. XX. q. 1. gefunden:
„Et vocatur Palea a suo auctore, scilicet discipulo Gra-
tiani, qui Paucapalea vocabatur seciaidum Hu. Jo.“ 51 )
<*8) M. s. Savigny ß. 4. S. 197., 247., 2S3., 272.
47 ) Der Text ist nach Cod. ßa m b. D. II. 20. Ein Abdruck dieser Stelle nach Cod. Pa 1.-
V a t. 653. steht bei Sarti P. II. App. p. 195. Die wichtigeren Varianten dieses
Abdruckes, des Cod. lat. M o n. 8013. (Kaisersh. 113.), und des Cod. ß a in b. D. II. 17.
sind in den folgenden Noten bemerkt.
48 ) Sarti om. „ileorum“. — Mon.: „divisor“.
49 ) D. II. 17. om. „meo judicio“.
50 ) Uber die Zeit, in welche die Summa des Sicardus fällt, s. m. meine Beiträge. S. 33. fg.
51 ) Sarti P. I. p. 281.
Paucapalea. 471
Dass die Sigle Hu. auf den bekannten Canonisten Huguccio
zu beziehen sei, unterliegt keinem Zweifel. Ebenso halte ich es mit
Sarti für das wahrscheinlichste, dass das Jo. hier den Johannes
Teutonicus bezeichnet. Johannes Faventinus ist älter als
Huguccio, und Johannes de Deo, der ebenfalls einen Apparat
zum Decret geschrieben hat, wird, soviel ich gefunden habe, nie
mals schlechtweg durch Jo. bezeichnet.
Bickell 52 ) hält diese Glosse für suspect. Der Name des Pauca
palea werde weder in der Summa des Huguccio noch in der Glossa
ordinaria des Johannes Teutonicus gefunden.
Dass aber diese Notiz die Erfindung eines müssigen Kopfes
sein sollte, der im Geiste vorhergesehen, es werde ihm gelingen,
durch die Namen des Huguccio und Johannes die Literarhistoriker
des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts hinters Licht zu
führen, wird Bickell selbst nicht geglaubt haben. Es bliebe daher
nur die Annahme einer zufälligen Verwechslung der Siglen. Um für
diese uns zu entscheiden , müssten denn aber doch gewichtigere
Gründe vorliegen, als die von Bickell angeführten. Es mag richtig
sein , dass in der Summa des Huguccio der Name des Paucapalea
sich nicht ,findet 53 ); für die Glossa ordinaria unterliegt es keinem
Zweifel. Aber sowohl Huguccio als Johannes Teutonicus haben nicht
blos, der eine seine grosse Summa, der andere seinen Apparat,
sondern auch einzelne Glossen geschrieben, von denen viele noch
jetzt in Handschriften existiren. Damit fällt das Bedenken Bickell's
gegen die Echtheit der Siglen von selbst.
VI. Johannes Andrcii.
18. Addit. ad Speculum Durantis lib. II. tit. de disputationibus
et allegationibus:
52 ) De Paleis p. 17.
53 ) Für gewiss halte ich es nicht. Dass weder Bickell (dem nicht einmal ein voll
ständiges Exemplar vorlag) noch ich ihn gefunden, begründet bei einem Werke,
das in vollständigen Handschriften (Cod. Bamb. P. 11.28. und Cod. Admont. 7.)
ungefähr 500 Blätter in grossem Folioformat ausfüllt, noch keine apodictische
Gewissheit. Es lassen sich hei Bickell in seiner vortrefflichen Abhandlung mehr als
zwanzig Fälle nachweisen, in denen er bei Huguccio die Bezeichnung eines Capi-
tels als Palea übersehen, und ich bin nicht sicher, dass das Register welches
man mir wird machen können, nicht noch grösser ist.
472
Dr. Fr. Mansscn
„Aliqui asserunt, seil, paleas et rubricas illhts voluminis
non per Gratianum, sed per quendam ejus discipulum culdita
fuisse, qui pocapalea vocabutur “ 5i ).
19. Hiemit endet die Reihe der glaubwürdigen Zeugnisse. Von
den falschen Angaben die sich bei Schriftstellern des 14. und
15. Jahrhunderts finden, wird unten die Rede sein.
Vom 16. Jahrhundert bis auf Sarti war das älteste Zeugniss
über den Paucapalea, das man kannte, das des Johannes Andrea.
Die römischenCorrectoren desDecrets 55 ), ebenso Panziro 1 us 5Ö )
lassen es daher unentschieden, ob seine Existenz überall anzu
nehmen sei. Antonius Augustinus dagegen betrachtet es auf
die Autorität des Johannes Andreä als gewiss, dass ein Schüler
Gratian's mit Namen Palea Zusätze zum Decret gemacht habe 57 ).
Schriftsteller des 18. Jahrhunderts, wie Bartholus 58 ) und J. A.
Riegger 59 ), erklären ihn für eine fabelhafte Person. Selbst Sarti
hielt anfangs seine Existenz für ungewiss, bis durch die von ihm
gefundenen Stellen des Sicardus und Iluguccio denn freilich dieser
Zweifel gehoben wurde. In der oben erwähnten Schrift Bickell’s
konnte auch die von Savigny aus der Mainzer Handschrift mit-
getheilte Stelle bereits benutzt werden. Bickell hat es sich aber
weniger zur Aufgabe gemacht, die literarische Persönlichkeit des
Paucapalea überhaupt, als sein Verhältniss zu den Paleä insbeson
dere festzustellen.
20. Über den Namen kann bei der vollkommenen Überein
stimmung aller alten Zeugnisse kein Streit sein.
54 ) So in Hom. 1474. per Leonhard pfliegl’ et Georg 1 . Lauer. In Paris. 1514. per
Joannem ßarberinum und Basil. 1574. ap. Frohen, steht „postca palea“, in ed. s. I.
et a. nach Bickell p. 1. „PocapaliaJohannes von Imola scheint in seinem
Exemplar der Additionen „pauca palea“ gelesen zu haben ; m. s. 11. Not. 85<r.
s5 ) Admonit. ad Iectores (Corp. jur. can. ed. Richter T. I. p. VI.).
5ö ) De Claris legum interpretibus L. III. c. 2.
57 ) De emend. Grat. L. I. dial. 2. (Galla n di P. II. p. 234. sq.) Er beruft sich daneben
auch auf das „Zeugniss“ des Catellianus Cotta, eines Schriftstellers des
IG. Jahrhunderts, der doch als Zeuge sicher nicht gelten kann. Der älteste Gewährs
mann, auf den dieser sich beruft, ist denn auch wieder Johannes Andreä. M. s. in
seinen Mämoralia den Artikel de Jurisperitis (p. 520. des Abdrucks hinter Pan-
zir o I. Lips. 1721.).
58 ) Instit. jur. can. Ausug. 1749. p. 494.
59 ) De Paleis Decreto Gratiani insertis §. XXIV. (Opuscc. ad hist, et jurispr. pert. Fri-
hurg. Brisg. 1773. p. 320.)
Paucnpalea. 473
ln den Casus des Bartholomäus Brixiensis findet sich die
Schreibart Pocapalia 60 ).
Dies ist offenbar kein anderer Name, sondern die italienische
Form für Paucnpalea 61 ).
Dagegen verdienen die Formen Quotopalea 6ä ), Procopaleas 6S )
und Palea 64 ), die sich bei spätem Schriftstellern finden, gar keine
Berücksichtigung. Als Gewährsmänner für ihre Nachrichten führen
jene Schriftsteller selbst den Johannes Andrea und den Johan
nes von Imola an, bei denen der Name richtig vorkommt. Ein
deutlicher Beweis, dass es sich lediglich um corrumpirte Lesarten
des echten Namens handelt.
Sarti ist zu seinem Zweifel an der Existenz des Paucapalea
hauptsächlich durch denNamen veranlasst worden, den er für erdichtet
hielt 65 ). Er scheint daher der Angabe des Pan zirolu s 66 ), dass
noch zu seiner Zeit eine Familie den Namen Pocapalea geführt habe,
keinen Glauben zu schenken. Derselbe Name findet sich aber auch
unter den Zeugen einer Urkunde aus der Zeit Nicolaus 111.(1277.
bis 1281.) 6 *)-
60 ) Zu c. «3. C. XXIIT. q. 8.: „Et sunt tria praeccdentia ca. pocapaliac ie . So in B a s i I.
1489. per Nicol. Keller und Cod. B a m b. P. II. 11. Ebenso in mehreren von mir ver
glichenen Ausgaben vom Commentar des Archidiakonus, der zu e. 1. q. cit.
diese Bemerkung des Bartholomäus anführt. Merkwürdiger Weise ist diese längst
gedruckte Stelle bisher gänzlich unbemerkt geblieben. — In Ausgaben der Addi
tionen des Johannes Andrea zum Speculum findet man Pocapalia und poca
palea (man sehe oben §. 18.). Da aber Johannes von Imola pauca palea gelesen zu
haben scheint (m. s. unten Not. 88 a), so könnte hier die Veränderung auch auf
Rechnung der Abschreiber kommen.
61 ) Tiraboschi Storia della letteratura italiana. Roma 1783. T. III. p. 393. nennt ihn
Pocapatjlia.
62 ) Lectura Jasonis Mai super . . tit. de actionibus Lug dun.
1346. np. Jacob. Giunta, Fol., in Ruhr. Es ist übrigens ungewiss, ob Jason de
Mayno oder Alexander Tartagnus der Verfasser ist. (M. s. Savigny Bd. 6.
S. 319., 417., und die dort angeführten.)
63 ) Job. Ant. de sancto Georgio super decretorum volumina commen •
taria. Medio I. 1494. per Ulder. Scinzinzeler, Fol., Prooem.
61 ) Repertorium Benedicti Vadi .... in Commentaria Felini Sandei super
quinque üb. Decretalium. Lngdun. 1329. ap. Sehast. Gryphium, Fol., s. vv. Rubricae
Liber dccreti.
65 ) P. I. p. 281.
6G ) A. o. Not. 36. a. 0.
67 ) Ghirardacci Historia di Bologna P. I. Bologna 1396. p. 234.: coram Hs
testibus Fratre Uijuccionc, et Fratre Jacobo Pocapalea Cubiculariis
/). Papae u . Vielleicht steht die Urkunde auch bei Savioli, den ich augenblicklich
nicht, zur Verfügung habe, da er sich auf der hiesigen Bibliothek nicht befindet.
474
Dr. F r. M a a s s e n
21. Für die Chronologie kommt es hauptsächlich auf zwei
Puncte an: wann ist Gratian’s Decret vollendet gewesen ? und wann
hatRolandus (Alexander III.) seine Summa zum Decret geschrieben?
Da Paucapalea in der letzteren genannt wird, so muss seine litera
rische Wirksamkeit jedenfalls schon früher begonnen haben; so weit
sie das Decret betrifft — und von einer andern wissen wir nicht —
kann sie aber nicht vor der Vollendung dieser Rechtssammlung ihren
Anfang genommen haben.
22. Über die Zeit der Abfassung der Summa desRolandus
lässt sich nur so viel mit Bestimmtheit sagen, dass sie vor 11S9 fal
len muss os ). Einen Grund der dazu nöthigte, sie noch weiter zurück
zu setzen, habe ich nicht finden können. Allerdings ist Rolandus im
Jahre 11S0 Cardinal geworden 09 ). Dass aber damit seine schrift
stellerische Thätigkeit auf dem Gebiet des canonischen Rechts auf
gehört habe, ist, wie sich von selbst versteht, nicht nothwendig.
23. Über die Frage, in welchem Jahre die Sammlung Gra
tian’s erschienen sei, ist bekanntlich ein allgemein angenommenes
Resultat noch nicht vorhanden 70 ). Eine eingehende Erörterung der
selben würde hier, wo sie nur als Incidenzpunct in Betracht kommt,
zu weit führen. Ich muss mich auf die Hervorhebung folgenderThat-
sachen beschränken.
68 j M. s. o. §. 6.
69 ) Er kommt nach Jaffe Regesta PP. RR. p. 606. seit 21. November 1160 als diac.card.
SS. Cosmac et Damiani, seit 30. März 1161 als presb. card. S. Marti, seit 16. Mai
1163 als S. R. E. presbyter cardinalis ct cancellarius in päpstlichen Bullen vor.
70 ) Von neueren Schriftstellern über diese Frage sind zu nennen: Sarti P. I. p.264. sq.
— J. A. Riegger De Gratiano auctore Decreti §. III., §. XXI. sq. (Opuscc. ad
hist, et jurispr. pert. p. 270., 283. sq.) — Glück Praecognita uberiora univer-
sae jurispr. eccles. §. 123. not. 9. — Phillips Kirchenrecht Bd. 4. Seite 144. fg.
— Man vergleiche auch Savigny Bd. 4. Seite 146. fg. Hier ist die Richtigkeit
der Lesart „MCV.“ in der Formel des Dict. Grat. c. 31. C. II. q. 6. bis zu einem
Grade der Gewissheit gebracht, der jede weitere Untersuchung überflüssig macht.
Da es aus anderen Gründen gewiss ist, dass das Decret sp«äter abgefasst sein
muss, so ist diese Jahreszahl für die Zeitbestimmung ganz unbrauchbar. — Dass es
schon in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts Glossatoren des Decrets gab, welche
die Zeit seiner Abfassung nicht genau zu bestimmen wussten, zeigt folgende vor
die Decretalensammlung Gregor’s IX. fallende Glosse einer Salzburger Hs. von
Gratian’s Decret zu MCV.: „Non currebat annus istc incarnationis temporibus G.,
cum et ipsc inserit hujus operis [l. huic operi] capitula Innoc. sccundi, qui paulo
praecessit Alex, contcmporancum G. u . Es ist kaum anzunehmen, dass der Glossator
eine relative Bestimmungsart der Zeit gewählt haben sollte, wenn er sie absolut
zu bestimmen im Stande war.
P a u c a p a
e a.
475
Gratian hat in seine Sammlung Schlüsse des im Jahre 1139
gehaltenen lateranensischen Concils aufgenommen ?i). Spätestens
im Jahre 1139 war die Summa des Rolandus über das Decret schon
verfasst. Diese beiden Jahre ergehen sich daher als die äussersten
Grenzpuncte für den Zeitraum, in den das Erscheinen des Decrets
zu setzen ist.
24. Durch die oben (§. 4.) vollständig angeführte Stelle des
Huguccio wird es möglich, diesen Zeitraum noch etwas abzu
kürzen. Es heisst hier:
„Uber iste compositus est Alexandra tertio Bono-
niae residente in cathedra magistrali in divina pagina, ante
apostolatum ejus“.
Spätestens im Jahre 1130 muss aber die Lehrthätigkeit des
Rolandus in Bologna aufgehört haben, da er in diesem Jahre Car
dinal wurde. Dass sie früher aufgehört habe, lässt sich nicht be
weisen 72 ).
Freilich sagt Huguccio: das Decret sei um jene Zeit, da Alexan
der in Bologna lehrte, verfasst: „compositus est“; dass es auch
bereits vollendet und verbreitet sei, folgt aus den Worten
dieser Stelle nicht nothwendig. Die Ausarbeitung einer Rechtssamm
lung wie die des Gratian ist nicht das Werk eines Jahres. Es
scheint daher in der Tliat, als wäre mit jener Angabe für die Zeit
bestimmung wenig mehr gewonnen, als wir ohnedies wissen. Wenn
Huguccio nur die Zeit hat bestimmen wollen, zu der Gratian am
Decret gearbeitet hat, so ist mit seiner Angabe sehr wohl vereinbar,
dass es erst im Jahre 1139 vollendet ist. Ebensowohl könnte es
71 ) c. 2. Dist. XXVIII., c. 3. Dist. LX., c. 3S. Dist. LXIII., c. 11. Dist. XC., c. IS. C. I.
q. 3., c. 7. C. VIII. q. 1., c. 47. C. XII. q. 2., c. 29. C. XVII. q. 4., c. 2S. C. XVIII.
q. 2., c. S. C. XXI. q. 2., c. S. C. XXI. q. 4., c. 32. C. XXIII. q. S., c. 40. C. XXVII.
q. 1., c. 8. Dist. V. de poen.
72 ) Von Guido Gran di sind zwei pisanische Urkunden mitgetheilt, die eine vom
Jahre 1141, die andere vom Jahre 1147 der gewöhnlichen Zeitrechnung, in denen
ein Rollandus, Canonicus von Pisa, als Zeuge vorkommt. Fattorini (SartiP. II.
p. G.) hält diesen llollandus für den spätem Papst Alexander III. Demnach wäre
Alexander, bevor er Papst wurde, Canonicus von Pisa gewesen. Mit dieser Eigen
schaft würde die Annahme, dass er in Bologna gleichzeitig gelehrt habe, keines
wegs unvereinbar sein. Einer der bekanntesten Canonisten des 13. Jahrhunderts,
Johannes de Deo, war Canonicus von Lissabon und Lehrer des canonischcn
Rechts in Bologna. Solcher Beispiele Hessen sich noch mehr anführen.
Sitzb. d. phil.-hist. CI. XXXI. Bd. III. Ilft. 32
476
Dr. F r. M a a s s e n
aber auch schon im Jahre 1139 fertig gewesen sein, da nichts der An
nahme entgegen steht, dass Rolandus damals schon in Bologna lehrte.
Von Bedeutung ist jedoch, dass Johannes Teutonicus die
Zeitangabe des Huguccio von dem Erscheinen des Decrets ver
steht; er gibt das „compositus est“ wieder durch „editus est“. Man
wird aber zugestehen, dass gerade in diesem Falle die Auffassung
eines, freilich etwas jüngern, Zeitgenossen des Huguccio von beson
derem Gewicht ist. Nehmen wir dieselbe als richtig an, so wäre nun
mehr der äusserste Termin von 1159 auf 1150 zurückgesetzt.
25. Was aber noch wichtiger ist: Johannes nennt ein bestimm
tes Kalenderjahr. Dadurch hat seine Aussage die Bedeutung eines,
wenn auch abgeleiteten, so doch von Huguccio unabhängigen
Zeugnisses. Seine Glosse zu MCV. lautet folgendermassen:
„Dicit Hug., quod hie est falsa litera, quia non sunt tot
anni, quod liher iste compositus fuit. Fuit enim editus do-
cente Jacobo Bononiensi in legibus, et Alexandro in tlieolo-
gia, qni fuit postea papa Alexander III. Et fuit anno do-
mini MCL., ut ex chronicis patet“. 73 )
Johannes Teutonicus hat seine Glosse zum Decret im ersten
Viertel des 13. Jahrhunderts geschrieben 74 ). Die Chronik, auf die er
sich beruft, fällt daher entweder noch in das 12. Jahrhundert, oder
sie gehört doch dem Anfänge des 13. Jahrhunderts an. In dieser
Chronik war das Jahr 1150 als der Zeitpunct angegeben, in dem
das Decret erschienen sei.
26. An fünf verschiedenen Orten findet sich das Jahr 1151.
1. In einer sehr alten von den Correctoren benutzten vatica-
nischen Handschrift vonGratian’s Decret, in der von spä
terer Hand die Paleä vor das Decret gesetzt sind, steht vor
diesen folgender Titel des Decrets: „Decretum Gratiani
Monachi sancti Felicis Bononiensis, ordinis sancti Bene-
dicti, compilatum in dicto monasterio, Anno Domini mil-
lesimo centesimo quinquagesimo primo, tempore Eugenii
papae tertii“. 75 )
Dass diese Glosse nicht etwa dem Bartholomäus Brixiensis zuzuschreiben
ist, ergibt eine Bamberger Maudschr. mit der reinen Glosse des Johannes, in
der diese Glosse steht. Man sehe über diese Handschr. meinen Aufsatz bei Hekk er
und Muther B. III. 1859. S. 244. Note 41.
74 ) M. s. a. in der vor. Note a. 0.
75 ) Admon. Correclt. ad leclores. (Corp. jur. ean. ed. Bi elfter T. I. p. VI.)
Paucapalea.
477
2. In einer Chronik mit dem Titel: Pomoerium ecclesiae Ra-
vennatis, die ebenfalls in der vaticanischen Bibliothek
befindlich ist, heisst es: „Anno Christi millesimo centesimo
quinquagesimo primo Gratianus Monachus de Classa civi-
late Tusciae natus Decretum composuit apud Bononiam
in monasterio sancti Felicis“. 7 «)
3. In der Kirche S. Petronio zu Bologna ist ein dem Gra-
tian gesetztes Denkmal mit der Inschrift: „D. 0. M. Gra-
tiani Clusini Caesarei jur. et Pont, enucleatoris prope
divini: qui monachus in martyrum Felicis et Naboris aede
absolutiss. ibidem opus Decretorum anno gratiae M. C. LI.
compilavit: monumcntum quod illic carie ruderibusq.
obsorduerat: hic magnificentius renovatum: Joannes Fran-
ciscus Aldovrandus Bononien. IIII. Dictator aere publico
instauravit. Anno salutis MCCCCLXXXXVIIII. Idibuslunii
Joanne BentivoloIIP. P. Rem. P.felidier gubernante“. 77 )
4. J. A. Riegger hat in einerWiener Handschrift von Gratian's
Decret folgende Stelle von einer Hand des 12. Jahrhunderts
(locum aliquem Gratiano coaevum) gefunden: „Liber
decretorum per Gracianum Clus, monaclium S. Felicis
ciuitatis Bononiensis ordinis S. Benedicti fuit compilatus
in eodem monasterio anno Domini MCLI. “ 78 )
5. In der im letzten Viertel des 13. Jahrhunderts verfassten
Chronik des Johann von Thielrode findet sich folgende
Stelle: „Gratianus Monachus de Guisa civitate Tusciae
natus decretum composuit hoc anno MCLI.“ 79 )
Dass eine dieser Angaben die Quelle für die übrigen gewesen
sei, ist bei derparticulären Bedeutung der Orte, an denen sie sämmt-
lich Vorkommen, im höchsten Grade unwahrscheinlich. Woher sie
geschöpft sind, ob allen oder einigen eine gemeinschaftliche Quelle
zu Grunde liegt, oder oh sie alle aus verschiedenen Quellen stammen,
darüber lässt sich freilich nicht einmal eine Vermuthung aufstellen.
76 ) Correctt. !. c.
77 ) Nach Sarti P. I. p. 26G.
78 ) .1. A. Riegger De Gratiano auctore Decreti §. III.
79 ) Warnkönig Flandrische Staats- und Rechtsgeschichte bis zum Jahre 130ö.
Tübingen 1835. B. 1. S. 49.
32*
478
Dr. Fr. Manssen
Dass sie sämmtlicli, wie die Glosse des Johannes, den Zeitpunct,
in dem das Decret erschienen ist, bestimmen wollen, folgt aus der
Anführung einer bestimmten Jahreszahl.
27. Wir haben somit mindestens zwei selbstständige Zeit
angaben, von denen die eine das Jahr 1180, die andere das JahrllSl
nennt. Ist es nothwendig, beide als im Widerspruch mit einander
stehend zu betrachten? Mir scheint nicht.
Den Zeitpunct, in dem eine grosse literarische Arbeit beendigt
ist, in derselben Weise genau zu bestimmen, wie etwa den Moment,
in den die Gehurt oder der Tod eines Menschen fällt, kann nicht nur
schwierig, sondern unter Umständen selbst unmöglich sein. Wenn
aber dem so ist, so steht auch nichts im Wege, vorliegend beide An
gaben mit einander zu verbinden und als Zeugnisse für eine und die
selbe Thatsache gelten zu lassen, die Thatsache, dass das Er
scheinen von Gratian’s Decret so ziemlich genau in
die Mitte des zwölften Jahrhunderts fällt.
Möglich wäre es ja nun freilich auch, dass einer der beiden
Angaben oder beiden nicht die gewöhnliche Zeitrechnung zu Grunde
läge. Das Ergebniss würde eben um der Natur des zu bestimmen
den Ereignisses willen im wesentlichen das gleiche sein. Beruhte die
Angabe des Jahres 1181 auf der pisanischen Zeitrechnung, die des
Jahres 1180 nicht, so würde gar keine Differenz sein. Fände das umge
kehrte Verhältniss Statt, so betrüge die Abweichung unter beiden
Angaben zwei Jahre. Und wäre die pisanische Rechnung in beiden
Fällen angewandt, so würden wir nun statt 1150 und 1181 die
Jahreszahlen 1149 und 1150 haben.
28. Für die Frage, in welche Zeit der Beginn der literarischen
Wirksamkeit des Paucapalea zu setzen ist, ergibt die geführte Unter
suchung dieses Resultat: Gratian’s Decret ist um die Mitte des zwölf
ten Jahrhunderts erschienen; in einer spätestens bis zum Jahrell59
verfassten Summa des Decrets wird Paucapalea als Schriftsteller
bereits genannt: seine wissenschaftliche Bearbeitung die
ser Rechtssammlung hat demnach in demselben Deeen-
nium begonnen.
Wie alt er damals war und wann er gestorben, darüber lässt
sich nichts bestimmen s0 ).
80 ) Gratian hat seinen Zeitgenossen Alexander III., mit dem er so häufig in
Verbindung gebracht wird, nicht überlebt. In der Summa des Simeon de Bisi-
Pa ucapa lea.
479
29. Dass Paucapalea ein Schüler Gratian’s war, erfahren wir
aus der Stelle des Huguceio (§. 17.,), mit der die von Johannes
Andrea angeführte Nachricht (§. 18.) übereinstimmt. Ob er aber
in Bologna auch später gelebt und selbst das canonische Recht
gelehrt hat, lässt sich, so wahrscheinlich es ist, doch nicht bewei
sen. Eben so wenig wissen wir von den sonstigen Umständen seines
Lebens.
30. Bei späteren Schriftstellern findet sich die Angabe, dass
Paucapalea Cardinal gewesen sei. Damit wird dann noch folgende
Erzählung in Verbindung gesetzt. Gratian habe sein Buch dem Car
dinal Paucapalea gezeigt, um durch ihn heim Papst eingeführt zu
werden. Der Cardinal habe die Sammlung vortrefflich gefunden, und
zugleich den Entschluss gefasst, sich den Ruhm der Autorschaft anzu
eignen. Für die Erreichung dieses Zweckes bedient er sich folgen
der höchst geistreichen List. Er schaltet an verschiedenen Orten
der Sammlung neue Stücke ein, und als der ehrsüchtige Cardinal nun
mit dem wahren Verfasser vor dem Papst erscheint, stellt er mit ihm
ein Examen über den Inhalt des Buches an. Der arglose Mönch weiss
natürlich nichts von den durch eine andere Hand gemachten Zusätzen,
und würde seine Sache mit Gewissheit verloren haben, hätte sein
guter Genius ihm nicht den Einfall gegeben, diese Zusätze als Pnlea
(Spreu) zu bezeichnen. Auf dieses Wortspiel weiss Paucapalea
nichts zu enviedern, und der Streit ist beendigt 81 ).
niano (m. s. o. Note 45.) wird zu C. XXVII. q. *i. seiner als eines bereits ver
storbenen gedacht: „piae memoriae Gratianus“. Der Verfasser schrieb aber , als
Alexander noch am Leben war. (M. s. a. a. U. die dort abgedruckte Stelle.)
si) Jo an. de Imola in Ruhr. II*. de verb. obl.: „Alii tarnen dixerunt, quod appcllan-
tur palcac a nomine cujusdam cardinalis vocati nomine poca palca, cui primo
Gratianus dicitur ostendisse Hb rum , ut per ipsum introduceretur cor am Romano
pontißce. Nam fertur, quod cardinalis videns pulchrum librum et pulchram esse
compilationem, voluit illum sibi appropriare, et fecit addi aliqua capitula, ut sic Gra
tianus nesciret dicere, ubi esse nt, et per hoc posset infern, quod Gratianus non fecis-
set. Scd dum contentio esset postea coram Romano pontißce, quis librum fecisset, et
cardinalis interrogasset, ubi esset tale c., respondit Gratianus, illud non esse in
libro, Scd ille volendo reprehenderc dixit, quod imo erat. Tune Gratianus replica-
vit, quod palea erat, et g ran um, i. e. cffectum ejus, alibi posuerat. u
Nach ed. Bo non. 1580. Fol. — In Mediol. 1477. Fol. per Magistrum Christ.
Valdorfer Alamannum, steht po cupalle a, aber auch pallea statt palea. — Mit
einigen Abweichungen, und ohne dass dem Cardinal der Name Paucapalea beigelegt
wäre, findet sich die Geschichte bei Barth. Caepolla Tract. de cognitione libro-
480
Dr. Fr. M a a s s c 11
Das einzig Wahre an dieser Erzählung ist, dass Paueapalea
Zusätze zum Decret gemacht hat, und diese später Paleil genannt sind.
Davon wird unten ausführlich gehandelt werden. Alles andere ist Er
dichtung. Keiner der alten Canonisten die des Paueapalea gedenken,
von denen einige seine Zeitgenossen zind, erwähnt etwas von diesen
Umständen. Dass aber namentlich Rufinus, der den Fleiss lobend
hervorhebt, den Paueapalea auf das Decret verwandt habe, sie ver
schwiegen, und statt des Tadels über das wenig rühmliche Motiv dieses
Fleisses seine Anerkennung ausgesprochen haben sollte , ist nicht
anzunehmen. Einen Cardinal Paueapalea hat es niemals gegeben.
Doch die ganze Geschichte trägt so unverkennbar den Stempel der
Fabel, dass es, um sie für wahr zu halten, in der Tliat stärkerer
Gründe bedürfte, als des Umstandes, dass sie von mehr als zwei
Jahrhunderte jüngern Schriftstellern erzählt wird.
31. Mehr als von den äusseren Lebensumständen des Pauca-
palea lässt sich von seiner literarischen Wirksamkeit sagen,
um deren willen allein ja seine Person für uns von Interesse ist. Hier
dürfte kaum irgend eine wichtige Beziehung uns verborgen geblie
ben sein.
Seine Thätigkeit lässt sich nach zwei Gesichtspuncten unter
scheiden. Sie bezweckt einmal eine Verbesserung und Vermehrung
von Gratian’s Decret und ist in dieser Beziehung von Einfluss auf
Gestalt und Inhalt dieser Rechtssammlung selbst gewesen; sie macht
sich zweitens ihre Erläuterung und die wissenschaftliche Bearbeitung
des in ihr enthaltenen Stoffes zur Aufgabe.
In dem zweiten Punct beruht das eigentliche Verdienst des Pau-
capalea, wenn das Gedächtniss daran sich auch viel früher als an
seine Nachträge zum Decret verloren hat. Er ist der erste gewesen,
der die in Bologna für die Bearbeitung des römischen Rechts neu ent
standene Methode auf das canonische Recht angewandt hat. Insofern
können wir ihn als den eigentlichen Stifter der Schule der Canoni
sten betrachten.
rum juris canonici (Tract. Tractatuum T. I. f. 52.). Hiernach wäre der Zweck der
Reise Gratian’s nach Rom gewesen , die päpstliche Approbation für seine Sammlung
zu erlangen. Die Antwort die Gratian dem Cardinal gibt, lautet hier so: „ubi hujus-
modi capitula reperiuntur, pal ca cst, ncc de grano mco li . — Man vergleiche
ausser diesen beiden noch Jason de Mayno Lectura super Tit. de actionibus, in
Rubr., der sich übrigens auf Jo hannes von Imola beruft.
P a u e a p a 1 e a. 481
Ich wende mich jetzt zur Betrachtung seiner literarischen Thä-
tigkeit im einzelnen.
I. Einthcilung des Dccrcts.
32. Dass die Einteilung der Pars I. und III. in Distinctionen den
Paucapalea zum Urheber hat, wird durch die übereinstimmenden Zeug
nisse des Rufinus, der in Paris verfassten anonymen Summa und
des Sicardus von Cremona bewiesen 82 ). Damit scheint nun
freilich folgende Stelle aus der Vorrede Stephans von Tournai
zu seiner Summa in directem Widerspruch zu stehen:
„Distinguitur über iste alias secundum diligentias lecto-
rum, alias secundum consuetudinem scriptorum. Ledores in
tres partes distinguunt, quod et Gratianus voluisse videtur.
Prima pars usque ad causam Simoniacorum extenditur,
quam Gratianus per CI distinctiones divisit. Secunda a
prima causa usque ad tradatum de consecratione procedit,
quae per XXXVI causas quaestionibus suis divisas distin-
guuntur. Tertia a tradatu consecrationis usque ad finem,
quae per V distinctiones secatur S3 )
Von Paucapalea ist hier gar keine Rede. Für die Einteilung
der Pars I. wird Gratian ausdrücklich als Urheber genannt.
Sein Alter lässt den Stephanus um nichts weniger glaub
würdig erscheinen als den Rufinus.
33. Aus folgenden Gründen halte ich es trotzdem für unbedenk
lich, der Angabe des Rufinus und der übrigen Glauben zu schenken.
Die Vermutung spricht natürlich allemal dafür, dass die Einteilung
eines Werks in kleinere Abschnitte von dem Verfasser selbst her
rühre. Wenn daher Rufinus und andere dem Paucapalea die Ein-
82 ) Sicardus beruft sich freilich auf Andere. Wenn er unter diesen eben nur den Kuiinus
und den Verfasser der Pariser Summa gemeint hätte, so würde seine Angabe nicht
die Bedeutung eines dritten Zeugnisses für uns haben.
83) Nach Cod. lat. Mon. 17162. (Scheftl. 162.). Bickel I p. 17. not. 3. liest nach einem
Cod. Paris.: „quam .... secant“ statt „quae .... secantur“. — Mit der obigen
Stelle ist noch eine andere desselben Verfassers zu vergleichen zu C. 1. q. 1. Einlei
tung. liier wird von Gratian gesagt: „In prima enim parte, quam per distinc
tiones divisit, et/it de electione et oräinatione personarlim . . . . In secunda,
quam per causas et quaestiones disposuit, tractat de varietatc negotiorum circa per-
sonas ecclesiasticas emergentium“.
482
Di*. Fr. M ausseu
theilung in Distinctionen zuschreiben, so müssen sie einen positiven
Grund gehabt haben. Dagegen konnte Stephanus sehr wohl Gratian
als den Urheber annehmen, wenn ihm nur nicht das Gegentheil be
kannt war. Mithin ist es gar nicht nötliig, beide Angaben als im
eigentlichen Widerspruch mit einander stehend zu betrachten. Ein
solcher Widerspruch würde nur dann vorhanden sein, wenn wir
voraussetzen müssten, dass es in der obigen Stelle dem Stephanus
nicht nur darauf ankäme, die Art und Weise der Eintheilung des
Decrets anzugeben, sondern auch besonders hervorzubeben, dass
Gratian der Urheber sei. Dazu haben wir aber nicht die mindeste
Veranlassung.
Die Summa des Paucapalea gibt über diese Frage keine
Auskunft. Die Eintheilung des ersten und dritten Theiles in Distiuc-
tiorien wird hier, wie die des zweiten Theiles in Causae, als bestehend
vorausgesetzt, ohne dass überden Urheber etwas bemerkt wäre 84 ).
II. Zusätze zum Decrct.
34. Dass Paucapalea zu den von Gratian in das Decret aufge
nommenen Stellen noch andere nachgetragen hat, wird durch ver-
schiedene|Zeugnisse ausser Zweifel gestellt. Die Pal eä sollen in einer
zweiten Abhandlung von mir zum Gegenstände einer besonderen
Untersuchung gemacht werden. Dort wird auch das Verhältnis, in
dem Paucapalea zu diesen spätem Zusätzen steht, erörtert werden.
35. Bei manchen Schriftstellern des 14. und 15. Jahrhunderts
heg egnen wir der Angabe, dass nur der Titel des Werkes Concor-
dia discordantium canonum von Gratian herrühre, die Rubriken der
einzelnen Capitel dagegen von einem andern beigesetzt seien. Die
meisten sagen nicht von wem 85 ); einige unter ihnen bezeichnen aber
den Paucapalea als den Verfasser der Rubriken 85 “). Die Gewährs-
84 ) Zu Anfang (1er Pars III. de consecratione heisst es: „Omnibus decrcturum cuusis vc
negotiis decursis ad ultimam hujus libri ventum est partem, quae V cst distinctionibus
vcl divisionibus divisaAueh hieraus folgt weder für die eine noch für die andere
Annahme etwas.
85 ) Ha Id us in Ruhr. X. de summa trinilate. — Anton, de Butrio Lectura in X.,
Pröoem.— Caepolla Tract. de cogn. libror. jur. can. §. l(i. sq. — Panorinitan.
Lectura in X., Prooem. — Jo an. de Anania in Ruhr. X. de accusationibus. —
Fel in. Sandeus in c. 2 X. de rescriptis.
85ft )Joan. de Imola in Ruhr. lf. de verb. obl.: „Item 3 quatenus dixi rubricas ccnscn-
das esse authcnticas, intclligc verum de rubricis Decretalium et Legion. Secus in
P a u c a p a 1 e a.
483
Männer, aut welche diese Schriftsteller sich berufen, sind Wil
helm Duruntis und Johannes And reä. Die betreffende Stelle
des erstem lautet folgendermassen:
„Et nota, quod rubricac Legum authenticae sunt et alle-
gar i possunt et jus ponunt Idem dico de rubricis De-
cretaliuvi Secus autem est in rubricis Decretorum,
tum, quia alius fuit conditor Decretorum et alius earum,
tum, quia illae quandoque falsae reperiuntur. Prima tarnen
rubrica Decretorum authentica est et generalis S6 )
Dazu macht Johannes Andrea folgende Bemerkung, die
theilweise schon oben S7 ) angeführt ist.
„Forsan id intendit, quod aliqui asserunt, scilicet paleas
et rubricas illius voluminis non per Gratianum, sed per
quendam ejus discipidum addita fuisse, qui poca palea
vocabatur. Potius videtur veile, quod decreta fuerunt sanc-
torum Romanorum pontificum et conciliorum, sed rubricae
fuerunt Gratiani, quod patet, quia dixit: alius fuit condi
tor, non dixit comp ilator“.
36. Nun ist zuvörderst soviel klar, dass Johannes Andrea
den Durantis nicht so versteht, als habe er die Autorschaft Gratian’s
für die Rubriken leugnen wollen. Vielmehr hält er dafür, dass Du
rantis den Rubriken des Decrets desshalb die Authenticität abspreche,
weil sie nicht, wie die Capitel, Aussprüche der Päpste und Conci-
lien seien.
Dieser Auslegung wäre auch als richtig beizustimmen, wenn
sie nicht durch den letzten Satz der oben angeführten Stelle wieder
rubricis libri Decretorum per id . . . quod not. Sp c. in ti. de alleg. et dispu. §. fi.
ad fi., et ibi etiarn dicit, quod una sola rubrica in toto libro Decretorum est authen
tica, videlicct illa, quae est in principio libri, dum dicit: Incipit concordanti a
dis cor d antium canon um Aliac autem rubricae, quae reperiuntur in
libro Decretorum, quam prima, de qua praedixi, non fuerunt factae per Gratianum,
sed per alium, ut refert Specu. in loco pracalle. et ibi dicit Jo. And. in addi., quod
fuerunt additae per quendam discipulum Gratiani, qui vocabatur Pocap alea, qui
ctiam addicit multa cap. in Decrctis, quae appcllantur palea forte a nomine ipsius
discipuli addentis lc rel. Die oben Note 81. angeführte Ausgabe von 1477 hat Pauca-
palca. — Ähnlich .1. A. de S. Georgio comment. in Decr., Prooem. und Bened.
Vadi Repert. Felini s. v. Liber decreti.
86 ) Specul. Lib. If. Tit. de disputationibus et allegationibus.
87 ) §• 18-
484
Dr. F r. Mua6se n
zweifelhaft würde. Duranlis sagt, dass die Rubriken des Corpus juris
civilis und der Decretalen »authenticae sunt ct aUegari possunt et
jus ponuntweil sie vom Gesetzgeber sanetionirt sind. Der Grund,
wesshalb von den Rubriken des Decrets nicht das Gleiche gesagt
werden kann, ist nun offenbar der, weil sie, anders als die der ange
führten Gesetzsammlungen, lediglich auf Privatautorität beruhen ss ).
Ob Gratian oder ein Anderer sie verfasst hat, ist für dieseFrage ganz
gleichgültig.
Was soll es nun aber heissen, wenn Durantis der ersten Rubrik,
dem Titel des Decrets, die Eigenschaft der Authenticität beilegt?
Dass sie allein die päpstliche Bestätigung erhalten habe, kann doch
nicht die Meinung sein. Dies ist um so weniger anzunehmen, als es
sich hier ja lediglich um einen Namen, nicht wie bei den meisten Capi-
telrubriken um einen Satz bandelt, dem möglicher Weise die Bedeu
tung einer gesetzlichen Disposition beizulegen wäre. Daher scheint
hier unter der Authenticität etwas Anderes verstanden zu sein als
die Eigenschaft des jus ponerc. Das könnte aber nur die Autor
schaft Gratian's sein, die somit für alle übrigen Rubriken geleugnet
würde.
Welche von beiden nun aber auch die richtige Auslegung die
ser Stelle des Durantis sein möge, der in dem einen wie in dem
anderen Falle ein unklarer Gedanke zu Grunde liegt, jedenfalls ist
in dem Zusatze des Johannes Andreä deutlich ausgesprochen,
dass von Manchen behauptet werde, Paucapalea sei der Verfasser
der Rubriken.
Diese Behauptung verdient aus mehreren Gründen keinen
Glauben.
37. Erstens. Dass Paucapalea die Rubriken beigesetzt habe, ist
schon desshalb unwahrscheinlich, weil bei weitem die meisten Paleä,
88 ) Derselbe Gedanke liegt folgender Glosse des Vincentius zur Bulle Innocenz 111.
Devotioni, die an der Spitze der Comp. III. steht, zu Grunde: „Ao. tituli decfctalium
sunt autentici ct legales similiter decrctorum autem rubricae non sunt
autenticae . . t Vinc. (Cod. Hamb. P. II. 7.) Noch deutlicher spricht ihn Odofre-
dus aus in I. Bene est 11'. de rebus credit is: „Dichaus rubricas Decrctorum
non esse authenticas, quia alii fcccrunt textum, seil. SS. Patres et alii rubricas, ul
mugister Gratianus, qui stabat ad monustcrium S. Felicis u (nach Sarti P. I. p. 260.
not. f.). — J. A. Ui egge r de Grat. coli, canonum §. Ml I. führt eine ähnliche Stelle
des Azn an zu Tit. nc fidejuss. dot. dentur. In der Summa des Azo (indet sie sich
aber nicht, vielleicht in der Lectura, die mir nicht zu Gebote steht.
P a u c a p a 1 e a.
485
und unter diesen solche, die mit Gewissheit dem Paucapalea gehö
ren, keine Rubriken haben 89 ). Dass aber derselbe Schriftsteller der
die übrigen Capitel des Decrets mit Rubriken versehen, dies bei den
von ihm selbst nachträglich beigesetzten unterlassen haben sollte, ist
nicht eben wahrscheinlich.
Zweitens. Während in den alten Handschriften sich gar keine
oder doch nur sehr wenige Paleä finden, ist, was die Rubriken
betrifft, zwischen alten und neuen Handschriften kein Unterschied.
Diese Erscheinung würde schwer erklärlich sein, wenn die Rubriken,
wie die Paleä, erst nach Vollendung des Decrets von einem Andern
als Gratian beigefügt wären.
Drittens. Rei keinem der ältern Canonisten findet sich auch nur
eine Andeutung, dass Gratian nicht der Verfasser der Rubriken sei.
Ist es aber zu vermuthen, dass sie diesen Umstand mit Stillschwei
gen übergangen hätten, wenn er ihnen bekannt gewesen wäre? Was
aber noch mehr ist, einer der ältesten Glossatoren des Decrets,
Rufinus, bezeichnet ausdrücklich Gratian als den Verfasser. In der
Vorrede zu seiner Summa heisst es:
„Sicut enim cuilibet cap. titidum simm rubricam,
qua meutern et intellectum totias capituli aperit, ita etiam
universo operi titulum praescribit- discordantium ca-
nonum concor di am“ rel.
Und zu c. 1. Dist. 1:
„Nota, quod M. g. huic capitulo sicut cuilibet se-
quenti rubricam praescribit, qua continetur summa capi
tuli sequentis vel aliquid, quod in eo est excellentius. Legun-
tur autem rubricae, quamvis non sint de auctoritate, quia
quorundam capitulorum casus ex rubricis intelli-
guntur“.
Um hier einen Irrthum des Rulinus anzunehmen, reicht aber
eine so spät vorkommende Nachricht, wie die ist, dass Paucapalea
die Rubriken verfasst habe, nicht hin. Ganz anders in dem oben
erörterten Fall, wo der Angabe des Stephanus, dass der erste Theil
des Decrets von Gratian in 101 Distinctionen eingetheilt sei, die Re-
hauptung eines mindestens eben so alten Schriftstellers gegen über
stand, dass diese Eintheilung von Paucapalea gemacht sei.
89 ) Davon wird in der Abhandlung- über die Paleä ausführlicher die Rede sein.
48(5
Dr. F r. Maassen
Ich halte es demnach für vollständig bewiesen, dass Gratian,
nicht Paucapaiea, der Verfasser der Rubriken ist.
III. Glossen.
38. Dass Paucapaiea auch Glossen zum Decret geschrieben
hat, erfahren wir aus folgenden Stellen der in Paris verfassten
Summa:
Zu c. I. Dist. I.:
„coucorduntias atqiie contrarietaies notavit in margine
sic: infra, supra, fall causa vel distinctione £f . 90 )
Zu c. 4. Dist. XI.:
„Vincat rationem aut legem. Haec est vera litera",
sed quin paucapaiea glosavit: rationem, i. e. vetus t.,
jus naturale, et legem, i. e. scriptum, in quibusdam
libris est hoc insertum“.
Was sich hieraus über die Art der von ihm verfassten Glossen
ergibt, ist jetzt näher zu bestimmen.
39. Einen regelmässigen Bestandteil der Glossen zu den ver
schiedenen Rechtssammlungen bilden die Parallelstellen, Citate
solcher Stellen, deren Inhalt eine Beziehung zu dem gerade vorlie
genden Text hat. Diese Beziehung kann doppelter Natur sein. Die
angeführten Stellen können mit der zu erläuternden in Einklang
sich befinden (concordantiae, Parallelstellen i. e. S.), sei es nun,
dass sie das hier Gesagte lediglich bestätigen oder eine nähere Be
stimmung desselben enthalten; sie können aber zweitens auch in
irgend einem Puncte widersprechend sein (^contrario), und hier ist
wieder möglich, dass dieser Widerspruch ein wirklicher, oder dass
er nur ein scheinbarer, durch Interpretation zu lösender ist.
In den eigentlichen Apparaten bildet es die Regel, dass diese
Parallelstellen in die erklärenden Glossen aufgenommen sind, in
denen dann ihre Beziehung zu der glossirten Stelle entweder näher
ausgeführt oder doch mit wenigen Worten angedeutet ist. Dagegen
findet man in Handschriften mit älteren, noch nicht zu einem Ganzen
verbundenen Glossen viel häufiger, dass die Parallelstellen ohne jede
weitere Bemerkung an den Rand geschrieben sind, indem nur die
allgemeinste Beziehung, ob die citirte Stelle widersprechend oder
90 ) M. s. o. §. 11. und vergl. die Stelle des Rufinus in §. 7.
P a u c n p n 1 e a, 487
bestätigend ist, durch ein contra oder das Fehlen dieses Zusatzes
hervorgehoben ist.
Dass nun solche Parallelstellen schon von Paucapalea an den
Rand des Decrets geschrieben worden, sagt die erste der obigen
Stellen. Es scheint nach jener Angabe, als hätte er sich bei Aus
wahl derselben auf diese Rechtssammlung beschränkt. Möglich ist
aber auch, dass der Citate aus dem Decret desshalb allein gedacht
ist, weil sie die bei weitem zahlreichsten waren. Dass er mit dem
römischen Recht keineswegs unbekannt war, zeigt seine Summa,
von der sogleich die Rede sein wird. Ebenso kannte er das lango-
bardische Recht. Wir finden aber schon in ältesten Handschrif
ten des Decrets, in denen die Glossen lediglich aus Parallelstellen
bestehen, Citate aus dem römischen Recht und aus der Lombarda 91 ).
Eine zweckmässige Sammlung von Parallelstellen ist keine un
verdienstliche Arbeit. Allemal ist sie die nothwendige Vorbedingung
für jede andere Erläuterung eines Rechtsbuches. Auch die am besten
geordnete Sammlung von Gesetzen muss sich bei der Frage, ob eine
Stelle an diesen oder jenen Platz des von ihr gewählten Systems
gehöre, durch eine einzelne Beziehung ihres Inhalts leiten lassen. Die
anderweitigen oft nicht minder wichtigen Beziehungspuncte nachzu
weisen , ist Aufgabe der wissenschaftlichen Bearbeitung. Für die
Lösung dieser Aufgabe ist aber mit einer Sammlung von Parallel
stellen nicht blos der Anfang gemacht, sondern bereits ein wichti
ger Schritt gethan. Es ist auch nicht etwa die blos mechanische
Mühe des Aufsuchens, in der das Verdienst dieser Arbeit liegt.
Es handelt sich hier um eine wahrhaft wissenschaftliche Thätig-
keit, die in nicht geringem Maasse Beherrschung des Stoffes vor
aussetzt.
40. Die zweite der oben angeführten Stellen zeigt, dass Pauca
palea ausser den Parallelstellen auch noch andere Glossen zu Gra-
tian’s Decret geschrieben hat. Die Pariser Summa bemerkt näm
lich, dass einige Handschriften eine Glosse von ihm in den lext
aufgenommen hätten 93 ).
91 ) M. s. meine Beiträge S. 72. und bei Bekker und Mut her B. II. 1858. S. 223.
92 ) Unter den von mir verglichenen Handschriften des Decrets sind an dieser Stelle grosse
Abweichungen. Ood. Oenip. 90. hat: „ut aut rationem, i. e. jus naturale, vincat, aut
legem scriptam, i. c. constiti(tionem. lc Dazu die Interlinearglosse über rationem:
ll
488
Dp« Fr. M nassen
Dass der Ausdruck glosare liier wörtlich zu nehmen, und nicht
etwa auf die Summa des Paucapalea zu beziehen ist, unterliegt
keinem Zweifel. Es würde schon an und für sich schwer erklärlich
sein, dass eine in einem abgesonderten Buche gemachte Bemerkung
in den Text des Decrets übergegangen sein sollte. Entscheidend
aber ist, dass die Bemerkung, wie sie nach der Pariser Summa
gelautet hat, sich in der Summa des Paucapalea gar nicht findet ° 3 ).
Der Inhalt der Glosse ist eine blosse Worterklärung, wie sie
sich am häufigsten in der Form von Interlinearglossen findet.
Dass hier in der That an eine solche zu denken sei, wird durch den
Einfluss den die Glosse auf den Text verschiedener Handschriften
gehabt haben soll, noch wahrscheinlicher.
Leider ist es nicht mehr möglich, unter den vielen anonymen
Glossen die in alten Handschriften Vorkommen, die ihm gehörigen
ausfindig zu machen.
IV. Summa zum Dccrct.
41. In der §. 2. erwähnten Handschrift H. 71. der königlichen
Handbibliothek zu Stuttgart folgt auf die Summa des Rolandus,
von derselben Hand wie diese geschrieben , eine Arbeit über Gra-
tian’s Decret mit dem Titel: „Excerpta ex summa pauce palee“,
die hier nur unvollständig erhalten ist, da sie im Anfänge der C. III.
(auf Fol. 42.) mitten in einem Satze abbricht.
Die Summa selbst, der diese Excerpte entnommen sind, findet
sich in folgenden Handschriften:
1. Cod. lat. Mon. 184G7. (Teg. 467.) in klein Folio, 119 Blätter.
Die Summa steht Fol. 70.—119. von einer Hand des 13. Jahr
hunderts.
„2. e. naturalem aequitalem non scriptum“, und über leg cm: „i. c. jus constitutionis“.
Der Text ist ebenso in Cod. lat. Mon. 10244. Dazu am Rande die Glosse mit
der Sigle 11.: n jus constitutionis, seil, acquitutcm scriptam. u Von andern
Münchner Handschriften des Decrets haben Codd. latt. 17161. und 23561.: n ul
aut rationem vincat aut legem scriptam“, 13004.: „ut aut rationem, i. e. jus naturac,
vincat aut legem scriptam, i. c. conslitutioncm4305.: „ut aut rationem, i.e.jus
naturale, vincat aut legem scriptam, i. e. jus constitutionis“. Ganz so wie die Pariser
Summa ihn angibt, lautet der Text in keiner dieser Handschriften. Das vetus t[csta-
mentum] fehlt in allen.
9:l ) In der Summa heisst es an dieser Stelle: „ut aut rationein, i. e. jus naturale, vincat
aut legem, i. e. jus civile. Vel aut rationem, i. e. aequitalem, vincat aut legem
scriptam“.
Paucapalea.
489
2. Cod. lat. Mon. 15819. (Sal. Cap. 19.) in Quart, 109 Blätter,
Fol. 72. bis zu Ende. Die Schrift gehört ebenfalls dem 13. Jahr
hundert an.
3. Handschrift der königl. Handbibliothek zu Stuttgart II. 72.
(m. s. o.§. 2.) Fol. 71.—117. von einer Hand des 13. Jahrhun
derts mit der gleichzeitigen Überschrift: „Glose Graciani
super Canon“.
4. Cod. Admontanus 389. in Quart, 105 Blätter, sehr schöne
Handschrift des 12. Jahrhunderts“ 3 “).
Der Anfang lautet: „Quoniam in omnibus rebus animadver-
titur, id esse perfeetüm“, der Schluss: „et sicut baptismus, ita
confirmatio reiterari non debet“.
Die Vorrede ist in den Excerpten mit kleinen Abweichungen
ganz vorhanden 94 ). Bis zur C. IX. sind die Weglassungen und Ab
kürzungen nur gering ° 5 ). Von da an werden sie häufiger.
42. Dass nun die angeführte, in vier Exemplaren uns erhaltene
Summa in der That, wie in der Stuttgarter Handschrift der Excerpte
angegeben ist, von Paucapalea verfasst sei, wird durch Anführungen
aus ihr bei Rufinus (Mainzer Hs.) und in der Pariser Summa
zur Gewissheit.
Rufi ti u s
e. 5. Dist. I.:
„ . .. . Nec differt, i. e.
nihil Interest, a n s c r ip t u r a,
i. e. lege scripta, a n rat io ne,
i. e. consuetudine consensu
utentium approbata, consis-
tat, quoniam, i. e. quan-
doquidem, etratio, i. e.
consuetudo, legem scrip-
Atioiiyme Summa
c. 5. Dist. I.:
„ ■ Nec diff ert, i.e.
nihilInterest, an scriptura.
i. e. lege scripta, an ra-
tione, i. e. consuetudine
consensu utentium approbata,
consistat, quando, i. e.
quandoquidem , et rat io ,
i. e. consuetudo, commen-
93 "_) Diese und eine sehr schöne Handschrift der vollständigen Summa des Huguccio
fand sich hei einer Reise im August v. J., die mich auch nach Admont führte. Da
mein dortiger Aufenthalt nur kur/, war, so ist mir von dem hochwiirdigaten Herrn
Abt Benno Kreil die Benutzung beider Handschriften in Innsbruck mit grosser
Liberalität gestattet worden.
94 ) Diese Abweichungen sind in den Noten der Beil. I. angegeben.
95 ) Daraus erklärt es sich, dass Bickel I p. 4. die Excerpte des Cod. 11.71. für das gleiche
Werk hielt mit der in Cod. II. 72. enthaltenen Summa.
m
Bin
SraA.
■
—^basseem
490
Dr. Fr. Maassen
tarn commendat. Porro
si ratione, i. e. consuetu-
dine 90 J, constitit, i. e.pro
lege reputabitur. Ysidorus ali-
ter exponit earidem senten-
tiam in II. libro ethymologia-
rum dicens: Porro, si ratione
lex consistat, et lex perit,
perit omne, qaod ratione con-
stiterit. Sic exponit is-
tud paucapalea, ubiqae
rationem pro consuetudine
accipiens“.
ihid. verb. duntaxat:
„i. e. tantummodo, vel, ut
paucapalea glosat’.dum-
taxat, i. e. dum constet“.
Summa des Cod. Itamb. P. II. 20.
c. 33, Dist. XXIII. verb. paranym-
p hi s:
„paranimphi, qui ducunt
sponsam, vel s e cu n d u m
paucam pale am: para-
limphi, qui. dant aquam ma-
nibus“.
c. 9. Dist. XLVI. verb. seseupla:
„s. exculpa [\. sexcupla],
exponit paucapalea:
i. e. sextam partcm super
liabencia, ut pro V recipian-
tur VI. Sed ex sequentibus
habebimus, quod haec cxpo-
sitiorion valet. Sexcidpa enim
dat legem s er i p t a m
Porro si ratione, i. e.
si consuetudine, lex scrip
ta constat, lex erit
omne jam, i. e. quoddam
ex pluribus collectum, quod
ratione constiterit. Sed
idem Isidorus hanc senten-
tiam in secundo libro Etymo-
logiarum aliter ponit; ait
enim: Porro, si ratione lex con
sistat et lex perit, perit omne
jam, quod ratione constiterit.
ibid. vei'b. duntaxat:
„i. e. dum constet,“
c. 33. Dist. XXIII. verb. paranym-
p h i s :
„ Paranymphi sunt con-
sanguinei custod.es, sive ser
vil or es sponsae, qui parant
lympham, vel quia staut juxta
lympham; para enim juxta,
lympha aqua interpretatur“.
e. 9. Dist. XLVI. verb. seseupla:
„Sexcuplae dicuntur usu-
rae sextae partis, ut de V
solidis VI in capite anni re-
cipias“.
96 ) Hier ist in der Handschrift offenbar etwas ansgelassen, da die Wo rte des Texles:
lex constat, lex erit omne jam fehlen.
Paucapalea.
491
dicuntur, i. e. sex altera, i. e.
alter am partem super haben-
cia, ut pro IIII recipiantur
VI“. 9 ") Rel.
43. Wir haben somit hier, wie kaum zu bezweifeln, die älteste
unter allen Arbeiten , die sich eine zusammenhängende Erläuterung
des Deerets zur Aufgabe stellen. Sie ist zugleich der erste Versuch
einer wissenschaftlichen Behandlung des gesammten canonischen
Rechts, der nicht in der Form einer Quellensammlung erscheint. In die
ser historischen Bedeutung liegt das Hauptinteresse dieses Werkes.
Es bildet die Grundlage für alle späteren Arbeiten über das Decret.
Ihr Inhalt ist zum grossen Theil in diese übergegangen.
44. Über Plan und Einrichtung ist im wesentlichen Fol
gendes zu bemerken. Der Commentar erstreckt sich über alle Theile
des Deerets, auch über den Tr. de Poenitentia. Der Verfasser be-
folgt 4 die äussere Ordnung des Deerets und gibt zu den einzelnen
Abschnitten theils eine kurze Anzeige ihres Inhalts, theils erläuternde
Bemerkungen. Die Behandlung ist indess sehr ungleich. Oft wird
ausser einer summarischen Inhaltsangabe zu einer Distinctio oder
Quästio, ja zu einer ganzen Causa, nichts angemerkt. Die Erklärung
besteht in eigentlicher Exegese einzelner nach Willkür ausgewählten
Capitel, geschichtlichen Notizen, Etymologien, Erläuterungen römi
scher Rechtsbegrilfe, Auflösungen scheinbarer Widersprüche, mit
unter auch rechtsdogmatischen Excursen.
Einen sehr häufig wiederkehrenden Bestandtheil bilden diehisto-
riae, kurze Erzählungen, vorzugsweise aus der biblischen Geschichte,
zu deren Anführung der Text einer Stelle des Deerets nähere oder
entferntere Veranlassung bietet, und die gewöhnlich mit den Worten
Illam tangit historiam eingeführt werden. Diese sind fast särnrnt-
lich in spätere Commentarien übergegangen. Bei Rolandus finden
sich manche derselben. Stephanus und Johannes Faventinus
haben sie fast ohne Ausnahme entlehnt; hie und da ihre Zahl durch
neue vermehrt. Auch Huguccio bringt viele derselben. Nach Diplo-
vataccius hat Damasus eine eigene Sammlung solcher liistoriae
verfasst »s), dem dann B artholomäus Brixiensis gefolgt ist ").
97 ) Diese letzte Erklärung findet sich auch hei Rufinus, Stephanus, Johannes
Faventinus und Huguccio, so dass Paucapalea mit der seinigen ganz allein steht.
Sitzb. d. phil.-hist. CI. XXXI. Bd. III. Hft. 33
492
I)r. Fr. Maasscn
4ä. Auf diese liistoriae des Paucapalea bezieht sich die oben
(§. 3.) angeführte Äusserung des Rolandus. Gratian führt in dem
Dictum zu c. 13. C. XXXII. q. 1. zwei biblische Beispiele an aus
Josua c. 2. und 6. und Osee c. 1. und 3. Rolandus, nachdem er das
erste erwähnt hat, bemerkt:
„Hane ceterasque historias in Rationibus paucae paleae
diligenter legendo reperies 99a )."
Der Gebrauch des Wortes Rationcs in dem Sinne von Summa
oder Lehrbuch ist nicht unerhört. So findet sich im 11. und 12.
Jahrhundert der Titel Rationes dictandi für rhetorische Lehr
bücher , die sonst Summa de arte dictandi, Summa dictaminis
u. s. w. genannt werden 10 °). Merkwürdiger Weise findet sich aber
gerade die historia, auf die sich zunächst die Bemerkung des
Rolandus bezieht, nicht bei Paucapalea, während die etwas früher
von Rolandus angeführte, und die gleich darnach folgende, aus Osee
entlehnte, vorhanden sind. Offenbar hat es grössere Wahrscheinlich
keit, dass hier hinsichtlich des einen Theiles der Angabe ein Versehen
stattgefunden hat, als dass Paucapalea noch ein anderes Werk geschrie
ben haben sollte, in dem ebenfalls auf das Decret bezügliche biblische
Geschichten gesammelt wären. Ist dies richtig, so betrifft die oben
aus der Erwähnung des Paucapalea bei Rolandus gewonnene Zeit
bestimmung 101 ) zunächst diese Summa.
46. Namen anderer Decretisten werden nicht genannt.
Zweimal aber werden quidam angeführt 102 ). Dass darunter Glossa-
") Sarti P. I. p., 307. Savigny B. ä. S. 167. — ln Cod. lat. Mon. 8013.
(Kaisersh. 113.) folgen nach der Summa des Sicardus Fol. 103. sqq. Hystorie de-
cretorum mit dem Anfang: „D. VI. Legitur in libro gencsis, quod cain. u Dem an
geführten Titel ist von etwas späterer Hand noch der andere beigesetzt: „Con
cor dantie hystoriarum sacrc scripture ad d[ecretum]. u
") Sarti 1. c.— Nach Ir misch er Ilandschriftenkatalog der Universitätsbibliothek
zu Erlangen. Frankfurt a. M. und Erlangen 1832. S. 100. enthalten in Cod. Er
lang. 372.
" a ) Die in der Sammlung des Herrn von Savigny befindliche Handschrift (m. s. o.
Not. 2.) hat „per quires“ statt „reperics u .
10 °) M. s. Rockinger Über Formelbücher. München 1833., wo S. 40. und 41.
Note 61. und 62. Rationcs dictandi des Albericus von Monte Cassino und eines
Canonikers von Bologna angeführt sind. M. vgl. ebendas. S. 144.
101 ) M. s. §. 21. fg.
1 ° 2 ) Zu c. 3. C. II. q. 3.: ,,Q ui non probaverit, quod objccit,poe n a m ,
quam ip s e intu le r i t, pati at u r. Quidam hanc auctoritatcm ita exponunt:
Qui non probaverit, quod objccit, poenam, quam ipse intulerit, patiatur, id est, si
P a u c a p a 1 e a.
493
toren des Decrets zu suchen sind, kann nach dem Zusammenhang
nicht zweifelhaft sein. Dies beweist einerseits, dass die Summa nicht
gleich nach dem Erscheinen des Decrets geschrieben sein kann,
wie es andererseits mit ziemlicher Gewissheit schliessen lässt, dass
die Schule der Canonisten, zu deren Entstehung die Sammlung
Gratian’s den Anstoss gab, sieb im unmittelbaren Anschluss an diese
gebildet baben müsse.
47. Über die Weise das Decret zu eitiren, ist nichts beson
deres zu bemerken. Die grösseren Abschnitte werden mit Zahlen,
die Capitel regelmässig mit den Anfangsworten citirt. Das ganze
Werk wird decreta genannt. Alles wie bei den spätem Glossatoren.
Bisher unbekannte Stücke des canonischen Rechts habe ich
nur eines gefunden 103 ).
48. Römisches Recht ist verhältnissmässig viel benutzt. In
den meisten Fällen wird die Quelle nicht genannt. Auch ist die Über
einstimmung mit dem zu Grunde liegenden Text nicht allemal wört
lich, da der Verfasser die Stellen nicht einfach anführt, sondern in
den Zusammenhang der eigenen Darstellung verwebt.
Aus dem Kreise der Quellen des justinianischen Rechts
lässt sich die Benutzung folgender Stellen nachweisen:
1. Institution en.
Pr. de jure nat. 1., 2. t» 4 ) (zu c. 7. Dist. I.).
§. 1., 2. eod. (zu c. 8. und 9. Dist. I.).
de tali criminc quis saccrdos sive clericus accusatur, quod eo probuto dignus sit
depositione vel alia poena, eandem poenam accipiat, si probare non potest. Sed hoc
in laicis non obtinet. Non enim potest ab ordine deponi, qui eo carct. Si ergo lai-
cus falsitatcm intulit, poena falsi puniendus videtur (C rel. — Zu C. XXXII. q. 7.:
„ . . . . Quidam praedictas auctoritates aliter determinant. JDicunt enim, quod illa
capitula, seil. Qua c dam c um f rat re [c. 19.], Co neu buisti [ c. 23.], 5 i
quis cum noverea [c. 24.], de sponso et sponsa loquantur. Sponsi enim con-
suetudine scripturae viri appellantur et sponsae uxores“ rel.
103 ) Zu Dist. LXIII. : „Eugcnius papa secundus clericis urbinatis ecclesiae scribit di-
ccns: Iustitiae ratio exigit et antiquae ecclesiae consuetudo obtinuit, ut dcfuncto
cujuslibet civitatis episcopo clcrici juxta sanctovum patrum decreta in unum conve-
niant atque Spiritus sancti gratia invocata honestam personam sibi in pastorem con-
corditcr eligant. Elcctio autem cclebrata Romano pontifici sive metropolitano proprio
cum electorum subscriptionibus repraesentanda est 3 ut illius judicio, cujus interest
manurn ei consecrationis imponcre, si idonea est, approbetur, si minus canonica, re-
probetur.“ „Eugcnius papa s ccun d us a findet sich in Cod. lat. M o n. 18467. und Cod.
Admo n t. Cod. S tu t tg-. H. 72. hat „t ertius“ und Cod. lat. M o n. 16819. blos
„Eugcnius papa.“
Oder 1. 1. §. 3. D. de just, et jure 1. 1.
33 *
494
Dr. Fr. M a a s s e n
§. 1. de patria potestate. 1. 9. ,05 ) (zu C. XXVII. Einleitung).
§. 5. quibus modis 1. 12. (zu c. 9. Dist. I.)'
§. I. de Melis 1. 13. (zu c. 12. Dist. I.)
Tit. de usucapionibus. 2. 6. (zu c. 12. Dist. I.)
2, Digest um vetus.
I. 1. §. 2. de just, et jure. 1. l.(zu e. 11. Dist. 1.)
I. 1. de orig, juris. 1. 2. (Anfang der Vorrede.)
I. 45. §. 4. ad l. Aquil. 9. 2. (zu e. 7. Dist. 1.)
I. 2. §. 2. de rebus cred. 12. 1. (zu C. XIV. q. 3.)
I. 1. de ritu nupt. 23. 2. (zu C. XXVII. q..2. Einleitung.)
3. Infortiatum.
1. 10. §. 10. de gradibus et affin. 38. 10. 105 °) (zu C. XXXV.
Einleitung.)
4. Digestum novum.
I. 3. de usurp. 41. 3. (zu c. 12. Dist. I.)
J. 1. §. 27. de vi 43. 16. (zu c. 7. Dist. I.)
1. 1. de except. 44. 1. (zu C. II. Einleitung.)
I. 1. §. 13. de lege Com. de falsis 48. 10. (zu C. II. q. 3.)
1. 1. adS. C. Turpillian. 48. 16. (zu C. II. q. 3.)
I. 24. de captiv. 49. 15. (zu c. 10. Dist. 1.)
I. 24. de verb. sign. 50. 16. 10 °) (zu c. 12. Dist. I.)
I. 27. §. 1. eod. (zu c. 10. Dist. I.)
I. 39. §. 1. eod. (zu c. 12. Dist. I.)
S. Codex.
Const. de novo Codice faciendo und de Justinianeo Codice
confirmando (zu e. 2. Dist. VII.)
1. 1. ut quae desunt 2. 11. (zu C. IV. q. 4.)
1. 1. de litis contest. 3. 9. (zu C. II. q. 2.)
1. 8. de except. 8. 36. (zu C. III. q. 6.)
1. 13. eod. (zu C. III. q. 6.)
105 ) Steht aber auch bei G r a t i a n C. XXVII. q. 2. Einleitung-.
105 ") Diese ist die einzige Stelle aus dem Infortiatum (und zwar aus den Tres partes), die
ich habe finden können. Die Einleitung zur C. XXXV., wo sie vorkommt, ist abge
druckt in der Beil. III. unter 4).
106 ) Oder I. 62. de reg.jur. 60. 17.
Paucapalea.
495
6. Au t he n t i cu in.
Const. 17. c. 3.
Const. 134. (133. in corp. 168 constitutionum) c. 21. §. 2.
Beide Male : „ut in autenticis legitur“.
7. Julian.
Const. 15. c. 8.
Es heisst nämlich zu C. VI. q. 3.: „Sic enim in autenticis
legitur: Qua in provincia“ rel. (Auth.Cod. ubi de crimi-
nibus 3. 15.) „Et item: Nemo neque in criminali
causa neque in tributorum exactione, neque in
populari seditione a pra eside pro vinciae tentus
foripraescriptione utatur.“
Const. 115. c. 4.
Zu C. I. q. 3. heisst es: „Lex autem Justiniani dicit, ut,
quod pro hac causa datum est, ecclesiae vindicetur, cujus
voluit sacerdotium emere. Si autem laicus est, qui pro hac
causa aliquid accepit, vel mediator rei factus est, ea, quae
data sunt, in duplum ab eo exigantur eCclesiae vindicanda.“
Es sind demnach alle den Glossatoren bekannten Quellenstücke
des justinianischen Rechtes benutzt.
49. Was Julian betrifft, so halte ich die Benutzung desselben,
wie die der andern Stücke, für unmittelbar. Const. 115. c. 4. findet
sich freilich auch in c. 13. der kleinen Rechtssammlung des Abbo
von F1 e uri 107 ) (-j- 1004). Dass aber Paucapalea diese gekannt habe,
ist nicht eben wahrscheinlich, jedenfalls nicht wahrscheinlicher, als
das ihm Julian zu Gebote stand. Dagegen kommt Const. 15. c. 8. in
keiner in den Quellenverzeichnissen bei Savigny B. 2. S. 477. fg.
berücksichtigten Sammlung vor. Da die Bekanntschaft des Irnerius
mit Julian nur auf Vermuthung beruht 10S ), so dürfte diese Stelle des
Paucapalea leicht das älteste directe Zeugniss für die Benutzung
Julian’s durch die Glossatoren sein 109 ).
107 ) Ma b i 11 on Vetera analecta (Paris. 1723. Fol. p. 133.—148.). Die Inscription lautet
hier: „Ex libro legum cap. 430.“— Auch in dem Policraticus des Johannes
Sa r is b er i e n s i s (f 1180) Üb. 7. c. 20. (Paris. 1313. 8° f. 161.) kommt diese
Stelle vor (m. vgl. S a v i g n y B. 4. S. 432. Note c.). Die Übereinstimmung ist aber
hier nicht wörtlich, und überdies wohl nicht gewiss, dass dies Buch vor der Summa
des Paucapalea geschrieben ist.
100 ) M. 8. Bien er Geschichte der Novellen S. 268., 289.
109 ) Über die Benutzung Julian’s in der voraccursischen Zeit s. m. Savigny B. 3.
S. 495. fg., B. 4. S. 276., und Bien er a. a. 0. S. 289. fg.
496
Dr. F r. Nniic n
50. Auch zwei Autheritiken kommen vor. Ausser der oben
bereits angeführten Auth. Qua in provincia zu C. VI. q. 3. findet
sich nämlich ein Stück der Auth. Nisi brenes Cod. de sentent. ex
peric. recit. 7. 44. zu C. II. q. 1., ohne dass indess hier die Her
kunft angegeben wäre.
31. Aus folgender Stelle könnte man geneigt sein, auf eine
Bekanntschaft mit dem w es tgothis eben Breviar zu schliessen.
Es heisst nämlich zu c. 11. Dist. I.: „Jus aliud publicum, aliud
privatum. Jus publicum est, quod ad s tut um, i. e. dignitatem, rei
Romanae principaliter special; privatum, quod ad singulorum uti-
litatem perl inet. Jur e publico tenetur, si quis einem ante
populum, judicem vel regem appellantem necaverit
v el terruerit sine v erb er averit aut vinx erit“.
Die Worte von „Jus publicum“ bis „perlinet“ sind aus I. 1.
§2. D. de just, et jure genommen. Von da aber liegt Pa u I. V. 26. ll0 )
§. 1. zu Grunde: „Lege Julia de vipublica damnatur, qui aliqua
potestate praeditus einem Romanum antea ad populum, nunc ad im-
peratorem, appellantem necarit, necarine jusserit, torserit, verbera-
verit, condemnaverit, inve vincida publica duci jusserit“. 1U )
Das „antea ad populum“ ist lediglich aus. Missverständniss
in „ante popidum“ verändert 112 ). Die Veränderung des „impera-
torem“ in „regem“ ist dagegen ohne Zweifel absichtlich geschehen.
Ist der Verfasser der Summa selbst der Urheber, so ist der rex der
lombardische König. Beziehungen auf staatsrechtliche Verhältnisse
seiner Zeit finden sich häufiger. Zu c. 10. Dist. ead. begegnen uns
die comites, duces und marchiones.
Da aber das Breviar von Schriftstellern des frühem Mittelalters
unendlich häufig benutzt ist, während wir bei den Glossatoren so gut
wie gar keine Spuren einer unmittelbaren Bekanntschaft mit diesem
Beehtsbuch finden 11S ), so könnte diese Stelle auch durch ein anderes
Medium als durch das Original an den Paucapalea gelangt sein.
li0 ) ln der Lex liomana Visigothorum bei Hän el tit. 28.
11A ) Im wesentlichen dasselbe ist gesagt in 1. 7. D. ad l. Jul. de vi 48. 6. Die Worte
„ante populum“ „appellantem“ tert*uerit u (statt torserit) schliessen aber jeden Zweifel
aus, dass nicht diese Stelle Ulpian’s sondern die obige des Paulus zu Grunde liegt.
112 ) Dasselbe kommt in der Epit. Mon. bei Ilänel vor.
113 ) M. s. S a v i g n y ß. 3. S. 504. und meinen Aufsatz bei ßekker und M u t h e r
ß. II. 1858. S. 220. fg.
Paucapalea.
497
J
Beilagen.
1. Vorrede zur Summa des Paucapalea.
Dem Text liegt die Admonter Handschrift zu Grunde. Die
Varianten sind angegeben aus Cod. lat. Mon. 18467. (M. 1.) und
1K819.0 (M- %■)’ Cod. Stuttg. H. 71. (S. 1.) und H. 72. (S. 2.).
Quoniam in omnibus rebns animadvertitur, id esse perfectum,
quod suis 1 “J omnibus ex 2 ) partibus constat, exordium vero cujus-
que rei potissima "•) pars est 3 “)> ideoque 4 ) mihi videtur, agenda
mim causarum 5 ) formam et ecclesiastici juris originem ejusque
processum non esse 6 ) inutile ignorantibus reserare. Etenim' 1 )
sanctorum patrum decretis conciliorumque statutis mens avida
eorutn sanctiones facilius intelliget s )-
Placitandi forma in paradiso primum 9 ) videtur inventa,
dum 10 ) protoplastus de inobedientiae crimine ibidem n ) a do-
mino <0 interrogatus, criminis relatione sive remotione usus, cid-
pam in conjugem ,3 ) removisse 14 ) autumat lä ) dicens: Socia i6 )
A ) Für diese Hs. habe ich eine vom Herrn Professor Kunst mann mir gütig-st zur
Verfügung gestellte Copie der Vorrede benutzt,
i“) S. 2: „his“.
2 ) S. 1. om. „ex u .
3 ) 31. 1.: „potenti ssima vel potiss i m a“. — 31. 2.: potentissi m a u .
3rt ) Cfr. 1. 1. D. de orig.jur. 1. 2.
4 ) 31. 1.: „ideo nt“. — 31. 2., S. 2.: „ideo quoque“. — S. 1.: „idco“.
5 ) S. 1.: „ag endo r um o m n i u m u .
6) 31. J., 31. 2., S. 2.: „est“.
7 ) S. 1.: „Est en i m“.
8 ) S. 1.: „i nt e lli g er e“.
9 ) 31. 1.: „primo“. — S. 1.: „prius u .
10 ) S. 2.: „c u m“.
1A ) S. 1. om* „ibidem“.
% S. 1.: „d e o“.
13 ) 31. 1.: „c onj ug e“.
14 ) S. 1.: „t o r que r e“.
15) 31. 2. : „attumat“. — S. 1.: se autumat
A6) S. 2.: „Muli c r“.
498
Di*. Fr. M a assen
quam dedisti mihi i7 ), dedil mih i 1 s ) et comedi. Deinde in
veteri lege nobis tradita 10 ) , dum Moyses in lege sua ait: In ore
duorum vel trium ao ) stabil omne verbtim. In novo quoque
testamento Paulus apostolus causas ordinemque* 1 ) terminandi
insinuasse videtur, cum ad Corinthios in epistola 2!i ) ait 23 ): Sae-
cularia igitur jiulicia 21 ) si hab -ueritis, cont emtibi-
les qui sunt in ecclesia, illos 25 ) constituite ad judi-
c an dum.
Sic utriusque testamenti auctoritate clar et, tarn leg es quam
ipsa decreta placitandi formam ex canonica sumsisse scriptura.
De origine vero juris restat dicendum. Sed quia ecclesiasti-
corum jurium aliud naturale, aliud scriptum, aliud consuetudina-
rium dicitur, quo tempore horum quidque 26 ) coeperit, merito
quaeritur. Naturale jus 21 ), quod in lege et 3S ) evangelio contine-
tur, quo a9 ) pro.hibetur quisque alii inferre, quod sibi nolit fieri, et
jubetur alii facere, quod vult 30 ) sibi fieri sl ), ab exordio raliona-
bilis creaturae coepit et int er omnia primatum obtinuit 32 ). Nullo
enim variatur tempore, sed immutabile permanet. Consuetudinis
autem jus post naturale 33 ) liabuit 34 ) exordium, ex quo homines
in unum convenientes coeperunt simul liabitare 3!1 ); quod ex eo
factum creditur tempore 36 ), ex quo Cain 37 ) aedificasse civitatem
17 ) M. 2. om. „mihi“.
18 ) M, 1. om. „mihi“. — S. 1• add. „d e Hg n o“.
19 ) S. 1. add. „e s t.“
20 ) Cod. cet. add. „t e s t i u m“.
21 ) S. 1.: „Paulus o r di n e m c a u s a s“.
22 ) S. 1. om. „in epistola“.
23 ) M. 1,: „videtur, Co ri n t hi i s s er i b e n s“.
24 ) S. 1.: „ne goti a“. — M. 1. add. „e t c“
25 j S. 1. om. „in ecclesia, illos“.
26 ) S. 1.: „tempore u n u m quidque i st or u m“.
27 ) S. 1. add. „e s t“.
28 ) S. 1., S. 2. add. „i n“.
29 ) S. 1.: „q uoqu e“.
30 ) M. 1.: „op t a t“. — S. 1.: „v eli t“.
31 ) S. 1. add. „Ho c“.
32 ) M. 1., M. 2., S. 2.: „o btinet“. — S. 1: „tenet“.
33 ) Cod. cet.: „post naturalem lege m“.
34 ) M. 1.: „h ahne r i t“.
35 ) S. 1.: „inhabitare“. — S. 2.: „c o h ab i t ar e“.
36 ) S. 1. om. „tempore“.
37 ) S. 1.: „Ca hin“. — S. 2. „Chain“.
Paucapalea.
499
legitur. Qnod cum 38 ) propter hominum raritatem 89 ) diluvio 4o )
fere ki ) videatur 43 ) exstinctum, postea Nemroth tempore immuta-
tum sive reparatum potius aestimatur 43 ), cum ipse una cum aliis
coepit 44 ) ulios opprimere, alii propria imbecillitate eorum 45 )
coeperunt ditioni esse subjecti. Unde in Genest de eo dicitur:
Coeqiit Nemroth 1 * 6 ) esse robustus Venator 47 ), i. e. homi
num oppressor atque exstinctor 4S ), cpios ad turrim aediflcandam
allexit 49 ). Sed et scriptae constitutionis origo 50 ) ab institutioni-
bus coepit, quas dominus Moysi dedit 51 ) dicens: Cum tibi ven-
ditus fuerit frater 5S ) tuus hebraeus uut hebraea et 53 )
VI annis servierit 54 ) tibi, in 55 ) VII. anno dimittes eum
liberum 66 ), et nequaquam vacuum abire patieris, sed
dabis Ulis 5 '’) viaticum 5S ) de gregibus, de area et de
torculari tuo, quibus dominus Deus tuus benedixe-
rit 59 ) tibi 60 ). Si autem noluerit egredi, eo quod dili-
gat te et domum tuam, assumens subulam perfora-
38 ) M. 1. om. „cum“.
39 ) M. 2.: „r a r itat c“. — S. 2. not. inter lin.: „vel varietate m“.
,0 ) S. 1. om. „diluvio“.
41 J M. 2. om. „ferc“.
42 ) S. 1.: „v i d e b a t u r“.
43 ) M. 1.: „postea t e mp o r e Neprot i m i tu tum potius sive rep a r atu m
ac sti m atu r“. — M. 2.: „postea t e mp o r e Neroth i m i t a t u m sive
r ep ar at u m p o t i u s e cci s ti m atu r u . — S. 1.: „postea t e mp or e Ne m-
r oh t i m m u tat u m sive potius r e p ar at u m exist i m atu r“. —
S. 2.: „postea tempore ne m r oth i m mutatur sive r ep r ob atu m
potius a e stim atu r“.
44 J M. 2.: „c o e p c r i t“.
45 ) S. 2.: „ejus“ cum not. inter lin.: „vel eorum“.
46 ) S. 1.: „N e in r o h t“.
47 ) S. 1. add. „c o r am de o“.
48 ) S. 1. om. „atque exstinctor“.
49 ) S. 2.: „all e x e r i t“.
50 ) S. 1.: ,jus“; in marg. not.: „al. origo.“
51 ) S. 1.: „t r a di di t“.
52 ) M. 2.: „s ervu s“.
53 ) S. 1.: „dicens: „S i einer i s s e r v um heb r a e u m“.
54 ) S. 1.: „s c r v ie t“.
55 ) S. 2. om. „in“.
56 ) S. 1.: „i n s cp ti mo eg redietur lib e r“.
57 ) Cod. cet. om. „illis“.
58 ) S. 2.: „ariete in“.
59 ) M. 2., S. 2.: „b enedixi t“.
60 ) M. 2. om. „tibi“.
500
Dr. F r. M a a s s e n
bis ßi ) aurern ejus in janua dotrnus tuae et serviet tibi
usque in aeternum. Ancillae quoque similiter fncies.
Hane et alias divinas constitutiones 6a ) genti hebraeae Moyses pri-
mus omnium sacris literis explicavit os ).
Ostenso constitutionis divinae ° 4 ) ac consuetudinis naturalis-
que juris exordio nunc de decretis illis 65 ) videndum est, quod
primum 66 ) sanctorüm patrum decreta, hule 67 ) conciliorum statuta
condi 08 j coeperint. Post apostolos namque summi pontifices et
sancti patres, penes quos cum domino canonum 89 ) erat auctoritas,
continuo sibi successerunt. Non tarnen iis licentia convocandi con-
cilia ,0 ) usque ad tempora beati Silvestri 71 ) est™) concessa; qui,
dum sub Constantino 7S ) Imperatore in abditis 74 ) Serapti 75 ) montis
latitaret 76 ), per ipsum imperatorem revocatus est; sieque Impe
rator per eum conversus et christianissimus factus licentiam eccle-
sias construendi 77 ) et Christianos ibidem conveniendi 7S ) concessit.
Atque ex tune pontifices in unum convenire 7# ), concilia celebrare
et so ) conciliorum decreta condere coeperunt. Sub hoc enim sancti
patres in concilio Nicaeno de omni orbe terrarum convenientes
Arianae perfidiae 81 ) condemnaverunt blasphemiam s '~), qua de
61 ) S. 1.: „tuam, a s s ume s sub ul am per for abisqu c“.
® 2 ) S. 2.: „i n stitutionc s“.
63 ) M. 1.: „exp li c u i t u .
64 ) Cod. cet.: „Ostenso c on s tituti onu m d i v i n a r u m.
65 ) S. 1. om. „illis“. — S. 2.: „all ud“.
66 ) M. i.y iS. 2.: „p r i in o“.
67 ) M. 2.: „i nte r u .
68 J S. 1.: „videndum est ac conciliorum statu tis, quo pr i m o te mp o r e u .
69 ) S. 1.: „quos c on den di c a non e s u .
r ») S. 1.: „ecetesia s“.
71 ) S. i., S. 2. add. „p ap ae“.
72 ) S. 1.: „fuit“. — M. 2. om. „est“.
73 ) M. 1.: „s taut in o“.
74 ) M. 1.: „c r ip t a“.
75 ) M. 1., . 1.: „sirapt i“. — M. 2.: „s errat i“. — S. 2.: „s i r a p i“.
76 ) S. 1.: „latere t“.
77 ) Cod. cet.: „ap e r i e n d i“.
78 ) S. 1.: „c o nv o c a n d i“.
79 ) S. 1. add. „et“.
80 ) S. 2.: „e t c“ Hinc usque ad „de inaequalitate sancta c“ desiderantur
omnia in S. 2.
81 ) S. i., S. 2.: „bla sp he m i a e“.
8 2 ) S. i., S. 2.: „p e r fi di a m“.
P a u c a |) a 1 o a.
SOI
inaequalitate sanctae trinitatis- 8S ) idem 84 ) Arius saserebat,
seil, diversas in trinitate esse 85 ) substantias se ). Consubstantialem
Deo patri Del 87 J filium eadem sancta synodus per Symbol um
definivit.
Quae omnia tarn conciliorum quam sanctorum patrum decreta
communem liabent materiam, ecclesiasticos vülelicet ordines et
diynitates atque earum 8S ) causas. Communem quoque liabent
intentionem, ostendere seil., qui sint ecclesiastici ordines et qui
proveliendi 89 ) ad 00 ) ipsos, et quod officium cujusque, quae 01 ) etiam
ecclesiasticae diynitates, et quibus et per quos sint conferendae, et
qualiter in iis vivendum; de ,yi ) ecclesiasticis quoque ° 3 ) causis,
apud quos et per quos et qualiter sint tractandae. Ecce 94 ), quae
materia et quae generalis decretorum intentio ° 5 ).
Magistri autem hoc opus condentis ipsa decreta sunt mate
ria oc ). Sicut enim° 7 ) in artibus ijjsis alia ipsius artis est materia,
alia agentis de ipsa os ) (utpote artis rhetoricae materia est 00 )
hypothesis quaestio, Tullii vero materia ars ipsa est), nec secus
alia est decretorum materia et 10 °) alia ordinantis ipsa 101 ), ea
seil., quae jam 102 ) assignata est 1,KI ).
ö3 ) M. 1.: „qua inacqualitatem personar u m i n i r i n i tat c u .
5. 2.: „fiele“.
85 ) S. 2. om. „esse“.
86 ) S. 1. add. „et“. — S. 2. add. „sed“.— M. 1.: „asserebat et substantiae
äiver sitatem“.
8r ) S. 2. om. „dci“.
88 ) S. 1., S. 2.: „e o r u m“.
89 ) M. 2.: „p r o m ov e n d i“.
90 ) S. 1. add. „c o s“.
91 ) S. 1. om. „quae“.
»*) S. 1., S. 2. om. „de“.
93 ) M. 1. om. „quoque“.
94) S. 1., M. 2.: „et“.
95 j Cod. cet. add. „s i t“.
9G ) S. 1.: „Magister autem hoc opus condens ipsa decreta habet
m ater i a“.
97 ) M. 1.: „a ute m“. — S. 1. om. „enim“. — S. 2.: „S i c en i m“.
98 ) S. 1.: „arte“.
") M. 2. om. „materia est“.
10 °) S. 1. om. „et“.
101 ) M. 2.: „alia o r di n an d i ipsa m u .
102 ) M. 1. add. „o r dinat a v e l“.
103 “) S. 1. om. „ea seil., quae jam assignata est“.
502
Dr. F r. M a » s s e n
Intentio vero ejus fuit, ipsa decreta ordinäre et in superficie
dissonantiam 104 ) ad concordiam revocare.
Modus autem tractandi talis est: Compositurus hoc opus a
principali parte 105 ) incipit, a divisione seil, juris et consuetudinis.
Inde eorum species multifarie 10 °) supponens singulas quasque
assignat. Causam etiam 10 ' 1 ') constituendarum 108 ) legum earumque
officium suhscribit 109 j. hule numerum et ordinem conciliorum, et
quorum decreta quibus uo ) siut praeferenda, supponit. Tandem ad
ordines ipsos et IU ) ad 112 ) ecclesiasticas dignitates accedit, docens,
quibus et per quos siut conferendae 113 ). Demum iU ) transit ad
causas, quas varias et multiplices ponit, in quibus formatis quae-
stionibus hinc inde in confirmatione llä ) et negatione 1 Hi ) auctori-
tates allegat, quas velut 117 ) prima fronte oppositas 118 ) semper ad
concordiam revocare contendit ll0 ). In extremis de ecclesiarum
dedicatione et corpore '-°) et sanguine domini atque baptismo nec
non et 12i ) confirmatione pleniter tractat. Et in bis suum peragit l ~ 2 )
tractatum.
II. Eine der vorigen nahe verwandte Vorrede.
Im Cod. lat. Mon. 18467. folgt auf der letzten Seite unmittelbar
nach der Summa des Paucapalea ein Prolog zu einer Summa von
Gratian’s Decret, der entweder eine Vorarbeit des Paucapalea fin
den in der vorigen Beilage mitgetheilten Prolog seiner Summa, oder
104 ) M. 1., M. 25. 2.: „d issonanti u“.
105 ) M. 1. om. „a prineipali purtc“.
106 ) S. 1.: „m ultiplic c s. u
107 ) S. 1.: „a utc m u .
108 ) M. 2.: „c on s t r u e n d a r u m“
109 J S. 1.: „e a r u m que i n te nt io n e in s u pp o n i t u .
110 ) M. 2.: „g u o q u e u . — S. 1. add. „p r ae s int et qu i b u s“.
114 ) M. 2. om. n et u .
14 2) M. 1. om. „ad“.
14 3) ß. 1. add. „et“.
114 ) S. 2.: „De i n d e“.
115 ) M. 1., M. 2S. 2.: „a f f i r m ation c“. — S. 1.: „a f f i r m a t i a n e m
116 ) S. 1.: „n cijatione in“.
117 ) S. 2.: „vel d c“.
118 ) M. 1.: „o p p ona s“. ^
119 ) iS. 1., iS. 2.: „i nten d i t“.
12 °) M. 1.: „o p e r e“.
121 ) M. 2. om. „et“.
12 2 J M. l. } iS. l. y iS. 2.: „terminat“.
P a u c a i» a 1 e a.
S03
auch unter starker Benutzung des letzteren von einem Andern ver
fasst ist. Aus dem ersten Satz erhellt mit Gewissheit das hohe Alter
dieses Stückes *). Um seiner nahen Verwandtschaft willen mit der
Vorrede zur Summa des Paucapalea soll es hier mitgetheilt werden.
Inter ceteras theologiae disciplinas sanctorum patrurri clecreta
et conciliorum statuta non postremum obtinent locum; si quid
[I. quidem\ ad ecclesiasticas agetulas et res deddendäs sunt per-
necessaria, ordine placitandi ex legibus translato. Videtur tarnen
placitandi forma in paradiso primo instituta, dum primus homo de
peccato ibidem requisitus relatione sine [I. sive] remotione criminis
usus in uxorem ctdpam removere contendit dicens: Mulier, quam
dedisti mihi, dedit mihi, et comedi. Post etiam in veteri
testamento nobis est tradita, dum Mopses in lege sua ait: in ore
duorum vel trium t. o. v. In novo quoque testamento, per
quos [?] causae sunt agendae et quo ordine terminandae, P. apo-
stolus videtur insinuasse, dum ait: Saecularia, si habueri-
tis judicia, eos, qui sunt inter vos, eligite. Sic sei'ie
utriusque testamenti liquido constat, tarn leges, quam, ipsa decreta
placitandi formam ex canonica sumsisse scriptura. — Nunc autem
de ipsis decretis videndum est, quod primuni sanctorum patrum
decreta, inde conciliorum statuta condi coeperunt. Post apostolos
namque sanctipatres et summipontifices,penes quos credendi (7. con-
dendi\ canones erat auctoritas, continue sibi successerunt. Non tarnen
eis licentia convocandi concilia usque ad tempus beati Silvestri est
concessa, qui dum sub Constantino imperatore in abditis Sirapti
montis latitaret, qui [I. per] ipsum imperatorem est revocatus, et
sic Imperator per cum conversus et christianissimus factus licen-
tiam ecclesias aperiendi et cliristianos ibidem conveniendi conces-
sit, atque ex tune pontifices in unum convenire et concilia cele-
brare et conciliorum decreta condere coeperunt. Quae videlicet
omnia tarn conciliorum quam sanctorum patrum decreta et mutiere
[1. communem] liabent materiam, ecclesiasticos seil, ordines et
dignitates atque earum causas. Communem quoque habent inten-
tionem, ostendere seil., qui sunt ecclesiastici ordines, et quod [I. qui\
promovendi ad ipsos, et quod officium cujusque; quae etiam eccle-
siasticae dignitates, et quibus et per qiuts [I. quos\ sint conferendae,
*) M. s. o. §. 4. und Not. 8. ebendaselbst.
wmwm
504
Dr. Fr. Maassen
et qualiter in eis vivendum. De ecclesiasticis quoque causis, apud
quos et per quos et qualiter sint tractandae. Ecce, quae materia et
quae generalis intentio sit decretorum. Magistri autem condentis hoc
opas ipsa decreta sunt m. Sicut enim in artibus ipsis alia m. est
artis ipsius, alia agentis de ipsa (jidpote artis rhetoricae m. est
ipotesis quaestio implicata circumstantiis, Tullii vero m. ipsa
ars), nec secns alia est m. decretorum et alia ordinantis ea, scili-
cet quae ante assignata est. Item [1. Intentio] vero ejus ipsa decreta
ordinäre et superficie dissonantiam ad concordiam revocare. Modus
vero tractandi talis est: Ordinaturus decreta ipsa altius ingreditur,
ad divisionemscil.juris. Quodprimo loco in duodividit, juris [1. jus]
videlicet et naturale et consuetudinis. Inde multiplices posuit divi-
siones, quarum singulas exequitur. Gausas etiam constituendarum
legum et earum officium subscribit. Inde assignat ordinem et nume-
rum conciliorum, et quorum decreta quibus sint praeferenda. Tan
dem accedit ad ordines ipsos et ecclesiasticas clignitates, dicens:
quibus et per quos sint praeferendae [I. conferendae]. Demum
transit ad causas, quas ponit varias et midtiplices. In quibus for-
matis quaestionibus liinc inde in affirmatione et negatione aucto-
ritates allegat. Quas velut prima fronte oppositas semper ad con
cordiam revocare contendit. Et sic terminat tructatum suum.
UI. Probestclleu aus der Summa.
Der Text ist nach der Admonter Handschrift. Die Varianten
des Cod. lat. Mon. 18467. (M. 1.) sind in den Noten angegeben.
1) C. II. q. 6.
Sexta sequitur quaestio, qua quaeritur, quo remedio causa
vitiata sublevetur; quae tune vitiata dicitur, quando judex livore
odii vel favore adversariorum, sive pecunia aut inscitia 4 ) ductus
in audiendo sive judicando gravat injuste, quem judicat. Causa
vero vitiata auctoritate Fabiani 2 ), Anacleti, atque aliorum
midtorum remedio appellationis sublcvari poterit. Appellatio sive
provocatio est ad majorem judicem contra sententiam facta vocatio
M. 1.: „i n 8 ci enti a".
2) M. 1. add. „ct“.
ir~ i fn—mr nywi • ~~. ir r ~ • i in m nirirTi^niiriiiri^^MmirarMM
P a u c a p a 1 e a. 50.1
et proclamatio. — Cup. Quotiespost 3 ) au d itam caus a m 4 ) etc.
usqae si quaestionem in civili causa hab enclam-j. Civile
negotium est, ubi agitur de re pecuniaria, criminale, ubi persona
de crimine accusatur. — Appellatione interposita usque
medio tempore nihil novari oportet 6 ); sed omnia in suo
statu esse debent, donec superior judex sententiam approbet et
corrigat. — Cap. Sane si ex partium usque a pauciori
numero quam constitutum est' 7 ), in eodem concilio Cartlia-
ginensi, seil, ut episcopus condemnandus a XII episcopis; a VI
presbyter, diaconus a tribus audiatur. — Cum autem in causa
capitali vel Status 8 ). Capitalis causa dicitur, quando aliquis
deportandus est in insulam vel capite plectendus. Causa status est,
quando de conditione fit quaestio: utrum servus, an ingenuus 9 )
sit. In his causis non per procuratores, sed per se ipsos appellan-
tes causam suam agere oportet. . Et notandum, quod quaedam
crimina sunt, propter quae quis condemnatus appellans non audi-
tur, si tarnen notoria 10 ) sunt. Ut est, qui a judice ad causam voca-
tur et per contumaciam abest. Nullus etiarn homicidarum, venefi-
corum, maleficorum, adulterorum, itemque eorum, qui manifestum
violentiam commiserunt, argumentis convictus, testibus superatus,
voce etiam propria vitium scelusque confessus audiatur appellans.
Et hoc in notoriis. In occultis autem, si testibus productis, instru-
mentisque prolatis, aliisque argumentis praestitis, sententia contra
eum lata sit, et ipse, qui condemnatus est, aut minime voce sua
confessus sit, aut formidine tormentorum territus contra se aliquid
dixerit, provocandi ei licentia non denegetur. Ab executione
quoque sententiae appellari non potest, nisi forte executor senten-
tiae modum judicationis excedat.
2) C. XI». q. 2.
Quod autem quaeritur, an praescriptione temporis jus perci-
piendi decimas et funerandi tollatur, auctoritate Gelasii non
3 ) M. 1.: „p ot c. s (“.
“) c. 26.
5 J c. 30. meil.
0) c. 31.
7 ) c. 34.
K ) c. 39. Dict. Grat.
9 ) M. 1.: „g c nu « s“.
10 ) M. 1.: „n otari a“.
3
806
Dr. Fr. M a a s s e n
fieri posse ostenditur. Ait enim: Nulla praesumtione sta-
tum parocliiarum, qui perpetuae actatis firmitate
duravit, patimur immutari, qnia nec negligentia
pontificum, nec temporalis objectio, quae per incu-
riam forte generatur, potest divellere dioecesim
semel constitutam “). Haec auctorifas multiplicitcr distingui-
tur. Sunt quaedam dioeceses, quae certis limitibus distinctae sunt.
Hae nullomodo praescribi possunt, quia, ut dictum est, temporalis
objectio dioecesim semel constitutam divellere non potest. Aliae
vero, quae non sunt certis limitibus distinctae, et de quibus certa
definitio non olim processit, Inno c en'tii et Gelasii auctoritate
praescriptione tolluntur. Distinguitur et aliter: Quae sua aucto
ritate quisque usurpat, quia nullo titido possidere incipit, prae-
scribere non potest. Et in hoc casu intelligenda est praedicta
auctoritas Gelasii: Temporalis objectio, quae per incu-
riam forte generatur, non potest divellere dioece
sim semel constitutam. Intelligendum est, si i ~) sine ullo
titido, sed sola Usurpationen) possidere coeperit. Si vero judicis
auctoritate et privilegiorum longa consuetudine possidere coeperit.
tune temporalis objectio, ut octava synodus ostendit, actori
silentium imponit. Haec omnia, quae in hac quaestione dicta sunt,
in III. quaestione XVI. causae decretorum reperiuntur. — Nunc
autem quaeritur de jure funerandi etc. Item: Dictum est
prophetae, qui contra pracceptum domini 1 ' 4 ) etc. lllam
tangit historiam in qua legitur, quod, cum Israel repulisse
Roboam filium Salomonis 15 ) etc., ut supra causa I. quaestione I. —
Cap. Non aestimemus ad mortuos 10 ) etc. usque Melius
enim super erunt ista his, quibus nec ob sunt nec pro-
sunt, quam iis deerunt, quibus prosunt, i. c.: melius
est, ut fiant orationes pro aliquibus, quibus non prosunt, quam sub-
traliantur his, quibusprodessepossunt. — Cap. Anim a e de func-
<') c. s. c. XVI. q. 3.
12 ) M. 1. om. „si u .
13 ) M. 1. add. „eam u .
14 ) c. 3. h. q. Dict. Grat. §. 1.
1 r> ) M. 1. add. haec: „et conslituisset J e r ob o am servum ejus tibi in
regem; i ste Je roboam fecit du o s vitulos aur e o s, posuit unum
in betih et alt er um in d a n, constituitque di em so lemp n e.m u .
16 ) e. 19. '
Paucapalea.
507
torum 17 ) etc. usque Curatio funeris, i. e. cura honorifice
ducendi corpus cum crucibus cereis et thuribulis ad ecclesiam.
Conditio sepultur ae, i. e. quomodo optimo et pulchro loco
condatur. Pompa exsequiarum, multitudo seil, ipsum corpus
ad ecclesiam comitantium. Magis vivorum etc. — §. De his
■ autem, qui in patibulis 1 *) etc. Patibulum vulgo furca dici-
tur, quasi fures capiens 10 ). Suspensum enim et strangulatum ex
eo ex animal 20 ), suffixos diu cruciat. Unde et 2 ') in evangelio
latronibus, ut morerentur, et de ligno deponerentur ante Sabba-
thum, crura confracta sunt, qui ligno suspensi cito mori non
poterant.
3) C. XVI. q. 3.
Quod autem praescriptione temporis omnia jura tollantur,
auctoritate Clialcedonensis concilii et Gelasii papae et
Toletani conciliiprobatur. Sed idem Gelasius contra testa-
tur; ait enim: Nulla praescriptione 2 *) statum parochia-
qum, qui perpetuae ae tatis M ) etc., ut supra causa XIII.
quacstione II. —Cap. Sicut dio ecesim alienam 24 ). Hoc capi-
tulum sic exponitur: Tricennalis possessio tollit alie
nam dio ecesim, i. e. ecclesiam; sed possessio territorii
ita non adimit, i. e. tollit, conventum, i. e. populum, sicut
illa dio ecesim. — Cap. Quicunque episcopus alterius epi-
scopi dioecesim, vel S5 ) [1. i. ei] ecclesiam, per XXX
annos etc. Et infra: Qu am vis [s ecun d u m] j u s 2<i ) legis
naturalis ejus, seil, possidentis, non videatur esse dioe-
cesis, i. e. ecclesia; tarnen non est admittenda contra
eum, seil, contra possidentem, actio resp ondendi 37 ) [I. re-
poscendi]. Sed hoc intra unam provinciam, i. e. intra
i?) c. 22.
18 ) c. 29. Dict. Grat.
19 ) M. 1.: „ferens cap“
20 ) M. 1.: „e x a m i n a t u .
21 ) M. 1.: „et i a m u .
22 ) M. 1.: „praesumption e“.
23 ) c. 5. h. q.
24 ) c. 3.
28 ) M. 1.. „i. e“
26 ) M. 1.: „s e r i u s (C .
27 ) M. 1.: „rcposcend i“.
Sitzh. .1. phil.-hist. CI. XXXI. Bd. III. Iift. 34
508
Di*. Fr. M a a s se n
unamquamque dioecesim, servetur, hoc seil., ut episcopus ecclesiam
alterius cpiscopi praescriptione XXX annorum auf erat. Praescriptio
autem est quaedam temporis exceptio, per quam dominii eliditur
actio. Extra ver o nullomo do, i.e.siin confinio duorum episco-
patuum sit, non potest praescribi; sed, ut in T ölet an o concilio
dicitur: plebes utrarumque discernant, et,si non conveniunt, Hs Bei ,
judicio discernatur, ne, dum dioecesis praescriptione defenditur,
provinciarum terminiconfundantur 2S ). — Cap. Licet continea-
tur regulis antiquis, p aro chias deputat as unieuique
ecclesiae pristina dispositionc nulla ratione posse
convelli, ne crescente temeritate mali exempli per
pessimam consuetudinem u?iiversalis confusio nasce-
retur: tarnen* 9 ),etc. — Cap.Placuit, ut quicunque loca")
haereticorum ncgligunt ad suam cathedram etc. usqne
probarepotuerit negligentiam, i. e. mansuctudincm, illius
episcopi, qui lucratus est, magis esse electum 31 ) [ab] hae-
reticis, ut impune ibi sint apucl eum, et suam diligen-
tiam, i. e. illius episcopi, in cujus territorio erant, fuisse
praeventam, ut co modo, seil, exeundo de potestate, ejus
cura sollicitior vitaretur ab illis liaereticis, cum hoc
judices etc.
4) Einleitung zu C. XXXV.
In duabus praecedentibus causis de conjugiis, quae quasi
necessitate solvuntur, tractatum est. Nunc de his, quae quon-
dam 32 ) in veteri lege erant permissa, et modo reperiuntur prohi-
bita, veluti consanguineorum et affinium conjugia, tractare dispo-
nit. Quorum causa talis est: Quidam vir mortua uxorc
sua etc. Sed antequam ad quaestionem ® s ) perveniatur, dicendum
videtur, quid sit gradus, quot sint, qualiter connumerentur, quare
sint inventi; quid etiam sit linea, et quot sint lineae.
Gradus est, ut largo modo dicatur, aliqua persona in aliqua
linea alicui copulata. Nam leges ferunt: quaelibet 34 ) persona facit
28 ) M. 1. add. „i. e. p ermi s e e antu r“.
2<J ) c. S.
30) c. IS.
3») M. 1. add. „a i“.
•’2) HI. 1. add. „seil.“
33) HI. 1.: „quaestio n e s“.
34 ) M. 1. add. „// encr al a“.
Paucapalea.
509
vel adjicit gradum. Sed objicitur: Ilic V habet filios, ergo quisque
eorum facit gradum et sic Vgradus erunt. Sed notandum, quod
quisque eorum gradum facit non inter se, sed respectu ascenden-
tiumet descendentium. Gradus enim VII sunt, quos neminem oportet
nescire, et dicuntur gradus ad similitudinem scalae s4 “), quia, sicut
per scalam eundo, sic et per istos computando ascenditur et descen-
ditur. Gradus enim ita communeratur. Quidam enim stipitem
vel truncum faciunt patrem, et connumerando descendunt per
filium et nepotem usque ad VII. gradum. Quidam vero stipitem
fdium ponunt, et connumerando descendunt per filium et S5 )
nepotem et pronepotem usque ad VI. gradum. Units tarnen est
finis eorum vel terminus. Sunt insuper gradus causa propaga-
tionis inventi, quae usque ad VII. gradum pertenditur secundum
leges canonum, secundum vero forenses usque ad XIIII., et tarnen
hic secundum canones VII. est. Nam quem gradum canones dicunt
unum, leges dicunt esse duos. Verbi gratia, canones unum gradum
fratres ponunt, leges autem duos, et sic in 3(J ) ceteris. Vel gradus
sunt inventi causa dilatandae vel augendae caritatis. Verbi gratia,
audis aliquem tibi attinere in aliquo gradu; cum non diligas, dili-
gere incipis, et sic dilatatur caritas; vel cum diligas, magis dili-
gere incipis, et ita augmentatur caritas. — Nunc videndum est,
quid sit linea. Linea est conjimctio personarum in aliquo gradu
existentium et 37 ) in aliquibus. Lineae enim sunt IUI. Alia est 3S )
ascendens, alia descendens, alia ex transversa veniens, alia vero
est affinitas. Linea vero ascendens est, quae incipit ab avo, con
numerando usque in infinitum; descendens, quae incipit a filio filii
avi usque protendendo in infinitum. De Ins duabus lineis nulla
quaestio vel controversia fit in ecclesia, tum quia non acciperent
se in IIII. et V. gradu propter manifestam parentelam, tum, quia
se non conjungunt in VI. et VII. gradu, quoniam non est tarn longa
vita eorum, ut in VI. et VII. gradu se videant. Linea ex transversa
veniens est, quae incipit a fratribus et 3!l ) sororibus. Et in his
34 “) Cf. 1. 10. §. 10. D. de yradibus et affinitatibus. 38. 10.
35 ) M. 1. om. „filium et“
36) M. 1.: „de“.
37 ) M. 1.: „v e l u .
38 ) M. 1. add. „c n i m“.
3°) M. 1.: „vel n u .
34
510
Dr. Fr. M a a s s e n
tribus lineis est agnatio et cugnatio. Agnati sunt, qni attinent ex
parte patris, cognati, qui ex parte matris sunt. Vel cognatio est
diversarum personarum per nationem conjunctio, dicta cognatio
quasi communis natio. — Modo videamus, quid sit affinitas. Affi-
nitas est regularitas personarum ex nuptiis proveniens, omni
carens parentela. Sciendum tarnen est, quod tria sunt 40 ) fgenera]
affmitatis quae tria in secunda et tertia hujus causae quaestione
declarabuntur.
5) C. cad. q. 2. et 3.
Quod a consanguineorum conjunctionibus abstinere oporteat,
probatum est. Nunc autem quaeritur, usque ad quem gradum a
consanguineis propriis abstinere oporteat, vel si ex cognatione
propriae uxoris aliquam duci in matrimonium 41 ) liceat. De liis
auctoritate Julii, Isidori, et aliorum multorum definitur, ut a
consanguineis propriis vel uxoris propriae aequaliter abstineant,
i. e. usque ad VII. gradum, si tarnen in primo genere affinitatis
rcperiuntur.— Mac auctoritate* 3 ) etc. usque in IM. genus
affinitatis assignatur. Sciendum est, quod 111 sunt genera
affinitatis. Primum genus, quantum ad virum, affinitas 43 ) [&z\. affi
nitas] omnes consanguinei sui 44 ) [del. sui) uxoris suae 45 ), quan
tum ad uxores 4r >), omnes consanguinei viri sui. Secundum genus
est affinitatis, quantum ad virum, affinitas uxoris quidem ad con-
sanguineos suos; et hoc est primum, quantum ad uxorem. Secun
dum genus affinitatis est, quantum ad uxorem, affinitas viri, qua
fit per consanguineos suos; et hoc est insuper primum, quantum
ad virum. Tertium genus affinitatis est, quantum ad virum, quasi
affinitas uxoris suae, quae fit per affinitatem, quae est sibi per
consanguineos suos. Verbi gratia, in III. genere affinitatis viro sunt
affines mariti earum, quae fuerunt uxores fratrum suae uxoris vel
conjuges eorum 47 ), qui viri fuerunt sororüm suae uxoris. Tertium
40 ) M. 1. add. „(j euer a u .
41 ) M. 1.: „e o nj u g i u m u .
42 ) c. 21. Dict. Grat.
43 ) In M. 1. verb. „affinitas“ est deletum.
44 ) Verb, „sui“ similiter.
45) M. 1. add. „et“.
46 ) M. 1.: „u x o r c m“.
47 ) M. 1.: „earum“.
P a u c a p a I e a.
51 1
genas est affinitatis similiter, qüantum ad uxorem, quasi affinitas
sui mariti, quae ft per affinitatem, quae sibi est per consanguineos
suos. Verbi gratia, in III. genere affinitatis sunt affines uxori con-
juges eorum, qui viri fuerunt sororum sui mariti, vel viri earum,
quae fuerunt uxores fratrum proprii viri.
IV. Die Excerpte.
Der Cod. H. 71. der königlichen Handbibliothek zu Stuttgart
enthält, wie in §. 41. erwähnt worden ist, Excerpta ex summa pauc§
pale§. Ebenda ist bemerkt, dass die Abkürzungen und Weglassungen
erst vonDist. IX. an häufiger werden. Um das Verhältniss der Excerpte
zu dem Original in's Licht zu stellen, sollen hier die Distinctionen IX.,
X., XI., XII. aus beiden nebeneinander gesetzt werden. Für die
Summa sind, wie in der vorigen Beilage, die Admonter und eine
Münchner Handschrift benutzt.
Summa
Dist. IX.
Quod consuetudo naturali
et scripto juri postponitur,
breviter ostensum est. Nunc
de canonica scriptura, vete-
ris seil, ac novi testamenti,
dicendum videtur, an tracta-
torum opusculis subjiciantür,
an praeponantur *). Et scien-
dum, quia iis semper prae-
ponitur. In illis itaque 3 ).
opusculis multa corrigenda
inveniuntur ; in ea vero men-
dacia non admittuntur. Si
enim, ut Augustinus 2 ") ait,
ad scripturas sanctas
admissa fuerint s ) offi
cio sa mendacia, i. e. men-
M. 1.: „s u b j i ciatur an p r aeponat u /•“.
2 ) M. 1. : „n a m qu e“.
2 “) c. 7.
3 ) M. 1. : add. „v c l“.
Excerpte
Dist. IX.
Quod canonica scriptura
tractatorum opusculis semper
praeponitur. In illis namque
opusculis multa corrigenda
inveniuntur; in ea vero men
dacia non admittuntur. Si
enim, ut Aug. ait, ad scrip
turas divinas admissa fue
rint vel officiosa mendacia,
id est mendacia, quae offici-
ant, quid auctoritatis in eis
erit ? Non ergo calumniae ex
dictis episcoporum contra
divina mandata sunt colli-
gendae.
512
Dr. Fr. M a a s s ü u
R*
#
dacia, quae 4 ) officiant,quid
auctoritatis 5 ) iis rema-
nebit? Non ergo calumniae
sunt contra divina mandata,
ut idem ait Augustinus °),
colligendae. — Ex episco-
porum scriptis, sive ex
scriptis eorum 7 ) episcoporum,
qui modo mecum sunt], sicut
scripta sunt Hilarii, sive ex
scriptis Cypriani, et Agrip-
pini, qui mecum erant, ante-
quam pars Donati haere-
tici, in quam consenserant,
separ aretur, i. e. seque-
straretur ab ecclesia. Donatus,
a quo Donatistae, haereticus
fuit. De Numidia veniens
totam fere Africam sua per-
suasione decepit, asserens
minorem patre filium, mino-
remque filio spiritum sanc-
tum, rebaptizans catliolicos.
Dist. X.
Quoniam de imperatorum
legibus supra, quo tempore
coeperint, mentionem fecerat,
et s ) quia ecclesiasticis nego-
tiis necessariae saepe viden-
tur, an ecclesiasticis praemi-
neant constitutionibus, an ob-
sequantur, merito quaeritur.
Quod ecclesiasticis legibus
4 ) U. 1.: „q u i d“.
5 ) M. i.: ndd. „i n“.
6 ) c. 9.
r ) M. 1.: „me o rum“.
8 ) M. 1. : om. „et“.
Dist. X.
Quod ecclesiasticis legibus
principum constitutiones ma-
ximc in ecclesiasticis negotiis
sunt postponendae. At ubi
evangelicis et canonicis de-
cretis non obviant, omni re-
verentia dignae habeantur, et
in ecclesiae adjutorium assu-
mantur. — De capitulis et
P a ii c a pale a.
513
principum constitution.es sint 9 )
in ecclesiarum negotiis• maxi-
me postponendae, aperte mul-
tis auctoritatibus declarabitur.
At, ubi evang elicis et ca-
nonicis decretis non ob-
viaverint, omni reveren-
tia dignae liabeantur 9 “'),
et in ecclesiae adjutorium as-
sumcmtur. ~Nam fecithoc
Pa ulus 10 ), etc. Quod tune
intelligitur factum, quando
Paulus, cum esset Hierosoly-
mis 11 ), et populus faceret
tumultum in eum propter ver-
bum, quodpraedicabat, impc-
trata licentia a tribuno, coe-
pit exponere plcbi, quomodo
pergens Damascum Uterus a
principibus sacerdotum po-
stulasset, ut si quos inveni-
ret '-) Christianos, vinctos
perduceret in Jerusalem;
quomodo etiam 13 ) obcoecasset
eum in itinere Deus et misis-
set ad illum Ananiam, td
baptizaret illum. Cumque haec
et alia multa narraret, leva-
verunt Iudaei vocem dicen-
tes: Tolle de terra lmjusmodi;
non est enim fas eum vivere.
Vociferantibus autem iis jus-
°) M. 1.: „sunt“.
° r ) c. 6. Dict. Grat.
*») c. 7.
ti) M. 1.: „H i e r o s o l y m am.
12 ) M. 1.: „inv c ni e t“.
13 ) M. 1.: om. „etiam“.
praeceptis. Romani impe-
ratores olim pontifices dice-
bantur. Nam majorum haec
erat consuetudo, ut rex est et
sacerdos et pontifex.
514
Dr. F r. M nassen
sil tribunus duci eum in castru
et flagellari. Et cum astrin-
xissent eum loris, dixit Pau
lus centurioni: Sic hominem
Romanum et indemnatum licet
vobis flagellare? Quo audito
centurio nuntiuvit tribuno
dicens: Quid acturus es? Hie
enim liomo civis Romanus
est. Audiens tribunus dixit
Paido: Die mihi, et tu Roma
nus es? At ille dixit: Etiam.
Respondit tribunus:Ego multa
sum per hanc civitatem con-
secutus. Et Paulus ait: Ego
autem et natus sum. Protinus
ergo discesserunt ab eo, qui
eum torturi erant. — Cap.
De capitulis vel prae-
ceptis etc. Romani impera-
tores pontifices olim diceban-
tur. Nam majorum haec erat
consuetiulo, ut rex esset sacer-
dos et pontifex.
Dist. XI.
Quod ecclesiasticae leges
co nstitutio nibus imp eratorum
praeponantur, ostensum est.
Nunc de consuetudine et usu,
an legibus subjiciantur, an
praeponantur l4 ), ostenden-
dum est. Et sciendum, quod
auctoritas consuetudinis ac
longaevi usus non vilis est 15 ).
Sed non usque adeo illa auc
toritas est valitura momento,
Dist. XI.
Quod consuetudinis ususque
longaevi non vilis auctori
tas est; sed non usque adeo
valitura momento, i. e. possi-
bilate, sui, ut aut rationem,
i. e. jus naturale, vincat, aut
legem scriptum. Cum ergo
nec ecclesiasticis nec impera-
torum legibus consuetudo con-
traire ostenditur, inviolabili-
ter servanda est. Si enim non
14 ) jU. 1.: „s ubjiciat u r, an praeponat u /•“.
15 ) c. 4.
1 J « u c a p a I « :i,
i. e. possibilitate, sni, ut aut ra-
tionem, i. e. jus naturule vincat,
aut legem, i. e. jus civile. Vel:
aut rationem, i. e. aequitatem,
vincat, aut legem scriptum. Cum
ergo nec ecclesiasticis regulis,
nec imperatortim legibus con-
suetudo contraire ostenditur,
inviolabiliter servanda est. Si
enim non servaverimus, quan-
tum detrimenti religio Chri-
stiana sit latura, i. e. pas-
sura, intentivum, i. e. attente,
conspicientibus 16 ) etc. Quae
enim scriptura digesta, i. e.
diverso modo gesta, commen-
davit trifaria verba prolixae
orationis vel consecrationis
super panem et calicem. Tri
faria verba dicuntur utinSe-
cretis: hostiampuram, h. sanc-
tam, h.immaculatam. Et item:
ascriptam, ratam, rationabi-
lem. Hic ordo nec in novo nec
in veteri testamento, ut dictum
est, praeßxus, sed a sanctis
patribus usualiter est traditus,
et a Romana maxime ecclesia
corroboratus, a cujus consue-
tudine sine discretione justi-
tiae nülli recedere licet.
Dist. XII.
Ostensum estsuperius, quod
usus ac prava consuetudo
superatur legibus 17 ). Nunc
1<5 ) c. 5.
17 ) M. L: „lege“.
515
observavimus, etc., quantum
detrimenti Christiana religio
sit latura, i. e. passura. In
tentivum, i. e. int ente con
spicientibus etc. Quae enim
scriptura digesta, i. e. diverso
modo gesta, commendavit tri
faria verba prolixae oratio
nis vel consecrationis super
panem et calicem. Trifaria
verba dicuntur, quia quasi
eadem tertio repetuntur, ut
ibi: hostiam pur am, hostiam
sanctam, hostiam immacula-
tam. Rel. [Von hier bis zu
Ende der Dist. ganz überein
stimmend mit der Summa.]
Dist. XII.
Quod non est resistendum
consiietudini, cui canonica
non ob-stat auctoritas.
Dr. Fr. M a a s s e n , Pnucapalea
516
vult ostendere, quia non est
resistendum consuetudini, cui
canonica non obstat auctori-
tas. Quod enim Aug. ait:
neque contra fidem, ne-
que contra 18 ) etc., etin-
fra.—Quamvis enim neque hoc
in veniri possit, quoniam con
tra fidem sint, tarnen premunt
ipsam religionem Christiano-
rum servilibus 19 ) oneribus,
quam religionem misericordia
Dei voluit esse liberam pau-
cissimis et manifestissimis sa-
cramentis celebrationum, et
interim premunt illa dicta ~°)
Cliristianorum religionem,
quod convenienter potest dici,
ut tolerabilior sit conditio
Judaeorum al ). Judaei enim,
licet legem carnaliter intelli
gent, tarnen, postquam eam
quantum ad superficiem lite-
rae acceperunt, non alias
leges sive consuetudines ad-
miserunt a2 ). Utide subditur:
qui et si tempus, etc.
1») C. n.
19 ) M. 1.: add. „e. t“.
20 ) M. 1.: „p rae di ct
21 ) c. 12.
22 ) M. 1. : „a m i s c r u n t u .
Verzeichniss der eingegangenen Druckschriften.
517
VERZEICHNIS
DER
EINGEGANGENEN DRUCKSCHRIFTEN.
(JUNI.)
Academie d'Archeologie de Belgique. Annales, tome XV, livr. 4.
Anvers, 1859; 8°.
Akademie der Wissenschaften, königl. preuss. zu Berlin. Monats
berichte. März, 1859; 8°.
— der Wissenschaften zu St. Petersburg. Programm zweier histo
rischen Preisaufgaben.
Annalen der Chemie und Pharmacie, herausgegeben von
F. Wühler, J. Liebig und II. Kopp. Rand CX, Heft
1—4, 1859; 8°-
Anzeiger für Kunde der deutschen Vorzeit. Neue Folge, VI. Jahr
gang, Nr. 5. 1859; 4°.
Archiv der Mathematik und Physik, red. von J. A. Grunert.
Band XXXII, Heft 3, 1859; 8».
— für hessische Geschichte und Alterthumskunde. IX. Bd., 1. Hft.
Darmstadt, 1859; 8°.
Astronomische Nachrichten. Nr. 1196—1198; 4°.
Atlantis, The, a register of literature and science. Nr. 111,
January, London, 1859; 8°.
Austria, Jahrgang XI, Heft 19—24. Wien, 1859; 8 0-
Barth, Job. Ambr., Prospectus of Messrr. Schlagintweits collection
of Etnographical heads from India and High Asia. Leipzig,
1859; 4».
Bauzeitung, Allgemeine, red. von Prof. L. Förster. XXIV. Jahr
gang, Heft 3, 4. 8°. (mit Atlas, Fol.).
Bericht über die erste Versammlung von Berg- und Hüttenmännern
zu Wien, 1859; 8°.
518 Verzeichniss der eingegaugeneu Druckschriften.
Bericht, Siebenter, der Oberhessischen Gesellschaft für Natur- und
Heilkunde. Giessen, 1859; 8°.
Berlin, Universität, Akademische Gelegenheitsschriften. 1858.
Central-Commission zur Erforschung und Erhaltung der Bau
denkmale. Mittheilungen. IV. Jahrgang, Juni. Wien, 1859; 4°.
Cosmos, VIII. annee, vol. XIV., livr. 20—24. Paris, 1859; 8°.
Geologische Reichsanstalt, k. k„ Sitzung vom 15. und 28. März
1859; 8».
Gesellschaft der Wissenschaften, königl. bölim. Des Bartholomäus
von St. Ägidius Chronik von Prag im Reformationszeitalter. Her
ausgegeben und mit einer Einleitung begleitet von K. Höfler.
Prag, 1859; 8».
— der Wissenschaften , oberlausitzische. Neues Lausitzisches
Magazin, redigirt von Gustav Köhler. Heft. 1—4. Görlitz,
1859; 8«.
Jahrbuch, Neues, für Pharmacie und verwandte Fächer, red. von
G. F. Walz und F. L. Winkler. Bd. XI, Heft 5. 1859; 8».
Istituto di Corrispondenza Archeologica. Bullettino per l’anno
1858; Roma, 8». — Annalen. Vol. XXX. Roma, 1858; 8«.
-— Veneto, I. R. Atti. Tom. IV. Seria terza, dispensa sesta. Venezia,
186 b/,; 8».
Jena, Universität. Verzeichniss der Lehrer, Beamten und Studiren-
den. Sommersemester 1859.
Land- und forstwirthschaftliche Zeitung, Allgemeine. Jahrg. IX.
Nr. 16, 17. 1859; 4».
Mittheilungen aus dem Gebiete der Statistik. Herausgegeben
von der Direction der administrativen Statistik des k. k. Han
delsministeriums. Jahrgang VII, Heft 2. Wien, 1858; 8°.
— aus Justus Perthes’ geographischer Anstalt, von Dr. Peter
mann. II. 1859; 4°.
Monumenti inediti publicati dall’ istituto di corrispondenza Archeo-
logiea per l’anno 1858; fol,
Repertorio universale delle Opere delf instituto Archeologico
dell’ anno 1854—1856; Lipsia. fol.
Rostock, Universität. Akademische Gelegenheitsschriften, 185 7 / 8 .
Societe göologique de France. Bulletin. II serie, tome XVI.
feuil. 15—23. 1859; 8®.
Verzeichntes der eingegangenen Druckschriften.
519
Steffenhagen, E., Beiträge zu r. Savigny's Geschichte des
römischen Rechts und Mittelalters. Königsberg, 1859; 8°.
Sullivan, Will. K., On the influence with the physical Geography,
the animal and vegetable productions. (Separatabdr. aus dem
oben angeführten Hefte des Atlantis.) 8°.
Verein historischer von und für Oberbayern, in München. Jahres
bericht. Bd. XX. — Archiv, Bd. XVIII. 3., XIX. 1, XXI. 1. 8<>.
— historischer für die Oberpfalz und Regensburg. Verhandlungen.
Bd. XVII. Regensburg, 1856; 8».
— historischer für Krain. Mittheilungen. XIII. Jahrgang. 1858; 8°.
— naturhistorischer, der preuss. Rheinlande und Westphalen, red.
von Prof. Dr. C. 0. Weher. Jahrgang XIV, Heft 1—4. Bonn,
1857; 8».
Vogel, Dr. Aug., Der Torf, seine Natur und Bedeutung. Braun
schweig, 1859; 8°.
Voigt, Johannes, Geschichte des deutschen Ritter-Ordens in seinen
XII Baileien in Deutschland. Bd. II. Berlin, 1859; 8°.
Wolf, Ferdinand, Studien zur Geschichte der spanischen und portu
giesischen National-Literatur. Berlin, 1859; 8°.
Zeitschrift, kritische, für Chemie und die verwandten Wissen
schaften und Disciplinen, red. von Dr. Erlen in ey er und
Dr. G. Lewinstein. I., II. Heft. Erlangen, 1859; 8°.
BIBL ÖAW
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