365 I SITZUNG VOM 7. MÄRZ 1855. i 4 Gelesen: Über das Canticum und den Chor in der römischen Tragödie. Von Hin. Prof. Dr. Grysar. Wie bis jetzt in der Geschichte der römischen Literatur die Tragödie besprochen worden, ist von diesen beiden wichtigen Bestandtheilen derselben entweder gar keine Rede, so dass man fast glauben möchte, es sei das Vorhandensein derselben bezweifelt worden: oder es wird auch von dem Chorgesange geradezu und ausdrücklich behauptet, er habe in der römischen Tragödie gänzlich gefehlt. Andere haben beider Theile wohl Erwähnung gethan, jedoch so im Vorübergehen, dass man sieht, sie haben sich auf eine nähere Beleuchtung der Sache eben nicht einlassen wollen *). Was wohl *) 1. f. Baehr, Gesch. der röm. Lit. Bd. I, S. 148, §. 38, erwähnt des Canticum nur da wo er die Komödie bespricht, was beinahe so aussieht, als ob es dieser aus schliesslich angehört habe. Dass der Chor dem lateinischen Drama überhaupt gefehlt habe, ist ein alter Irrthum, den schon Salmasius ad script. Hist. Aug. Tom. II, p. 828 verfochten hat. ßoettiger, quatuor aetätes rei scenicae p. XY, spricht der röm. Tragödie den Chor ab, weil die Römer das griechische Drama erst zu einer Zeit hätten kennen lernen, als der Chor aus deren Komödie aus geschieden gewesen. Gerade als ob die röm. Dichter die griechischen Tragödien nie zu Gesicht bekommen hätten!! Noch wunderlicher ist die Behauptung welche Planck Ennii Medea p. 38 aufgestellt hat, es seien die Cantica als Substitute des Chores zu betrachten, und alles was Horaz A. P. v. 194 von der Aufgabe des Chores aussage, auf das Canticum zu beziehen : was rein unmöglich ist, indem Chor und Canticum sowohl in Bezug auf die auszusprechenden Gedanken, als auch in Bezug auf die darstellenden Personen durchaus verschieden von einander gewesen, ßernhardy, röm. Lit.-Gesch. S. 355 nimmt ebenfalls den Mangel an Chorgesängen als etwas ganz Gewisses an. Dagegen scheint Welker, rhein. Museum, Supplement!). 24