Über das Canticum und den Chor in der römischen Tragödie. 379 sei; indem in der sonderbaren Trennung von Gesang und Gesticu- lation etwas Komisches liege, und insbesondere die raschere und lebendige Mimik welche wir dem Vortrage des Canticum zuge schrieben, mit der Würde und dem Ernste der Tragödie unvereinbar sei. Diese Bedenklichkeit bedarf kaum einer Widerlegung. Dass die komische Mimik von der tragischen unendlich verschieden ist, versteht sich; aber dass diese letztere neben dem höchsten tragi schen Pathos möglich ist, und den Ausdruck des Rührenden und Erhabenen ausserordentlich heben kann, ist eben so gewiss. Es fehlt uns aber an hinreichenden Zeugnissen und Beispielen keinesweges, um auch der Tragödie das Canticum zu vindiciren. Vor Allem gehört hierher die Stelle in Cic. Acad. II, 7, 30: Quam multa, quae nos fugiunt in cantu, exaudiunt in eo genere exercitati! Qui primo inflatu tibicinis Antiopam esse aiunt aut Andromacham, quum id nos ne suspicemur quidem. Diese Stelle stimmt auffallend mit der bereits aus Donatus angeführten , und muss auch durch dieselbe erklärt werden. Wie dort berichtet worden, wurde noch vor dem Anfänge eines Drama’s oft die Melodie eines bedeutenderen in demselben vor kommenden Canticums von dem Flötenspieler gespielt, so dass die mit solchen Dingen bekannteren Zuhörer schon im Voraus erkannten, was für ein Stück würde aufgeführt werden *)• Hier nun ist von einer Musik die Rede, welche zu den Tragödien Antiopa oder Andromache gehörte, also doch wohl zu einem in denselben enthaltenen Canticum; denn Chorgesänge" sind in solcher Weise gleichsam als Ouvertüren nicht vorgetragen worden. Auch Tusc. I, 44 musste Cicero ein Canticum 4 ) In Bezug; auf das was hier erwiesen werden soll, nämlich dass bei dieser Stelle Cicero’s das Canticum aus einer Tragödie gemeint sei, ist es völlig' gleichgiltig, ob dasselbe im Theater selbst vor der Aufführung: des ganzen Stückes abgespielt wird, oder ob, wie dies Ritschl Parerg. Plautin. I, pag. 304 behauptet hat, an blosse Flöten-Melodien und nicht an eine Theater-Musik zu denken sei. Es ist jedoch eine ganz willkürliche Annahme, dass Donatus bei dieser Angabe über das Vorspiel auf der Flöte an Cicero’s Stelle gedacht und dasselbe ohne Grund auf das Theater bezogen habe. Gerade als ob er Angaben dieser Art nicht aus näheren Quellen habe entnehmen können. Es enthält aber die Notiz des Donatus in sich selber nichts was dieselbe unwahrscheinlich machen könnte. Die Ankündigung des Stückes von der Bühne herab (tituli pronuntiatio) fand erst unmittelbar vor der Aufführung des ersten Actes gleich nach dem im Rede stehenden Flöten-Vorspiel Statt: und da konnte es doch wohl geschehen , dass , wer nicht sonst woher wusste , welche Stücke und in welcher Reihenfolge sie zur Aufführung kommen würden, es eben aus dieser ihm schon bekannten Flöten-Musik zuweilen errieth. Sitzb. d. phil.-hist. CI. XV. Bd. III. Hft. 25