v. Karajan. Über zwei Bruchstücke eines deutschen Gedichtes etc. SITZUNG VOM 11. JÄNNER 1854. Gelesen: Über zwei Bruchstücke eines deutschen Gedichtes aus dem dreizehnten Jahrhunderte. Von dem w. M. und Präsidenten der Classe, Hrn. v. Karajan. Mehr als die Hälfte der deutschen Sprachdenkmale von der ältesten Zeit his zum Schlüsse des dreizehnten Jahrhunderts ist nur in Trümmern auf uns gekommen. Dreihundertjährige Bedräng nisse im Innern des Reiches haben nach dieser Zeit die Nation sich selbst so entfremdet, dass ihre Gleichgültigkeit für die älteren Denkmale ihrer Sprache uns nicht Wunder nehmen darf. Als endlich mit dem Beginne unseres Jahrhunderts ein regeres Selbstbewusstsein in Deutschland erwachte und sich nothwendig auch diesen Denk malen zuwandte, da lagen sie allenthalben in Trümmern, während nur hie und da einzelne in glücklicher Verborgenheit sich unversehrt erhalten hatten. Wir wüssten daher nur äusserst wenig über unsere ältere Literatur, hätte nicht die Sorgfalt der Gelehrten, unbekümmert um den Spott Kenntnissloser, auch diese Trümmer mit wehmüthigem Gefühle gesammelt, geprüft, geordnet. Dies Geschäft ist aber noch lange nicht als beendigt zu betrachten, denn immer wieder treten neue Trümmer zu Tage, fast ermüdend durch die Eintönigkeit gewisser Richtungen unserer älte ren Literatur, ich meine vorzugsweise der geistlichen, kirchlich typischen, von deren überwiegenden Pflege durch die Träger der damaligen Bildung zahllose Bruchstücke immer wieder Zeugniss geben. Auch diese müssen beachtet, gesichtet, und kommt ihnen stoff liche oder sprachliche Wichtigkeit zu, in eigenen Sammlungen dem Gelehrten zur Hand gestellt werden. Ungleich anziehender aber ist die Auffindung und Betrachtung jener Bruchstücke zu nennen, welche verlorenen Bearbeitungen weltlicher, sagenhafter Stoffe angehören.