SITZUNGSBERICHTE
DER
PHILOSOPHISCH-HISTORISCHEN CLASSE
DER KAISERLICHEN
AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
HUNDERTDRITTER BAND.
WIEN, 1883.
IN COMMISSION BEI CARL GEROLD’S SOHN
BUCHHÄNDLER DER KAIS. AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
300122
Druck von Adolf Holzhauspn.
k. k. Hof- und l'nivernitäts■ Buchdrucker in Wicjo,
INHALT.
Seite
I. Sitzung vom 3. Jänner 1883 1
Sckuchardt: Kreolische Studien. III. lieber das Indoportu
giesische von Diu 3
II. Sitzung vom 10. Jänner 1883 19
. Schuehardt: Ueber die Benguelasprache 21
Weihrich: Das Speculum des h. Augustinus und seine hand
schriftliche Ueberlieferung 33
III. Sitzung vom 17. Jänner 1883 65
immermann: Ueber Hume’s Stellung zu Berkeley und Kant 67
iGomperz: Herodoteische Studien. 1 141
IY. Sitzung vom 31. Jänner 1883 179
Kremer: Beiträge zur arabischen Lexikographie 181
^Hirschfeld: Gallische Studien 271
V. Sitzung vom 14. Februar 1883 329
VI. Sitzung vom 28. Februar 1883 330
Pfizmaier: Untersuchungen über Ainu-Gegenstände .... 333
■Miklosich: Ueber Goethe’s ,Klaggesang von der edlen Frauen
des Asan Aga‘ 413
Petschenig: Ueber die textkritischen Grundlagen im zweiten
Theile von Cassians Conlationes 491
VII. Sitzung vom 7. März 1883 520
Gomperz: Herodoteische Studien. II 521
I. SITZUNG VOM 3. JÄNNER 1883.
Herr Regierungsrath Dr. C. Ritter von Wurzbach er
stattet den Dank für die dem 46. Theil des ,Biographischen
Lexikons des Kaiserthums Oesterreich* bewilligte Subvention.
Der Ausschuss der akademischen Lesehalle in Lemberg
übersendet den Rechenschaftsbericht für das Studienjahr 1881/2.
Von dem Director des k. bayr. Reichsarchivs zu München,
Herrn Geheimrath Dr. von Löher, wird der VII. Band der
,Archivalischen Zeitschrift“ für die akademische Bibliothek ein
gesendet.
Das c. M. Herr Regierungsrath Dr. Beda Dudik, Capi-
tularpriester des Benedictiner-Stiftes Raigern, legt: , Aus
züge aus dem Rathsprotokolle des k. k. Tribunals in Mähren
vom Jahre 1683' zur Veröffentlichung in den akademischen
Schriften vor.
Von dem c. M. Herrn Professor Dr. Hugo Schuchardt
in Graz wird eine Abhandlung unter dem Titel: ,Kreolische
Studien III. Ueber das Indoportugiesische von Diu' für die
Sitzungsberichte überreicht.
Sitzungsber. d. phil.-hist. Ol. CI1I. Ed. I. Hft.
1
2
An Druckschriften wurden vorgelegt:
Aeademie royalo des Sciences, des lettres et des beaux-arts de Belgique:
Bulletin. 50' annee, 3 C Serie, Tome II, Nos. 9 et 10. Bruxelles, 1881; 8°.
51 c annee, 3° Serie Tome III, No. C. Bruxelles, 1882; 8°. — 51' annee,
3 C Serie, Tome IV, No. 11. Bruxelles, 18S2; 8°.
Akademie der Wissenschaften, königliche: Öfversigt af Förliandlingar. 39: de
Ärg. Nr. 5 o. G. Stockholm, 1882; 8°.
Central-C ommission, k. k. statistische: Ausweise über den auswärtigen
Handel der österreichisch-ungarischen Monarchie im Jahre 1881. ,Waaren-
einfnhr in das allgemeine österreichisch-ungarische Zollgebiet*. II. Ab
theilung, XLII. Jahrgang. Wien, 1882; gr. 4 n .
— zur Erforschung und Erhaltung der Kunst- und historischen Denkmale.
VIII. Band, 3. und 4. Heft. Wien, 1882; gr. 4°.
Gesellschaft, kroatisch-archäologische: Viestnik. Godina IV, Br. 2—4.
U Zagrebu, 1882; 8°.
— geschiclits- und alterthumsforschende des Osterlandes: Mittheilungen.
VIH. Band, 2.-4. Heft. Altenburg, 1879—1882; 8 1 '. — IX. Band, 1. Heft.
Altenburg, 1882; 8°.
Handels- und Gewerbekammer in Linz: Statistischer Bericht über die
gesammten wirthschaftlichen Verhältnisse Oberösterreichs in den Jahren
1876-1880. Linz, 1882; 8».
Heidelberg, Universität: Akademische Schriften pro 1881—1882; 21 Stücke
8 n und 4°.
Johns Hopkins University: Seventh annnal Report. Baltimore, 1882; 8°.
— University Circulars. No. 3. Baltimore, 1880; 4°. Vol. II, Nr. 19. Balti
more, 1882; 4°.
Journal the American of Philology. Vol. III, No. 11. Baltimore, 1882; 8".
Mittheilungen aus Justus Perthes’ geographischer Anstalt von Dr. A. Peter
mann. XXVIII. Band, 1882, XII. Gotha, 1882; 4".
Müller, F. Max: The sacred books of the East. Vols. XIV ot XVIII.
Oxford, 1882; 8°.
Society, the royal geograpliieal: Proceedings and monthly Record of Geo
graphie. Vol. IV, Nr. 12. Deeember 1882. London; 8°.
Verein für Landeskunde von Nioderüsterreich: Topographie von Nieder
österreich. II. Band, 10. Heft. Wien, 1882; 4 n .
Wissenschaftlicher Club in Wien: Monatsblätter. IV. Jahrgang, Nr. 3.
Wien, 1882; 4°.
Schuchardt. Kreolische Studien. TU.
3
Kreolische Studien.
Von
Hugo Schuchardt,
covr. Mitglied der kais. Akademie der Wissenschaften.
III.
Heber das Indoportugiesische von Diu.
Julien Vinson im Dictionnaire des Sciences anthropologi-
ques Art. Creoles (Linguistique) S. 335f. bemerkt, dass das
Indoportugiesische nicht bloss auf Ceylon, sondern auch in dem
ganzen dravidischen Land, d. h. auf der Südspitze Indiens
gesprochen werde. Nach der Mittheilung Sr. Hochwürden des
apostolischen Vicars von Pondichery, Herrn F. X. Corbet, wäre
das Indoportugiesische von Pondichery und überhaupt von der
Ostküste ausgeschlossen. Anderseits kommt es auch im Norden
vor, wie mir bezüglich Thanä’s, Bassein’s und der Nachbar
schaft ein berühmter Bombayer Gelehrter versichert, der aber
wiederum meint, dass in den portugiesischen Besitzungen, näm
lich Diu, Damno und Goa, ausschliesslich das reine Portu
giesisch herrsche. Diese Behauptung wird mir nur bezüglich
Goa's von Herrn Advocaten Antonio Felix Pereira in Nova
Goa bestätigt, und ich selbst bin im Stande sie gerade mit
Hinsicht auf den nördlichsten der angegebenen Punkte zu
widerlegen.
S. Exccllenz der Gouverneur von Diu, Herr Pedro
Francisco d’O. Perry da Camara, ist meinem Wunsche nach
Proben des dort volkstümlichen Portugiesisch mit besonderer
Liebenswürdigkeit nachgekommen, als Einer von denen, welche
den Denkmälern und Erinnerungen, die ihre Vorfahren an den
l*
4
Schuchardt.
africanischen und indischen Gestaden zurückgelassen haben,
ein warmes und förderndes Interesse entgegenbringen;
,Que hum ergue Dio, outro o defende erguido/
Die Proben, welche er mir geliefert hat, stammen aus
einer doppelten Quelle und damit hängt ihr verschiedener
Sprachcliarakter zusammen. Die zuerst gesandten Materialien
(5), besonders die Gespräche, sind gewiss aus dem Volks
munde geschöpft; aber theils scheinen die Personen seihst,
denen sie abgehört wurden, in verschiedenen Graden das eigent
liche Kreolisch mit dem Portugiesischen gemischt zu haben,
theils ist die Aufzeichnung für das Befremdliche und Mannich-
faltige verantwortlich zu machen. Indem ich die etwas ver
altete Ansicht hege, dass die Uebersetzung eines Bibelcapitels,
z. B. des Gleichnisses vom verlorenen Sohn, auf einem gewissen
Standpunkt sprachlichen Studiums einen Vortheil gewährt, der
anderswie kaum zu erreichen ist, bemühte ich mich einen
solchen Beitrag aus Diu zu erhalten und erhielt ihn in der
That. In diesem Texte (A) herrscht eine fast vollkommene
Consecpienz; der, welcher ihn niedergeschrieben hat, beant
wortet auch einzelne von mir an B angeknüpfte Fragen und
es ergibt sich, dass ihm hier Ein und das Andere fremd ist.
In der Schreibung habe ich Nichts geändert was irgendwie
von Wichtigkeit sein könnte. 1
1 Ich glaube, dass auch der folgende Brief eines dortigen Eingeborenen die
Oeftentlichkeit verdient; Phonetisches ist daraus mit Sicherheit nicht zu
entnehmen (vgl. fager = fazer, jagado = zangado). Ueberhaupt lehr
reich ist das regelmässige -o für das weibliche -a (siletismo = excellentis-
svnia?, famillio, vido, disfeito u. s. w.) und daneben sua für seu (s. Kreo
lische Studien II, S. 812), und als tiefeingewurzelt zeigt sich das para
bei directem und indirectem Object, dem vielleicht sogar das kaphol-
ländisclie voor entstammt (obwohl sich in der Lingua franca und im
ßumänischen ein entsprechendes per und pre finden).
Ill mo Snr 1° Sargente
istamareio a bom saude de YG’ e do siletismo a familho deus
deis vido saude par YG’ e par familho que a VG’ perdoi par sua Pobre
Criado nao leve disfeito do pobre Criado vaa mador esta resebo que nao
VG’ ficä jagado heu fica do falar para a VG’ que par heu fager o
serviso com Arvorado tei a hevige a tudo soldo anda fazendo a meu
quixos par madar desnomiar ellos dormo ate no sentinello vai meio
Kreolische Studien. III.
5
Diese Proben werden ausdrücklich als solche des portu-
auez crioulo oder castigo von Diu bezeichnet. Das Wort castigo
scheint hier eine Bedeutung zu haben, welche mit seiner ur
sprünglichen im Widerspruch steht. Nach den portugiesischen
Wörterbüchern ist ein castigo ein in Indien von portugiesischen
Eltern Geborener; an die Stelle des Gegensatzes zum Einge
borenen trat wohl schon früh der Gegensatz zu dem europäi
schen Portugiesen, dem reinol; s. J. Long The Portuguese in
Nortb India, Calcutta Review V, 255 (June 1846). Ob dieser
Ausdruck noch weiter im Werth gesunken ist und etwa, wie
sonst in Indien der Name topaz, sich auf einen Mischling oder
gar einen portugiesirten Indier bezieht, vermag ich nicht zu
sagen. Jedenfalls ist das portuguez castigo weit davon ent
fernt, vorzugsweise die Sprache der Leute von rein portugie
sischem Blute zu sein.
Das Kreolische von Din unterscheidet sich, wie ich später
im Einzelnen zeigen werde, weit mehr von dem von Ceylon als
das von Cochim. Zur Vergleichung setze ich die bewusste
Parabel auch im Ceylonportugiesischen (0 Novo Testamento,
Londres 1826) her.
A.
Kreolisch von Ceylon.
A Parabola de o fi.lho prodigo.
11. Per linm, certo homem tinha
dous filhos :
12. E o mais mogo d’elles ja
falla per o pai, Pai, da,
par mi a qninhaö de a fa-
zenda, que par mi te compete.
E eile ja reparti per eliotros
seus bens.
Kreolisch von Diu.
Parab d’uin filh estravdgant.
Um homm tinli doiz filh:
Jd fallon par su pai aquel. mais
piquin, que da-cd 1 su quiäo
que ta pertence a eil. E eil jd,
repartiu por t.ud doiz filh tud
quant tinli.
horras lises recni as 5 horras i dipois quando fa^A micrico a dianto Sr.
furiher que ello tic.ou para madar djsnomiar a sua pobre Criado
Govinde Pungia.
1 Vgl. Cuprvo peng, ßognt,» ß. 143,
6
Schuchardt.
13. E nao muitos dias despois o
filho mais mogo ajuntando
tudo, ja parti per huä terra
longe, e alt ja desperdica
sua fazenda vivendo disso-
lutamente.
14. E quando d’elle tinlia gas-
tado tudo, huä grande fome
ja sucede n’aquella terra; e
eile ja comega pera padege
necessidade.
15. E eile ja foi e ja ajunta si
mesmo per hum de os cida-
diaös d’ aquella terra ; e eile
ja manda per eile per seus
varzes pera pastia os por-
cos.
16. E elle.tinha desejado pera en-
cki seu harriga de os mon-
daduras gue os porcas ja co-
me: e ninguem nunca ja da
per eile.
17. E tornando ent si mesmo, eile
ja falla, Quantas jornalei-
ros de meu pai tem abun-
dangia de paö, e eu te pe
rege de fome!
18. Eil Io irgue e lo anda per
meu pai, e per eile lo falla,
Pai, eu ja pecca contra ceos,
e diante de ti,
19. E mais naö tem digno pera
ser chomado teu filho: faze
par mi como hum de teus
jornaleiros.
20. E eile irguindo, ja foi per
seu pjai. E quando ainda
eile tinha de longe, seu pai
ja ollia par eile, e ja senti
Depois de passd algurn temp fez
um imbrui detud su fat aquell
rapaz piquin e ja foi ficd
n um terr bastant lonj e estranh
e alija deu cab de tud, fazend
munt estragagäo.
E depois de ter dad cab de tud,
sucedeu vi n’ aquell terr grand
caristi e eil prinspiou ter pri-
cizao.
Jd sahiu d! ali e jä ficou com
um homm d’ aquell terr. Mais
est jd mandou par aquell par
um quintal d’ SU par tomd cui-
dad de su criagäo de porc porc.
Nest lugar tinli buscd eil inclie
su barrig com comer d’aquell
porc porc, mais ninguem nä
tinli da.
Ate qui jd pensou e jd fallou:
na caz de mim pai te bastaut
criad qui te munt comer e eu
aqui td morre fom!
Eu had lavantd e had vai buscd
par mim pai e had falla: Pai,
eu jd pecou conir Ceo e diant
de ds.
Jd nä ta merce nom de su filli:
faze de mim como de ds criad
criad.
EU jd levantou e jd foi buscd
su pai. E quand tinli ind lonj,
su pai olhou par eil e jd fico u
com peil qui ja correu e hu-
Kreolische Studien. III.
7
gründe compaixäo, e corren-
do, ja cahi sobre seu pescogo,
e jd beija per eUe.
21. E o filho ja falla per eile,
Pai, eu ja pecca contra ceos,
e diante de ti, e mais naö
tem digno pera ser chomado
teu filho.
22. Mas o pai ja falla per seus
servidors, Trize aqui o me-
Ihor vestido, e vesti per eile;
e bota hum anela em sua
maö, e sapatos em os pes ;
23. E trize aqui o vaccinha gour-
da, e mata; e comemos, e
alegramos nos:
24. Videque este meu filho tinha
morto, e torna tem vida; eile
tinlia perdido, e tem achado.
E eliotros ja comega pera
alegra.
25. E seujilho o mais vellio ti
nha ne o varze: e como qne
* ■ eile ja vi e ja cliega per a
casa, eile ja ouvi o musico
c as dangas.
26. E cliomando huma de os ser
vidors , eile ja enculca que
tinha isto?
27. E eile ja falla per eile,
vosso irmad ja vi tem; e
vosso pai ja mata a va
ccinha gourda, videque eile
ja recebe per eile em bom
saude.
28. E eile tinha irado e nada
entra: Videaquel seu pai ja
sahi, e ja roga com eile pera
entra.
tou mäo na su gargant par
abragä e ja bijou.
E su filh jd fallou: Pai, eu jd
pecou contr Ceo e diant de ös,
ja nä td merce nom de os filh.
Entäo jd fallou su q>ai par su
criad: Tird de press su me-
Ihor rop e dd visli par eil e
butd um anel na su ded e
sapat na su pe.
Trase tamem um vaquinh bem
gord e matd par nos come e
par nds regald:
Parqui est mim filh er mort e
agor jd ficou viv: tinh per-
did e jd achou. E tud jd co-
megou fase banquet.
E su Jilh mais grand tinh an-
dad na camp e quand veo e
chegou pert de su caz, jd ouvio
muzic e cant.
E jd chamou um criad e jd
perguntou qui couz er aquell.
E criad jd fallou: Jd veo ös
irmäo, e ös pai jd mandou
matd um vaquinh parqui eil
jd chegou com saud.
Eil entäo jd jicou zangad e näo
queri entrd. Mais su pai jd
sahiu e jd rogou par eil par
entrd.
8
Schuchardt.
29. E eile repostando ja falla
per seu pai, Olha, estes tan-
tos annos eu ja servi per
ti, nem eu nehum tempo
nunca t.raspassa teu man-
damento: e ainda nehum
tempo tu nunca ja da par mi
ate hum cabriio, que eu pode
alegra com meus amizades:
30. Mas este teu filho quem ja
desperdiga tua fazenda com.
mudanas quando ja vi, tu ja
mata por eile o vaccinha
gourda.
31. jE eile ja falla per eile, Filho,
vosse sempre tem com mi, e
todas minbas cousas tem
vossas.
32. Tinha, competido que nos ja
fica alegrados, e ja folga :
videque este vosso irmaö ti
nha morto, e torna tem vida;
e tinhaperdido, e tem achado.
15
I.
Portugiesisch.
Frage. Como estä seu papä,
menina?
A senhora conceda licenga para
eu me retirar, porque tenho
5 doente mcu filho.
Grasta-se muito dinheiro nas
guarni§öes d’ um vestido.
Mais eil ja den est repost par
supai: Jd passou hastant nnn
que eu ta servi sem nunc
deixd de respeta 6s manda-
ment. e os nunc par mim na
deu um cahrit par eu regald
com mim amig;
Mais log que veo est 6s filh que
jd gastou tud quant tinh com
mulher mulher de md vid, log
jd mandou mata cahrit gord.
Entäo su pai jd fallou: Filh,
os sempr tem. junt de mim e
tud de mim e de os:
Er preciz faze banquet, e f ungäo
parqui est os irmäo tinh mor-
rid e agor ja, ficou viv: tinh
perdid, e achou.
Kreolisch von Diu.
Antwort. Meu pay tem que-
brad, seu, corp näo prest.
A senliara dd par mim, licenga
par vai casa, porque minh filh
td corpo näo prest.
Muito d.inheir gastd quand but.d
puty 1 e fitinh no vestids.
? 4 bemerkt: ,Es gjebt Nichts, jffit puty heisst 1 . 0jnd. patg,, ,pap4‘?
WBWM—pp
mm
Kreolische Studien. III.
Na viagem que fiz de Goa para
aqui, corri muito risco.
Muito me assustei na viagem.
Eu vim para aqui n’um vapor.
Morreu o infeliz Custodio sem
nada legar ä familia.
A senhora comprou hoje o
peixe ?
Participo a V. Sr. a que pelas
nove horas de noite minha
mulher teve o seu feliz suc-
cesso dando a luz uma me-
nina.
A senhora visinba sabe pre-
parar o doce bibinca?
Frage. A senhora para onde
vai ?
Frage. As discipulasde V.Ex. a
aprendem bem?
Jantei e vim para aqui.
A senhora de por mim um bei-
jinho ao menin o.
0 meu coragao näo supporta
mais desgostos.
As criangas fazem travessuras
e desordens.
9
Qunndo veu de Gon par qui,
minh vid pidigava.
Muito sust tomd meu corp na viaz. 10
Eu veu. par qui nü vum, vapor.
Murre vü infelix Custod, näo
d.eixd nem busurucam par sü
fam.il.
A senhara ja mered di de lioj 15
pamird 1 ?
Pdrtieip Voss Senhori que honte
nov vor noiti minh mullier
ja fern parid, e dd par luz
vuma bahy-chocory,- 20
Senhara visinh sabe prepard vü
doce bibinc 3 ?
Antwort. Eu oufaze minh vid.
25
Antwort. Duvds temcabeg brut,
voutras nad prend, eu minh
cust gast tud, dd. par ellotres,
mas näo prend.
Eu. agora mesmo jantd, e veu 30
par qui.
A senhara dd mim boccb 1 a sü
babasinh. h , kam?
Meu corca.o ta madurecid, com.
disgost jd näo td meche. 35
As crians td faze datanagäo
e estäo gerreand.
1 A: .parnhira. ist, ein Fisch, welcher der mugein ähnelt 1 . Unter den Namen
von über (50 gewöhnlichen Fischen bei D. Forbes Dict. Engl. Hind. S. 108 1 ’
finde ich keinen ähnlichen. Nach Herrn Professor G. Bühler würde es
der in Indien viel gegessene pdmelo (bamelo) sein.
3 Hind. haclü. (ch = tS) ,weibl. Kind 1 , chhokn ,Mädchen“.
3 Bibinca, s. Kreolische Studien II, S. 806.
4 A\ um boc\ vgl. deutsch ,Mäulchen“ für ,Kuss“.
5 Deminutiv von habd (unten IV, 2), hind. baba, bäbü ,Kind“,
8 Nach A muss es heissen danajao fdamn-J.
10
Scliuc hur dt.
Ellas mutuamente se descoin-
pöem.
40 A mim me bateu.
O cavallo. deu um couce que
acertou no beigo do meu tillio.
0 seu filho Domingos e muito
travesso.
45 Eu von para a egreja e deixo
ficar com a senhora a minka
filha Pasckba.
Ao apear-me do cavallo dei
uma que da que magou-me
50 um brago.
O cavallo tem bom passo.
Näo deixe aki a crianca, q*ue
lke pode maguar no assento
alguma formiga.
55 Näo empresto o bergo do meu
Elko, porque estragam-no.
A visinka comeu koje peixe
guisado?
E facil arranjar-se este prato,
6° e por-lke azeite, alkos, e aca-
fräo.
Assim preparado torna-se mag-
nilico.
Visinka, saiba que eu estou
65 muito sentida com aquella
nossa visinha, olka que tem
coragäo duro, e lingoa que
nem o Ckristo poupa.
70 Senhor, eu von koje para Mu-
ckuvarä, volto amanhä e co-
Estam dand rundad 1 vum para
votro.
Par mim ja td da.
Vdu cavall jd td da vum ponpe
que acertd no’bossd du minh filh.
Vü sä filli Domingui std muit
traquin.
Eu vai egrej e deixd ficar junto
se minh filh Pasquin.
Quand eu disembarc du cavall,
caliiu e dovou minh brac.
O cavall fdz bom pass.
Näo deixd ald a bab'esinh, que
macurd pode rum culat.' 1
Nd td da doldol 3 du minh filh,
porque levd e estragd.
Visinh cume di d’hoje baffi du
peix■*?
Näo ve nad par faze, butd pi-
cinli azeit, picinh alli, picinh
safiräo.
Assi fazend fied vum pvat que
näo ta pode largd du bocc.
Visinli, sähe que td sentid muit
com aquelle outr visinh de
corcäo dar, aquella sü lingu
dur näo quebr porque estd
curnund, nem par Christ
poupa.
Senhor, eu td vai hoje par Mu-
chuvard, aminhä ad vi, de-
1 = ruindade.
2 = culatra für cu.
3 Kinderausdruck ~ donne-dorme; s. unten IV, ‘2, 1.
4 A: ,bafid de peix ,gesottener Fisch'. Wie Herr Professor G. Bühler mir
gütigst mittheilt, von gudsch. bäph ,Dampf 1 .
Kreolische Studien. III.
11
mcQo com o servi^o dos Con
certos da caza de Maläla.
Meu fillio cstä incommodado,
apresentou-se-lho um queixal.
Estaphanca mudc-sc para este
lugar.
Meu papa foi liojc para a liorta
Dangravaddy.
Dc-mc um peda§o d’aquelle
objecto.
Estou augmentando com o su-
stento da minha filha familia,
tenho alem de pagar os ope-
rarios que trabalhäo cd cm
casa.
Quanta e a terra que aqui
existe ?
pois Maläla vai, tud concert
fase.
Me filh tä incommod, porque
neu no sü hocc vum preg. 75
Estaphand d’ aquelle mand 1
müde.
Me pay td foi di de hoj par
hört Dangrauary.
üd par mim um picinh d’ aquel 30
coiz.
Sobre rninli cabeg td cahi su-
stent du tud minh famil, tem
eu de pagd tambem os operes
que trabalhäo casa. 85
Quant mate tem aqui?
II.
1. Papägai verd
Com bicc du lacre,
Levai est cart
Aqucll ingrat.
Coro:
Oh! bahy cur-cu-ry
Pentia cabcl pela manh ced.
2. Amarai chendo 2 grand
Com ping du azeite,
Sc nao tem azeite,
Buta sangue do meu peit.
1 Wolil für mao.
2 A erklärt: ,amarrai a tranqa (das seuhoras) em forma semi-esplierica
em ponto grantle por traz da cabe^a*. Man könnte an franz. chignon
denken; aber das Wort ist ein einheimisches; li. Drummond lllustrations
of the grammatical part of tlie Guzerattee, Mahratta and English lau*
guages (Bombay 1808) im unpaginirten Glossar: ,Chotlo Guz: and Shenda
12
Schuchavdt.
3. Noibo com noibinh,
Gralinh com pentinh
Baix de janell
Ja trucä annel.
4. Debaix du ramad
Ja naceu luvar,
La ve su noibo
De chape armad.
5. Cumem arec betle,
Näo cuspi nu cham,
Cuspi nu me peit,
Regai me cor§äo.
in.
Raminh, raminh,
Pegä na mäo,
Se quere amor,
Larga nu chao.
Coro:
Oh! re manhä,
Oh! re manhä,
Re manhä.
Com vidrinh
Man da pan hä
Vuruvalh du manhä.
IV. Kinderverse.
1.
Oh ! boiä,' oh! boia,
Oh! boiä, que e de leit?
Mah: the hair tied in a bunch on t.he back of tho head by Indian women,
and some young beaüx. — It gives a comeliness to the fac.e and there-
fore the widows, who are forbidden to loolc on men, cut it off. 1
1 Nach A: ,Fuhrmann 1 . Vgl. Drummond a. a. O. ,Bhoee or Bliooee (Guz.)
Hearing on the Shoulder, Palankeen hay, Chairman 1 .
Kreolische Studien. III.
13
Näo vd leit,
Näo vd leit,
Vaec fugi oiteir.
2.
1. Dol, baba, dol,
Baba quere col,
Ni-nim, babd, ni-nim,
Baba piquinin.
2. Ambld-indd,
Ambld-indö,
Baba porque cbor?
Mama, papd quere baba,
A mä buta för.
V. Negerlieder.
1.
Capitäo forma compauhia,
Marche Go-go-la,
Go-go-ld, Go-go-la,
Marche Go-go-la,
Gogo-lä, Go-go-la.
2.
Sam Paulo, ja bäte cino,
Meia noite, jd nace miniuo,
Meia noite, jd nach minino.
3.
Aventolla jd pedi vento
Para nosso casamento,
Casamento du senhara,
Dft senhara D. Ritta.
14
Schuch ar dt.
VI. Sprichwort.
Yo caläo vai qui vai par pu;ju qui vum di da mergulli.
VII. Anfang des Glaubensbekenntnisses.
Creir meu Deu firmamento qui seu un sua Deu du tudo
me corgäo it. s. w.
Ob das Hindustani und das Gudscherati das Indoportu
giesische von Diu — abgesehen vom Lexikalischen — irgend
wie beeinflusst haben, vermag ich noch nicht mit Sicherheit
zu bestimmen. Das Verhalten des v, das vor labialem Vocal 1
bald entsteht (vum, vum//, vu, von, vo, vor, voutras, vot.ro B I,
11. 12. 18. 20. 22. 27. 32. 38. 39. 41. 43. 62. 75. VI, dovou
B I, 49), bald schwindet (6s 4 18. 19. 21. 27. 29. 30. 31. 32,
oii B I, 24) macht durchaus den Eindruck, als ob es aus
einheimischer Spracheigenheit stamme. Mit den neuarischen
Sprachen Indiens stimmt unser Kreolisch in der Vorliebe für
consonantischen Auslaut überein (vgl. Beames, Comp, grarnm.
I, 181). A zufolge fällt jeder unbetonte auslautende Vocal (in
mehrsilbigen Wörtern) ab; offenbar drückt B denselben Sprach-
zustand aus, gleitet nur vielfach in die portugiesische Schrei
bung hinüber, so dass manche Wörter in doppelter Form
erscheinen (corpo corp, muito inuit, para par). E für a, o
(aquelle, mate) weist indirect ebendahin. Man könnte glauben,
dass in senhdra (B) das a lautbar ist; eher aber beruht
wohl der Unterschied von senlior auf dem ersten a allein,
das sich aus regressiver Assimilation erklärt (auch cap-
verd. sinhdra, abgekürzt nha). Selbst nach Muta cum liquida
fehlt der Vocal, so cont.r (4 18. 21), sempr (4. 31), outr (B
I, 65), quebr (B I, 67); vgl. ellotres (B I, 28) mit voutras
(Bl, 27). Beispiele vom Schwund der Nasalvocale: homm 5
1 Auch nach einem solchen: luvar B II, 4.
- Das mm deutet nur an, dass hier keine Nasalirung des Vocals stattfindet.
Kreolische Studien. III.
15
(4 11. 15), vias (B I, 10). Zwei unbetonte Vocale sind ab
geworfen in Custod (B I, 12), fam.il (J3 I. 14. 83), parab (A Tit.),
welches wohl zunächst für pa.ra.boa stellt (altport. paravoa =
palavra). Aber lingu B I, 66. Von den sonstigen Lauterschei
nungen ist keine besonders charakteristisch: Uebergang von
Ih, nh in i (imbrui, quiäo), Schwund vortoniger Vocale (prins-
piou, merce, corgäo), a für e vor a, (lavantd, vgl. curaz. la-
mant.d), i für a vor n (aminhävgl. caringuejo Kreolische
Studien II, S. 801), u, o für e, ei nach labialem Consonanten
(puligava, bosso), Nasalirung des Vocals nach Nasal (curnund,
cumern) u. s. w. Manches davon ist aus dem Mutterland
herübergebracht worden.
Da im Auslaut die Vocale schwinden, so lautet z. B.
filha und filho im Kreolischen gleich: filh. Ob im Notbfall das
verschiedene Geschlecht hier wie anderswo (s. Kreolische Stu
dien I, S. 904) durch Zusammensetzung wiedergegeben wird,
weiss ich nicht; meine Texte bieten mir kein Beispiel dafür.
Ausdrücklich bezeugt A, dass der Plural der Substantiva
durch Wiederholung gebildet wird: cäo cäo ,Hunde*. Dasselbe
ist im Macaistischen der Fall. Aber nur wo auf Hervorhebung
des Plurals etwas ankommt und derselbe nicht auf andere Weise
sich kennzeichnet, wird dieses Mittel in Anwendung gebracht,
so porc porc A 15. 16, criad criad A 19, m.ulher mulher A 30.
Hingegen doiz filh A 12, bastant criad A 17, sapat na su pe
A 22, com mim amig A 29. K gewährt keinen Beleg für plu-
ralischo Verdoppelung; wo Bezeichnung nothwendig erscheint,
dient derselben das flexivische -s, entweder an dem das Sub
stantiv begleitenden Artikel (oder sonstigen attributiven Form)
allein (s. Kreolische Studien II, S. 814): as crians I, 36 (wenn
nicht etwa hier crians lautlich dem criangas entspricht), oder
am Substantiv: no vestids I, 7, oder an beiden: os operes I, 84.
Ebenso an substantivischen Pronominen: duvas, voutras I, 26f.
Die Personalpronomina bieten nichts Bemerkenswerfhcs
dar; in der 2. P. S. wird os, in der 2. P. PI. dsoutr, in der
3. P. PI. elloutr gebraucht. Junt.o se (= vossef) ,bci Ihnen“ B I,
46. Die port. Possessivpronomina dauern fort: 6s (vosso, -,a),
sh (se;u, sm«). Wie aber dies su auf die weibliche Form sua
1 11 II, 1 manh für manhei. befremdet.
16
Scliuchardt.
zurlickgelit (vgl. Kreolische Studien II, S. 813 und oben S. 4),
so scheint auch für die 1. P. S. minlia zu Grunde zu hegen;
minh finden wir in B (neben dem rein portugiesischen meu;
me I, 74. 78, me II, 5. VII), aber A hat dafür mim, so dass
hier das Possessivpronomen sich an das Personalpronomen an-
geglichen haben würde, wie beide in ös lautlich zusammen
gefallen sind. Was duvds ,die Einen' (# I, 26) anlangt, meint
A, so sage man in Diu nicht. Man bemerke den Gebrauch
von aquel im Sinne des Artikels A 12; im spanischen Jargon
der Philippinen ist derselbe ganz gewöhnlich. Der portugie
sische Artikel tritt in A nirgends auf, wohl aber in B und zwar
sehr häufig, auch vor dem Possessivpronomen und sogar in
Fällen, wo er ganz unportugiesisch ist, so I, 57. 83 (zu letz
terem vgl. du senhara V, 3). Na gilt in A für em; B scheint dem
männlichen no, hu den Vorzug zu geben (nu vum = n'um I, 11).
In Bezug auf die Umschreibung der Zeitformen unter
scheidet sich das Kreolische von Diu in höchst beachtens-
werther Weise von dem von Ceylon und Cochim. Ich folge
zunächst der klaren Darstellung von A.
Dem Präsens dient hier nicht te, sondern ta (auch cap-
verd. tu): eu td vai, eu td murre, eu td maiä. Von einigen
Verben hat sich die 3. P. S. Ind. Präs, und zwar in der zeit
lichen Function erhalten; so eu pod, eu sah, natürlich auch eu
td für sich. Vor Allem te, ,hat' und ,ist' (Beides 17); die Form
tem 31 unterscheidet sich davon wohl nur graphisch (vgl. na
29, B I 55 neben näo, na). Ist e 31 echt kreolisch?
Das Imperfectum wird mit tinh gebildet: tinh buscd, tinh
dd 16. Neben dem präsentischen ta hätte man hier tan er
warten sollen, welches aber nur selbständig vorkommt, wie
übrigens auch tinh (,hatte' 11. 30; ,war‘ 20. 24). Andere orga
nische Imperfectformen: er (24. 26. 32), queri (28), podie d. i.
podia. Aber tinh sähe.
Im Präteritum verbindet sich ja nicht mit der aus dem
Infinitiv abgeleiteten in den andern Zeiten verwandten Form,
sondern mit dem portugiesischen Perfectum: eu jd comeu, eu
ja fez. Im Texte fehlt das jd nicht selten (13. 14. 20. 25. 29);
ob unter besondern Bedingungen (z. B. neben der Negation:
na deu), vermag ich nicht zu ergründen. Acliou 32 = jd uchou
Kreolische Studien. III.
17
24. Als Präteritum von sabe wird mir söb angeführt (vielleicht
ist die Weglassung des jd hier zufällig). Haben wir nun hier
eine Vermischung zwischen dem portugiesischen Perfectum
und dem rein kreolischen: comeu -\- ja come? Oder hat man in
Diu das Letztere früher nie (s. unten) gebraucht und ist also
das ja von Anfang an pleonastisch, nur verstärkend gewesen?
Das portugiesische Plusquamperfectum hat sich auch hier
erhalten: eu tinh andad, eu tinh sabid, eu tinb podid.
Für das Futurum wird nicht lo verwandt, sondern had
(capverd. al): eu had vai, eu had sabe, eu had pode, eu had vi
(estarei). Schon im Portugiesischen hat ha-de grossentheils
rein futuralen Sinn angenommen. Im Süden ist diese Form
nur in Verschmelzung mit der Negation (nade) geblieben; s.
Kreolische Studien II, S. 812.
In B (wo im Folgenden keine römische Ziffer steht, ist I
gemeint) herrscht im Ausdruck der Zeiten grosse Verwirrung.
Das Präsens mit td findet sich 35. 36. 55. 82 ; ebenso oft steht
der blosse Infinitiv: 6. 45. 56. 62. Statt sabe : sabe 22;
statt pdd : pode 53 und sogar ta. pode 63. Anderseits paiticip
17, gast 28 = gastd 6, prend 27 (apr.), faz 51, quebr 67. Ja
eu bu. 24 neben eu vai 45, eu td vai 70. Von organischen
Imperfectformen: puligava 9. Das Perfectum erscheint zuweilen
in seiner portugiesischen Gestalt: veu 8. 11, caliiu, dovbu 49;
öfter bloss durch die Hauptform wiedergegeben, z. B. tomd 10,
murre 12. Seltener mit jd: ja merca 15, jä tem 19. Sehr be
fremdlich ist jd td da 40. 41, wo wir jd dd erwarteten; ebenso
td foi 78. Disembarc (desembarquei) 48; man beachte neben
bei hier einen von den Seemannsausdrücken, wie sie in allen
kreolischen Mundarten, mit erweiterter Bedeutung, sich finden.
Futurum: ad vi 71; daneben vai, fase. Eigenthümlich ist ve,
,es gibt' 59; vgl. vd IV, 1. Nicht wenig rein portugiesische
Formen, wie estäo, trabalhäo, munde, levai, regai, haben sich
eingeschmuggelt.
Mais für mas (wie altport.) A 15. 16. 28. 29. 30.
Die Wortstellung weicht nicht selten von der in den
kreolischen Mundarten gewöhnlichen ab; nicht nur, dass das
Subject dem Verbum nachsteht, wie A 12, es steht auch das
Object dem Verbum voran, so B I, 10. 28. 35. 68. 72 (depois
Maläla vai‘, ,dann werde ich nach Malala gehen'), selbst der
Sitzungsber. d. phil.-liist. CI. CIII. BS. I. Hft. 2
18
Schuchardt. Kreolische Studien. III.
Infinitiv vor dem ihn regierenden Verbum (macurd pode ruvi
culat, ,weh thun kann eine Ameise dem H.‘ B I, 53). Im Hindo-
stani ist die Stellung des Objects (und auch des abhängigen Infi
nitivs) vor dem Verbum die durchaus regelmässige, während
das Subject an der Spitze des Satzes zu stehen pflegt (J. Platts,
A grammar of the Hindus täni, S. 228), so dass man z. B. so
ordnen würde: ,Die Leute grosse Steine in das Boot zu werfen
begannen'.
II. SITZUNG VOM 10. JÄNNER 1883.
Die Leitung des Vereines für Landeskunde von Nieder-
üsterreicli übermittelt ein Prachtexemplar der von dem ge
nannten Vereine in Verbindung mit dem Alterthums-Vereine,
dem heraldisch-genealogischen Vereine ,Adler' und der numis
matischen Gesellschaft herausgegebenen Festschrift zur sechs-
hundertjährigen Gedenkfeier der Belehnung des Hauses Habs
burg mit Oesterreich.
Das c. M. Herr Director Dr. Conze in Berlin stellt
schriftlich einen die Nachlese zu der Sammlung der attischen
Grabreliefs betreffenden Antrag.
Von dem c. M. Herrn Professor Dr. Hugo Schuchardt
in Graz wird eine Abhandlung: JJeber die Benguelasprache'
mit dem Ersuchen um ihre Aufnahme in die Sitzungsberichte
übersendet.
Die Kirchenvater-Commission legt zur Aufnahme in die
Sitzungsberichte eine Abhandlung des Herrn Professor Dr.
Weih rieh in Wien vor, welche den Titel führt: ,Das Spe-
culum des heiligen Augustinus und seine handschriftliche Ueber-
lieferung'.
An Druckschriften wurden vorgelegt:
Academie des Sciences, inscriptions et belles-lettres de Toulouse: M6-
moires. 8 C s6rie, Tome II. 1 er semestre. Toulouse, 1880; 8°. Tome III. —
l ür semestre. Toulouse, 1881; 8°. — Table alpbabcütique des mati&res
contenues dans les dix volumes de la septi&me s6rie (1869 —1878). Tou
louse, 1880; 8°.
2*
20
Aeademie royale de Copenliague: Oversigt over Forhfindliuger og dets Me-
dlemmers Arbejder i Aaret 1882. Nr. 2. Kj<|>benhavn; 8°.
Akademie der Wissenschaften, k. bayr. zu München: Sitzungsberichte der
philosophisch-philologischen und historischen Classe 1882. Band II. Heft II.
München, 1882; 8°.
Biblioteca e Museo comunale di Trento: Archivio Trentino. Anno I. Fa-
. scicolo 1°. Trento, 1882; 8°.
Bonn, Universität: Akademische Schriften pro 1881. 50 Stücke 4° und 8°.
Commission, Wilnaer archäographische: Buch der Wirtliscliaft in Groduo.
I. und II. Theil. Wilna, 1881 und 1882; 4°. — Beschreibung der Hand
schriften der öffentlichen Bibliothek zu Wilna, von F. Dobrjansky.
Wilna, 1882; 8».
Societas regia scientiarum danica: Regesta diplomatica historiae danicae.
Series seeunda, Tomus prior. II. Ab anno 1349 ad annum 1419. Kjü-
benhavn, 1882; 4".
/
Schuchardt. Ueber die Renguelasprache.
21
Ueber die Benguelaspraehe.
Von
Hugo Schuchardt,
conespondirendem Mitgliede der kais. Akademie der Wissenschaften.
Auf Kreolisches fahndend, erhielt ich von Herrn Constancio
de Almada Guerra in Benguela Mittheilungen über die Benguela-
sprache, für welche ich ihm auch an dieser Stelle meinen ver
bindlichsten Dank sage. Sie beziehen sich auf das reine
Benguela, wie es im Hinterland (port. sertäo, afr. nano) ge
sprochen wird, nicht auf das durch die Berührung mit dem
Portugiesischen und mit anderen afrikanischen Idiomen ziemlich
stark modificirte, wie es in der Stadt Benguela üblich ist.
Zwei Individuen, welche jenes vollständig mächtig sind, haben
als Autoritäten gedient.
Nach Cannecattim (Obs. gramm. sobre a Lingua Bunda
S. XV) ist das Benguela vom Bundu 1 so verschieden, dass es
Personen, denen das letztere Muttersprache ist, nur mit Mühe
lernen; seine Herrschaft reicht bis zum Quanza, indem es sich
über die Q.uisama erstreckt, während deren östliche Nachbarn,
die Libolo, eine Bundu-Mundart reden. So viel ich sehen kann,
hält das Benguela zwischen dem Bundu und dem Herero etwa
die Mitte; am allernächsten verwandt scheint es mit dem Rondu
und dem Vanda zu sein, aus denen Hahn in seiner ,Grammatik
des Herero' eine Reihe von Substantivformen mittheilt.
Bleek sammelte einVocabular und einige Gesänge in der
Benguelaspraehe, und zwar der Nano-Varietät (A comp, gramm.
§. 41. 496). Er konnte eine ziemlich lange Reihe von Sub-
1 Mein Gewährsmann nennt zwar das Idiom, über welches er mich unter
richtet, hambundo; es ist aber zu bedenken, dass dieser Ausdruck ur
sprünglich eine sehr weite Bedeutung hat; im Angolensischen oder Bundu
heisst omu-bundu ,der Neger*.
22
Schuchavdt.
stantivformen aufstellen, von denen er meint, dass sie im
Wesentlichen mit den Nano-Wörtern in Rath’s Handschrift der
Grey Library übereinstimmen. Sein und mein Material lassen
nur in wenigen Punkten eine Vergleichung zu, wobei einige
Verschiedenheit wahrnehmbar ist.
Bei meiner nur oberflächlichen Kenntniss von den Bantu
sprachen und meinen äusserst dürftigen Hilfsmitteln sind meine
Versuche, das Dunkle aufzuhellen, mit Nachsicht zu betrachten;
gerade auf diesem Gebiete würde die Heranziehung von räumlich
sehr Entferntem öfters besonderen Nutzen gewähren. Ich halte
es für angezeigt, die portugiesische Uebersetzung, die ein
gestandener- und Offenkundigermassen eine wenig wörtliche
ist, unverändert wiederzugeben. 1
Gespräche.
Uaripd?
Si. Uatunda pi?
Co nano.
Co onghira ocassi tchiud?
5 Si, ungana, ocassi tchiud.
Endemdi buapitare?
Date, ungana, capitare; molui
baiucare andi.
Umbere uiroca andi?
10 Si, ungana, opassi yatcho pas-
selena enene.
Uambatere orthe?
Diambata 2 epungo, cuenda ecupa,
cuenda omassa.
15 Po oculandissa?
Si.
Diangola oculanda.
Ulanda ya.
Epungo tchingana?
20 Diangolo \-a ?] ouanga.
Estäs bom?
Estou sim. D’onde vens?
Venho do nano (sertäp).
0 caminho estä bom'?
Sim, senhor, estä bom.
As chuvas jä passaram?
Näo, senhor, näo passaram; os
rios ainda väo cheios.
Ainda cae chuva?
Sim, senhor, o chäo ainda tem
muita lama.
0 que trazes tu?
Trago milho e ginguba c mos-
samballa [Felderzeugnissej.
Isso e para vender?
Sim.
Quero eu comprar.
Entäo compra ja.
0 milho custa muito caro?
Eu quero fazenda.
1 Dass die Niederschrift der Benguelatexte nach portugiesischen Principien
erfolgt ist, muss überall, besonders bei einigen Inconsequenzen im Auge
behalten werden. 0 und a sind in der Hds. oft nicht zu unterscheiden.
2 Bu. cu-ambäta ,trazer‘ Cann.
Ueber die Bengnelasprache.
23
Oango onhe? obrin, oangola,
ocanjenga, onhe obe uangola ?
Diangola obrin.
Utchingana obiti?
Bitano.
Tchitiue; si-angola.
Tchicare, ungana; diende c’olo-
tchindere. Tchindere ufeta 1
tchiud.
Cuende.
Saripd, ungana.
Saripd.
Que fazenda? algodäo, pano da
costa, len90s, canjinga 011 'ö
que queres tu?
Quero algodäo.
Quantos bitis [ein Längenmass] 25
queres?
Cinco.
f
E caro; näo quero.
Pois deixe, senhor; vou ter cona
o branco. 0 branco paga bem. 30
Vai-te d’aqui.
Adeus, senhor.
Adeus.
Liedchen.
TJmbi, umbi yangue
Yerera tuende
Caquere catchimbombo
Ososserd possi.
Os meus passarinhos fugiram, 35
pousaram alem no chäo, lä
estäo a dan9ar.
Eti mitissi ungande, eti mitissi
ungande:
TJendepi? Diende cotchipa lango.
Uringa onhe? Ocutenda oloango.
Oango onhe? Oango tchicola
omuenho.
Otchi andi pulare:
Oti oculalare co amen.
Um certo sujeito perguntou:
•io
Onde vais? You falar ä minha
amante.
Dizer 0 que? Vou conversar.
Qual conversa? Dizer tolices
(causas mds). 45
Replicou entäo 0 sujeito:
Vem antes estar commigo.
Caornbo queto ocumola cosema,
Ocuende carire posula;
Ocuenje eto ocumola c’uacayno,
Ocuende carir angola.
Os nossos cabritos veem a farinba,
Desejam ir para 0 pe do piläo;
Os nossos rapazes veem as rapa- 50
rigas,
Desejam ir para junto d’ellas.
1 He. ocu-suta, Bu. cu-futa, Congo cu-futa, cu-fita Cann.,zahlen*. Nach Bleek
§. 143 würde, wie im Herero, so auch im Nano /fehlen; dies wird jedoch
durch Formen, die er selbst citirt (o-gu-fa S. 188, o-fela S. 219), widerlegt.
24
Schnchardt.
Einzelne Sätze.
Tulangareco catchicaebare co
muno. Da umue itacupula,
55 urimbica.
Amen saquerepo, amen dapumba.
Dacuiangola uiangola, cate da-
cuqudta.
60 Datehisanda sanda, cate datchi-
mola.
Ungande tuocupula uatckirumba.
Fallemos baixinho (ou em se-
gredo) paraque ninguem per-
ceba. Se alguem te perguntär,
dize-lhe outra (mente-lhe).
Ausentei-me, e entao perdi.
Tanto quiz que consegui.
Tanto procurei que achei.
Aquelle individuo (ou certo
individuo) estä descontente.
Folgende Belege für die einzelnen Classen der Sub-
stantiva sieben mir zu Gebote:
II. ud-, Bl. ova-, oma- (He. ova-,
Bu. oa-, Ro. «-):
ud-cayu ,die Frauen'.
ud-lume ,die Männer', Bl. ova-
lome.
I. o-, Bl. omu-, u- (He. Bu. omu-,
Ro. u-, Va. o-):
o-cayu ,die Frau' (He. omu-
cazefndu], Bu. omu-cagi, Ro.
u-caya).
o-lume ,der Mann', Bl. u-lome
(He. omu-rume[ndu], Ro. u-
lume[n], Va. o-lume').
o-cuenje ,der Jüngling', 50 (das
Deminutiv nach der Xin. CI.
o-ga-cuendye Bl.).
ud-quemba ,dieLüge' (Lügen?);
vgl. uembi ,lügenhaft'.
ud-cayno ,die Mädchen' 50 (He.
ova-cazona, Bayeiye ba-cana).
IH. o-, Bl. omu-, u- (He. Bu. Ro. IV. obi-, Bl. omi-, ovi- (He. Bu.
omu-): omi-, Ro. ovi-) :
o-muine ,der Finger' (He. omu- obi-muine ,die Finger'.
nue, Ro. omu-ene).
Hier ist das Singularpräfix ganz mit dem Substantiv
verwachsen (vgl. Kreolische Studien I, S. 29, Anm. 1).
obi-ti ,die Ellen' 25 (He. omiti,
Bu. omi-xi ,Hölzer, Bäume').
Die Portugiesen haben wie es
scheint die häufiger vorkom-
TTeber die Benguolafiprache.
25
V. e-, a-, Bl. e-, i- (He. e-, Bu.
ori-, Ro. e-):
e-pepe ,die Schulter' (Sindonga
e-pepe, He. e-vambi, Congo e-
vembo Bastian II, 314).
e-cupa ,die Ginguba' 13.
e-pungo ,die Hirse' 13. 19 (auch
Bl. ,Mais‘; Sindonga oma-
pungu ,Mais‘).
a-io ,der Zahn', Bl. e-yo (He.
Ro. e-yo, Bu. ori-ju).
VII. (o)tchi-, Bl. otyi- (He. Va.
Ro. otyi-, Bu. oqui-):
tchi-ndere ,der Weisse' 30.
Bl. otyi-ntere (Bu. omu-ndele).
IX. o(n)-, u(n)- (He. Bu. Ro.
Va. o[n]-):
om-bua ,der Hund' (He. om-bua,
Bu. oim-bua).
um-bere ,der Regen' 9, Bl. om-
bela (He. om-bura, Bu. on-
vula, Ro. om-bera).
on-ghira ,der Weg' 4 = Bl. on-
dyilla (He. on-dyira, Bu. on-
gilla) ?
on-gombe ,der Ochse' (He. Bu.
Ro. Va. on-gombe).
un-gana ,der Herr' 7. 10. 33
(Bu. on-gana).
mende Pluralform adoptirt
(biti), so wie wir der Basuto,
der Betschuane sagen.
obi-pando ,die Ruder 1 .
VI. o-, obd- Bl. ova-, ov- (He.
Bu. oma-, Ro. o-, ova-):
o-pepe ,die Schultern' (Congo ma-
bembua Cann., Loango ma-
vembo Bastian II, 272).
obd-io ,die Zähne', Bl. ova-yo
(Ro. ova-yo).
ovi-ntere Bl.
X. olo(n)-, Bl. ozo(n)- 1 (He.
ozo[n]-, Bu. oji[n]Ro.
olo[n]-, Va. ozi[n]-):
olon-gombe ,die Ochsen'.
1 Es ist, hier, wie im Herero, mit z die gelispelte, d. h. interderftale Fri-
cativa gemeint, für welche Bleek 0’ schreibt. Er sagt §. 150: ,The
softer sound 0’ which is also found in the Nano language, sounds some-
times much like l.‘
26
S chuchardt.
o-sangue ,das Huhn* (Bu. o-sangi, olo-sangue ,die Hühner*.
Va. o-santye).
o-massa ,Mossamballa* 14 (Bu.
o-massa ,die Hirse*).
Dahin gehören wohl auch o-
angola, o-brin u. s. w.
XIII. (o)ca-, oco-? Bl. oca-, oga-
(He. Bu. oca-):
ca-ombo ,das Zicklein* 48. Das
Wort für ,Ziege* lautet sonst
consonantisch an: He. on-
gombo, Bu. Ro. o-yombo, Va.
om-bondyo.
oco-vjo ,das Haus* = Bl. oca-
ndyn,das kleine Haus?* (He.
Ro. Va. on-dyuo, Bu. on-zo
,das Haus*).
XVI. Bleek sagt (§. 531), das
Vorkommen des Praefixes
pa- im Nano sei imsicher.
Vielleicht haben wir einen
Beleg dafür in
opa-ssi ,der Boden* 10, welches
doch sicher mit Tette pa-nsi,
Induparm ,Erde, Land* iden
tisch ist. Ob hier der gleiche
Stamm vorliegt, wie im gleich-
bed. Fern, e-tchi XIII, Nika
tsi IX, Pokomo n-si, Kamba n-
di, Suaheli n-ti, Bu. o-chi, He.
ocu-ti u. s. w., muss ich dahin
gestellt lassen.
Es ist indessen nicht unmöglich,
dass im Nanopa durchaus mit
dem Stamm verwachsen und
das Wort der IX. Classe zu
zuzählen ist; Kele pendshe
,Erde, Land* gehört zu dieser
(Plur. ma-pendshe).
lieber die Benguelasprache.
27
Eine Reihe von Substantivformen weiss ich nicht zu be
stimmen , so sonde ,Blut 4 , aturi ,Blutegel 4 . Co-pianga ,Raub 4 ,
s. S. 31. Sind endemdi ,die Regengüsse 4 6, molui ,die Flüsse 4 7,
umbi ,die Vöglein* 35 wirklich Plurale? Bleek hat o-rui ,der
Fluss 4 (Ro. Ya. o-lui), Plur. ozo-rui. Sollte in mo-lui das XVIII.
nur im Herero nachgewiesenc Präfix mo- stecken? Vgl. übrigens
Loango cu-Ile ,Fluss 4 , Plur. ma-llu Bastian II, 273.
Die Geschlechter werden, wo dies erforderlich ist, durch
Beifügung der Wörter für ,Mann 4 und ,Frau 4 unterschieden,
z. B. om-bua o-lume ,der Hund 4 , om-bua o-cay ,die Hündin 4 ;
on-gombe o-lume ,der Ochs 4 , on-gombe o-cay ,die Kuh 4 .
Adjectivische Präfixe kann ich nicht mit Sicherheit
nachweisen ; man bemerke [passelena] e-nene (V) 11 (onene wird
mit ,Grosses 4 übersetzt; He. neue, Bu. honene ,gross 4 ).
Ein Numeralpräfix liegt vor in [obi-ti] bi-tano (IV)
25. 27 (He. vi-tano).
Wenigstens einen besondern Comparativ kennt das Ben-
guela: bare ,mehr 4 zu maene ,viel 4 (Loango buela zu bäne Bas
tian II, 294. 304).
Demonstrativ-, Frage-und unbestimmte Pronomina
sind: u ,dieser 4 , vu ,der dort 4 , aiu ,jener 4 , etcli ,dics 4 (He. otyi,
Loango atchi, otcho Bastian II, 298. 300), m'e? ,wer? 4 o-nhe?
,was? 4 ungande oder umue ,Jemand 4 muno ,Niemand 4 .
Die absoluten Personalpronomina lauten:
Sing. 1. amen 1 (He. and, Bu. emme),
2. obe (He. ove, Bu. ei§),
3. eie I. (He. eye, Bu. muene),
Plur. 1. eto (He. ete, Bu. etu),
2. eno (He. ene, Bu. emi),
3. obo II. (He. ovo, Bu. ene).
Eine Nebenform von amen, nämlich angue, wird im Gcnit.iv-
verhältniss verwendet: tchi-angue oder tchi-ang ,mein 4 . Für
tchi-eie ,sein 4 finde ich angegeben tch-ay.
Die Possessivpronomina werden natürlich durch die
Personalpronomina mit Genitivpräfixen dargestellt; ich kann nur
wenige Belege geben. Ich weiss nicht, weshalb man das der
VII. Classe so bevorzugt. Wie Cannecattim 7 mein‘ mit quiami
1 Das auslautende n erklärt sich aus der Wirkung* des vorausgehonden m,
ganz wie das zweite m in port. mim.
28
Schuchardt.
übersetzt, so mein Gewährsmann mit tchiangue, und er nimmt
da wo das Possessivum anders anlautet, eine euphonische Ver
änderung an, so in conjo i-obe ,dein Haus'; vgl. He. on-dyuo
y-a-ve, Bu. on-zo i-e. Ein anderes Beispiel von vermeintlichem
i- für tchi-: cambar y-angue (die Uebersetzung ist nicht beigefügt).
Ca-ombo qu-eto 48, XIII. Classe.
Die pronominalen Verbalpräfixe subjectiver Func
tion sind diese:
Sing. 1. di (He. dyi, Bu. nghi),
2. u (He. u, Bu. u),
3. u I. (He. u, Bu. u),
Plur. 1. tu (He. tu, Bu. tu),
2. mu 1 (He. mu, Bu. nu),
3. ba II. (He. ve, Bu. a).
Präfixe anderer Classen als der beiden ersten kann ich
mit Sicherheit nicht nachweisen. Statt u-iroca 9 erwartete ich
y-aroca (He. ocu-roca, Bu. cu-noca ,regnen'), da das vorher
gehende um-bere der IX. Classe angehört; vgl. [opassi]y-atcho 10.
Die Grundform des Verbums liegt vor im Imperativ,
z. B. landa oder nachdrücklich landa iobe ,kaufe' (He. randa)-,
hier vermag ich das i vor dem Personalpronomen nicht zu er
klären. Eine indicativische (oder conjunctivische) Form an
Stelle einer imperativischen: u-landa 18, u-rimbica 55 (vgl. He.
ocu-rimbica. ,den Athem an sich halten').
Das Präsens wird gebildet durch die einfache Ver
bindung der Subjectspraefixa mit der Grundform:
amen di-landa ,ich kaufe',
obe u-landa,
eie u-landa,
eto tu-landa,
eno mu-landa,
obo ba-landa.
Die vollen Pronomina werden hier, wie überhaupt, nur
selten angewandt; ja sogar die Präfixe fehlen öfter, z. B.
tehingana 19, welches so viel heissen muss wie ,du verlangst'?;
vgl. u-tchingana 25.
Das Präteritum wird auf dreifache Weise gebildet:
1 Mu für nu in Folge der labialen Wirkung des u.
Ueber die Benguelasprache.
29
1. ein impcrfectischcs Präfix a- und ein perfectisches
Suffix -re, welche in anderen Bantusprachen eine getrennte
Anwendung finden (s. Fr. Müller, Grundriss I, n, S. 259),
wirken hier gemeinsam:
amen d-a-landa-re ,ich kaufte',
obe u-a-landa-re,
eie u-a-landa-re,
eto tu-a-landa-re,
eno mu-a-landa-re,
oho bu-a-landa-re.
Man bemerke bn.-a, während man erwarten sollte b-a
(He. v-a, Bu. a) — ba -f- a: es hat wohl die Analogie der 1.
und 2. P. Plur. sich geltend gemacht. Aber b-a-iuca-re 8 (vgl.
He. ocu-yuca ,auswerfen und ausstossen'?). Das Hererd und
Bundu unterscheiden sich noch darin vom Benguela, dass das
a, mit welchem die Grundform schliesst, vor -re (-/«) regel
mässig zu e oder i wird (z. B. He. tu-a-rande-re), während
dies im Benguela nur hei einigen Verben zu geschehen scheint
(s. unten).
Diese Form ist gewissermassen die Hauptform; alle Verba
können sie bilden, manche bilden nur sie. Am häufigsten ge
braucht wird jedoch
2. diejenige, in welcher das a. der unveränderten Grund
form präfigirt ist (im Hererd: imperfectes Präsens):
amen d-a-possuca ,ich wachte auf'',
obe u-a-possuca,
eie u-a-possuca,
eto tu-a-possuca,
eno mu-a-possuca,
obo bu-a-possuca.
3. endlich tritt, und dieses Mittel scheint verhältniss-
mässig jung zu sein, neben das a ein tchi, welches dem tyi
des Hererd (arire ,es geschah' -)- tyi -f- imperf. Präs. —
Präteritum, Hahn §. 204) und dem qui des Bundu (qui -f- Pro-
nominalpräf. + Grundform = Conj. Fut. 2 nach Cann.; Prono-
1 Ich glaube das port. acordar, welches dies Verbum übersetzt, in der
intransitiven, nicht in der transitiven Bedeutung’ nehmen zu müssen;
das Suffix -uca pflegt Intransitiva abzuleiten (s. Hahn §. 163).
30
Schuchardt.
minalpräf. -)- qui -f- Grundform = Ind. uiid Conj. Fut. 1 uud
2 nach SA.; Pronominalp räf. -f- a qui -)- Perfectform auf
-le = Conj. Priit. nach SA.) entspricht:
amen d-a-tclä-sanda. ,ich trachtete',
obe u-a-tchi-sanda,
eie u-a-tclii-sanda,
eto tu-a-tchi-sanda,
eno mu-a-tchi-sanda,
obo bu-a-tcki-sanda.
Das Futurum enthält in seiner zweiten Hälfte den In
finitiv; die erste areca. muss daher ein Verbum mit einer Be
deutung wie ,wollen', ,wünschen', ,gehen' sein (vgl. He. hara,
womit ein Optativ gebildet wird: b-a-liara ocu-aruca ,ich wünsche
heimzugehen' Hahn §. 213):
amen d-areca ocu-landa, ,ich werde kaufen',
obe u-areca, ocu-landa,
eie u-areca ocu-landa,
eto tu-areca ocu-landa,
eno mu-areca ocu-landa,
obo bn-areca ocu-landa.
Im Conditionalis bemerken wir vor dem Infinitiv das
von den beiden Partikeln da und a eingeschlossene Pronominal
präfix. Da wird eine hypothetische Partikel sein (da ,wenn‘ 54)
vielleicht identisch mit dem verbalen nda des Hererö (,wäh
rend', ,indem'; nda-cuzu,' ebenso wie tya-cuzu, ,wenn' Hahn
§. 291); a kann hier nicht präterital, sondern nur futural sein,
Abkürzung von ya ,gehen':
amen da-nd-a ocu-landa, ,ich würde kaufen',
obe da-u-a ocu-landa,
eie da-u-a ocu-landa
eto da-tu-a ocu-landa,
eno da-mu-a ocu-landa
obo da-bn-a ocu-landa.
Der Infinitiv besteht, wie im Hererd, Bundu u. s. w.,
aus der Grundform mit dem Nominalpräfix der XV. Classe:
ocu-landa, ocu-possuca, ocu-nhana ,rauben', ocu-tapura ,rudern'.
Es zeigen sich hei einzelnen Verben Unregelmässigkeiten.
Statt des Infinitivpräfixes ocu- findet sich blos o-, so in o-cassi
,sein' (estar, ser), Präs, di-cassi, o-tunda ,sich entfernen', Imp.
Ueber die Benguelaspracbe.
31
tunda. Daher kann es geschehen, dass das -cm- von ocn- als
stammhaft betrachtet wird (vgl. oben o-muine — omu-ine): o-cu-
pnla = ocu-pida (He. ocu-pura, Bu. cuibulaf, Imp. 2. PI. cupula
eno, Prät. d-a-cupulcire (vgl. u-a-cupida 54, das der Form, nicht
der Bedeutung nach ein Prät. der 2. Bildung ist). Doch scheint
auch pula als Grundform verwandt zu werden. Auch pulissa wird
angegeben in der Bed. ,frage*, obwohl mit dem Suffix -issa
Causativa gebildet werden (so ocu-landa 17 ,kaufen*, ocu-
landissa 15 , verkaufen *); umgekehrt pulare 46 ,antwortete*.
Cuende ,geh‘ enthält infinitivisches cm-; vgl. He. ocu-enda
(für ocu-yenda), Bu. cu-enda ,gehen*. Im Loango minu yendi
und minu cuenda ,ich gehe* Bastian II, 288. 297; cuenda und
yendu ,geh* ebenda 303. Mit o- für ocu- ist identisch u in u-afa
,sterben* (nach Bleek im Nano o-gu-fa S. 188 Anm., wo die
Formen der verwandten Sprachen, meist -fa oder -fua, ver
zeichnet sind; statt Congo cu-fua hat Cann. cu-affüa.), Präs.
di-afa, Prät. d-a-fare (für d-a-afare). Manche Infinitive finde
ich ohne jedes Präfix, so tambula ,nehmen 1 (He. ocu-cambura,
Bu. cu-tambula), capa ,setzen*, Präs, di-tambula, di-capa,. Bei
tuara ,bringen* ist es schwer, die Grundform zu ermitteln:
Präs, duara, Prät. duarere, Cond, da-ndara (wo zu erwarten
gewesen wäre: da-nd-a tuara). — Das Präteritum geht zu
weilen statt auf -are auf -ere oder -ire (dies nach i und n in
der vorhergehenden Silbe) aus, wie das regelmässig geschieht
im Herero und Bundu (hier -eie, -ile); so das eben erwähnte
duarere, u-a-mbatere 12 (vgl. di-a-mbata 13, Präteritum der
2. Bildungsweise) und d-a-tnndire zu tunda. Merkwürdige Er
weiterungen der Präteritalendung zeigen sich in d-a-tunderiare
neben d-a-tundire und in d-a-tchicapaebare zu capa. Von der
Grundform Aveicht im Stamme ab d-a-marare zu ocu-mola ,sehen*
(He. ocu-mona, Bu. cu-mona). Zu o-cassi ,sein* lautet das Prä
teritum: d-a-carere (He. ocu-cara, Bu. cu-cala, Loango käle, käre
Bastian II, 279, ,sein*, eig. ,sitzen*).
Die verbale Negation erscheint in Gestalt von ca (dies
ist das gewöhnliche Wort in den Bantusprachen) neben dem
Perfectum: ca-pitare 7 (\’gl. bu-a-pitare 6; He. ocu-pita ,heraus
gehen*, Bu. ocu-bita ,hinübergehen*); neben dem Präsens als ui
in si-angola 28 (vgl. saquerepo 57 ?); si... co mit häufig unter
drücktem si verneint im Loango (Bastian II, 275. 290). Haben
32
Schucliardt. Ueber die Benguelasprache.
wir dieses co (auch im He. ca . . . co) in tu-langareco 53 wieder
zufinden ?
Den äussern Anschein einer verbalen Partikel hat -po
in u-aripö 1, saripö 33. 34 (übt hier s- Optative Function?),
saquerepo 57; aber in Bezug auf den Sinn weichen diese drei
Fälle untereinander und die beiden letzten wenigstens vom
fragenden po des Herero ab.
Was die Adverbien anlangt, so erscheinen sie im Herero
und Bundu vielfach mit dem Präfix tyi-, bez. qui-; aber es
ist das kein speciell adverbiales, sondern das Präfix der VH. CL,
welches viele substantivirte Adjectiva (bes. mit neutralem Sinne)
tragen und sogar einige abhängige Adjectiva, indem sie sich
von dem Substantiv, zu dem sie gehören, emancipiren. Im Ben-
guela wird in entsprechender Weise tchi- verwandt: tch-etito
heisst ,Kleines' und ,wenig'. Wenn für ,Kleines' auch etito an
geführt wird, so ist das wohl die Form des eigentlichen Adjectivs
(vgl. He. oka-titi ,klein'). Adverbium ist tchi-ud ,gut' 4. 5. 31
(He. na ,gut'), wohl auch tchi-tiue 28. Von Ortsadverbien kann
ich anführen: papa ,hier' (Bu. boba, Congo bava Cann., Loango
ava Bastian II, 302), npapa ,von hier', upopo ,von dort' (d’alli;
Loango ovo ,dort' Bastian a. a. 0.), oco ,dort' (acolä), pi? ,wo?'
(He. pi? Bu. hebt?'). Von sonstigen: (late, ,nein' 7; andi ,noch'
8. 9, vgl. 46 (Bu. hangi). Ist otchi 46 = He. otyi ,so'? Si 2.
10. 16 (Bu. chim), ,ja' ist Lehnwort = port. sim• ebenso ya 18.
Präpositionen sind: co ,von' (He. Bu. cu), po ,für' (He.
pu, Bu. bu), la ,mit' (He. na, Bu. nt, Sotho le).
Wie schon erwähnt, behauptet mein Gewährsmann, dass
zur Vermeidung von Hiatus und Kakophonie mancherlei Ver
änderungen vorgenommen würden. Wenn das z. B. einleuchtet
bei danda ’carere oder dand’ocarere für danda ocarere und bei
da ’ndare oder d’endare für da-endare (diesen Worten ist keine
Uebersetzung , beigegeben, s. ähnliche Formen auf der vorher
gehenden Seite), so vermag ich eine solche Wirkung nicht zu
erkennen in: cotckipa lango für otchipa ango, noch in : ocntenda
oloango für ocutenda. ango.
Weih rieb. Das Specnlnm des h. Augustinus u. seine handschr. Ueberlieferung. 33
Das Speculum des 1). Augustinus und seine
handschriftliche Ueberlieferung.
Von
Prof. Dr. F. Weihrich.
I.
beschäftigte sich in den letzten Jahren
seines Lehens mit der Abfassung des Speculums und hinterliess
die Schrift in unvollendetem Zustande. In der kritischen
Revue, welche er um 426—427 über die bis dahin veröffent
lichten Werke schrieb, ist das Speculum nicht angeführt, aber
der Bischof Possidius von Calama, der innige Freund und
Biograph des grossen Mannes, erwähnt in der Vita nach Be
sprechung jenes Werkes de recensione librorum und unmittelbar
vor dem Berichte über die kriegerischen Ereignisse des Jahres
428 die genannte Schrift als das bemerkenswertheste der
jenigen Werke, die in Folge von des Verfassers vorzeitigem
Ableben nicht mehr vollendet wurden. Possidius bemerkt dabei,
Augustinus habe als ein Mann, der bemüht war, Allen in jeder
Beziehung zu nützen, seine schriftstellerische Tlnitigkeit auch
darauf ausgedehnt, dass er zu dem Zwecke, den Leser zu sitt
licher Selbsterkenntniss zu führen, aus dem Alten und Neuen
Testamente Sittengesetze auszog und zu einem Buche vereinigte,
eine Vorrede voranschickte und die Bezeichnung ,Speculum 1
als Titel bestimmte. 1 Es wird zwar in dieser Bemerkung des
1 Possidius de vita S.'Augustini c. 28: Imperfecta etiam quaedara suo-
rum librorum praeuentus morte dereliquit. Quique prodesse ovnnibus
volenSy et ualentibus multa librorum legere et non ualentibus, ex utroque
diuino testamento, uetere et nouo, praemissa praefatione praecepta
diuina seu uetila ad uitae regulam pertinentia excerpsit atque ex his unum
Sitzungsber. d. phil.-hist. CI. CTTT. Bd. I. Hft. 3
34
Weih rieh.
Biographen eine Andeutung über die Art und den Umfang der
Unvollkommenheiten dieser Schrift vermisst, so dass man in
dieser Frage ausschliesslich auf den überlieferten Zustand und
Inhalt der Schrift selbst angewiesen ist. Die Arbeit muss aber
zu einem solchen Abschluss gediehen sein, dass sie verölfentlicht
und von Possidius in dem Verzeichnisse der Schriften noch
aufgeführt zu werden verdiente. Um die Wende des fünften
und sechsten Jahrhunderts erfreute sich das Werk der beson
deren Anerkennung von Seiten des gelehrten Staatsmannes
Cassiodorus Senator, der es als eine Art Moralphilosophie
bezeichnete und der aufmerksamen Lectüre nachdrücklich
empfahl. 1
Diese beiden Zeugnisse über die Entstehung und Ver
breitung der Schrift stimmen in der Angabe des Inhalts, den
sie bot, und in der Bezeichnung des Zweckes, dem sie diente,
vollkommen überein; es ist aber ein Moment von nicht un
erheblicher Bedeutung, wenn Possidius noch die äussere Eigen
schaft hervorhebt, dass sie eine praefatio besessen habe, und
die Möglichkeit ist nicht ausgeschlossen, dass auf Composition
und Formgebung Cassiodorus hindeuten will, wenn er sie einen
Über quasi pkilosophiae moralis nennt.
2. Das überlieferte handschriftliche Material bietet uns
zwei Werke, welche Stoff und Zweck im Allgemeinen mitein
ander gemein haben, aber durch die Auswahl der Bibelstellen
und den Wortlaut des Textes, durch Anlage und Gliederung
codicem fecit, ut qui uellet legeret atque in eo uel quam oboediens Deo in-
oboediensue esset agnosceret, et hoc opus uoluit speculum appellari. Der
durch quique angedeutete Zusammenhang zwischen beiden Sätzen ist
ein solcher, dass der zweite nur ein specielles Beispiel von dem anführt,
was im ersten allgemein durch imperfecta quaedam suorum librovum be
zeichnet ist: ,und so hat er auch — — Sittengesetze ausgezogen 4 . In
uoluit liegt nicht die Bedeutung der blossen Absicht, sondern das Ver
bum hat den in der amtlichen Sprache des römischen Curialstiles ge
läufigen Sinn von bestimmen, festsetzen, so dass appellari uoluit so viel
heisst als inscripsit.
1 Cassiodorus de instit. diu. script. c. 16: Liber eiusdem Augustini quasi
pkilosophiae moralis, quem pro moribus instituendis atque corrigendis
ex diuina auctoritate collegit speculumque nominauit, magna intentione
legendus est.
Das Speculum des b. Augustinus und seine handschr. Ueberlieferung.
35
sich wesentlich von einander unterscheiden. 1 Beide Schriften
sind eine Sammlung von ausgewählten Bibelstellen, die geeignet
sind, den Menschen durch das unvermittelte göttliche Wort
zur Selbsterkenntniss und Selbstbeurtheilung zu führen; die
eine aber, ,Quis ignoratbesteht in einer einfachen Aneinander
reihung der' Stellen in der Folge der biblischen Bücher nach
dem hieronymianischen Texte und besitzt eine Vorrede, die
andere, ,Audi lsrahel‘, fasst die Sittengeböte unter höheren
Gesichtspunkten in Capiteln zusammen, die mit entsprechenden
Ueberschriften versehen sind, sie folgt dem Texte einer älteren
und zwar afrikanischen Bibelübersetzung und entbehrt der
Vorrede.
3. Alle Ausgaben, sowohl die der gesammten Werke von
der Baseler 2 aus dem Jahre 1506 bis zu der der Benedictiner
von St. Maur, als auch die römische Sonderausgabe von 1679, 2
brachten nur das Speculum ,Quis ignorat‘ zum Druck, während
die andere liedaction bis in die Mitte des 17. Jahrhunderts un
beachtet blieb. Im Jahre 1654 veröffentlichte Hieronymus
Vignier, Priester des Oratoriums zu Paris, das Speculum ,Audi
1 Die Uueclitheit der beiden kleineren Schriften, die gleichfalls den Titel
Speculum S. Augustini führen, ist so unzweifelhaft, dass dieselben von
aller Discussion ausgeschlossen sind. Das eine: ,Adesto mihi 1 (Migno
40, 967—984) ist betitelt Speculum oder Murmale oder Libellus catho-
licae fidei und enthält selbst Excerpte aus Aleuins Schriften; das
zweite: ,Quoniam, cariasime, in uia huius saeculi fugientis sumus‘ (Migne
40, 983—992), in der Regel Speculum Peccatoris betitelt, kann nicht
vor dem zehnten Jahrhundert abgefasst sein. Dieselben werden hier nur
erwähnt, weil Montfaucon (Bibliotli. bibl. II, 728—729 und Palaeogr.
gr. 326) die Mittheilung macht, dass sich in einem Pariser Codex des
Nicet.as Choniates Acominatus ein griechisches Fragment fände
sx Trjs Siojurpa; toü paxapiou aiftoucfTivou. Dieses Fragment entstammt
nämlich dem erstgenannten Speculum ,Adesto mihi‘ und ist die griecli.
Uebertragung von Cap. 17 und des Anfangs von Cap. 18 bei Migne 40,
976. Die Handschrift, der Codex Parisinus gr. 1234, saec. XIV., von
Ioannes Scutariotes geschrieben, 394 Blätter in Folio, enthält Nicetae
Choniatae Acorninati Panoplia dogmatica und bietet das Fragment auf
Fol. 5 in der Mitte, Es dürfte nicht ohne Interesse sein, dasselbe in
seinem ganzen Umfang in dem Excurse folgen zu lassen.
2 11- Augustiui opora. Basileae apud Joannem Amerbachium. 1506.
3 Diui Aurelii Augustini episcopi Hipponensis Speculum. Romae. Ex typo-
graphia Josephi Vanaccii. 1679. (Ed. J. M. Thomasius.)
3*
36
We i b r i c li.
Israheldas er in der aus der Bibliothek der Herren de Mesmes
stammenden und jetzt in der Nationalbibliothek zu Paris aufbe
wahrten Theodulfbibel entdeckte. 1 Es war jedoch ein eigenes Miss
geschick, dass der Herausgeber nur aus demjenigen Manuscripte
schöpfen konnte, in welchem der Text unter Beibehaltung der
wesentlichen Eigenschaft der Capiteleintheilung in den Wortlaut
der Vulgata umgesetzt erscheint und dass er bei der Herstellung
des Druckes mit einem Ungeschick und einer Sorglosigkeit
verfuhr, die nach heutiger Anschauung allen Tadel verdiente.
Die Benedictiner zollten der neuen Erscheinung so wenig Aner
kennung, dass sie in ihrer Gresammtausgabe von 1679—1700 das
Werk nicht einmal unter die unechten Schriften aufnahmen.
In unserem Jahrhunderte ward die Aufmerksamkeit von Neuem
auf diese Schrift gelenkt. In der Bibliothek des Cistercienser-
klosters von Sta Croce di Grerusalemme zu Rom fand sich
der Codex Sessorianus, in welchem das neue Speculum in einer
ursprünglicheren Gestalt erschien. Der Cardinal Wiseman
benützte die Handschrift und entnahm ihr 1832 das vielbe
sprochene Citat für seine Erörterungen über das Comma
Johanneum, 2 und der Cardinal Angelo Mai gab Aufschluss
über den Umfang und die Bedeutung des Manuscriptes 3 und
liess 1852 das Speculum daraus vollständig abdrucken. 4 Durch
die neue Form des Bibeltextes, sowie durch eine Reihe sprach
licher Erscheinungen erweckte die Publication Mai’s das Interesse
der biblischen Exegese und der historischen Sprachwissenschaft;
einer kritischen Untersuchung aber, deren sie dringend bedarf,
ward sie bisher nicht unterzogen.
4. In der Praefatio des Speculum ,Quin ignorat‘ spricht
sich der Verfasser über den Zweck seiner Schrift in einer
Weise aus, dass in diesem Punkte mit Possidius’ Angaben
1 S. Aurelii Augustini Hipponensis episcopi opernm omnium ante annum
M. DC. XIV. editorum supplementum Hieronymus Vignier ex codicibus
mss. eruit. t. I. Parisiis, Sim. Piget, 1G54. Fol,, p. 515—54G.
2 Wiseman, Two letters on some parts of the eontroversy conceming I.
Joh. 5, 7: Catholic Magazin, 1832 und 1833. Essays on various subjects.
London 1853. I, 24. Abhandlungen über verschiedene Gegenstände. A. d.
Engl. Regensburg, 1854. I, 11—3G.
3 Mai, Spicilegium Romanum. t. IX. p. II, 1—88.
4 Nova Patrum Bibliotheca. Romae 1852. vol. I, part. II, p. 1—117.
Das Speculum des h. Augustinus und seine handsclir. Ueberlieferung.
37
vollste Üebereinstimmung herrscht/ und er stellt noch die Ab
fassung eines die Schwierigkeiten in den Gegensätzen einzelner
Sittengebote commentirenden zweiten Theiles in Aussicht,
der nicht mehr zu Stande kam, 2 so dass wir hieraus zunächst
verstehen, weshalb Possidius die Schrift als Beispiel der quae-
dara imperfecta anführt. Auch der Umstand, dass die Bibel-
citate diesesSpeculums dem hieronymianischen Texte folgen,
stimmt vollkommen zu der Thatsachc, dass Augustinus um die
Zeit, in welche die Abfassung des Speculums fallen muss
(426- 427), den neuen Text adoptirt hatte und der Verbreitung
desselben Vorschub leistete. Gegen das Jahr 426 sieht er sich
nämlich zu der Erklärung veranlasst, dass er jetzt der Ueber-
setzung des Hieronymus folge. 3 Es musste ihm die Annahme der
neuen Vulgata auch leicht fallen, da ihr seine ,Itala‘ näher stand
als die älteren afrikanischen Texte. Dieses Speculum war ferner
von der Anerkennung des sechsten Jahrhunderts getragen ; denn
der Abt Eugippius benützte es für seine Augustinus-Excerpte
und entnahm aus der Vorrede die einleitenden Worte: ,Quis
ignorat‘ bis ,aperta fastidiunt/, J Die Eintheilung des Ganzen der
vier Evangelien in einen activen (Matthäus, Marcus und Lucas)
und einen contemplativen (Johannes) TheiP entspricht genau
1 Migne 34, 889: nos autem in hoc opere nec infidelem uel aclducimus uel
aedificamus ad fidem, nec exercemus quibusdam salubribus difficultati-
bus Ingenium intentionemque discentium, sed eum qui iam credens oboedire
Deo uoluerit, ut hic se inspiciat, admonemus, quantumque in bonis moribus
operibusque profecerit et quantum sibi desit, attendat.
2 Ibid. — in his autem omnibus quae inspicienda ponere institui quaecumque
inter se uidebuntur esse contraria, postea propositis quaestionibus exponenda
atque soluenda sunt. Sane supplicia male factorum et praemia recte fa-
ctorum, quamuis nonnidla commemoranda existimauerim, tarnen in nouo
testamento dissimilia ueteribus esse quis nesciat?
3 August, de doctr. Christ. 4, 7 in Bezug auf eine Stelle aus Amos (7, 14.
15): Non autem secundum septuaginta interpretes — — —, sed sicut ex
hebraeo in latinum eloquium, presbytero Hieronymo utriusque linguae perito
interpretante, translata sunt.
4 Eugippius Exc., c. 322: Ex Speculo Sancti Augustini. Quis ignorat —
— — aperta fastidiunt.
5 August. Specul., Migne 34, 993: ubi intellegi polest, tres euangelistas,
Matthaeum scilicet et Marcum et Lucam, ideo nobis plura dedisse praecepta
uiuendi, quia eam maxime secuti sunt partem, quae actiua dicitur: quia
uero Iohannes contemplatiuam magis tenuit — — —, multo pauciora
tarnen in eo morum praecepta comperimus.
38
Weiliricli.
den Erörterungen, in denen Augustinus schon um 4Ö0 diese
Scheidung vornahm und näher begründete. 1
5. Die Benedictiner hatten sich also von einem richtigen
Gesichtspunkte leiten lassen, indem sie mit den früheren Heraus
gebern übereinstimmend Augustinus für den Verfasser dieser
Schrift hielten. Als sie aber das Speculum ,Audi Israhel c aus
inneren Gründen zu verwerfen unternahmen, so war das ihnen
vorliegende Material der Ueberlieferung nicht geeignet, ihnen
einen Blick in die Fundstätten derjenigen Argumente zu er
möglichen, deren eine erfolgreiche Beweisführung bedurfte und
mit denen wir heute die Zweifel an der Echtheit dieser Schrift
zu begründen vermögen. Es erregte ihnen die Meinung Be
denken, dass nicht alle Capitel ethischen Inhaltes seien, was
man doch nach der von Possidius gegebenen Charakteristik
der Schrift zu erwarten berechtigt ist, 2 eine Erwägung, die von
Tillemont mit grösserer Schärfe wiederholt wurde. 3 Einige
1 de consensu euangelistarum I, 5, §.8: Proiride cum duae uirtutes propo-
sitae sint animae linmanae, una cictiua, altera contemplatiua: — —
illa est in praeceptis exercendae uitae huius temporalis, ista in doctrina
uitae illms sempiternae. — — — Ex quo intellegi datur, si diligenter
aduertas, tres euangelistas temporalia facta domini et dicta quae ad in-
formandos mores uitae praesentis maxime ualerent, copiosius perse-
cutos, circa illam actiuam uirtutem fuisse uersatos: lohannem uero facta
domini multo pauciora narrantem, dicta ues'o eins, ea praesertim quae
trinitatis unitatem et uitae aeternae' felicitateni insinuarent, diligentius et
uberius conseribentern, in uirtute contemplatiua commendanda suam intentio-
nem praedicationemque tenuisse.
2 Aliud non ita pridem Hieronymi Vignerii cura prodiit speculum sub Augu-
stini nomine, in quo sententiae scripturarum reuocantur ad certa quaedam
capita institida uariis de rebus sacram doetvinam spectantibus, adeo ut non
tarn uitae instituendae consilio, quam erudiendi animi causa
comparatam esse uideatur. Quocirca istud minus cum eo conuenit specido,
quod et Possidii uerbis et Augustini praefatione describitur: planeque
oportet sicuti nostrum hoc genuinum, ita Vignerianum illud spurium habeamus.
3 Tillemont, Lenain de, Mdmoires pour servir a l’histoire ecclesiastique
des six premiers siecles. t. XIII. Venise, Pitteri, 1732. Art. 336, p. 896:
Le Pere Vignier nous a donn6 un recueil des passages de VEcriture fait
par matieres et saus preface. 11 Vattribue aussi\ ä S. Augustin et luy
donne le mesme titre de Miroir. — Ce recueil est sur toutes les matihres
de la religion (eine Uebertreibung), aussi bien sur la foy que sur les
meeurs. Ainsi ce n’est pas celui qui est promis dans la pröface que nous
Das Speculum dos h. Augustinus und seine handschr. Ueberlieferung.
39
Capitel erscheinen nämlich in der Thal, wenn man nur aus
den Ueberschriften auf den Inhalt derselben schliesst, theils
dogmatischen, theils exegetischen Charakters. Allein bei näherer
Betrachtung lindet man, dass sie nur solche Belehrungen ent
halten, die der Moral zur Grundlage dienen und ethische Zwecke
verfolgen. Die dogmatischen Capitel handeln von der Wesen
heit und Persönlichkeit Gottes als der höchsten Auctorität der
Sittengebote und als der Quelle der Rechtfertigung und Gnade
(Cap. 1, 2, 3, 104, 134, 144), von der Allgegenwart, Allwissen
heit, Allmacht der strafenden und lohnenden Gerechtigkeit.
(8, 9, 54, 56, 57, 131, 132); die exegetischen citiren die
mystischen und allegorischen Bezeichnungen der Menschen in
ihren Beziehungen zu dem Reiche Gottes an den Stellen, in
denen sie einzeln und in der Gemeinschaft der Kirche bezüglich
ihrer fruchtbringenden Werke mit Erscheinungen oder Gegen
ständen der Natur verglichen werden, und in denen gezeigt
wird, wie die Bösen Unheil stiften und die Guten Nutzen
bringen, wie die Bösen Schaden leiden und untergehen, die
Guten zu Ehren kommen und im Glanze des Lichtes erscheinen
(112, 113, 114, 116, 117, 121, 124, 135, 138). Die moralische
Bedeutung dieser Abschnitte ist offenbar. Sie erwecken in dem
Leser Furcht und Vertrauen und mahnen ihn an seine hohe
Berufung, so dass sie unter den schlichten Geboten eine er
hebende und erbauende Abwechslung bieten. Die so gesichtete
und geordnete Auswahl der Bibelstellen ist uns so wenig ein
Beweisgrund der Unechtheit, dass sie vielmehr als das Werk
eines denkenden und wohlunterrichteten Mannes erscheint, 1
avons ä la teste du Miroir qui est dans le troisihne tome de S. Augustin.
Or cette priface a un tel raport avec ce que dit Posside qu’on ne peut
douter qu’elle ne soit de S. Augustin. Ainsi si le Miroir du P. Vignier
en estoit aussi, il faudroit que S. Augustin dans les deux annees qu’il a
vecu depuis ses Retractations, eust fait deux recueils differens de VEcri-
ture, qu’il leur eust donne ci tous deux le mesme titre, et un titre assez
extraordinaire f et que Posside en parlant de Vun avec assez d’etendue eust
neglige de parier de l’autre, qui est et plus ample et plus travaille. C’est
ce qui n’a aucune apparence: et ainsi il ne faut point hesiter ä dire que
ce Miroir donne par le P. Vignier n’est point de S. Augustin.
1 Schon in der Verwendung; der Stelle Gen. 1, 6—7 und 1, 26—27 für
die Trinitätslehre lässt der Verfasser eine tiefe Auffassung' des Bibel
textes und eine grosse Gewandtheit in der Exegese erkennen.
40
Wei hrich.
Eine systematische Anlage aber durch Zusammenfassung der
ausgehobenen Stellen unter einheitliche Gesichtspunkte ist eher
eines Geistes wie Augustinus würdig, und man ist leicht
versucht, zu glauben, dass ein Werk von solcher Eigenschaft
es gewesen sein müsse, welches Cassiodor eine Art Moral
philosophie nannte.' Auffallend ist es freilich, dass zusammen
gehörige und nahe verwandte Capitel weit auseinander liegen,
während ganz heterogene bunt aufeinander folgen. Man vermisst
in der Anordnung noch die letzte Hand, und der vorliegende
Zustand macht den Eindruck, als ob der Verfasser bei dieser
Thätigkeit der Sichtung unterbrochen worden wäre. Es ist
dies eine Eigenschaft, durch welche auch dieses Speculum in
besonderer Weise zu der Angabe des Possidius stimmt, dass
dem fraglichen Werke die Vollendung gemangelt habe.
Unter diesen Umständen ist es verzeihlich, dass die ge
lehrten Cardinäle Wiseman und Mai strenger Rücksicht auf die
von den Benedictinern geltend gemachten Bedenken sich ent-
schlagen zu dürfen glaubten, als sie für die Echtheit des
Speculum Sessorianum eintraten. Beide Eminenzen aber ver
fügten bei ihren mit Scharfsinn entwickelten Ausführungen in Be
treff der Urheberschaft des Werkes über kein zwingendes Argu
ment, so dass die von ihnen vorgetragene Meinung auch nicht
zur Reife wissenschaftlicher Ueberzeugung gedeihen konnte. 2
Wiseman sah sich vielmehr, da er die besonderen Eigenschaften
dieses Werkes nur aus mündlichen Mittheilungen kannte, auf
Combinationen allgemeiner Natur angewiesen und nahm zu der
1 Vgl. Miller, E., Journal des Savants. Annee 1853, p. 574: Si Von com-
pure ce Speculum uvec celui gut se trouve dans Vidilion des Benedictins,
on voit que le premier s’accorde bien mieux avec la difinition que Cassio-
dore nous en donne, en appelant cet ouvrage un recueil de philosophie
morale.
2 Mai, Praefi XI, p. VI: Sed iam hanc comparationem non prosequar, pvimo
quidem quia nudtis temporis angustiis premor; deinde quia uix spero rem
mihi ex sententia successuram. Nam — — Verumtamen, ut semel ilerum-
que dixi, nullam ego mordicus opinionem circa Specidi huius naturam
defendendam suscepi. Ferner p. III: lgitur hoc nostrum Speculum siue
Augustinum auctorem habeat siue alium, sed certe antiquum neque sexlo
saeculo inferiorem, ad ueterem quidem bibliorum textum quod attinet, per-
inde est. Wiseman, a. a. O., S. 31: wenn wir auch annehmen, ein minder
berühmter Schriftsteller sei der Verfasser.
Das Speculum des h. Augustinus und seine handschr. Ueberlieferung. 41
äussersten Annahme seine Zuflucht, dass Augustinus in diesem
Speculum der afrikanischen Uebersetzung gefolgt sei, während
er allerdings in den übrigen Schriften den italischen Bibeltext
verwendet habe. Angelo Mai konnte bei seiner vielseitigen
Thätigkeit sich der zeitraubenden Mühe nicht unterziehen, die
von ihm nur berührte Methode der Vergleichung der Citate
durchzuführen und so einen Weg völlig zu durchwandern, auf
welchem die Gewähr für die richtige Erkenntniss in der vor
liegenden Frage sich gefunden hätte. Das hohe Interesse,
welches die aufgefundene Handschrift erregt haben musste,
und die günstige Aussicht auf die neue Stütze, welche die
Auctorität des grossen Kirchenlehrers dem Comma Johanneum
(I, Joh. 5, 7) gewähren konnte, mochten wohl die Zuversicht
bewirkt haben, mit welcher Se. Eminenz in der für die Edi
tion gewählten Titelüberschrift die Urheberschaft des heiligen
Augustinus wie eine sichere Thatsache zum Ausdrucke brachten.
Einem unbefangenen Blicke ergibt sich vielmehr, dass
die in Rede stehende Schrift aus dem Grunde nicht von
Augustinus herrühren könne, da ein unausgleichbarer Unter
schied besteht zwischen der Bibel, aus welcher die Stellen des
Speculum Sessorianum excerpirt sind, und derjenigen Bibel, die
als das ,Itala‘ bezeichncte Exemplar des Augustinus voraus
gesetzt werden muss. Dies beweisen zunächst die vielen allzu
bedeutenden und allzu umfangreichen Abweichungen des
Textes von den Anführungen der gleichen Stellen in den
übrigen Schriften, eine Erscheinung, auf die der verdienstvolle
Italaforscher Herr Leo Ziegler in München hingewiesen hat.
Es genügt eine Vergleichung nur folgender Stellen:
2 Paralip. 15, 2, Septuag. (Tischendorf 1, 549):
zupio? gsO’ 'jg(3v sv tu eivai uga? gsx' aÜTou • y.at säv ex.'(v]T7;Gr i T£
aÜTov, £'jps0Y)<7£Tx; ’J[mv • y.cd säv s’pwMsXswnjTe aÜTÖv, £V'/.aTaX£tdi£t Gp.ac.
Speculum cap. 29 (Mai p. 43):
dominus deus uester uobiscum, est, qucimdiu uos estis cum eo.
quodsi dereliqueritis eum, derelinquet uos. 1
1 Eine Aberratio, die wohl schon im griechischen Texte vorkam und jeden
falls auch in der von Cyprian benützten Uebersetzung vorlag. Cyprian,
ad Fortunat. 8 (Hartei 1, 329): dominus uobiscum est, quamdiu estis uos
cum ipso, si autem dereliqueritis eum, derelinquet uos. Vgl. testim. 3, 27
(H. 1, 142). Sabat. 1, 664. Ziegler, Die lat. Bibelübersetzungen vor
42
Weib ricli.
August, de grat. et lib. arb. 11 (Migne 44, 888):
dominus uobiscum, cum uos est Ls cum eo, et si quaesieritis ewm,
inuenietis: si autem reliqueritis eum, derelinquet uos.
Mich. 6, 8, Septuag. (Tischendorf 2, 233):
ei ÄvrjifysXij erst av0pwxe t! xaXov; y) zi y.jpio? ey.'Qrpei xapä coü dXX’ fj
toü Tuoiety y.ptp.a x.ai ayoncäv e'Xeov y.ai Exoip.ov eivat toü xopsueGOat p.Exa
xopioo 0sou gou;
Speculum c. 5 (Mai p. 13):
adnuntiatum est tibi, homo, quid sit bonum, aut quid quaerat a
te aliud dominus nisi nt facias aequitatem et diligas miserationem
et paratus sis ut eas cum domino deo tuo. 1
August, de ciuit. dei 10, 5 (Dombart 1, 409):
si adnuntiatum est tibi, homo, bonum? aut quid dominus exquirat
a te nisi facere iudicium et diligere misericovdiam et paratum
esse ire cum domino deo tuo. 11
1 Timoth. 6, 7—10:
cüoev vetp dtrqti'f/.aii.s'J et? tov •/.osp-ov • SrjXov oti ouoe e^eveY^Eiv xi Suvdp.E0a •
e^ovte? Se otaxpGffld? y.ai GX,exaa|j.aTa toutoi? dpy.ea0r)G6p.s0a. oi oe ßouXö-
[xevoi xX.cuteTv ep.xixTOuatv Ei? xeipaap.bv v.a.1 ’KayiSa y.ai ExtOupla? xoXXä?
ävo^iou? y.ai ßXaßepa?, aixive? ßu0i£ouat zou? avOpwxo'J? ei? bXeQpov y.ai
äxtbXeiav. pii^a yäp xävtwv xwv y.ay.wv egt!v rj fihapyopia, rjg we? cpeydnevot
dwacXav^OYjGav dxo ty;? xi'gtew? xai eauTou?' xepiexeipav ooüvxt? xoXXat?.
Speculum c. 98 (Mai p. 92):
nihil intidimus in hunc mundum: uerum quia nec auferre possu-
rnus. habentes autem uictum et uestitum his contenti simus. nam
qui uolunt diuites fieri incidunt in temptationem et laqueum dia-
buli et desideria multa quae nihil prosunt 3 et nocent, quae demer-
gunt hominem in interitum et perditionemd radix enim omnium
malorum est cupiditas. quam quidam appetentes naufragauerunt a
fide et inseruerunt se doloribus multis. 5
Hieronymus und die Itala des Augustinus. München, 1879. S. 41. Itala-
fragmente. Marburg, 1876. S. 7.
1 Cyprian, testim. 3, 20 (H. 1, 137): renuntiatum est tibi, homo, quod
bonum, aut quid dominus exquirat aliud nisi ut facias iudicium et iusti-
tiam et diligas misericordiam et paratus sis ut eas cum domino deo tuo.
2 Sabat. 2, 951.
3 ävovrixo'j;.
4 cf. Salvian. ad eccles. 2, 61, 59 (Pauly 264).
5 Cyprian, de domin. orat. 19 (H. 1, 28 t): nihil intulimus in hunc mundum:
uerum nec auferre possumus. habentes itaque exhibitionem et tegumentum
Das Speculum des h. Augustinus und seine handsclir. Ueberlieferung.
43
August, de ciu. dei 1, 10 (Dombart 1, 17):
nihil enim intulimus in hunc mundum, sed nec auferre aliqukl
possumus. habentes autem uictam et tegumentum his contenti sumus.
nam qui uolunt diuites fieri inddunt in temptationern et laqueum
et desideria multa stillta 1 et noxia, quae mevgunt homines in
interitum et perditionem. radix est enim omnium malorum auaritia
quam quidam adpetentes a fide pererrauerunt et inseruerunt se
doloribus multis. 2
2 Timoth. 3, 1 — 7:
xouxo os yiviocry.s, oxi sv Exyaxa;? y)p,£pat? evaxTjaoVxai xaipo: yxl.s.T.o'..
Eaovxat y«P o'i avOpouxoi iptXauxoi, oiXapYupoi, aXa’(cvs?, üsspiqfavoi, ßXä-
cr®Y)p.oi, Y°V£ijaiv äxsiOsT?, dyi.piaxoi, ävoaioi, äaxopYO'., acixovooi, SiaßoXoi,
axpaxsi?, avi)p,£poi, äipiXaYaöoi, zpoSSxai, Tipoixsxst?, xExuiptop.svci,
ipiX^SoVot p.äXXov v) ^iXcOsoi, sj'ovxs? [/.optpuxriv suasßsta?, xr,v Se S6vap.iv
auxv;? ijovripsvn • y.ai xoüxou? coxoxpsTxou • r/. xoüxiov y^p eio’.v ol svSuvovxs?
ei? xa? oiy.ia? y.ai a!/_paXa)xi^ovxe? Y uvaiy - a P lC( osewpsupiva dp.apxiai?,
aYÖp.eva sxiQup.tai? TxotxiXai?, zavxoxe p.av6avovxa y.ai p.Y|SsxxoxE ei? sxx!-
Yviociv äXrfieia; sXOslv Suvap.sva.
Speculum c. 50 (Mai p. 62):
Hoc autem scito quoniam in nouissimis temporibus aduenient
tempora pericidosa. erunt homines se ipsos amantes, cupidi, su-
perbi, fastidiosi, blasfemi, parentibus non oboedientes, ingrati,
scelesti, infideles, sine affectione, pactum custodientes detractare,
incontinentes, inmites, sine benignitate, proditores, proterui, tumidi,
uoluntatum amatores magis quam dei, habentes formam pietatis,
uirtutem autem eins negantes. et hos deuita. ex his sunt qui
penetrant domos et captiuas ducunt midierculas oneratas peccatis,
quae ducuntur uariis desideriis, semper discentes et numquam ad
scientiam ueritatis peruenientes. 3
his contenti sumus. qui autem uolunt diuites fieri incidunt in temptationern
et muscipulas et desideria multa et nocentia quae mergunt hominem in
perditionem et in interitum. radix enim omnium malorum est cupiditas
quam quidam adpetentes naufragauerunt a fide et inseruerunt se doloribus
multis. Vgl. testim. 3, 61. de op. et eleem. 10 (H. 1, 165. 381). Sa-
bat. 3, 877.
1 avor^xQuc.
2 cf. August, serm. 14, 7. 39, 2 (Migne 38, 114. 242); ferner epist. 130,
6, 12. in psalm. 6, 12. 136, 14 (Migne 33, 498. 36, 96. 37, 1769).
3 Cyprian, de cathol. eccles. unitate 16 (H. 1, 224): — in nouissimis die-
bus aderunt tempora molesta. erunt homines sibi placentes, superbi, tumidi,
44
Weihri ch.
August, epist. 199, 8, 22 (Migne 33,913):
Hoc autem scitote 1 quoniam in nouissimis diebus instabunt tem-
pora saeua. erunt mim homines se ipsos amantes, amatores pecu-
niae, 2 elati, superbi, blaspliemi, parentibus non oboedientes, ingrati,
scelesti, irreligiosi, sine ciffectione, detractores, incontinentes, in-
mites, sine benignitate, proditores, procaces, caecati, 3 uoluptatum
amatores magis quam dei, habentes speciem pietatis, uirtutem autem
eius abnegantes. et kos deuita. ex hü enim sunt qui penetrant
domos et captiuas ducunt mulierculas —
1 Petr. 3, 1—4 :
ö|j.oiw? at vuvaT'/.sc uiroiaaffoptEvat toT? iSt'oi? avSpactv, ha xai st xtvsq
äxEtÖouui xw Xoyw, Sta vqq twv yuvaotwv avaixpotpiit; äveu Xöyou y.ep-
SvjOvfawvTat, 2 sxozTsuaavis? vrp ev <p:ßw äyvY)v dtvacTpsip^v üpuSv. Sv sario
ob% b eijwßev s;j.~Xc"/.y;? xpt/wv x.at TCsptöeaew; ^puatwv g evSügew; tp.aTtwv
y.dqj.o;, aXX’ o xpuxcb; vqq v.apbiaq avOpwTCo; ev xw ätpOapxw tou Tcpaeo;
•/.at ga'jyJ.ou xvEÖptaxo;, 5 egtiv evwtiov toö Ösoü toXuteXec.
Speculum c. 81 (Mai p. 80):
midieres subditae estote uiris uestris: ex quibus si qui non cre-
dunt huic uerbo, per mulierum suarum conuersationem sine uerbo
lucrifiant, considerantes uestram in timore castam conuersationem.
quarum sit non extrinsecus capillorum inplicatus, aut auri circum-
positio, aut habitus uestimentorum aut ornatus, sed ille absconsus
cordis homo incorruptus, mansueti et modesti Spiritus, quod est
magnißcum in conspectu dei.
August, de bon. coniug. 12, 14 (Migne 40, 383):
similiter mulieres obaudientes maritis suis: nt et si qui non cre-
d.unt uerbo, per mulierum conuersationem sine loquella lucrifieri
possint, uidentes timorem e t castam conuersationem uestram: nt
sint non quae a forü ornantur capillorum incrispationibus aut
cupidi, blaspliemi, parentibus in dicto non audientes, ingrati, impii, sine
adfectu, sine foedere, delatores, incontinentes, inmites, bonum non amantes,
proditores, procaces, stupore inflati, uoluptates magis quam deum dili-
gentes, liabentes deformationem religiouis, uirtutem autem eius abnegantes.
ex kis sunt qui repunt in domos et praedantur mulierculas oneratas pec-
catis quae ducuntur uariis desideriis, semper discentes et numquam ad
scientiam ueritatis peruenientes.
1 yiVaXTKETE.
2 cf. de ciu. d. 14, 7.
3 TETucpXajfjivo'.. cf. in Joh. eu. tract. 123, 5 (Migne 35, 1968): non intelle
gant nequi quae loquuntur, neque de quibus affirmant sicut caecati,
Das Speculum des h. Augustinus und seine liandsclir. Ueborlieferung
45
circumdatae auro aut ueste decora, sed ille absconditus cordis
uestri homo in illa perpetuitate quieti et modesti Spiritus, qui et
apud dominum locuples est. 1
Ein weiterer Beweisgrund der Unechtheit der in Rede
stehenden Schrift ist die Verwendung des apokryphen Briefes
an die Laodicenser, welcher in dem von Augustinus selbst auf
gestellten Canon der heiligen Schrift- nicht angeführt ist.
Endlich spricht noch gegen die Echtheit die in der Bibel dieses
Speculums vorauszusetzende Reihenfolge der Schriften,
nach welcher beispielsweise die Evangelien in der Reihe Mat
thäus, Johannes, Lucas, Marcus folgen,während Augustinus
sonst den grössten Nachdruck auf die Folge Matthäus, Marcus,
Lucas, Johannes legt, indem er die drei ersteren in ein Ganzes
fasst und gegen das Evangelium Johannes in entschiedenen
Gegensatz briugt. 4
6. Sicher ist nun, dass der grosse Bischof von Hippo
die Idee der Anlegung eines solchen Sammelwerkes hervor
brachte und in der Schrift ,Quis ignorat 1 unter dem Titel ,<Spe-
culum‘, einer Bezeichnung, die er sonst auch von der ganzen
Bibel gebrauchte, zu verwirklichen unternahm, dass er aber
durch den Tod verhindert wurde, dieselbe in dem beabsich
tigten Umfange durchzuführen. Andererseits steht auch fest,
dass die unter dem gleichen Namen und Titel überlieferte
systematische Zusammenstellung nach der mehrfachen Ueberein-
stimmung des benützten Bibeltextes mit denCitaten bei anderen,
besonders afrikanischen Kirchenschriftstellern in Afrika ent
standen ist und nach dem Wortlaut der Bibelcitate wie nach
der Beschaffenheit des ältesten Codex ein hohes Alter bean
sprucht, indem sie jedenfalls bis an die Grenze des 5. Jahr
hunderts hinanreicht. Es liegt die Vermuthung nahe, dass
dieses Werk zwar von unbekannter anderer Hand entworfen
ist, doch auf Augustinus indirecten Einfluss zurückgeht.
In dieser Combination liegt die Rechtfertigung, wenn in der
bevorstehenden Veranstaltung einer kritischen Ausgabe des
1 cf. Sabat. 3, 900.
2 August. <le doctr. Christ. II, 8, 13.
■' Mai, a. a. O., p. VII (cap. XIII: Aliao laudes Imins Speeuli).
4 August, de consensü evang. I, 2, §. 3.
46
We i hr i cli.
Speculum das Spec. Sess. in die Bearbeitung einbezogen und
insbesondere wegen der Bedeutung der vorliegenden Frage
bezüglieb seiner handschriftlichen Ueberlieferung im Folgenden
zunächst besprochen werden soll.
II.
Dem durch die Publication Mai’s bekannt gewordenen
Codex Sessorianus stehen noch sechs Handschriften zur Seite,
die sich sämmtlieh in Frankreich befinden. Von diesen sechs
ist nur das Speculum in der Pariser Bibel des Tlieodulf mit
dem Vulgatatext durch Vignier’s Edition ans Licht gezogen
worden, während die anderen fünf mit dem älteren Texte bis
jetzt noch nicht ausgebeutet sind. Ich habe dieselben während
meines Aufenthaltes in Frankreich alle verglichen und, wo es
die Natur der Sache erforderte, abgeschrieben, und es gilt nun,
das verwandtschaftliche Verhältniss der sämmtliehen Codices
untereinander und den Werth jedes einzelnen für die kritische
Gestaltung des Textes zu erforschen. Dieser Untersuchung,
welche auf Grund einer Reihe von Beobachtungen über die
Beschaffenheit der Handschriften vorzunehmen ist, soll eine
kurze beschreibende Uebersicht über die der neuen Textes
gestaltung zu Grunde liegenden Handschriften vorangeschickt
werden.
1. Codex Sessorianus 58 in Sta Croce (S) in Halb-
uncialen des 8. oder 9. Jahrhunderts, enthält noch Cyprians
drei Bücher (Testimonia) ad Quirinum und ist aus früheren
Beschreibungen bekannt. Ich verdanke der kaiserlichen Aka
demie eine genaue Abschrift dieses Codex, welche Herr
August 0. Fr. Lorenz vor mehreren Jahren veranstaltete.
Auf dem ersten Blatte stehen von einer Hand des 11. Jahr
hunderts zunächst folgende zwei Zeilen:
de testimoniis scripturarü . aug.
contra donatistas
worunter eine andere Hand derselben Zeit anfügte:
libri de speculo
1 Reifferscheid, Aug., Biblioth. patrum lat. ital. I, p. 129. Corpus sei-,
eccles. lat. vol. III, S. Thasci Caecili Cypriani opera ex reeensione
G. Hartelii. P. III. Append., p. XXV.
Das Speeulura des li. Augustinus und seine handschr. Ueberlieferung.
47
Darauf folgt dann von der zierlichen Hand des 11. Jahrhunderts,
die auf Fol. 6* und Fol. 154 v das bei Reifferscheid Angege
bene schrieb, folgende Bemerkungen:
Beati augustini . de testimoniis scripturarü
primiis
contra donatistas . & idola . liic liber esse dinoscit
ceteri tres . qui subter adnexi sunt . de sacramto
xpi . cum duabus epistolis . ad quirinum . beati
cypriani epi . ac martiris esse noscuntur.
Auf der folgenden Seite desselben Blattes auf dem oberen
Rande von einer Hand des 11. Jahrhunderts:
hic est liber + q
mit starker Rasur von zwölf bis fünfzehn Buchstaben. Darauf
in grosser rotlier Schrift:
IN NOMINE DNI iTl IHU XPI .
INCP ORDO CAPITULO
RUM • DE DIUINIS SCRIP
TURIS • N • CXL • HHi • SIT
Die Zahl ist mit schwarzer Tinte nachgezogen und weil das
zweite I des Rubricators in ein Loch kam, noch ein I von der
nachziehenden Hand hinzugefügt. Es folgt das Capitelver-
zeichniss; die Zahlen alle rotli:
I de uno deo
Fol. 6 1 ' Zeile 15 und folgende:
15 CXLIHI quod dns fons uitae sit.
16 Iste est liber unus beati augusti contra donatistas & idola
18 de testimoniis scripturarum
19 I DE UNO DEO
20
21 IN DEUTERO NOMIO
wo Zeile 16 und 18 von der Hand des 11. J alirhunderts ge
schrieben ist, Zeile 17 eine verzierte Trennungslinie von der
ersten Hand bildet und Zeile 19 und 21 in grosser rotlier
Schrift der ersten Hand die Ueberscliriften enthält, während
Zeile 20 blank gelassen ist.
Fol. 154 v Zeile 6:
uidebimus lume.
48
We i h r i c h.
8 EXPLICIT TESTIMONIORUM
Liber beati augusti cont donatistas * & ydola
Ite Liber beati cypriani epi ac martyris * de sacramtis xpi *
10 INCIPIT AD QUIRINUM
Das zwischen die Zeilen 8 und 9, 9 und 10 Geschriebene von
der jüngeren Hand des 11. Jahrhunderts. 1 Zwei gleichzeitige
Hände haben das Werk geschrieben: die eine, mit ganz
schwarzer Tinte und ziemlich plumpen Buchstaben, geht von
Fol. l v bis 34 1 ' incl. und macht von l v bis 16 v inclusive nur
26 Zeilen auf jeder Seite, sodann von 113 r bis 128 v inclusive
mit wieder je 26 Zeilen; die andere, mit braunerer Tinte,
schlankeren und zierlicheren Buchstaben, geht von 34 v bis
112 v , sodann von 129 r bis zum Ende und macht stets 29 Zeilen
auf jeder Seite.
Ich darf mir schon an dieser Stelle erlauben, eine An
zahl Fehler zu berichtigen, welche der Edition des Cardinais
Mai unterlaufen sind und die richtige Beurtheilung der Hand
schrift beeinträchtigen können. Es musste heissen:
Mai p. 3, 16 uput, 3, 20 misericordiae tune qui facis omnia,
8, 5 Item de spu scu quodf 13, 17 et suscipiet fe sicut,
17,37 quin amo te, 18,33 hesdre X 20,2t red j des ei est
enim ei hoc solum 20, 33 enutrievetur 22, 17 maledices
23, 3 duplici corr. m. 1. 24 Amn. b) peccauis 24 Amu. g)
i
stefanum 25, 19 habit m. 1. 25, 33 timorem mortis: scÄtO
ses
quoriiam 26, 27 refvigerat 27 Amn. k) possione corr. m. 2.
29, 3 erit et cor 30, 7 memores estote horum 31, 18 cordauestra
et non 31, 23 er (int in memoriam 32, 30 et non derelinquas
b
37, 25 exsecrabilius corr. m. 1. 39, 14 seminatur interitum
41, 4 intellectos 41, 14 redarguitio | ne 42, 26 in concilio et
in synagogis 44, 19 aduersus fratrem tuurn 47 32 intellegens
52 5 nobi esse 52 io non mentium (in der Ueberschrift zu
Cap. 43) 54, 23 astaroth 56, 18 Filioli 60, 30 conten-
tione (in der Ueberschrift zu Cap. 49) 61 29 Deus
(df) autem pacis conterat (so haben übereinstimmend mit S
auch alle französischen Handschriften, so die Vulgata, und
1 Vgl. Reifferscheid, a. a. O., bei dem jdola wohl nur ein Druckfehler ist.
Das Speculum des h. Augustinus und seine handschr. TJeberlieferung.
49
auch im Griechischen heisst es 6 Se öe'o? rr t c, etp^VYis, Rom. 16, 20)
64, Zeile 3 von unten et tar\dm loqui (jac. 1, 19), also richtig;
65, 4 (s. Anm. h) naues quiaetam inmensae sunt 65 Anm. c)
notum m. 1 (der Buchstabe n ist radirt) 66, 6 ad corinthios 1 non
auari 66, 19 (Anm. d) palphe | bis 66, 27 adsiduus 67, 12
grandines niues (in der Ueberschrift zu Cap. 54) 69 Anm. b)
uidens scito, also richtig; 71, Zeile 2 von unten Iuuenis qui
cum scu est directa est uia eius 72, 11 caput tuum 74, 18
in\\quietg et in, uigiliis 74, 11 stupebunt 80, Anm. f) subrios
81, 21 gazofilacio s. Anm. m) 81, 31 und Anm. o) saxa genta
que 81, 32 pedes 88, 6 didboli 90, 31 und Anm. h) haec de di-
centes corr. m. 1 94, 10 quod auteni uiuit uiuit \ do (so ganz
richtig) 96, 18 sperare in dno 97, 23 ad timotheum quae
98,30 ingsaiapf. Vinea |J 136 T enim dni saboth. domus est istra-
liel et homo . Das ganze Stück von Nunc autem bis in concul-
cationem Item illic hat Mai willkürlich hier eingesetzt; er hat
es, ohne ein Wort darüber anzumerken, von Fol. 137 v aus
einer in Verwirrung gerathenen Stelle hergenommen, weil er
dort den Zusammenhang nicht verstanden hatte.
99, 29 Schluss der Ueberschrift und Anfang des Cap. 113
sint uocati Item in esaia pf; Nunc \ autem nuntiabo uobis quid
faciam uineae \ meae auferä maclieriam eius et erit | in direptione
et distruam parietem eius et | erit in conculcatione; lte illic et in
nubibus [ mandabo ne pluant sup eam pluuiä Item \ in deutero
nomio; expectetur sicut pluuia | u. s. f. sup faenum; Item in
esaia pf; delec\tetur.
103, 34 quando ueniat 105, 31 in \ caelum uident fadem
105, 33 angelus eius est et \ legem mandatorum sententiis
euacuauit ut\duos conderet in semetipso in uno nouo lio-
mine: \ Item in apocalipsi. Das Wort et und die beiden fol
genden Zeilen (Zeile 15 und 16 von Fol. 144 Y ) gehören aller
dings nicht hierher; sie sind von Fol. 145, wo dieselben Worte
in Zeile 21 beginnen und in Zeile 23 scldiessen (Mai S. 106,
Zeile 17; Eph. 2, 15) irrthüinlich hieher gerathen; allein es
hätte dies angemerkt werden müssen. 107, 17 In psalmo XVI
107, 20 In psalmo CXXXV 108, 12 singnaculum 108, 13
paradysi 110, 29 in psalmo tu posuisti (om: CVI) 110,
Anm. h) padule 112, 13 aeream suam 113, 3 adidterium facit\
lte illic et qui dimissam 113, 1« sendend illi 113, 33 tra-
Sitzungsber. d. pliil.-hist. CI. CIII. Bd. I. Hft. 4
50
We ihr ich.
(7ederet eum m. 1 114 10 nomine, (Uebersehrift zu Cap. 142)
114 12 colosenses 114, Zeile 2 von unten memores essen
115 5 qm ne hec duo m. 1 115 12 ent fonns.
2. Codex Michaelinus (M) aus der Benedictinerabtei
von Mont St. Michel au peril de la vier, seit 1793 in der Stadt
bibliothek zu Avranches unter Nr. 87,' eine Handschrift des
9. Jahrhunderts von 132 Pergamentblättern in der Grösse von
255 auf 170—175 mm mit 23 Zeilen auf jeder Seite.
Fol. 1:
IN NOMINE DNI NRI
IHV XPI IN HOC
CORPORE CONTINETUR
SPECULUM STI AG VS
TINI : TAM DE UETUS
QUAM DE NOUO TESTA
MENTUM
I de uno do
H de distinctione pfonaru . patrif. & filii & Ipf fei
Auf dem oberen Rande von moderner Hand: Ex Mona-
sterio S u Michaelis in periculo maris; auf dem unteren Rande
ist ein kleiner Zettel aufgeklebt mit der Aufschrift: Speculü
S a August, super uet’ et nouu testam. Auf dem äusseren Rande:
n. 54, und ein Zettel mit: A 8.
Fol. 4:
CXLIIII quod dnf fonf uitae eft.
CXLV (mit dieser Ziffer ist der Schreiber über sein Ziel hin-
ausgeratken).
EXPLICIUNT CAPITULA
Fol. 4':
INCIPIT TEXTUM
Audi Isrl. dns di tuus
Fol. 132': in lumine | tuo uidebimuf lumen.
EXPLICIT IN NOMINE
XPI IHU DNI NRI
AMEN.
’ Catalogue general des mss. des bibliothiiques publ. des ddpartements.
Paris, 1849. I, 467.
Das äpeculum des h. Augustinus und seine handsohr. Üebörlieforung.
51
* Auf dem oberen Rande von Fol. 40' schrieb eine Hand
des 11. .Jahrhunderts: Lib fei michaelif qui furatuf fueri.t mit
der Fortsetzung auf der gegenüberstehenden Seite Fol. 41 ana-
thema fit.
Eine ebenso späte Hand fügte Fol. 132' unten die Be
merkung bei: Audite & intelligite tradiccionef quaf drfi dedit nobif
Die fünf ersten Quaternionen sind je auf der letzten Seite unten
bezeichnet Q I Fol. 8' bis Q V Fol. 40', jedoch nicht von
erster Hand.
Vorne sind drei Papierblätter vorgesetzt, auf deren erstem
von moderner Hand die Aufschrift: Ex monafterio S n Michaelis
in periculo mark und darunter die Bemerkung: Speculum Tom.
Primi Supplementi attamen in multis dijfert ms.,' auf dem dritten:
173
Hie habetur
Speculum S. Augustini tarn ueteris
quam noui testamenti diuersum
in aliquibus ab editis.
Die alte Katalognummer 173 steht auch noch auf der Innen
seite des vorderen Deckels.
Da die Handschrift nicht versendet wird, so habe ich
dieselbe in Avranches collationirt, und ich gedenke mit Dank
barkeit der Liberalität, mit welcher der Conservateur Herr Du-
prateau mir die Benützung an Tagen und Stunden gestattete,
an welchen die Stadtbibliothek für das Publicum geschlossen ist.
Der Codex ist schön geschrieben und gut erhalten. Die
richtige Orthographie ist in Fällen wie caelum maestitia eicio
abicio intellego milia cotidie durchgeführt, während ein Schwanken
zu bemerken ist in paciens patientia iuditium neben iudicium
mendatium, adulescens neben adolescens. In dem Wechsel von
ae und e herrscht entschiedene Vorliebe für das erstere, so
dass der Diphthong meist richtig geschrieben ist und selbst
das Gebiet des e im Auslaut überwuchert; selten sind Fälle
wie: egrotans plage ulte, dagegen häufiger solche wie die
Schreibung der Adverbia maximae iniquae nimiae iniustae do-
losae, des Vocativs timothee und des neutralen Adjectivs grauae.
Verhältnissmässig selten ist die Unterdrückung der Aspiration
1 Es ist hiermit Vignier’s Ausgabe gemeint.
4*
52 Weih rieh.
wie in adaesit exortare und in der Regel treu bewahrt die
überlieferte Setzung derselben wie in danihel misahel. Im Aus
laut findet sich oft unorganisches m, besonders vor folgendem
m wie omneni malum, und vereinzelt die dentale Media in uelud,
quotquod reliquid. In der Vertauschung einzelner Buchstaben
verdient der besondere Fall hervorgehoben zu werden, wo i
und t verwechselt sind, so uicancer (ut cancer), ut deberef (ui-
deberis), delictis (delicvis), ut a (uia), aportamur (aporiamur).
Einzelne Verschreibungen kommen noch vor wie uru (uirum)
emi (mihi).
Interessant ist die enge Verbindung zusammengehöriger
Satztheile: insuperbia amalis deore nedeficias offuu fratrimeo
eduxite seoccidit memoresto benefacito itaut quantomagis, sowie
die grösseren Abstände zwischen solchen Verbindungen an
Stelle der Interpunction, z. B. Cap. CX qui indeliciis est apuero
seruuserit Nouissime aut j dolebit supse (Prov. 29, 21).
3. Codex Lemovicensis (L), eine Handschrift des
11. oder 12. Jahrhunderts aus Saint-Martial de Limoges, von
wo sie nebst den übrigen Manuscripten von St. Martial 1 im
Jahre 1730 durch Kauf in die königliche Bibliothek zu Paris
gelangte. In dem für die Gelegenheit dieses Ankaufes an
gefertigten Kataloge 2 ist sie unter Nr. 127 angeführt; gegen
wärtig trägt sie in der Pariser Nationalbibliothek die Signatur
2977 A. Es sind 143 Pergamentblätter von 180 auf 120 rara -
Auf dem ersten dreier unnummerirten Umschlagblätter von mo
derner Hand Sti Augustini Speculum, das folgende ist leer, auf
dem dritten uerso steht 127 du Catalogue impnme, Unter dieser
Notiz ein aufgeklebter Papierzettel mit der Angabe:
Cod. X et XII saeculi
Fragmentum variarum sententiarum et exemplorum
ex Historia Ecclesiastica. Vide
Fol. 5. 8. et 9. Hoc fragmentum
videtur esse scriptum X. saeculo.
1 Delisle, Ldop., Le Cabinet des manuscrits (Histoire gdndrale de Paris).
Paris 1868. I, 387.
2 Bibliotheca insignis et regalis ecelesiae Sanctissimi Martialis Lemovicensis.
Parisiis, apud fratres Barbou, 1730, p. 18: 127 Sancti Avgustini Sjpeculum,
in octavo, ann. 600.
Das Speculura des h. Augustinus und seine handschr. Ueberlieferung.
53
Speculum quod dr Sti Augustini
ex variis locis Sacrae Seripturae
m XII saeculi. Fol. 68 Lamenta
® tiones Jeremiae rpferuntur aliter ,
c? ac in Vulgata.
f 4 » Ex aliquot lineis pene erasis Fol.
143 liquet hoc volumen datum
fuisse cuidam monasterio a
Regnolfo sacerdote et monacho.
fol. uerso medicina contra dolorem capitis.
Fol. 1 und 2 sind noch Schutzblätter, in welche der Codex
ursprünglich gebunden war, und bieten umgedreht ein Frag
ment von Lucanus; 1 auf dieselben folgen noch Reste von
zwei ausgeschnittenen Blättern desselben Lucanus-Codex. Auf
der Mitte von Fol. 1 recto ein kleiner Papierzettel aufgeklebt
mit der Inhaltsangabe der beiden Bestandtheile der Handschrift:
Elenchus Rerum [ Speculum Sancti Augustini.
Der erste Theil erstreckt sich nur über Fol. 3 bis 10 und ist
von einer Hand des 10. Jahrhunderts geschrieben. 2 Den Haupt-
theil bildet das Speculum, das die Fol. 11 bis 143 umfasst.
Fol. 11:
gro.s roth: IHCIPIÜNT CAPITVLA LIBRI •
schwarz: SPECVLV SCI AGVSTINI YPPO
roth: NEREG-ENSIS EPISCOPT
I de uno do
In dem folgenden Capitelverzeichniss die Zahlen roth.
Mit diesem Blatt beginnt die Quaternionenzählung. Fol. 11
bis 18 macht Quat. I, 19 bis 26 Quat. II, und so fort bis Quat. XVI,
der mit Fol. 138 abgeschlossen ist, worauf noch 5 Blätter folgen.
1 Lucan. VI, 661—743.
2 Fol. 3 Auctor igitur & iudex omnium dem | licdc ab illa paradysi feli-
cita | te genus nostrum iuste repulerit, sue | tarnen bonitatis meuior . . .
|| fol. 5' De mulierib- Scs german* ad ge | nouepha int alia. Si inquid sci!i
hui’ | ui exiguus decor tua superauerit mtt | . . . deinde u & illut con | stat
quia nihil ultra pennittere poss, nisi quantu scs be | nedictus ad sustendanda
nature necessitate perminit || fol. 6 Memoriale. Prima damnacio e ut Augustin,
die orrenda profunditas ignorancie . . . fol. 10' it. dispexistis omne
'csiliu meu | & uocaui & renuistis. Ego quoq; in inte | ritu ul'O ridebo. cu
inruerit repentina | calamitas quando uenerit super uos tri | bulacio 6t a??-
gustia. tune uocabunt me et n exaudia, ||
54
Weihricli.
Das Capitelverzeichniss schliesst Fol. 14', wo sich der
Text, sofort anschliesst. CXLIIII quod dns fons uitae e.
roth: EXPLICIUNTM3 APITULA
■ roth: INCIP TEXTV INDEUTR .
Audi israhel . dns ds tuus
Fol. 143 . . . uidebiraus lumen.
EXPLICIT LIBER SPECULUM
t
Regnolfus lic& exiguus se+ in xpi no * * * * sacer
dos & monachus . sacro huic loco ******** + *** ni
monasterio deuotus istum * * didit librum quem
si quis hinc abstulerit uel * + uerit anathema sit
S * d * 4- ** + *** lector * + * otiens poteris lectione huius
lib * * * + * ando prae ********** regnolfi.
Die Handschrift ist sorgfältig geschrieben, nur an wenigen
Stellen sind Verbesserungen, manchmal zum Schlimmen, von
einer zweiten Hand vorgenommen. Was die Orthographie be
trifft, so bietet sie regelmässig die richtigen Schreibungen caelum
paenitentia oboedire neglegere intellegere. Dagegen findet sich
auch die herkömmliche Confusion im Gebrauche der Vocale e
und i, o und u, der Consonanten b und u, in der Setzung und
Auslassung der Aspiration im Anlaut.
Der Punkt auf der Linie dient zur kleineren, der Punkt
über der Linie zur grösseren Interpunktion; das Fragezeichen
ist selten angewendet. Häufig findet sich die Verschlingung
des r mit t und das Zeichen ~ für est.
Es war der gelehrte Jean Le Beuf, 1 der mit eigener
Hand die oben mitgetheilte Notiz auf den Zettel schrieb und
auf die Bedeutung des in dieser Handschrift gebotenen Bibel
textes hinwies, indem er auf die Differenzen mit der Vulgata
aufmerksam machte. Einer öffentlichen Erwähnung dieses Codex
begegnen wir erst um die Mitte unseres Jahrhunderts, da
E. Miller' 2 gelegentlich der Anzeige von Mai’s Ausgabe seine
1 Ueber ihn vgl. Mdmoires de l’Acad. des inscr., t. 29., und Delisle, Le
Cabinet des manuscrits I, 397.
2 Journal des Savants. Ann6e 1853. Paris, p. 574—576.
Das Speculum des h. Augustinus und seino lmndschr. Ueberlieferung.
55
Verwandtschaft mit dem Sessorianus nachwies und seine Wichtig
keit für die Constituirung des Textes betonte. 1
4. Codex Parisinus 15082 aus der Abtei von St. Victor
(V), eine Sammelhandschrift von 204 Pergamentblättern in Quart
von 240 auf 150 mm aus dem 12. Jahrhundert. 2
Auf der Innenseite des vorderen Deckels die durch ein
aufgeklebtes kleines Pergamentstück 3 zum Theil verdeckte
Aufschrift:
3LM
AV Gr VS
TINI
Fol. 1: Iste lib' e sei Victoris Par q'cq: eü furat’ fuerit 1 celauerit
1 titulü istü deleu'it anathema sit. CC 13. S. Victor 906.
Fol. 1': Tabulam hic contentorum reperies Folio 204.
Fol. 2: Aristotelis liber de secretis secretorum etc. 4
Das Speculum beginnt auf Fol. 152 ohne Titelüber
schrift mit dem Verzeichniss der Capitel, das gleichfalls keine
Ueberschrift trägt.
I de uno do
II de distinctJone psonar.
Diese Handschrift, von der unten mehr zu sagen ist, nimmt
eine eigene Stellung in der Gruppe der französischen Codices
ein. An mehr als 100 Stellen sind ganze Citate oder mehrere
Citate zusammen ausgelassen; der Text aber geht auf eine
sehr alte Quelle zurück. Was der Handschrift aber ein ganz
besonderes Interesse verleiht, ist die Manus secunda, welche
nicht blos nach dem in anderen Codices gebotenen Texte und
1 a. a. 0., p. 576: nous pensons que la comparaison de ce ms. avec V Edition
de l’illustre Cardinal ne peut inanquer d’etre utile et de fournir des eie-
ments nouveaux pour la Constitution du texte de Vancienne Version italique.
2 Miller, E., a. a. 0.
3 Der Deckel ist an dieser Stelle durchbohrt in Folge der ehemaligen
Befestigung eines Hakens. Die Hs. muss ein Codex concatenatus ge
wesen sein.
1 Delisle, Inventaire des mss. latins conservßs ä la Bibliotheque Na
tionale 3, 71. Bihlioth. de l’6cole des chartes. t. 30, p. 71.
56
We ihr ich.
nach der Vulgata corrigirt, sondern vielfach ganz neue
Varianten darbietet.
/ 5. Codex Parisinus 256 der nouv. acqu. (C) aus dem
12. Jahrhundert, 146 Pergamentblätter von 250Xl80 mm , jede
Seite in zwei Columnen zu 30 Zeilen. Diese erst in neuester
Zeit von der Nationalbibliothek angekaufte Handschrift bespricht
Delislein seinem neuen Werke, 1 wobei er an die Manuscripte
von St. Martial und St Victor erinnert, und äussert die Ver-
muthung, dass dieselbe aus einer Cistercienserabtei stamme.
Fol. 1: De immortalitate anime lib’ p'rrt! .... Auf dem
unteren Rande von moderner Hand: S. Augustini Miscellanea.
R. 7004.- Das Speculum beginnt Fol. 58' col. a.
roth: In hoc corpore continetur \spcl'm s Aug. De uno deo
Audi isrl'.
Fol. 118' col. a, Zeile 11:
uite 7 in lumine tuo uidebimus limen
Eine starke Rasur, durch welche, wie es scheint, der
Name des Klosters getilgt ist. Hierauf blank bis unten, wo
die Ueberschrift zu dem auf der folgenden Seite beginnenden
Capitelverzeichniss folgt:
roth: Capl'a libri pcedentis
Fol. 118' col. b, das Verzeichniss der Capitel ohne Ziffern:
De uno dd
de stinctione psonar pat's 7 f. 7 s. s.
1 Delisle, Leop., Mdlanges de paldographie. Paris, Champion, 1880.
p. 366—369.
2 Fol. 8'b Explic | lib' sei Augustini de immortalitate aie. Incipit pfatio de
anima & eins origine. fol. 9 b Explicit prologus. Incipit über sancti Angu-
stini epi ad Vincentiu Victore de natura & origine anime. Quod mihi
fol. 31'a Explicit lib' sei Augustini epi de natura & origine anime || b In
cipit Uber sancti Augustini episcopi de quantitate anime fol 58'b incotporea
giomnis e anima || Nach dem Speculum folgt: fol. 120 a Liber Aurelii
Augustini de uidendo do ad Paulinam | Memor debiti . . . fol. 133'a
Aurelius Augustinus ad Italica Dne eximie . . . fol. 135 a Augustinus ad
Fortunatianum commoniloriü . . . fol. 139b Eylarins ad Augustinum epm
Dno scö . . . fol. 139'b Augustinus episcopus ad Hylarum . . . fol. 146'b
qd' eni hoib’ impossibile e n ipsis || Darauf folgten noch drei Blätter, die
herausgeschnitten sind.
Das Speculum des h. Augustinus und seine handschr. Ueberlieferung.
57
Fol. 119' col. a
qd’ ds fons uite est.
Auf den übrigen freien Raum dieser Colümne, sowie auf
den Anfang von Col. b hat eine spätere Hand zwei Heilungs
und Segnungsformeln notirt.
Die Quaternionen sind rückwärts unten bezeichnet, Fol. 119
ist das vorletzte Blatt von Quat. XV, dessen letztes heraus
geschnitten ist. Mit Fol. 120 beginnt eine neue Quatemionen-
zählung 120 bis 127 Quat. I, 1136 bis 143 Quat. HI.
6. Codex Aniciensis (a), die Bibel des Bischofs Tlieo-
dulf von Orleans, die sich in dem Schatz der Kathedrale von Le
Puy befindet. Die Handschrift, ein Prachtwerk der Kalligraphie
aus der Zeit Karls des Grossen in der Grösse von 335™ ra auf
230mm ? enthält die Bibel in der Eintheilung nach den sechs
Ordines und als exegetische Beigaben Isidors Chronographie,
Eucherius’ Liber de nominibus hebraicis, Meliton’s Clavis und
auf Fol. 338 bis 344 in zwei Columnen zu je 62 Zeilen Augu
stins Speculum. Letzteres steht durch den vorhieronymianischen
Bibeltext in naher Verwandtschaft zu den erwähnten Manu-
scripten, unterscheidet sich aber äusserlich dadurch, dass die
Bibelstellen entweder nur mit den Anfangs- und Schlussworten
citirt sind, indem ein sie verbindendes usque die mittleren
Worte ersetzt, oder nur mit den ersten Worten angeführt sind,
wie die Verse aus den Psalmen und ähnliche kürzere Ab
schnitte. Es verdient Beachtung, dass auch dieses Speculum
keine Ueberschrift besitzt; denn dieser Umstand erinnert an
den Mangel der Ueberschrift im Sessorianus von erster Hand
und im Speculum von St. Victor, und ihm ist es zuzuschreiben,
dass dieser Theil des Codex so lange Zeit unerkannt blieb.
Man wusste zwar längst von der Existenz des verborgenen
Schatzes in Le Puy, 1 allein das Speculum ward erst in unseren
Tagen durch die Vergleichung mit der Schwesterhandschrift in
Paris erkannt. Es waren die zwischen die Purpurpergament-
1 Gallia Christ. II, 692: Circa tempus episcopatus Roricii Theodulfus
Aurelianensis episcopus obtulit, ut aiunt, insignem codicem ecclesiae Ani-
ciensi quo continentur uetus et novum testamentum multaque alia. In
fronte libri . . . Haenel, Gust., Catalogi libr. manuscr. Lips. 1830, p. 388.
Pitra, J. B., Spicilegium Solesmense. t. II. Paris 1855, p. 547.
58
Weilir ich.
blätter zum Schutze der Gold- und Silberschrift eingelegten
Gewebe von Seide und Wolle, welche das Interesse der ein
heimischen Gelehrten erweckten und zu näheren Erörterungen
über die Handschrift Anlass gaben. 1 Auf die Aehnlichkeit mit
dem Pariser Manuscripte aber, dem schon früher bekannten
Codex Mesmianus, welchen bereits Vignier 2 zur Ausgabe des
Speculums, Sirmond 3 zur Sammlung von Theodidfs Gedichten
und Pitra 4 zur Edition von Meliton’s Clavis benützt hatten,
machte Bourquelot 5 durch Mittheilung einer aus Le Puy an
ihn gelangten Zuschrift aufmerksam. Zu einer gründlichen und
umfassenden Analyse des Codex kam es jedoch erst, als in
Folge eines glücklichen Umstandes die beiden prächtigen Werke
einander nahe gebracht waren und dem competentesten Beur-
theiler, Herrn Leopold Delisle, 6 nebeneinander vor Augen
lagen. In dem Vortrage, welchen Delisle bei der Weltaus
stellung in der feierlichen Sitzung des Institut vom 3. Jidi 1878
über die beiden im Trocadero ausgestellten Bibeln Theodulfs
hielt, ward zum ersten Male die Erkenntniss ausgesprochen, dass
der ohne Ueberschrift gelassene Theil der Handschrift von Le
Puy, der dem in dem Pariser Manuscripte als Speculum Augu-
stini ausdrücklich bezeichneten Abschnitte entspricht, eine
abermalige unter Theodidfs Leitung besorgte Fassung des Spe
culums sei, und aus der von Delisle mitgetheilten Probe ergab
sich einerseits die Verschiedenheit, die zwischen dem Texte der
beiden Specula Theodulfs besteht, andererseits die nahe Bezie
hung des Speculums von Le Puy zu dem Texte des Sessorianus.
1 Annales de la Societe d’agriculture, des Sciences, arts et commerce du
Puy pour 1836. Au Puy, p. 125, 141.
2 S. oben.
3 Sirmondi opera varia. t. II. Paris 1696, p. 914 -1128. Jetzt ist hierüber
zu vergleichen Dümmler, E., Die handschriftl. Ueberlieferung der lat.
Dichtungen aus der Zeit der Karolinger. II. Theodulfus von Orleans:
Neues Archiv der Gesellsch. für ältere deutsche Geschichtskunde. IV,
239—250. Li er sch, IC, Gedichte Theodulfs. Halle 1880. Poetae
latini aevi Carolini Rec. E. Dümmler. t. I, p. prior.
4 Pitra, J. B., Spieilegium Solesmense. t. II. Paris 1855, p. XIX, p. 547.
5 Mdmoires de la Soci6te imperiale des antiquaires de France. 3e sdr.,
t. IV, 1859, p. 109.
s Delisle, Leop., Les hihles de Thdodulfe. Paris, Champion, 1879
(= Bibliotheque de l’Äcole des c-hartes. t. 40. Paris, 1879, p. 5—47).
Das Speculura des h. Augustinus und seine handsclir. IJeberlieferung.
59
Wie die Handschrift nach Le Puy kam, ist unbekannt.
Eine locale Ueberlieferung, die man in Le Puy nicht leicht
aufgibt, 1 meint, dass sie von Theodulf bei einer Wallfahrt
nach dem Puy d’Anis, die er in Folge eines während seiner
Gefangenschaft in Angers gemachten Gelübdes unternommen
habe, der Kirche von Notre-Dame du Puy zum Geschenk ge
macht worden sei. Diese von Localhistorikern stets nur mit
aller Reserve mitgetheilte Meinung entbehrt der Belege und
ist dem ältesten Landeschronisten unbekannt. Da Petrus
Rostaing, Miles/ 2 der Kirche St. Jean in Lyon und Canonicus
der Kathedrale von Le Puy, seinen Namen mit der Jahreszahl
1511 auf das letzte Blatt eingetragen hat und seine Versetzung
von Lyon nach Le Puy gemäss einer geistreichen Combination
des Herrn Augustin Chassaing, Richters am Civiltribunal
in Le Puy, dessen Bekanntschaft ich zu machen die Ehre
hatte, und dem ich lehrreiche Aufschlüsse verdanke, um eben
diese Zeit erfolgt sein muss, so hat die Vermuthung der
Herren Chassaing und Delisle 3 hohe Wahrscheinlichkeit, dass
eben dieser Rostaing', der aus einflussreicher adeliger Familie
entstammt 4 und als Freund von Büchern bekannt ist, das
Manuscript ursprünglich besessen und aus Anlass seiner Ueber-
siedlung nach Le Puy in die dortige Kathedrale gestiftet
habe. Ueber die früheren Schicksale des Werkes aber fehlen
noch alle Aufschlüsse.
Die eigenartige Gestaltung des Textes liess eine Collation
nicht zu, sondern machte eine vollständige Abschrift nothwendig.
7. Codex Mesmianus ([a), jetzt Parisinus 9380, die
zweite Bibel des Theodulf, eine Zierde der Nationalbibliothek
/
1 Gallia Christ. II, 692. Histoire littär. de la France, t. IV. Paris 1738,
p. 467. Hedde, Phil., Notice sur le Manuscrit de Thäodulfe. Avec
2 planches. Annales de la Sociäte d’agriculture du Puy pour 1837—1838.
Au Puy 1839, p. 168—224. Echo du Velay, Oct. 1877. Hedde, Isi
dore, Paläographie des tissus: Bible de Thäodulfe. Le Moniteur des
soies N. 875. Lyon 1879, p. 5—12. Revue retrospective, p. 13—32.
2 Guigue, M. C., Obituarium Lugdunensis ecclesiae. Lyon 1867, p. XXVII
und XXVIII.
3 Delisle, a. a. 0., p. 9 und 10.
4 Histoire gänäalogique et chronologique . . . par le P. Anselme. Paris
1726, t. VIII, p. 940—943. Guithermy, M. de, Inscriptions de la
France du Ve au VIII e siede. Diocäse de Paris I, p. 468—473.
ilil IIIIIY Mir
60 We i hr i c h.
in Paris. Aus dem gleichen Inhalte zusammengesetzt, in der
gleichen fast mikroskopischen Schrift ausgeführt und mit der
nämlichen Pracht ausgestattet, ist dieses Werk aus derselben
Schreibstube hervorgegangen wie das Manuscript von Le Puy,
das ihm nahezu zum Verwechseln ähnlich sieht. Um so auf
fallender erscheint es, dass unser Speculum zwar nach derselben
Art der Behandlung des Textes in der durch Anwendung jenes
usque verkürzten Gestalt der Citate sich darbietet wie das von
Le Puy, aber von allen Manusc-ripten durch die vollkommen
durchgeführte Umwandlung des Textes in den der Vulgata
sich unterscheidet und bezüglich seines Umfanges Merkmale
besitzt, durch die es sich von allen übrigen französischen Hand
schriften entfernt und wieder dem Codex Sessorianus nähert.
Im 11. Jahrhundert muss sich diese Handschrift noch
im Domschatz zu Orleans befunden haben. Auf Fol. 346 ist
nämlich von einer Hand des 11. Jahrhunderts die Abschrift
einer Urkunde eingetragen, durch welche der Bischof Odolricus
die gegen das Jahr 1025 erfolgte Rückgabe einer von dem
Canonicus Azinerius im Besitz gehaltenen Kirche bestätigt. Da
Odolricus die Urkunde für seine Nachfolger auf dem bischöf
lichen Stuhle abfasste, so war eine Abschrift derselben gut
angebracht in einem Bibelwerk, das im Gebrauche der Bischöfe
war, und Delisle vermuthet daher mit Recht, dass diese Bibel
von Theodulf zu eigenem Gebrauch angefertigt und auf seine
Nachfolger vererbt worden sei. Im 17. Jahrhunderte war das
Manuscript in der Bibliothek der Familie de Mesmes. Aus
dieser Epoche datiren die ersten Versuche wissenschaftlicher
Behandlung. Der gelehrte Jacob Sirmond 1 ist als der Erste
bekannt, der in der Bibliothek der berühmten Familie dieses
Bibelwerk studirte und die hohe Bedeutung desselben er
kannte. Um die Mitte des 17. Jahrhunderts nahm der Jesuit
Philipp Labbe 2 Einsicht in die Handschrift und verzeichnete
sie in seinem bibliographischen Werke. Die Benedictiner
sahen sie noch, ohne sie für ihre Arbeiten zu verwerthen,
und Vignier veranstaltete daraus die Editio princeps des Spe-
culums im Jahre 1654. Als nach dem Ableben des Parlaments-
1 Sirmondi Opera II, 1046.
2 Labbe, Ph., Nova bibliotheca manuscriptorum librorum. Paris, 1653,
p. 21-22,
Das Speculum des h. Augustinus und seine handschr. Uoberlieferung.
61
Präsidenten Jean-Antoine de Mesmes Comte d’Avaux (1723)
der Rest der Bibliothek von den Erbinnen an die Pariser
Bibliothek abgelassen wurde (1731), ward diese Theodulfbibel
noch zurückbehalten und scheint erst gegen Ende des vorigen
Jahrhunderts der Nationalbibliothek einverleibt worden zu sein.
Auch sie hat eine würdige Beschreibung und Zergliederung
durch Delisle an der angegebenen Stelle erhalten.
Vor mehreren Jahren nahm Herr Rudolf Prinz im Aufträge
des Herrn Professor R. von Hartei eine Collation vor, die mir
zu Gebote steht und in Paris von mir selbst revidirt wurde.
Indem ich hiermit die Aufzählung und äussere Beschrei
bung der Handschriften schliesse, drängt es mich, an dieser
Stelle dem Generaldirector und Administrator der National
bibliothek zu Paris, Herrn Leopold Delisle, für die wesent
lich fördernde Unterstützung, deren ich mich von seiner Seite
zu erfreuen hatte, sowie dem Bischof von Le Puy, Monseigneur
Lebreton, für die Güte, mit der er mir das kostbare Juwel des
Domschatzes anvertraute, meinen aufrichtigsten und herzlichsten
Dank auszusprechen. Auch der kaiserlichen und königlichen
Botschaft in Paris sage ich wärmsten Dank für die wiederholten
gütigen Vermittelungen.
(Fortsetzung folgt.)
62
We 1 h ri cli.
EXCUKS.
(Zu Seite 35, Anmerkung 1).
Fragment einer griechischen Uebersetznng des pseudo-
augustinischen Speculum ,Adesto mihi, uerum lumen 4 .
Cod. Parisinus gr. N. 1234 saec. XIV. 394 Blätter Orient.
Pap. in-lolio. 1 Fol. 5 a medio.
iv. ty;; Sioirtpa; tou p.ayaptoo auvouertivou.
1 op.o),OY<ü ce t'ov xaxspa y.al tov ut'ov y.al to xvsüp.a xo äytov, ev
xpoawxoi; tpiTtbv, ev ilj oüffia eva, Lay; 01] Gsbv xavcoS6vap.ov, ipatöv y.al
äopatmv [ 2 Sr;p.ioupYbv, o’u cwp.a ■/] ev ampaTt y.slp.evov, ouy. ex Siaipopwv
eiSmv ^ pi^wv ^ p.eXuv auv8&|xoi<; eixoviopevov • <xXXa p.ia; äxXr,;
y.al äowp.aTOu j 3 xai äopätou y.al axeptYpaxtcu cpuiew?. ae cvtio; dXr,Givbv
xatepa oixpa; ävaSsr^toc xa! 8Xi)? ty;? Georgs? äp/vjv, axep'-Ypaxtou J
4 y.al ctYsvv^TOU geYaXeioTYpo; Gecv, ei; ouäexivo? äfovxa dp/v;v, aXXa
xäaiv äpy;r,v ctoovTa, xigteüw y.al öiJ.oAoyü ob aapx • • | 5 Yevv^aet, oux
eijwGev, oux ' ei; dver/xv;; eilte OeX'ifaeux;, aXXa pioet tov uiov Yswövra.
Migne, Patrol. lat. XL, p. 976.
XVII. Confiteorte Patrem et Filium et Spiritum sanctum in
personis trinum, in substantia unum, uerum Deum omnipotentem,
uisibilium et inuisibilium conditorem, non corpus aut in corpore
positum, neque ex diuersis speciebus admixtum, aut membrorum
conpaginibus effigiatum, sed unius simplicis et incorporeae,
inuisibilis et incircumscriptae naturae. Te quidern uerum Patrem
summae bonitatis et totius deitatis principium, incircumscriptae
et ingenitae maiestatis Deum, ex nullo ducentem initium, sed
Omnibus initium dantem, credo et confiteor non corporali progenie
neque extrinsecus, non necessitate neque uoluntate, sed natura
Filium generantem. Confiteor et uerum te Filium ex Patre sine
1 Catalogus codd. mss. bibliothecae regiae. II, p. 2G0. Herr Dr. Anton
Kunz war letzten Sommer so gütig-, auf meine Bitte das Fragment in
Paris zu copiren, wofür ich hier noch besten Dank sage.
Das Speculum des h. Augustinus und seine handschr. Ueberlieferung.
63
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oü yxtx'oVj ouxe yewnjxbv oüxe o:y £ vvy)xov • äXX’ ex xaxp'op utou xe avEy.Stvj-
Y^xuq | 12 xpo^tupouv, y.at lv xaxp't apta xe utw oüottoSwp ptlvov • oüxto
xotvuv IS; ap.ipotv xpo*/(ops 7 ;, tva ä/toptoxu? lv Ixa . . . | 13 p.evr)? • xa't
iva oüxw xaxd xavxa 75c xö 0sw y.at xaxpi y.at utw Toov, ouvatStov, epto-
ouotov, w? p.r,xE OeX^ost pir,xe I 14 Suväptet pt-r,XE atStoxrjxt p.-^xe oüat'a
StacpIpEtv oe SüvaaGat äx’ aüxwv 7^ ly.y,oxxsö0at a<p’ wv xpo/wpef? ■ xo . . . |
10 atStov xbv xaxlpa aveu y £ w^oe<uc, SXov x'ov xaxlpa lv x<o uttü y.at lv xtü
initio ineffabiliter natura, uerum Deum unigenitum, per quem
omnia facta sunt, et uerum Patris Verbum, non factum, non
creatum, non adoptatiuum: sed genitum et unius cum Patre
substantiae, atque ita per omnia aequalem Deo Patri, ut nec
tempore, nec gradu, nec potestate esse possis inferior. Tantum-
que te esse confiteor qui genitus es, quantus est ipse qui te
genuit. Non autem quia dico genitum a Patre Filium, diuinae
et ineftabili generationi aliquod tempus ascribo: sed nec Pa-
trem dico aliquando coepisse, nec te eins Filium. Quia semper
fuit Pater, nunquäm igitur non fuisti Filius. Non enim aliter
confiteri possumus aeternum patrem, nisi confiteamur etiam
coaeternuin filium. Ex filio enim pater dicitur: et quia semper
Pater fuit, semper habuisse Filium dubium non est.
XVIII. Te quoque credo Spiritum sanctum uerum Deum,
non factum, nec creatum, nec genitum, neque ingenitum: sed ex
Patre I ilioque inenarrabiliter procedentem, et in Patre sirnul-
que I ilio substantialiter permanentem. Sic igitur ab utroque
procedis, ut inseparabiliter in utroque maneas: atque ita per
omnia Deo.Patri et Filio aequalem, coaeternum, consubstan-
tialem, ut neque potestate neque uoluntate neque aeternitate
64 Weih rieh. Das Speculum des h. Augustinus u. seine handschr. Ueberlieferung.
XVEUJJ.aTC TG) äflG), SXoV TOV t)lbv SV TG) XOStpi V.Cll EV TG) XVEUgaTl TG) . . . J
16 oXov to xvebp-a to aytov sv tiü xaTpi y.ai tgi uio) oiapivov • t'ov
xaTspa y.ai töv utbv y.ai to xvEupia to ayiov sva Os'ov xavTOOvv . . . . |
17 p.tä? sijouaiao, puä; ßaotXsta?, pua? p.EfaAEioTYjTos, pua; diStdTYjro?,
axo tote y.ai vuv y.ai äst xavTayoi ßamXsuovTa j 18 xioteug) , 0TÖjj.aTi
op.oXoYG) y.ai voi ävaxG).
xpbq toutov TOV tiji; xtoTSG); xavova y.aTsuÖJVGW t'ov axoxov p.ou,
xooov ;j.e Süv . . . . j 19 . Exoir,y.a; o öeo? p,ou * * +
praecedi] neque substantia differri possis ab eis vel praecidi a quibus
procedis. Igitur aeternum Patrem sine natiuitate, aeternum
Filium cum natiuitate, aeternum Spiritum sanctum cum proces-
sione sine natiuitate: totum Patrem in Filio et Spiritu sancto
totum Filium in Patre et Spiritu sancto , totum Spiritum
sanctum in Patre et Filio permanentem: et Patrem et Filium
et Spiritum sanctum unum Deum omnipotentem, una potestate,
unoque regno, una maiestate, una aeternitate, ex tune et
nunc et semper ubique regnantem corde credo, ore confiteor
et mente diligo.
Ad lianc fidei regulam dirigens intentionem meam, quan-
tum me posse fecisti deus meus, quaesiui te et desideraui intel-
lectu uidere quod credidi.
>
III. SITZUNG VOM 17. JÄNNER 1883.
Das k. u. k. Ministerium des Aeussern übermittelt die
von der königl. niederländischen Regierung der Akademie ge
widmeten beiden ersten Lieferungen eines mit Unterstützung
des Ministers der Colonien von Professor Dr. Schlegel in
Leyden herausgegebenen ,Nederlandsch-chineesch Woordenboek
met de transcriptie der ekineescke karäkters in het Tsiang-
Tsiu dialelct 1 .
Von dem k. k. militär-geographischen Institute werden
weitere siebzehn Blätter der Specialkarte der österreichisch-
ungarischen Monarchie übergeben.
Das w. M. Herr Hofrath Robert Zimmermann legt eine
für die Sitzungsberichte bestimmte Abhandlung vor, welche
den Titel führt: ,Ueber Ilume’s Stellung zu Berkeley und Kant'.
Das w. M. Herr Professor Th. Gomperz legt eine für
die Sitzungsberichte bestimmte Abhandlung vor unter dem
Titel: ,Herodoteische Studien 1 .
An Druckschriften wurden vorgelegt:
Akademie der Wissenschaften, k. bayr. zu München: Sitzungsberichte der
philosophisch-philologischen und historischen Classe, 1882. Band II,
Heft I. München, 1882; 8°.
Arcliaeological Survey of Southern India. Nr. 3. Notes on the Amarä- '
vata Stupa, by Jas. Burgess, L. L. D., P. B. G. S., M. K. A. S., etc.
Madras, 1882; 4”.
Sitzungsber. d. phil.-liist. CI. CIII. Bd. 1. Hit.
5
66
Erlangen, Universität: Akademische Schriften vom Jahre 1881; 17 Stücke
8» und 4°.
Facultd des lettres de Bordeaux: Annales. 4 C annde, No. 5. Deceinbre
1882. Bordeaux, Londres, Berlin, Paris, Toulouse; 8°.
Gesellschaft, königl. nordische für Altertliumskunde: Aarhöger for nordisk
Oldkyndighed og Historie, 1882. 2. und 3. Heft. Kjöbenhavn; 8°. —
Tillaeg til Aarböger for nordisk Oldkyndighed og Historie. Aargang
1881. Kjöbenhavn, 1882; 8°.
Society the Asiatic of Bengal: Proceedings. Nos. VII et VIII. Juli und
August 1882. Calcutta; 8°.
Verein, historischer von Oberbayern: Oberbayerisches Archiv für vater
ländische Geschichte. XL. Band, 1. Heft. München, 1882; 8°. — XLH.
und XLIII. Jahresbericht für die Jahre 1879 und 1880. München,
1881; 8°.
■— historischer zu Bamberg: 44. Bericht über Bestand und Wirken im
Jahre 1881. Bamberg, 1882; 8°.
Zimmermann. Ueber Hurae’s Stellung zu Berkeley und Kant.
67
Ueber Hume’s Stellung zu Berkeley und Kant.
Von
Robert Zimmermann,
wirkl. Mitgliede der kais. Akademie der Wissenschaften.
_A.li der Geschichte der neueren deutschen Philosophie ist
es rühmend hervorgehoben worden, dass dieselbe von Kant
bis Hegel, der sich selbst als den Vollender des Kriticismus
■bezeichnete, eine in sich geschlossene Entwicklungsreihe bilde.
Eine ähnliche stellt sowohl die Entwicklung des continentalen
Rationalismus von Descartes bis Leibnitz, wie die parallel
laufende des englischen Empirismus von Bacon bis Hume dar.
Wie aus Kant’s Halbidealismus der zuerst als subjectiver, dann
als transscendentaler, zuletzt als absoluter sich entwickelnde
ganze Idealismus, wie aus Descartes’ Dualismus der Gegensatz
des Monismus und monadischen Pluralismus, so entwickelte sich
aus Bacon’s und Locke’s Empirismus, aus jenem des ersteren
Hohbes’ Materialismus, aus jenem des letzteren Berkeley’s Idea
lismus, aus beiden zusammengenommen Hume’s Skepticismus.
Beide, die continentale und die insulare Strömung, sind dann
in Kant zu einer neuen, aus Rationalismus und Empirismus zu
gleichen Theilen gemischten Geistesrichtung zusammengeflossen.
Wie der Rationalismus, so dreht der Empirismus in seiner
Entwicklung sich um ein bestimmtes Problem, der eine um
ein metaphysisches, der andere um ein erkenntniss-theoretisches.
Jenes, das Problem der Unio corporis atque animae, hat nach
einander die Lösungsversuche durch die assistentia divina, den
Occasionalismus, die Identitätslehre und die prästabilirte Har
monie hervorgerufen. Dieses, die Frage nach der Möglichkeit
einer Vermittlung zwischen dem erkennenden Subject und dem
M
21 m hi er ih ati h.
zu erkennenden Object, hat von dem ursprünglichen Gegensatz
des materialistischen Objects und des spiritualistischen Suhjects
aus, durch die entgegengesetzten Standpunkte der einerseits
materialistischen, andererseits spiritualistiscken Identität beider
hindurch, sowohl bezüglich des Objects wie des Suhjects zum
Nihilismus und in Folge dessen zum absoluten Skepticismus
geführt.
Letzterer Standpunkt ist in der Geschichte der Philosophie
mit Hume’s Namen verknüpft, welcher dadurch seinen englischen
Vorgängern, insbesondere Berkeley, wie seinem deutschen Nach
folger Kant, der seine Erweckung durch ihn aus dogmatischem
Schlummer selbst eingeräumt hat, gegenüber eine zugleich nach
rückwärts und vorwärts deutende Janusstellung behauptet. Wie
er in rückwärts gekehrtem Sinne als Vollender von Berkeley,
so erscheint er in nach vorwärts blickender Richtung durch
seinen Zweifel an der Gewissheit aller nicht analytischen oder
identischen Urtheile als die Veranlassung, dass Kant, um zu
gleich die Gewissheit und die synthetische Natur der mathe^
matischen Urtheile zu retten, den Apriorismus der Zeit- und
Raumanschauung, die transscendentale Aesthetik und damit die
Wurzel der Kritik der reinen Vernunft erfand.
Hume’s Einfluss auf Kant steht als von diesem selbst
bezeugte Thatsache fest; dagegen ist gegen die Behauptung
ernstlich gemeinter Abhängigkeit seiner Lehre von Berkeley’s
Idealismus oder vielmehr ,Immaterialismus' von einer Seite her
Einspruch erhoben worden, welcher umsomehr Beachtung ge
bührt, als der Urheber desselben, Thomas Collyns Simon, zu
den berufensten Kennern und wärmsten Verehrern des englischen
Idealisten gehört, und des letzteren Wiederbelebung im heutigen
England beinahe ausschliesslich dessen seit Jahren fortgesetzten
ebenso uneigennützigen als erfolgreichen Bemühungen zuzu
schreiben ist. Derselbe bildet den Gegenstand einer zuerst
in Mamiani’s philosophischer Revue ,La philosophia delle scuole
italiane' (XV. Bd., Nr. 1) erschienenen philosophischen Studie
,über Hume’s angebliche Folgerungen aus Berkeley und Kant’s
vermeintliche Widerlegung derselben', welche der Verfasser in
englischer Uebersetzung seiner sorgfältigen Wiederherausgabe
von Berkeley’s Hauptwerk ,The principles of human knowledge'
(London 1878) als Anhang beigefügt hat. Der Untersuchung
Ueber Hurae’s Stellung zu Berkeley und Kant.
69
seiner Berechtigung und damit dem Versuche zur Feststellung
des Verhältnisses Hume’s zu Berkeley und Kant einen Beitrag
zu leisten, ist diese Abhandlung gewidmet.
Durch die gesammte rationalistische Strömung der neueren
Philosophie, deren Problem, wie oben erwähnt, die Unio corporis
atque animae ausmacht, geht stillschweigend oder laut die Vor
aussetzung hindurch, dass nur Gleiches auf Gleiches wirken,
durch die ganze empiristische Strömung, deren Angelpunkt das
Erkenntnissproblem bildet, ebenso die Annahme, dass Gleiches
nur durch Gleiches erkannt werden könne. Aus dem Axiom,
dass die Erkenntniss der Wirkung jene der Ursache einschliesse,
dass demnach Ursache und Wirkung etwas gemein haben
müssen und folglich dasjenige, was nichts mit einem Anderen
gemein habe, auch weder Ursache noch Wirkung dieses Anderen
sein könne, ist die Behauptung des Cartesianischen Dualismus
von der Unmöglichkeit der Wechselwirkung zwischen Sub
stanzen, die, wie die denkende (Geist) und die ausgedehnte (Ma
terie), nichts mit einander gemein haben, hervorgegangen. Aus
dem Axiom, dass dasjenige, durch welches ein Anderes erkannt
oder welches durch ein Anderes erkannt werden solle, diesem
Anderen dem Wesen nach gleichartig sein müsse, ist sowohl
die (materialistische) Behauptung, dass der Geist, um zur Er
kenntniss der (materiellen) Körperwelt zu gelangen, selbst
körperlicher (materieller), wie die entgegengesetzte (idealistische)
Behauptung, dass die Materie (die Körperwelt), um vom Geiste
erkannt werden zu können, selbst geistiger (immaterieller) Natur
sein müsse, entsprungen.
Weil die Erfahrung durch die Sinne als Quelle der Er
kenntniss eine Einwirkung der äusseren (materiellen) auf die
innere (Geistes-) Welt bedingt, welche nach der Voraussetzung,
dass ungleichartige Substanzen (wie Leib und Seele) auf ein
ander nicht einzuwirken vermögen, unmöglich ist, darum schliesst
der Rationalismus von Descartes bis Leibnitz die äussere Er
fahrung als Erkenntnissquelle von der strengen Wissenschaft
aus. Weil die Erfahrung nur unter Voraussetzung qualitativer
Gleichartigkeit des Erfahrenen (Objects) und des Erfahrenden
70
Zimmer mann.
(Subjects) möglich ist, schliesst der Empirismus von Bacon bis
Hume, dessen einzige Erkenntnissquelle die Erfahrung ist, die
Folgerung, dass Subject und Object der Erfahrung einander
gleichartig, also entweder beide körperlich (materiell) oder
beide unkörperlich (immateriell) sein müssen, ein.
Folge des ersteren ist, dass der Rationalismus zum Aprio
rismus, Folge des letzteren, dass der Empirismus entweder
zum Materialismus oder zum (empirischen) Idealismus wird.
Jener entsteht, indem der Mangel der Erfahrung durch die
selbstschöpferische Kraft der reinen Vernunft ersetzt d. h. der
Inhalt der ersteren aus dem Innern der letzteren als selbstge
wobenes Gewand herauszuspinnen versucht wird. Diese bestehen
darin, dass der eine der beiden Erkenntnissfactoren zum Phä
nomen des anderen gemacht, also entweder (materialistisch)
der Geist zum ,Phänomen der Materie' herabgesetzt, oder
(idealistisch) die Materie als blosses ,Phänomen des Geistes'
begriffen wird. Erstere Consequenz, welche das Ganze der
Wissenschaft nach dem Vorbilde der reinen Mathematik vor
und unabhängig von aller Erfahrung durch Deduction aus einer
oder einigen Grundvoraussetzungen (Grundbegriffen und Grund
sätzen) zu deduciren verlangt, haben diejenigen zu mildern
gesucht, welche, wie Leibnitz, den Unterschied von nothwendigen
und zufälligen Wahrheiten (veritates aeternae und ex contin-
gentia), von welchen die letzteren durch Freiheit (Sittengesetz),
die ersteren durch Nothwendigkeit (Naturgesetz) bedingt seien,
in die Philosophie einführten und den sogenannten ewigen
Wahrheiten das Gebiet alles desjenigen, was weder anders sein,
noch anders gedacht werden könne, als es ist, dagegen den
sogenannten zufälligen Wahrheiten das Gebiet alles desjenigen
zuwiesen, was an sich auch nicht sein oder anders sein könnte,
als es ist, und dessen Sein und So-Sein, wie es ist, sein Dasein
der Rücksicht auf dadurch' zu erreichende Zwecke d. i.
einer Wahl aus -mehreren an sich gleich Möglichen verdankt.
Ersteres als Nothwendiges vermag die Vernunft aus sich, letz
teres als Nicht-Nothwendiges, sondern aus mehreren gleich
Möglichen Gewähltes vermag die Vernunft nur insofern zu
erkennen, als sie den Ausfall der getroffenen Wahl selbst
erkennt. Da nun dieser vom wählenden Willen abhängig, dieser
als Wille aber nicht selbst nothwendig (dem Naturgesetz),
Ueber Hume’s Stellung zu Berkeley und Kant.
71
sondern frei (dem Freiheitsgesetz unterworfen) ist, so vermag
die Vernunft das vom Willen Gewählte nur aus der Thatsache
zu erkennen, dass dieser so und nicht anders gewählt hat,
woraus sich ergibt, dass, da jede Thatsache als solche nicht
anders als durch Erfahrung erkannt zu werden vermag, der
Gegensatz zwischen sogenannten reinen Vernunft- und Erfah
rungswahrheiten und damit die Erfahrung selbst als Erkennt-
nissquelle, wenn auch in verschämter Weise, in den strengen
Rationalismus sich eingeschlichen hat.
Der Consequenz des Materialismus auf der einen, des
Idealismus auf der anderen Seite suchen diejenigen Empiristen
zu entgehen, welche entweder, wie Bacon, zwar die menschliche
Seele (anima) für einen ,dünnen warmen Körper', aber den
,Geist' (spiraculum) für immateriell ansahen, oder, wie Locke,
die Natur des Objects der Erkenntniss (des Körpers) in einer
Weise auf klärten, dass dieselbe von jener des in der Regel
als körperlich Bezeichneten sich entfernt und jener des Un-
körperlichen bedenklich nahe kommt, aber dennoch den ,Geist',
das Subject derselben, für nicht nothwendiger Weise immateriell
erklärten, da ,Gott auch die Materie mit der Fähigkeit zu
denken begabt haben könne'.
Wie der consequente Materialismus im englischen Empi
rismus durch den Namen von Hobbes, so ist der consequente
Immaterialismus (Idealismus) in demselben durch jenen von
Berkeley bezeichnet. Während Bacon demjenigen, was nicht
körperlich ist, wie Gott und der menschliche Geist, zwar Er
kennbarkeit, aber nicht Existenz abspricht, erklärt Hobbes aus
drücklich alles, was existirt, für körperlich. Von den drei
Objecten (Obiectum triplex), welche Bacon der Philosophie zu
weist, trifft nur das eine, die Natur, den menschlichen Intellect
im directen (directo), dagegen Gott denselben wegen des ungleich
artigen Mittels (propter medium inaequale) nur im gebrochenen
(refracto), der Mensch im zurückgeworfenen Strahl (reflexo
radio). Während der menschliche Intellect als Subject der
Erkenntniss der Natur als Object derselben gleichartig, ist er
Gott und dem Menschen, insofern dieser ,Geist' d. h. ,Hauch
Gottes' (spiraculum) ist, ungleichartig. Insofern der Intellect
der Natur gleichartig, also selbst natürlich ist, erkennt er die
Natur; insofern Gott und Geist übernatürlich, also dem ln-
72
Zimm ermann.
tellect ungleichartig sind, erkennt dieser beide nicht ihrem
Wesen, sondern höchstens ihrer durch die Natur des Intellects
als des Mediums bedingten Erscheinung für diesen nach. Voll
kommene Erkenntniss des Uebernatürlichen gewährt daher
nur eine übernatürliche, dagegen eine blos natürliche Erkennt-
nissquelle Erkenntniss nur des Natürlichen. Jene weist daher
Bacon der Theologie, welche aus der Offenbarung der Schrift,
die Erkenntniss der Natur dagegen der Philosophie zu,
welche aus der Offenbarung der Sinne schöpft. Die theo
logische Erkenntniss ist zwar vollkommen, aber nicht Wissen,
sondern Glauben, die philosophische zwar Wissen, aber nur in
Bezug auf die Natur vollkommenes, in Bezug auf Gott und
Geist dagegen unvollkommenes Wissen. Die sogenannte natür
liche Theologie d. i. das natürliche oder philosophische Wissen
von Gott begründet zwar eine negative, aber keine affirma
tive Erkenntniss desselben d. h. reicht zwar hin, die Behaup
tung des Atheismus, dass kein Gott sei, zu widerlegen, nicht
aber jene des Theismus, dass und was Gott sei, zu erweisen.
Da sonach die Natur der einzige einer vollkommenen
Erkenntniss durch die Philosophie fähige Gegenstand, der
einzige Inhalt der Natur aber Körper und ihre Beziehungen
auf und unter einander sind, so folgt, da der menschliche
Intellect, um zur Erkenntniss der Natur zu gelangen, derselben
gleichartig d. h. selbst Natur sein soll, consequent, dass derselbe
körperlich, weil natürlich, gedacht werden müsse. Damit
stimmt es überein, dass Bacon einerseits die Philosophie, welche
als natürliche Wissenschaft von der Natur nichts anderes als
Naturphilosophie sein kann, nicht nur, je nachdem sie von dem
allen Körpern Gemeinschaftlichen handelt, oder sich auf das
einer gewissen Classe von Körpern Eigenthiimliche einschränkt,
in einen allgemeinen und besonderen Theil, sondern diesen
letzteren selbst, je nach der besonderen Gattung der Körper
(Naturkörper, Himmelskörper, menschlicher Körper) in weitere
Unterabtheilungen (Physik, Astronomie, Anthropologie) sondert,
andererseits die menschliche Seele, die Trägerin des Intellects,
für einen dünnen, warmen Körper erklärt d. h. selbst unter
das Körperliche überhaupt einreiht. Sonach ist alles, was
Object einer wirklichen Erkenntniss durch den Intellect werden
kann, die Seele selbst eingeschlossen, körperlich, die Philosophie,
lieber Hume’s Stellung zu Berkeley und Kant.
73
soweit ihr Charakter durch jenen ihres Erkenntnissgegenstandes
bestimmt wird, durchwegs Materialismus. Dass neben den Körpern
eine Welt unkörperlicher Wesen (spiracula) und ein gleichfalls
unkörperlicher Gott existire, wird nicht geläugnet, aber die
Fähigkeit, dieselben zu erkennen, eben um ihrer Unkörper
lichkeit willen der Philosophie ab- und einer anderen Wissen
schaft, der Theologie, zugesprochen d. h. die Identität, was
das Erkenntnissobject betrifft, des Materialismus mit Philosophie,
des Immaterialismus mit Theologie (Nicht- oder Un-Philosophie)
behauptet.
Wissenschaft von der körperlichen und solche von einer
geistigen Welt, Materialismus und Immaterialismus, Philosophie
und Theologie, treten nach Bacon als zwei zwar zusammenge
hörige, aber von einander abgekehrte Hemisphären auseinander,
die sich zum ganzen, Wissen und Glauben umfassenden System
der Erkenntniss, zum ,globus intellectualis', ergänzen. Beide
stehen einander gegenüber wie feindliche Brüder, die sich
in das Erbe getheilt haben, und von welchen jeder innerhalb
des eigenen Gebietes auf seinem Hechte besteht, ohne auf
jenes des anderen innerhalb des seinigen eifersüchtig zu sein.
Materialismus und Immaterialismus machen, von diesem Ge
sichtspunkte aus betrachtet, keinen Gegensatz innerhalb und
auf der philosophischen Halbkugel, sondern sie machen den
Gegensatz zwischen dieser selbst und ihrer Antipodin, der
theologischen Halbkugel, aus. Der Streit zwischen diesen
endet entweder mit dem Siege der Philosophie, durch welche
die Theologie, oder mit jenem der letzteren, durch welche die
erstere vernichtet wird. Der philosophische Streit zwischen
Materialismus und Immaterialismus dagegen beginnt erst dann,
wenn diese bisher mit den einander ausschliessenden Gebieten
der Philosophie und Theologie zusammengefallenen Gegenpole
auf eines derselben, das philosophische, ausschliesslich über
tragen und innerhalb dieses letzteren nicht wie bisher als zwei
verschiedene Wissenschaften, sondern als verschiedene Auf
fassungsweisen derselben Wissenschaft ins Feld geführt werden.
Dieser Fall tritt ein, wenn einerseits nicht nur die soge
nannte natürliche Wissenschaft (Philosophie) für die einzige
wirkliche Wissenschaft erklärt, die sogenannte übernatürliche
Wissenschaft (Theologie) aus dem Gebiete der Wissenschaften
74
Zimmerinan n.
ausgeschlossen, sondern zugleich als die einzig wahre Form
der natürlichen Wissenschaft der Materialismus anerkannt,
andererseits, wenn zwar die übernatürliche Wissenschaft (Theo
logie) als eine von der natürlichen (Philosophie) wesenhaft ver-
schiedene bestehen gelassen, der Begriff der Philosophie auf
die natürliche Wissenschaft eingeschränkt, jedoch der zuvor
von der Theologie ausschliesslich eingenommene Standpunkt
des Immaterialismus auch als einzig berechtigter in der Philo
sophie anerkannt wird. Wenn es für ersteren Standpunkt nur
einerlei Wissenschaft, die philosophische, und nur eine Philo
sophie, den Materialismus, so gibt es für letzteren zwar zweierlei
Wissenschaften, aber nur eine Philosophie: den Immaterialismus.
Repräsentant des ersteren ist Hobbes, des letzteren Berkeley.
Zu der Ausschliessung der Theologie aus dem Umkreise
der Wissenschaft hat Bacon insofern selbst die Veranlassung
gegeben, als er die Frucht übernatürlicher d. i. aus der gött
lichen Offenbarung geschöpfter Erkenntniss als Glauben, jene
dagegen der natürlichen d. i. aus der Erfahrung durch die
Sinne geschöpften Erkenntniss als Wissen bezeichnet. Wem
nur um das letztere d. i. um Wissenschaft, keineswegs um
den ersteren, das Dogma, zu thun ist, ist daher vollkommen
berechtigt, sich auf die natürliche Erkenntnissquelle (Erfahrung
durch die Sinne) zu beschränken, dagegen die übernatürliche
Erkenntnissquelle (göttliche Offenbarung) als überhaupt nicht
oder doch wenigstens nicht für die Wissenschaft vorhanden
anzusehen. Wem aber, einmal auf diesem Standpunkt an
gelangt, um wirkliches, nicht blos um scheinbares Wissen d. i.
um Erkenntniss der zu erkennenden Objecte, wie sie (ihrem
Wesen nach) sind, nicht blos, wie sie dem erkennenden Sub-
jecte (seinem Wesen nach) erscheinen müssen, zu thun ist,
der wird nur diejenige Erkenntniss als vollkommene d. i. als
Wissen gelten lassen, bei welcher das erkennende Subject dem
zu erkennenden Object gleichartig, dagegen diejenige als un
vollkommen d. i. als Scheinwissen (Illusion) verwerfen, bei
welcher das Subject dem Object ungleichartig ist.
Bacon selbst hat ,unsern IntellecF (nostrum intellectum)
als ,ungleichartiges Mittel' (medium inaequale) sowohl der Gott
heit als dem Menschen, dessen geistigem Kerne nach, gegen
über bezeichnet. Während das Wissen ,unseres Intellects' von
lieber Hume's Stellung zu Berkeley und Kant.
75
diesen beiden Erkenntnissobjecten nur ein unvollkommenes
sein kann, ist dasselbe ein vollkommenes von der Natur d. i.
von der Körperwelt, für welche derselbe ein ,medium aequale'
d. i. als Ausfluss seines Organs, der ,physischen Seele', dieser
und dadurch der Natur selbst wesensverwandt ist. Wird daher
alles unvollkommene Wissen als blosses Scheinwissen bei Seite
gelassen und der Begriff des Wissens auf das von Bacon als
solches anerkannte vollkommene Wissen eingeschränkt, so
folgt, dass wirkliches Wissen sich überhaupt nur auf die Natur
d. i. auf die Körperwelt, beschränke, und weder ausser noch
über derselben ein wirklich Gewusstes existire.
Der Satz des Hobbes, dass ,für die Philosophie' nur
Körper existiren, ist damit gegeben. Denn da es einerseits
keine andere Wissenschaft gibt als natürliche und keine an
dere natürliche Wissenschaft als Philosophie, und da anderer
seits was nicht auf vollkommenes Wissen sich stützt keine
Wissenschaft und das Einzige, von dem ein vollkommenes
Wissen möglich ist, die Natur, also der Inbegriff der Körper
welt ist, so folgt, dass die letztere sowohl der ausschliessliche
Gegenstand der Philosophie, wie dass diese ausschliesslich
Wissenschaft von Körpern sei. An die Stelle des Gegen
satzes des Körperlichen (Materiellen) und Unkörperlichen (Im
materiellen) tritt jener eines gröberen und feineren Körper
lichen. Auf die Seite dos letzteren fällt das Subject, auf
die Seite des ersteren das Object der Naturerkenntniss; jenes
(die Seele) ist nur ein feinerer, dieses (der im engeren Sinn
sogenannte Naturkürper) ein gröberer Körper. An die Stelle
des Gegensatzes zwischen Vereinigungen von materiellen (körper
lichen) Substanzen zu einem körperlichen, und von immateriellen
(geistigen) Substanzen zu einem unkörperlichen Ganzen tritt
bei Hobbes der Gegensatz zwischen sogenannten natürlichen
und künstlichen Körpern. Jene sind solche, welche auf natür
lichem d. i. mechanischem, diese dagegen solche, welche auf
künstlichem d. i. vom Willen abhängigem Wege hervorgebracht
sind. Elemente der ersteren sind willensunfähige, solche der
letzteren dagegen mit Willen begabte Körper, also im Gegen
satz zu den im engeren Sinne sogenannten seelenlosen Körpern
sogenannte ,Seelen' d. i. beseelte Körper, wie es z. B. die
lebenden Menschen sind. Wie die natürlichen Körper aus
RK
76 Zimmer mann.
kleinsten Körperchen (Korpuskeln), so sind die künstlichen,
unter welchen der Staatskörper der vornehmste ist, aus Indivi
dualwillen d. i. den kleinsten unter den mit Willen begabten
Körpern (der Staatskörper aus Staatsbürgern) zusammen
gesetzt. Folgerichtig zerfällt die von Körpern handelnde
natürliche Wissenschaft (philosophy) in zwei Theile, deren
einer (natural philosophy) von den natürlichen, der andere
(civil philosophy) von den künstlichen Körpern, der letztere
insbesondere von dem wichtigsten derselben, dem Staatskörper,
handelt.
Auch für diese Unterordnung der Staats- unter die all
gemeine Körperlehre findet sich der Keim schon in Bacon’s
Eintheilung der Wissenschaften. Was die natürliche Wissen
schaft (Philosophie) vom Menschen erkennt, beschränkt sich
auf dessen natürliches d. i. nicht geistiges Wesen, da letzteres
ebenso wie das Wesen der Gottheit auf natürlichem Wege
unerkennbar bleibt. Das natürliche Wesen des Menschen
aber sowohl, was dessen Leib, als was dessen ,Seele“ betrifft,
ist nach Bacon ,körperlich', die sogenannte ,Seele' nur ein
,dünner, warmer Körper'. Der Mensch als Object der Philo
sophie ist daher nichts weiter als ein Körper und fällt unter
die allgemeine Körperlehre; folgerichtig bildet daher die philo
sophische Lehre vom Menschen neben der philosophischen
Lehre von den Himmelskörpern und jener von den Natur
körpern im engeren Sinne einen Theil der philosophischen Natur
lehre überhaupt und hat, wie jede der beiden anderen, sowohl
einen speculativen, auf die Erkenntniss, wie einen operativen,
auf die Anwendung der die jeweilige Gattung von Körpern
beherrschenden Naturgesetze gerichteten Theil. Insofern die
selbe den Menschen d. i. nach Obigem den aus dem körper
lichen Leibe und der gleichfalls körperlichen Seele zusammen
gesetzten beseelten Menschenkörper als Einzelnen betrachtet,
ist sie Anthropologie (philosophia humana), je nachdem sie
denselben jedoch als Glied einer durch Vereinigung mehrerer
seines Gleichen gebildeten Gesellschaft in Betrachtung zieht,
aber Politik (philosophia civilis). Erstere fällt, wie man sieht,
als Lehre vom Menschen als beseeltem Naturkörper in den
Umfang der von Hobbes als Naturphilosophie bezeichneten Lehre
von den natürlichen Körpern; letztere aber fällt als Lehre
"5
Ueber Hurac's Stellung zu Berkeley und Kant. 77
von der durch Vereinigung Mehrerer entstehenden Menschen
gesellschaft mit der von Hobbes als civil philosophy bezeichneten
Lehre vom künstlichen oder Gesellschaftskörper (Corporation)
zusammen.
Bacon’s Lehre, soweit sie den Anspruch erhebt, natür
liche Wissenschaft d. i. Philosophie zu sein, ist, was das Wesen
sowohl des Subjects, wie des Objects der Erkenntniss, den
Menschen und die Natur, betrifft, von jener des Hobbes nicht
verschieden, da sie das eine ebenso wie das andere gleich
dieser für körperlich (materiell) ansieht. Die Möglichkeit
der Erkenntniss der Natur durch den Menschen beruht für
beide auf der Wesensgleichheit d. i. Körperlichkeit beider,
die Wirklichkeit d. i. Wahrheit derselben jedoch für beide
auf der Uebereinstimmung des im Object mit dem im Subject
der Erkenntniss Vorhandenen d. i. in der treuen Wiedergabe
des ersteren durch das letztere (scientia veritatis imago).
Je nachdem bei dieser Bestimmung, dass die Ueberein
stimmung des Inhalts des im Subject enthaltenen Bildes mit
dem Inhalt des Objects d. li. der in jenem abgebildeten
Wirklichkeit Erkenntniss sei, von der Seite des Subjects oder
von jener des Objects ausgegangen wird, treten entgegen
gesetzte Forderungen zu Tage. Geht man von Seite des Sub
jects aus, so wird verlangt, dass von diesem in den Inhalt des
Bildes nichts hineingetragen werde, was nicht im Inhalt des
Abzubildenden gelegen ist. Geht man dagegen von der Seite
des Objects aus, so wird verlangt, dass alles, was im Inhalt
des Abzubildenden gelegen ist, aber auch nur dieses im Inhalt
des Bildes wiederzufinden sei. Erstere Forderung geht von
der Voraussetzung aus, dass das Subject der Erkenntniss
Eigenes, also mehr enthalte als im Objecte, letztere dagegen
von der entgegengesetzten Annahme, dass das Object der
Erkenntniss weniger enthalte als im Bilde d. i. dass in diesem
Fremdes anzutreffen sei.
Erstere Forderung entspricht dem Verlangen Bacon’s, dass
der menschliche Intellect, um die Natur getreu zu interpretiren,
sich solcher Vorstellungen, die nicht aus der Natur der zu
erkennenden Objecte, sondern aus seiner eigenen geflossen
und daher in Bezug auf jene ,Idole* (Trugbilder) seien, ent
ledigen müsse. Letzterer Forderung entspricht die Lehre des
78
Zimmer mann.
Hobbes, dass die sogenannten Empiindungsqualitäten (Farbe
Ton u. s. w.) als solelie nicht in den Körpern d. i. in den Ob
jecten, sondern nur in dem dieselben empfindenden Wesen
d. i. dem Subject der Erkenntniss vorhanden seien. Subject
und Object der Erkenntniss, obgleich beide körperlich, ver
halten sich doch zu einander wie feinere und gröbere Körper
lichkeit. Die Vorgänge im ersteren, die intellectuellen, nehmen
an dessen feinerer, dagegen die Eigenschaften des letzteren,
die reellen, an dessen gröberer Körperlichkeit Theil; jene
können daher im Verhältnis zu diesen ihrer Körperlichkeit
unbeschadet als gleichsam unkörperlich, diese müssen im Ver
hältnis zu jenen, ihrer gröberen Körperlichkeit halber, im
verstärkten Grade als materiell bezeichnet werden. Auf diesem
Wege entsteht inmitten der allgemeinen Körperlichkeit, sowohl
der Vorgänge im Subject wie jener in den Objecten der Er
kenntniss, ein neuer Gegensatz zwischen den als unkörperlich
in weiterem Sinne vorgestellten Vorgängen im Subject und den
als körperlich in engerem Sinne vorgestellten Vorgängen in
den Objecten der Erkenntniss, von denen die ersteren als
relativ immateriell, die letzteren als gleichsam in zweiter Potenz
materiell angesehen werden.
Gelten in Folge dessen alle im menschlichen Intellect
sich vollziehenden Vorgänge im Vergleich und im Verhältnis
mit den Körpern, ihren Eigenschaften und Bewegungen für
,relativ immateriell 4 , so lassen sich in dieser ihrer Immaterialität
zwei weitere Grade unterscheiden, je nachdem dieselben aus
der Natur der Erkenntnissobjecte oder aus jener des Erkennt-
nisssubjects selbst geflossen sind. Denn da nach dem er-
kenntniss-theoretischen Grundsatz, welcher durch die ganze
Entwicklungsgeschichte des englischen Empirismus hindurch
wirkt, das Erkennende dem Erkannten gleichartig sein muss,
so muss der intellectuelle Vorgang im Subject, welcher aus
der Natur des (materiellen) Objects geflossen ist, eine diesem
Ursprung entsprechende Materialität an sich tragen, welche
demjenigen intellectuellen Vorgang, welcher ausschliesslich aus
der Natur des erkennenden Subjects stammt, nothwendiger
Weise abgehen muss. Ersterer mit letzterem verglichen ist
daher gleichsam in seiner Immaterialität materieller, letzterer
dagegen in vervielfachtem Grade immaterieller Natur, gleich-
Ueber Hume's Stellung zu Berkeley und Kant.
79
sam immateriell in zweiter Potenz. Werden die ersteren,
die aus der Natur des Erkenntnissobjects fliessen. mit Bacon
Ideen d. i. Abbilder, dagegen die letzteren, weil sie aus der
Natur des Erkenntnisssubjects allein stammen, mit demselben
Idole d. i. Trugbilder genannt, so verbalten sich beide, auf
ihren Erkenntnisswerth hin angesehen, wie wahre und falsche
Vorstellungen (Erkenntnisse und Illusionen), dagegen auf ihre
physische Natur hin angesehen, insofern beide Vorgänge inner
halb der ,Seele 1 d. i. des ,dünnen warmen Körpers' sind, welchen
Bacon mit diesem Namen auszeichnet, wie ,Hirnbilder“ zu blossen
,Hirngespinnsten', von welchen die ersten als ,Abdrücke' durch
die Dinge selbst im Hirne hervorgebracht, die letzteren dagegen
als ,wunderbare Blasen' vom Hirne selbst ,aufgeworfen' werden.
Gelten in Folge des Obigen die Körper, ihre Eigen
schaften und Vorgänge, verglichen mit den im Intellect sich
vollziehenden relativ immateriellen Processen, im verstärkten
Grade für ,materiell“, so lassen sich innerhalb der an ihnen
haftenden Eigenschaften zwei Gattungen unterscheiden, von
welchen die eine ihnen wirklich, dagegen die andere nur
scheinbar ihnen zukommt. Zu den elfteren gehören diejenigen,
welche den Körpern absolut d. i. ohne Beziehung auf ein den
selben gegenüberstehendes und auf ihre Erlcenntniss ausgehen
des Subject innewohnen. Als letztere werden diejenigen be
zeichnet, welche den Körpern nur relativ d. i. in Bezug auf
ein denselben gegenüberstehendes wahrnehmendes Subject an
haften oder richtiger gesagt von diesem auf dieselben tiber-
getragen werden. Hobbes betrachtet als solche die Farbe, den
Klang u. s. w., welche als solche nur im und vom Subjecte
empfunden werden, in und an den Körpern aber nichts weiter
als blosse Bewegungen sind. Während die absoluten Eigen
schaften wirkliche, sind die relativen denselben nur angedich
tete Eigenschaften der Körper, die sich zu jenen innerhalb
des Erkenntnissobjects auf dieselbe AVeise verhalten wie Idole
zu Ideen innerhalb des Erkenntnisssubjects und daher gleich
sam innerhalb der Materialität der körperlichen Welt ein Im
materielles, wie die Ideen innerhalb der Immaterialität der in-
tellectuellen Welt das Materielle ausmachen.
Wie Bacon’s Erkenntnistheorie in die immaterielle Ge
dankenwelt ein materielles, so führt dos Hobbes’ Körpertheorie
80
Zimmer man n.
in die materielle Körperwelt ein immaterielles Element ein.
Was in der Vorstellung des Körpers nicht aus dessen Ein
wirkung auf den Intellect selbst entsprungen, sondern von diesem
in dieselbe hineingelegt worden ist, ist nach Bacon nicht Er-
kenntniss, sondern Fiction. Was am Körper nicht diesem an
sich, sondern nur in Folge seiner Beziehung auf das empfin
dende Subject durch dieses zukommt, ist nach Hobbes nicht
Eigenschaft des Körpers, sondern des empfindenden Subjects.
Wie nach Abzug desjenigen, was in der Vorstellung des Körpers
Idee d. i. Erfahrung ist, das hohle Idol, so bleibt vom Körper
nach Abzug dessen, was von seinen Eigenschaften Erscheinung
d. i. durch dessen Beziehung auf das empfindende Subject in
diesem hervorgerufener Schein ist, dessen wirkliches Wesen
als Rest zurück. Wie das* Idol als solches ,Hirngespinnst‘, so
ist das Wesen des Körpers als solches ,Materialität'; wie die
Idee als solche ,Abbild' im Hirne, so ist die Erscheinung als
solche, mit dem Wesen verglichen, ,Immaterialität'. Zu den
Ideen gehören alle sinnlichen Empfindungen, welche als solche
die Grundlage alles auf sinnlicher Wahrnehmung beruhenden
(empirischen) Wissens bilden; zur Erscheinung des Körpers
gehören die sogenannten ,Empfindungsqualitäten', welche als
,Sinnesphänomene' (Farbe Klang Geruch Geschmack Härte
Weichheit u. s. w.) den materiellen Kern der Körperwelt mit
dem Illusionen weckenden Schleier der Sinnlichkeit umhüllen.
Weil die sinnlichen Empfindungen die einzigen Ideen, wird
das auf solche sich gründende Wissen sensualistisch, weil das
Wesen des Körpers materiell, wird die von demselben aus
gehende Körperlehre materialistisch genannt. Jene Bezeichnung
entfiele, wenn es sich herausstellte, dass es noch andere Ideen
als ausschliesslich die sinnlichen Empfindungen gebe; auf diese
müsste verzichtet werden, wenn es sich herausstellte, dass die
Materialität des Wesens des Körpers kein Gegenstand der Er-
kenntniss sein könne.
Beides zusammengenommen ist Loclce’s Fall und bezeichnet
die Stelle, an welcher dieser sowohl den Sensualismus, wie den
Materialismus seiner Vorgänger hinter sich lässt. Ersteren,
indem er neben den einfachen Ideen, welche durch den äus
seren Sinn (Sensation), auch solche anerkennt, welche durch
einen sogenannten inneren Sinn(refiection) hervorgebracht werden;
Ueber Hume's Stellung zu Berkeley und Kant.
81
letzteren, indem er zwar die Annahme eines Subsistirenden
(einer Substanz) als Wesen des Körpers und Trägers der körper
lichen Eigenschaften für unvermeidlich, das Wesen dieser Sub
stanz selbst (deren Materialität oder Immaterialität) aber nicht
nur für unbekannt, sondern für (dem menschlichen Intellect)
unerkennbar erklärt. Während nach Bacon alle Vorstel
lungen, welche nicht aus der Natur des (äusseren) Objects,
sondern aus jener (innern) des Subjects stammen, nicht
Ideen, sondern blosse ,Idole‘ sein sollen, räumt Locke ein, dass
alle diejenigen einfachen Vorstellungen, welche nicht durch
,Sensation', sondern durch ,Rcflection‘ entstehen, obgleich ihr
Object demzufolge kein äusseres (ausserhalb), sondern inneres
(innerhalb des erkennenden Subjects selbst gelegenes) ist,
demungeacktet nicht ,Idole', sondern wirklich ,Ideen' seien.
Unter Voraussetzung des erkenntniss-theoretischen Axioms,
dass Subject und Object der Erkenntniss einander gleichartig
sein müssen, bedeutet diese durch Locke herbeigeführte Er
weiterung des Umfangs der ,Idee' so viel, dass, während
nach Bacon die Vorgänge im Subject, um ,Ideen' heissen
zu dürfen, mit der Natur des äusseren (materiellen) Objects
wesensverwandt, also selbst ,materiell* sein mussten, die
selben jetzt, um ,Ideen' zu sein, auch blos der Natur eines
,inneren' (d. h. innerhalb des Subjects selbst gelegenen), also
der (vergleichsweise immateriellen') Natur dieses letzteren
gleichartig sein, also aus dessen, nicht aus der Natur eines
von ihm verschiedenen Objects stammen können. Während
Bacons Erkenntnisstheorie nur zweierlei, kennt jene Locke’s
dreierlei Gattungen von Vorstellungen. Nach jener werden
nur solche Vorstellungen unterschieden, welche entweder aus
der Natur des Objects (Ideen), oder aus jener des Subjects
stammen (Idole). Nach dieser werden Vorstellungen unter
schieden, welche entweder ein ausserhalb des Subjects gelegenes
Object oder ein innerhalb des Subjects gelegenes Object oder
gar kein Object haben. Vorstellungen der beiden erstgenannten
Arten werden von Locke ,Ideen' genannt, gleichviel ob sie
aus der Natur eines ausserhalb oder innerhalb des Subjects
gelegenen Objects, wenn sie nur überhaupt aus der Natur
irgend eines Objects geflossen d. h. durch ein solches gegeben,
nicht, wie es bei Vorstellungen ohne alles Object der Fall ist,
Sitzungsber. d. pliil.-hist. CI. CIII. Bd. I. Hft. C
82
Zim in ermann.
(vom Subject) frei d. i. aus seiner eigenen Natur heraus er
funden sind. Locke’s erste Gattung von Ideen fällt mit Bacon’s
Ideen überhaupt, des letzteren Idole fallen mit Locke’s object
losen Vorstellungen (Imaginationen) zusammen. Die zweite
Gattung von Ideen, die Locke eigenthümlich ist, umfasst ein
Gebiet von Vorstellungen, welche im Sinne der Bacon’schen
Erkenntnisstheorie, welche nur äussere Objecte zulässt, sub-
jectiv (Idole), dagegen mit den ,objectlosen' Vorstellungen ver
glichen objectiv (Ideen), also zugleich (wenn auch in verschie
dener Hinsicht) das eine und das andere, weder, wie Bacon’s
Ideen, äussere Erfahrungen, noch, wie dessen Idole, blosse
,Hirngespinnste ( (Träume), sondern innere Erfahrungen sind.
Verhalten sich nach der Annahme sowohl des Sensualismus
wie des Materialismus Subject und Object der Erkenntniss
(intelligente Seele und Körperwelt) wie feinere und gröbere
Materialität, oder wie relative Immaterialität und ebensolche
Materialität zu einander, so verhalten sich nun auf dem Stand
punkte des Empirismus, der nicht Sensualismus, und des Rea
lismus, der nicht Materialismus sein mag, die beiden Gattungen
von Ideen, deren eine ausserhalb, die andere innerhalb des
Subjects gelegene Objecte hat, obgleich als Vorgänge innerhalb
des relativ immateriellen Subjects beide relativ immateriell,
doch zu einander selbst, wie mehr und minder immaterielle,
beziehungsweise minder und mehr materielle Vorgänge. Denn
da die äussere Erfahrung (Sensation) ein äusseres, relativ
materielles, die innere Erfahrung (Reflection) ein inneres, relativ
immaterielles Object besitzt, jene daher ihrer relativen Im-
materialität unbeschadet einem relativ materiellen Object gleich
artig sein soll, während die letztere ihrer relativen Immaterialität
halber ihrem gleichfalls relativ immateriellen Object von Haus
aus wesensverwandt ist, so stellt die erstere als Materialität in
der Immaterialität im Verhältniss zur letzteren als in doppelter
Hinsicht reiner Immaterialität, gleichsam das gröbere, jene das
feinere Element in der Ideenwelt und stellen die beiden Gebiete
der durch äussere und der durch innere Wahrnehmung ent
standenen Ideen, in welche dieses letztere zerfällt, zwei ge
schiedene Reiche von Ideen dar, die sich zu einander ähnlich
wie innerhalb des Umfangs der Wirklichkeit das Reich des
Körperlichen (sinnlich Wahrnehmbaren) zu jenem des Geistigen
Ueber Hume's Stellung zu Berkeley und Kant.
83
(den Sinnen Unzugänglichen) verhalten und daher passend als
sinnliche und nichtsinnliche Ideen unterschieden werden können.
Hängen nach Bacon’s Erkenntnisstheorie Subjectivität
d. i. relative Immaterialität, und Wahrheit der Vorstellung in
dem Sinne von einander ah, dass mit der zunehmenden Im
materialität derselben deren Anspruch auf Wahrheit sich ver
mindert, so zeigt die Erkenntnisstheorie Locke’s an der Glaub
würdigkeit der durch innere Erfahrung gegebenen Ideen, dass
eine Vorstellung an Subjectivität d. i. Immaterialität (mit der
äusseren Erfahrung verglichen) zu wachsen und doch ihren
Anspruch auf Wahrheit, gleich dieser, zu behaupten vermag.
Lautet dieses Ergebniss, mit jenem der sensualistischen Er
kenntnisstheorie verglichen, für die äussere d. i. auf der Gleich
artigkeit der Vorstellung mit dem äusseren (materiellen) Object
beruhende Erfahrung insofern ungünstig, als es dieselbe des An
spruchs, als ausschliessliche Erkenntnissquelle zu gelten, beraubt,
so fällt das Urtheil Locke’s über das vermeintliche Recht des
Materialismus, den Kern und das Wesen der körperlichen Welt
als Materie bezeichnen zu dürfen, nichts weniger als vortheil-
haft für diesen aus.
Zwar die Unterscheidung Locke’s zwischen secundären
und primären Eigenschaften der Körper (secundary and primary
qualities), von welchen die ersteren nur in der Seele und nur
die letzteren in den Körpern selbst sein sollen, fällt mit der
Unterscheidung des Hobbes zwischen relativen, dem Körper
nur in Bezug auf das Subject, und absoluten d. i. demselben
an sich zukommenden Eigenschaften dem Inhalt nach zu
sammen. Jene, welche Locke auch abgeleitete nennt, sind
Farben Töne u. s. w., diese, die von ihm auch als ursprüng
liche (original) oder reale Eigenschaften bezeichnet werden,
sind Grösse Gestalt Zahl Lage Bewegung oder Ruhe ihrer
dichten (raumerfüllenden) Theile. Die letztgenannten Eigen
schaften sind in den Körpern selbst wirklich und von ihnen
in jedem Zustande unzertrennlich, die erstgenannten dagegen
nicht in ihnen, sondern nur in dem wahrnehmenden Subject
wirklich und daher von den Körpern selbst nicht nur ab-
trennlich, sondern thatsächlich getrennt. Die Farbe der
Körper besteht nur insofern sie gesehen, ihr Klang nur inso
fern sie gehört, ihre Härte oder Weichheit nur insofern sie
6*
84
Zimmermann.
getastet werden., und zwar nur für das Auge das Ohr die
Hand, welches und welche dieselben sieht hört und tastet.
Wird das Vorgestelltwerden der Körper von diesen getrennt,
so verschwinden alle Farben Töne Härte- und Weichheitsgrade
und es bleibt nichts übrig als eine gewisse Gestalt Grösse,
Bewegung und Lage der Körper und Körpertheile.
Wie des llobbes relative, so sind Locke’s secundäre
Körpereigenschaften solche, welche dem Körper nicht wirklich,
sondern nur dem Scheine nach zukommen, wirklich d. i. nicht
blos dem Scheine nach in dem wahrnehmenden Subject d. i.
in der Seele sind. Dieselben können demnach, was ihre Natur
betrifft, von der Natur des Subjects, in welchem sie sind, nicht
wesenhaft verschieden d. li. sie müssen von derselben Natur
wie die ,Seele' sein. Wird dieselbe, wie es von Bacon und
Hobbes geschieht, als ein Körper, jedoch als ein solcher von
grösserer Feinheit vorgestellt, als die sogenannten eigentlichen
Körper (im engeren Sinn des Wortes) sind, so werden auch
jene Eigenschaften als körperlich, aber von einer feineren Körper
lichkeit, als es die von dem eigentlichen Körper unabtrenn-
liclien, absoluten oder ursprünglichen Eigenschaften derselben
sind, gedacht werden müssen. Dieselben gelten sodann zwar
für materiell, aber im Verhältnis zu den ursprünglichen Eigen
schaften für relativ immateriell d. li. der völligen Unkürperlich-
keit bei weitem näher stehend als diese. Wird dagegen
die Seele, wie es von Locke geschieht, zwar nicht als im
materiell, aber ebenso wenig als materiell vorgestellt d. li.
zwar dieselbe als existirend (real) anerkannt, auf eine Erkenntniss
ihrer Natur (ihres Quäle) aber verzichtet, so gelten dieselben als
Wesensverwandte der Seele zwar ebensowenig wie diese für
immateriell, aber auch ebensowenig für materiell d. h. sie
werden als in der Seele seiend und derselben dem Wesen
nach, wie auch dasselbe beschaffen sei, gleichartig anerkannt,
aber es wird auf die Erkenntniss ihres Wesens ebenso und
aus demselben Grunde wie auf jene des Wesens der Seele
Verzicht geleistet.
Während Hobbes mit Bacon die Materialität der Seele für
wirklich, hält Locke dieselbe nur für möglich. Während
Bacon die Existenz unkörperlicher Wesen auf philosophischem
Wege für unerweislich, auf theologischem dagegen für aus-
Ueber Hume's Stellung zu Berkeley und Kant.
85
gemacht, Hobbes für schlechterdings unmöglich, hält Locke
dieselbe für möglich! Letzterer steht daher der Anerkennung
immaterieller Existenzen als Thatsaehe insofern näher als Hobbes,
als er dieselbe nicht ausschliesst, aber auch näher als Bacon,
insofern er nicht wie dieser die ,Seele' vom ,Geiste' trennt,
also zugibt, dass, wenn sich die Immaterialität des Geistes
philosophisch erweisen Hesse, damit auch die der Seele er
wiesen wäre.
Wie die abgeleiteten Eigenschaften, weil sie in der Seele
sind, dieser, so müssen die ursprünglichen, weil sie im Körper
sind, diesem wesensverwandt sein. Ist daher dieser, wie
Bacon und Hobbes lehren,' seinem Wesen nach materiell, so
sind es auch dessen ursprüngliche Eigenschaften. Ist da
gegen, wie Locke lehrt, der Körper zwar ,real' d. h. liegt
demselben ein Substrat zu Grunde, bleibt aber das Wesen
dieses letzteren selbst für den Intellect unzugänglich d. i.
unerkennbar, so sind auch die demselben wesensverwandten
Eigenschaften zwar, wie das Substrat, real und ihrem Wesen
nach dem Wesen desselben verwandt, aber gleich unerkennbar
wie dieses. Dieselben werden, wenn das Substrat materiell
ist, materiell, wenn es dagegen immateriell sein sollte, selbst
gleichfalls immateriell sein, und da Locke die Existenz des
Immateriellen ebenso wenig wie jene der Materialität des Exi-
stirenden für unmöglich hält, so ist es an sich nicht aus
geschlossen, dass die Materialität der ursprünglichen Eigen
schaften blosser Schein d. h. diese selbst Erscheinung eines
Immateriellen und als solche den in der möglicher Weise
gleichfalls immateriellen Seele seienden secundären Eigenschaften
gleichartig, ursprüngliche und abgeleitete Eigenschaften der
Körper daher beide immateriell wären.
Wie in Bezug auf die Seele, so in Bezug auf den
Körper steht Loclce’s Realismus, welcher die Realität eines
sowohl der einen wie dem andern zu Grunde liegenden Sub
strates anerkennt, aber die Unerkennbarkeit der Qualität des
selben behauptet, dem Immaterialismus d. i. der Behauptung
der Immaterialität alles Existirenden um einen Schritt näher
als Hobbes mit seiner Behauptung der Unmöglichkeit der
Existenz eines Immateriellen. Letztere schliesst mit dessen
Möglichkeit von selbst dessen Wirklichkeit aus. Locke lässt
86
Zimm ermann.
mit der Anerkennung seiner Möglichkeit die Frage von dessen
Wirklichkeit offen.
Secundfire und primäre Eigenschaften der Körper nach
Locke, wie relative und absolute Eigenschaften derselben nach
Hobbes verhalten sich zu einander wie Schein zu Wirklichkeit,
Subjectives zu Objectivem, Phänomene zu Realitäten. Dabei
wird den letzteren ebenso als Eigenschaften, welche als solche
einen Träger, wie jenen als Phänomenen, welche als solche
ein Subject erfordern, ein Substrat untergelegt, welches als
Träger von Eigenschaften ebensowenig eine' blosse Eigen
schaft, wie als Träger von Phänomenen selbst blos ein Phä
nomen sein kann, daher in jenem Fall als Subsistirendes (Sub
stanz d. i. Wesen, das Eigenschaften hat), in diesem als ,Seele'
(Subject d. i. Wesen, das Vorstellungen hat) bezeichnet wird.
Wie der Begriff der ,Substanz' nichts anderes enthält als den
Gedanken eines übrigens unbekannten Etwas, welches den
Eigenschaften, die wir dem Körper zuschreiben, zu Grunde
liege, so bedeutet der Begriff ,Seele' (Subject) in diesem Zu
sammenhang nichts anderes als den Gedanken eines übrigens
gleichfalls unbekannten Etwas, in welchem die Phänomene, die
wir Empfindungsqualitäten nennen (Farbe Klang Härte Weich
heit u. s. w.), vor sich gehen. Wie die Annahme der Sub
stanz nur durch die Eigenschaften, so wird jene der Seele nur
durch die Phänomene nothwendig gemacht, weil die ersteren,
wenn sie vorhanden sind, nicht ohne Träger, die letzteren,
wenn sie gegeben sind, nicht ohne Subject gedacht werden
können. Wären daher keine Eigenschaften, so fiele die
Nothwendigkeit der Annahme einer denselben zu Grunde liegen
den Substanz, wären keine Phänomene, die gleiche der An
nahme eines Subjects, dessen Scheinwelt sie ausmachten, von
selbst hinweg.
Erster er Fall tritt ein, wenn die sogenannten primären
oder ursprünglichen Eigenschaften der Körper, welche als
solche real und den sogenannten secundären oder abgeleiteten
Eigenschaften derselben, welche blosse ,Phänomene' sind, ent
gegengesetzt sein sollen, sich gleichfalls als nicht real d. i.,
wie die secundären, als blosse Phänomene erweisen sollten.
Denn da die secundären Eigenschaften, wie oben erwähnt,
nicht, in den Körpern, sondern, weil ,Phänomene', nur in der
lieber Hnme's Stellung zu Berkeley und Kant.
87
Seele, also keine Eigenschaften der Körper sind, so sind, so
bald die bisher sogenannten primären d. i. in den Körpern
befindlich gedachten Eigenschaften sich gleichfalls als Phäno
mene d. i. als nur in der Seele befindlich erwiesen haben
sollten, überhaupt keine Eigenschaften, die in den Körpern sein
könnten, mehr vorhanden, und die Annahme eines Trägers
für (nicht mehr vorhandene) Eigenschaften wird überflüssig.
Dieser Fall ist derjenige Berkeley’s und wird durch
dessen Nachweis, dass die sogenannten primären Eigenschaften
(Grösse Gestalt Zahl Lage Bewegung oder Ruhe der raum
erfüllenden Theile) ebenso gut wie die secundären (Farbe
Klang Härte Weichheit u. s. w.) blosse ,Phänomene*, und als
solche nur in, aber nicht ausser der Seele seien, herbeigeführt.
Da nach Locke dasjenige, was wir Körper nennen, ein
Ganzes ist, welches aus (realen) Eigenschaften und deren
(gleichfalls realem) Träger (der Substanz) besteht, welche
letztere nur durch die Realität der Eigenschaften nothwendig
gemacht wird, ein Ganzes aber imaginär wird, sobald seine
Theile imaginär geworden sind, so verwandelt sich durch den
Nachweis, dass die Realität der Eigenschaften eine Imagination,
die nur um ihrer Realität willen unvermeidliche Annahme einer
Substanz somit grundlos sei, der Glaube an die Realität des
jenigen, was wir Körper nennen, selbst in eine blosse Imagi
nation, und die vermeintliche Körperwelt stellt sich als blosse
Scheinwelt heraus.
Folge davon ist, dass der Körper als ein Ganzes von
Eigenschaften, von welchen jede, sie sei nun in der von Locke
festgestellten Bedeutung eine ursprüngliche oder eine abgeleitete,
blosses ,Phänomen* ist, als Ganzes von blossen Phänomenen
selbst blosses Phänomen und als solches, wie alle die Eigen
schaften, aus denen er besteht, nicht ausser, sondern in der
,Seele* vorhanden sein kann.
Von den beiden Gegensätzen, dem Körper als Object
und der Seele als Subject, bleibt sonach, da der Körper sich
in ein blosses Phänomen in der Seele aufgelöst hat, nur die
,Seele* als Realität d. i. Nicht-Phänomen, obgleich Sitz und
Schauplatz von Phänomenen, übrig. Indem durch die Ver
wandlung der vermeintlich realen Eigenschaften der Körper in
blosse (subjective) Phänomene die Nöthigung, denselben eine
88
Zimmer mann.
reale Substanz als Grundlage unterzuschieben, aufhört, ver
schwindet umsomehr die weitergehende, diese letztere selbst
als materielle (körperliche) Substanz zu denken. Realismus
d. i. die Lehre, dass der erscheinenden Körperwelt reale Sub
stanzen (mehrere oder eine), ebenso und noch mehr der Materia
lismus d. i. die Lehre, dass der Erscheinung der Körperwelt
materielle (körperliche) Substanzen (mehrere oder eine) zu
Grunde lägen, hat seine Berechtigung eingebüsst; an die Stelle
des ersteren tritt der Idealismus d. i. die Lehre, dass der
Erscheinung der Körperwelt keine reale, an die Stelle des
letzteren der Immaterialismus d. i. die Lehre, dass der Er
scheinung der Körperwelt, weil überhaupt keine reale, umso
mehr keine materielle Substanz zu Grunde liege. Beide Be
griffe haben zunächst nur einen negativen, die Behauptungen
ihrer beziehungsweisen Gegensätze verneinenden Sinn: der
Idealismus, insofern er die Unwahrheit des Realismus, der Im
materialismus, insofern er jene des Materialismus behauptet,
keineswegs aber etwas anderes als Wahrheit an dessen Stelle
setzt. Letzteres thut erst der ,Phänomenalismus' d. i. die
Lehre, dass die Erscheinung der Körperwelt blosses Phänomen
d. i. das Wesen des Körpers Phänomenalität sei. Während
der Idealismus das Was der körperlichen Erscheinung negativ
durch die Bestimmung definirt, dass ihr eine reale Substanz
nicht zu Grunde liege, definirt der Phänomenalismus dasselbe
positiv durch die Bestimmung, dass der Körper Phänomen
sei. Beides fällt zwar der Sache nach, indem dasjenige,
dem nichts Reales zu Grunde liegt, nichts anderes als Phä
nomen' (Illusion) sein kann, keineswegs aber dem Begriffe
nach zusammen. Phänomenalismus und Idealismus in den
oben angegebenen Bedeutungen sind Wechselbegriffe, welche
als solche zwar denselben Umfang, keineswegs aber denselben
Inhalt haben. Ersteres in dem Sinne, dass alles dasjenige,
dem kein vom Subject verschiedenes Object als Reales zu
Grunde liegt, nur Phänomen im Subject d. h. insofern dasselbe
auf ein vom Subject verschiedenes reales Object von jenem
bezogen wird, ,Illusion' sein kann. Letzteres in dem Sinne,
dass der Inhalt des einen aus positiven, jener des anderen
aus negativen Merkmalen zusammengesetzt ist. Phänomenalis
mus und Immaterialismus, beide in den oben angegebenen
Ueber Hume's Stellung zu Berkeley und Kant.
89
Bedeutungen genommen, sind dagegen nicht Wechselbegriffe,
denn dasjenige, welchem keine vom Subject verschiedene
materielle Substanz zu Grunde liegt, muss darum noch
keineswegs ,Illusion' d. h. ein ,Phänomen“ sein, dem über
haupt kein vom Subject unterschiedenes Object zu Grunde
liegt, indem es ja auch ein Phänomen sein könnte, dem eine
vom Subject verschiedene aber immaterielle Substanz zu
Grunde läge. Beide Begriffe decken einander dem Umfange
nach nicht, dagegen ist der Umfang des Begriffs Immaterialis
mus in dem des Begriffs Idealismus eingeschlossen, denn dem
jenigen, welchem überhaupt kein reales Object zu Grunde
liegt, kann umsoweniger ein materielles Object als Substrat
dienen. Daraus folgt, dass der Phänomenalismus immer
sowohl Idealismus als Immaterialismus, aber nicht umgekehrt
der Immaterialismus immer Phänomenalismus (im obigen Sinne)
sein wird, oder, was dasselbe ist, dass es zwei Gattungen des
Immaterialismus geben wird, je nachdem den Phänomenen (im
Subjecte) entweder überhaupt kein vom Subject verschiedenes,
oder nur kein vom Subject verschiedenes materielles Object
zu Grunde liegt. Nur die erstere Gattung fällt mit dem
Phänomenalismus und dem demselben gleich geltenden Idealis
mus, insofern dieser das Gegentheil des Realismus ausmacht,
zusammen. Die zweite Gattung des Immaterialismus stellt
vielmehr eine Art des Realismus, und zwar diejenige dar, nach
deren Lehre den Phänomenen (im Subject) zwar kein mate
rielles, aber ein immaterielles, vom Subject verschiedenes Object
zu Grunde liegt.
Berkeley’s Lehre nun ist, was ihre negative Seite betrifft,
Idealismus und Immaterialismus, was ihre positive betrifft,
Phänomenalismus. In ersterer Hinsicht bildet sie den voll
kommenen Gegensatz sowohl zu Locke’s Realismus, wie zu
Hobbes’ Materialismus, insofern ihr zufolge als Grundlage der
körperlichen Welt weder überhaupt eine reale, noch insbe
sondere eine materielle Substanz (Materie) existirt. In letzterer
Hinsicht besteht ihr Kern in der Behauptung, dass die körper
liche Welt ,Phänomen' d. i. Vorstellung im vorstellenden Subject
sei. Dieselbe hat daher ihr zufolge ausserhalb des vorstehen
den Subjects keine, innerhalb desselben eine nur phänomenale
.Existenz, gerade wie die im Traume gesehene Welt nicht
90
Zimmer mann.
ausserhalb, sondern innerhalb des Traumes existirt. Ur
sprüngliche wie abgeleitete Eigenschaften der Körper, deren
Grösse Gestalt Lage und Entfernung im Raume Bewegung
und Dauer in der Zeit, Farbe Klang Geruch Geschmack
Härte und Weichheit u. s. w., sowie die Körper selbst als
beharrende oder wechselnde Vereinigungen ursprünglicher und
abgeleiteter Eigenschaften sind nur insofern vorhanden, als sie
vorgestellt werden, oder was dasselbe ist, sie sind nur als Vor
stellungen, deren Inhalt Grössen Gestalten Entfernungen und
Bewegungen, Farben Klänge u. s. w. ausmachen, vorhanden.
Von einem Verhältnis der im Subject vorhandenen ,Phänomene'
zu einem ausserhalb des Subjects befindlichen realen (materiellen
oder immateriellen) Object zu reden, gleichviel ob dasselbe als
ein solches der Causalität oder der blossen Congruenz oder
Incongruenz des beiderseitigen Inhalts verstanden werde, ist
daher unstatthaft, weil es dieser Lehre zufolge ein vom Subject
verschiedenes reales (sei es materielles, sei es immaterielles)
Object überhaupt nicht gibt, also auch weder von demselben
auf das Subject oder umgekehrt von diesem auf jenes eingewirkt,
noch dessen Inhalt mit jenem des ,Phänomens' irgendwie ver
glichen, also auch weder als diesem entsprechend noch als
nicht entsprechend bezeichnet werden kann. Ebensowenig
kann von Beziehungen zwischen angeblich ausserhalb des Sub
jects vorhandenen realen (materiellen oder immateriellen) Ob
jecten zu und unter einander z. B. von einem Causalverhältniss
zwischen denselben die Rede sein aus dem gleichen Grunde,
weil derartige Objecte nach obigem überhaupt ebensowenig
als angebliche ursprüngliche oder abgeleitete Eigenschaften der
selben (Grösse, Gestalt, Entfernung, Bewegung, Farbe, Klang
u. s. w.) anders denn als ,Phänomene', daher real nicht exi-
stiren. Da sowohl Körper als ihre Eigenschaften ,Phänomene',
abgesehen von dieser phänomalen Existenz derselben aber weder
Körper noch Eigenschaften von solchen vorhanden sind, so
können schlechterdings alle zwischen Körpern und deren Eigen
schaften obwaltenden Beziehungen und Verhältnisse nichts
anderes als Beziehungen und Verhältnisse zwischen Phänomenen
sein, welche das einzige thatsächlich ,Gegebene', aber weder
durch ausserhalb des Subjects befindliche Objecte (die es nicht
gibt) erzeugt sind, noch auf solche, da es dergleichen nicht
Ueber Hume’s Stellung zu Berkeley und Kant.
91
gibt, bezogen werden dürfen. Was vom Standpunkt des
Materialismus und Realismus angesehen z. B. die Beziehung
der Lage d. i. eines wirklichen Körpers zu dem wirklichen
Raume, das ist in den Augen des Phänomenalismus die Beziehung
des Phänomens eines Körpers zu dem Phänomen eines Raumes.
Ebenso kann das Causalverhältniss, das vom Gesichtspunkt der
beiden erstgenannten Welttheorien als ein Verhältniss zwischen
wirklichen Dingen (realen Substanzen oder materiellen Körpern)
gedacht wird, nach den Grundsätzen des Phänomenalismus nur
als ein zwischen Phänomenen stattlindendes Verhältniss gelten,
was für dieses die Folge hat, dass alle diejenigen Auffassungen
der Causalität, welche die reale oder körperliche Natur des
Verursachenden und Bewirkten voraussetzen, von demselben
ausgeschlossen werden müssen. Von dieser Art ist der so
genannte Influxns physicus, welcher entweder, wie der Ma
terialismus den Vorgang sich vorstellt, in einer materiellen
Ausströmung aus dem materiellen, Ursache, in den gleichfalls
materiellen, Wirkung genannten Theil oder, wie der Realismus
sich den Process denkt, in einer realen Vermittlung der realen,
Ursache, und der gleichfalls realen, Wirkung genannten Substanz
besteht. Es leuchtet ein, dass, wenn sowohl der vom Materia
lismus als Ursache wie der von ihm als Wirkung angesehene
Körper und ebenso, wenn sowohl die vom Realismus als Ursache
wie die von ihm als Wirkung angesehene reale Substanz, wie es
nach den Principien des Phänomenalismus gar nicht anders
sein kann, blos ,Phänomene' bedeuten, weder von einer mate
riellen ,Ausströmung', noch von einer realen ,Vermittlung'
zwischen denselben gesprochen, der Begriff der Causalität in
dem Sinne, in welchem sowohl Materialismus als Realismus
sich desselben bedienen, demnach gar nicht angewendet werden
kann. Derselbe muss entweder gänzlich hinwegfallen oder
in einer Weise umgestaltet werden, dass er mit der Grundlehre
des Phänomenalismus, dass Körper und körperliche Eigenschaften
blos Phänomene seien, verträglich wird.
Ebensowenig als die dem Materialismus und Realismus
geläufige Form der Causalität, kann das im Sensualismus aus
schliesslich übliche materiale Kriterium der Wahrheit vor
dem veränderten Gesichtspunkte des Phänomenalismus Bestand
haben. Dasselbe geht davon aus, dass (nach Bacon’s Aus-
92
Zimmer mann.
druck) scientia veritatis imago d. h. der Inhalt des im Subject
vorhandenen Gedankens ,Abbild' des ausserhalb desselben in
der Wirklichkeit gegebenen Inhalts, oder (nach Locke’s Aus
druck), dass die Vorstellung (im Subject) ,Zeichen' für das
ausser- oder innerhalb desselben befindliche Object sei. Er-
stere Ansicht bedingt, dass der Inhalt der Vorstellung jenem
des (äusseren) Gegenstandes ähnlich sei; letztere räumt ein,
dass er diesem auch unähnlich sein könne, wie es bei den
meisten der ,sinnlichen' Vorstellungen der Fall sei, und ,wie
es die Worte den durch sie bezeichneten Vorstellungen sind'.
Beide jedoch kommen darin überein, dass die Vorstellung, um
für glaubenswürdig zu gelten, durch das ihr entsprechende
Object erzeugt oder verursacht sein müsse, wobei Bacon als
selbstverständlich betrachtet, dass die erzeugte Vorstellung dem
sie erzeugenden Objecte ähnlich sein werde, während Locke
zugibt, dass sie, obgleich durch das Object erzeugt, diesem
demungeachtet unähnlich sein könne. Das eigentliche Kri
terium liegt daher nicht sowohl in der Aehnlichkeit der Vor
stellung und ihres Objects, welche auch fehlen kann, als vielmehr
in dem Erzeugtsein der Vorstellung durch das Object, welches
niemals fehlen darf, wenn dieselbe für gegeben d. i. für Er
fahrung (äusssere bei Bacon, äussere oder innere bei Locke)
gelten soll. Da vom Standpunkt des Phänomenalismus aus
nun das äussere Object (die Körperwelt) die vom Materialismus
und Realismus ihr beigelegte reale Existenz eingebüsst hat,
das Object, welches der Erkenntnisstheorie beider zufolge eine
ihm correspondirende (ähnliche oder unähnliche) Vorstellung
im Subject verursachen soll, somit nicht mehr existirt, so kann
der Unterschied glaubwürdiger und unglaubwürdiger Vorstel
lungen auch nicht mehr darauf basirt werden, dass die einen
durch real existirende Dinge erzeugt, die anderen nicht durch
solche hervorgerufen, sondern auf irgend eine andere Art im
vor stellen den Wesen entstanden sind.
Wie an die Stelle der Beziehungen zwischen den Körpern,
so treten an jene der Beziehungen zwischen diesen und dem
Vorstellenden solche zwischen blossen Phänomenen. Nur dass
diejenigen Beziehungen zwischen den Phänomenen, welche
innerhalb der Welt der Phänomene jene Stelle ausfüllen, welche
innerhalb der Welt der Körper z. B. das Causalitätsverhältniss
Ueber Hume’s Stellung zu Berkeley und Kant. ,
93
und Aelmliches einnehmen, andere sind als jene, welche in der
Welt der Phänomene an die Stelle derjenigen treten, welche
nach den Erkenntnisstheorien des Sensualismus und Empirismus
zwischen der Vorstellung und ihrem (erzeugenden) Object statt
linden. Wie in ersterer Hinsicht die sogenannte Generations
folge in der Körperwelt, vermöge welcher das Erzeugte nicht
blos später als das Erzeugende, sondern zugleich aus dessen
Stoffe erzeugt d. h. ein Theil desselben ist, durch die blosse
Zeitfolge in der Welt der Phänomene ersetzt wird, vermöge
welcher die sogenannte Wirkung keineswegs stofflich aus der
sogenannten Ursache erzeugt, sondern eben nur als Phänomen
später als diese ist, so tritt in letzterer Hinsicht an die Stelle
der Beziehung zwischen dem Inhalt der Vorstellung, welche
als solche Phänomen und dem Inhalt des Objects, welches als
solches real (Nicht-Phänomen) ist, die Beziehung zwischen dem
Inhalt eines Phänomens, welches als Vorstellung, und dem Inhalt
eines andern Phänomens, welches als deren Vorgestelltes fuu-
girt. Wie dort das blosse Nacheinander der Phänomene als
Causalverhältniss, so muss hier die blosse Uebereinstimmung
der Phänomene mit und unter einander als (formales) Kriterium
der Wahrheit ausreichen.
Wie in dem Ersatz der realen Körperwelt durch blosse
Phänomene ein nihilistisches, so liegt in der Ersetzung des
materialen Kriteriums der Wahrheit durch ein blos formales
ein skeptisches Element. Wenn das Phänomen, hinter dem
ein reales Wesen existirt, Erscheinung, so ist ein solches, hinter
dem keinerlei Realität verborgen ist, blosser Schein. Jene,
insofern sie Erscheinung eines Wesens d. i. eines Was ist, ist
selbst Etwas, dieser dagegen, insofern er zwar scheint, aber
Nichts in ihm erscheint, ist, mit einem Erscheinenden verglichen,
Nichts. Der Phänomenalismus, von dessen Gesichtspunkt
aus Körper nur Phänomene, ist daher sowohl dem Realismus,
für welchen die Körper ihrer substantiellen Grundlage nach
Realitäten, wie dem Materialismus gegenüber, für welchen die
selben ihrem Wesen nach Materialitäten sind, als Idealismus
und Immaterialismus in der That Nihilismus, insofern den
Körpern eine reale, geschweige denn materiale Grundlage nicht,
also im buchstäblichen Sinne Nichts zu Grunde liegt. Er
scheinung und blosser Schein, von welchen die erste an der
94
Zimmer mann.
Realität des in ihr erscheinenden Wesens theilnimmt und da
durch selbst eine von dieser abhängige, also abgeleitete Realität
erlangt, während der letztere ein in ihm erscheinendes Wesen,
an dessen Realität er Theil haben könnte, überhaupt nicht
besitzt, also ebenso wesensleer, als die Erscheinung wesensvoll
ist, verhalten sich zu einander, von Seite des Wesens angesehen,
wie Position und Negation, wie Sein zu Nichtsein, wie Etwas
zu Nichts. In den Augen desjenigen, für welchen, wie es
bei dem Materialismus der Fall ist, jede nicht materielle, oder,
wie es beim Realismus der Fall ist, jede nicht auf reale Sub
stanzen gestützte Körperwelt eine nichtige d. i. nichtsseiende
Welt ist, ist die Körperwelt des Phänomenalismus in der That
eine solche, ein pures Nichts, weniger selbst als der Schatten
einer Körperwelt, weil eben dasjenige, was diesen werfen müsste,
die schattende Welt, nicht vorhanden ist. Wie die Körper
welt im Ganzen, so ist jeder Theil derselben, jeder grössere
oder kleinere Körper als solcher Nichts, sind die Beziehungen
und Verhältnisse der Körper auf und zu einander solche zwischen
Nichtsen und daher nichtig, wie diese selbst. Das, mit dem
Sein verglichen, Nichtige kann als Schein zwar mannigfaltig,
das Mannigfaltige des Scheins, mit dem Sein verglichen, aber
nicht anders als nichtig sein; die phänomenale räumlich-zeit
lich sinnliche Welt ist ein buntes Nichts, das an die Stelle der
räumlich-zeitlich materiellen oder der räumlich-zeitlich realen
Welt getreten ist.
Wie derjenige, der, wie der Materialismus und Realismus,
zwar Erscheinungen, aber nicht blossem 'Schein eine, wenn
auch abgeleitete Realität einräumt, durch den Phänomenalismus,
dessen Phänomene nur Schein sind, zum Nihilismus, so wird der
jenige, der, wie der Sensualismus und Empirismus, nur in der
Erzeugung der Vorstellung durch das Object die Bürgschaft
für die Wahrheit der ersteren erblickt, durch denselben, der
das Object in Schein verkehrt, zum Skepticismus geführt
werden. Wird die Vorstellung als Wirkung ihres Objects,
dieses als Ursache jener angesehen, so verhalten sich beide,
sie seien einander ähnlich oder nicht, wie Erscheinung zum
Wesen, so dass aus der ersteren der Rückschluss auf letzteres
möglich, dieses in jener (adäquat oder inadäquat) offenbar
wird. Fällt mit der Aufhebung nicht blos der materiellen,
Ueber Hurae’s Stellung zu Berkeley und Kant.
95
sondern der auf reale Substanzen gestützten Körperwelt die
Möglichkeit hinweg, die Vorstellung als erzeugt durch das Ob
ject d. h. als Erscheinung des letzteren anzusehen, oder, was
dasselbe ist, wird die Vorstellung (das Phänomen) in blossen
Schein verwandelt, so tritt mit der Unmöglichkeit, dass sie
ein Object, auch die Unmöglichkeit ein, dass sie in Bezug auf
ein solches einen Erkenntnisswerth habe, und dieselbe ver
wandelt sich aus einem ,Abbild 1 (imago) in eine blosse ,Ein
bildung' (imaginatio). Während die durch das Object erzeugte
Vorstellung als dessen Erscheinung und ,Abbild 1 Erfahrung und
als solche Grundlage des (im Sinne des Sensualismus und Em
pirismus) allein wirklichen Wissens, des empirischen, ist dagegen
die nicht durch ein solches erzeugte Vorstellung, der Schein
als blosse ,Einbildung' auch nicht Erfahrung und das sich auf
solche stützende auch kein auf Erfahrung gestütztes, also wirk
liches (empirisches), sondern nur vermeintliches Wissen (Wahn).
Letztere Folge wird dadurch nicht aufgehoben, dass der
Inhalt sämmtlicher Phänomene unter einander sich in Ueber-
einstimmung befindet. Wenn jedes derselben, einzeln für
sich betrachtet, eine blosse ,Einbildung' ist, so ist nicht abzu
sehen, wie das Ganze zusammengenommen als Summe durch
gängiger Einbildungen selbst etwas anderes sein sollte als
Einbildung. Als solche wird dasselbe, falls die einzelnen
Theile ihrem Inhalte nach einander widersprechen d. h. sich
unter einander ausschliessen sollten, nicht nur nicht Wahrheit
(weil es sonst nicht ,Einbildung' wäre), sondern nicht einmal
den Anschein derselben besitzen d. h. das in demselben Ein
gebildete (Imaginirte) wird nicht nur nicht wirklich, sondern
nicht einmal möglich (,imaginär'), dagegen, falls die einzelnen
Theile sich nicht nur unter einander vertragen (einander nicht
widersprechen), sondern sich unter einander sogar gegenseitig
bestätigen sollten, zwar (als Einbildung) noch immer nicht wahr,
aber, wenn das erstere der Fall ist, doch nicht unmöglich,
wenn das letztere der Fall ist, sogar wahrscheinlich sein.
Vorstehendes zeigt den Weg, wie ein Ganzes, das seiner
Natur nach nicht ,Erfahrung', sondern ,Wahn' ist, doch den
Schein einer solchen sich zu geben vermag. Denn da die
Erfahrung als ,imago veritatis' dieser letzteren gleichen muss,
diese aber als Ganzes nicht nur keinen Widerspruch der Theile
.
\'b
:
li
.
96 Zimmermann.
unter einander duldet, sondern deren harmonische Uebereiu-
stimmung mit einander fordert, so darf die Erfahrung (wenn
sie dieses Namens werth sein soll) nicht nur keine unter
einander im Widerspruch stehenden Sätze einschliessen, sondern
ihre sämmtlichen Sätze müssen sich unter einander in Ueber-
einstimmung befinden und gegenseitig bestätigen. Findet aber
dieses letztere bei jeder wirklichen Erfahrung statt und
wird es dadurch zum Kennzeichen einer solchen, so erlangt,
wenn sich dasselbe irgend einmal auch bei einer blos ver
meintlichen Erfahrung (einem .Wahn 1 ) einstellt, diese dadurch
den Anschein einer wirklichen Erfahrung.
Hieraus ergibt sich zweierlei. Der Phänomenalismus,
indem er das Dasein einer realen Körperwelt negirt, kann
keine ,Erfahrung' im Sinne einer durch solche erzeugten, wohl
aber im Sinne einer nicht nur widerspruchsfreien, sondern in
sich übereinstimmenden und sich in ihren Theilen gegenseitig
bestätigenden Vorstellungswelt besitzen. Von den beiden Merk
malen , welche der Sensualismus und Empirismus als zum
Begriff der Erfahrung gehörig ansieht, und von welchen das
eine derselben ausschliesslich, das andere derselben gemeinsam
mit der sogenannten poetischen Welt zukommt, kann seine
Vorstellungswelt nur das letztere an sich tragen. Dieselbe
kann nie in dem Sinne Erfahrung sein, dass irgendwelche
ihrer Theile durch denselben correspondiren.de reale Objecte
erzeugt werden; dagegen steht nichts im Wege, dass sämuit-
liclie Theile derselben, wie es in einem poetischen Kunstwerk
der Fall ist, unter einander in vollkommener Harmonie und
gesetzlich geordnetem Zusammenhänge sich befinden.
In letzterem Falle wird dieselbe in den Augen des Sensua-
listen und Empirikers, mit der durch reale Objecte erzeugten
Erfahrung verglichen, zwar ein ,Wahn', aber um ihrer nicht
blos gesetzlich geordneten, sondern harmonisch zusammenstimmen
den Gestalt willen, wie das dichterische Kunstwerk der Phantasie
(der ,schöne' Wahn), ein ,wahr' scheinender Wahn, demnach
der wirklichen Erfahrung zwar nicht dem Ursprung, aber der
Wirkung nach ähnlich sein.
Wer durch den Phänomenalismus von der Nichtigkeit
der (realen, umsomehr der materiellen) Welt überführt, zu
gleich aber durch die Erkenntnisstheorie des Sensualismus und
Ueber Hume's Stellung zu Berkeley und Kant.
97
Empirismus nach wie vor in dem Vorurtheil befangen ist, dass
nur die durch reale Objecte erzeugte Vorstellung (Erfahrung)
Wissen und nur das auf solche gestützte Gedankengebäude
Wissenschaft sei, muss daher nothwendig Skeptiker, von der
Unmöglichkeit wirklichen Wissens, weil von der Unmöglichkeit
wirklicher Erfahrung überzeugt und nicht nur in Bezug auf
die Körperwelt zu dem Glauben geführt werden, dass er es an
deren Stelle mit einer blossen Vorstellungswelt, sondern zu
dem weiteren, dass er es in dieser an der Stelle einer Welt
wahrer, mit einer solchen blosser Wahnvorstellungen zu thun
habe. Dies ist Hume’s Fall und bezeichnet dessen Stellung
zu Berkeley einer-, zu Locke andererseits. Mit jenem ver
bindet ihn die Ueberzeugung, die er durch denselben ge
wonnen hat, dass sowohl der Materialismus im Unrecht sei,
die Existenz materieller Körper, wie der Realismus, die Exi
stenz realer Substanzen zu behaupten. Mit diesem hat er den
Grundsatz gemein, dass die Erfahrung die einzige Quelle wahren
Wissens, diese selbst aber ohne Erzeugung der Vorstellung
durch das ihr correspondirende (wenn auch derselben noch
so unähnliche) Object unmöglich sei. Beide zusammen haben
zur Folge, dass Hume, weil er weder an die Existenz materieller
Körper, noch an die realer Substanzen, auch an die Möglichkeit
einer Erfahrung nicht glauben kann, ihm daher jede vermeint
liche Erfahrung und folglich jedes vermeintliche Wissen (mit
Ausnahme desjenigen, welches aus blosser Wiederholung oder
Zergliederung eines schon Gewussten besteht, also eigentlich
kein Wissen ist) zweifelhaft wird.
Wie das, was in Folge des Phänomenalismus an die
Stelle der realen Welt tritt, in den Augen des Realisten (und
Materialisten) ein pures ,Nichts', so ist dasjenige, was durch
diesen an die Stelle der Erfahrung tritt, in den Augen des
Sensualisten (und Empiristen) ein purer ,Wahn‘. Jener Con-
sequenz sucht der Phänomenalismus dadurch zu entgehen, dass
er darauf hinweist, dass das ,Phänomen' der Körperwelt, wenn
auch nicht ausser dem vorstehenden Wesen (im objectiven
Sinne), doch in demselben (im subjectiven Sinne) vorhanden
sei, also zwar keine (materielle oder reale) Substanz, aber doch
,das Vorstellen' selbst zur Voraussetzung habe. Wie der
Materialismus und Realismus von dem Grundsätze ausgehen:
Sitzungsber. d. pliil.-liist. CI. all. Bd. I. Hft. 7
98
Zimmermann.
wo keine (reale oder materielle) Substanz, da ist kein Phä
nomen, so geht der Phänomenalismus von dem Axiom aus:
wo kein Vorstellen, da ist kein Phänomen. Während aber
die ersteren beiden das Vorstellen selbst als ein Phänomen,
der Materialismus als ein solches, dem eine materielle, der
Realismus als ein solches, dem eine überhaupt reale (imUebrigen
ihrer Qualität nach unbekannte) Substanz zu (irunde liegt,
betrachtet der Phänomenalismus dasselbe nicht nur als ein
solches, das nicht mehr ,Phänomen', sondern zugleich als das
Einzige, was mehr ist als ein Phänomen d. h. als dasjenige,
was nicht blos, wie dieses, accidentelle, sondern, wie die
Materie für den Materialismus, die reale Substanz für den
Realismus, substantielle Wirklichkeit (Subsistenz) besitzt.
Wie der Materialismus von dem Satze ausgeht, dass das
Einzige, was wirklich d. h. im eminenten Sinne des Wortes
ist, die Materie, der Realismus von dem Satze, dass dieses
Selbe der Qualität nach unbekannte Substanz sei, so geht der
Phänomenalismus von dem Satze aus, dass das einzige im
eminenten Sinn Wirkliche das Vorstellen sei. In Folge
dieser Ausschliesslichkeit erklärt es sich nicht nur, dass der
Materialismus dem Vorstellen selbst nur insofern Realität zu
erkennt, als es selbst ein materieller Vorgang (etwa wie die
Verdauung im Magen oder nach dem bekannten uropoetischen
Gleichniss die Harnabsonderung in den Nieren), der Realismus
nur insofern, als dasselbe ein Vorgang im Innern einer realen
(gleichviel wie im Uebrigen beschaffenen) Substanz ist, sondern
auch, dass der Phänomenalismus sowohl der ,Materie' des
einen, wie der realen Substanz des andern nur insofern Rea
lität zuschreibt, als jene wie diese ,Vorstellung' d. i. eine be
sondere Art und Weise des (allein realen) Vorstellens sind.
Wie für den Materialismus das Vorstellen ein ,Phänomen'
der Materie, so ist für den Phänomenalismus die Materie
ein ,Phänomen' des Vorstellens. Wie unter den Phänomenen
der Materie neben den physikalischen chemischen und physio
logischen auch das psychologische', so hat unter den Phä
nomenen des Vorstellens neben Farbe Klang Glanz Härte
Grösse Gestalt Bewegung Ausdehnung u. s. w. auch die
Materie ihren Platz. Den Phänomenalismus als ,Nihilismus'
zu bezeichnen hat daher zwar der Materialismus von seinem,
lieber Hurae's Stellung zu Berkeley und Kant.
99
wie der Realismus von dem ihm eigenen Gesichtspunkt aus
das Recht, weil nach ersterem das Vorstellen, insofern es kein
Phänomen der Materie ist, überhaupt nicht ist, insofern es
aber jenes ist, das eigentliche Seiende die Materie ist, und
weil nach letzterem das Vorstellen, insofern es nicht Vorgang
im Innern einer realen Substanz ist, überhaupt nicht ist, in
sofern es aber ein solcher ist, das wahrhaft Seiende die reale
Substanz ist. Soll aber damit gemeint sein, dass der Phäno
menalismus ein Etwas, das seinerseits nicht Phänomen, aber
Voraussetzung aller Phänomene und daher mit diesen ver
glichen, ,real' (nicht ,phänomenal') sei, überhaupt nicht be
sitze, so ist es ein Irrthum, denn als ein solches gilt demselben
das Vorstellen. Wie für den Materialismus die körperliche,
für den Realismus die (ihrer Qualität nach unbekannte) reale
Substanz, so stellt für den Phänomenalismus das Vorstellen
den ,Nagel' dar, an dem das Phänomen der Körperwelt ,auf
gehängt' werden soll; allerdings läuft derselbe Gefahr (nach
Herbart’s treffendem Ausdruck) ,in die Luft geschlagen zu sein'.
Inwiefern vom Gesichtspunkte des Phänomenalismus aus
die Materie unter den Phänomenen des Vorstellens, also nicht
dieses bedingend, sondern umgekehrt durch dasselbe bedingt
auftritt, hat derselbe ein Recht das Vorstellen als immateriell
und daher sich selbst, für welchen das Vorstellen alles ist, was
ist, als ,Immaterialismus' zu bezeichnen. Inwiefern nach dem
Sprachgebrauch Loeke’s Idee mit Vorstellung (notio) gleichbe
deutend ist, hat der Phänomenalismus, für welchen das Vorstellen
alles in allem ist, das Recht, sich ,Idealismus' zu nennen.
Eine Bestimmung des ,Immateriellen' d. i. des Vorstellens
ist dadurch nur insofern gegeben, als alle diejenigen Beschaffen
heiten, welche als Phänomene zusammengenommen das Phä
nomen der Materie ergeben, von demselben ausgeschlossen
werden. Insofern zu denselben nach den Einen Ausdehnung,
nach den Anderen überdies Schwere gehört, werden dem Vor
stellen sowohl die eine als die andere abgesprochen. Insofern
jedoch sowohl ,Ausdehnung' als ,Schwere' Phänomene sind,
werden beide als Besonderungen des Vorstellens im Allgemeinen
betrachtet, welches letztere in der einen das Phänomen des
Ausgedehntseins, in der anderen das Phänomen des Schwerseins
hervorruft. Ebensowenig wie von einer Ausdehnung, kann
100
Zimraermann.
beim Vorstellen als solchem von einem Orte oder von einer
Lage im Raume, sowie von einem Punkte in der Zeit gesprochen
werden, da ebenso wie die Ausdehnung, der Raum mit seinen
Orten Entfernungen und Lageverhältnissen (so wie die Zeit mit
den ihrigen) ein Phänomen des Vorstellens, also nicht vor und
unabhängig von diesem, sondern erst mit und in diesem
gegeben ist.
Ebensowenig als die Materie etwas von den Körpern,
deren Wesen sie ausmacht, oder die reale Substanz etwas von
den realen Substanzen, die unter ihren Begriff fallen, ist das
Vorstellen etwas von den Vorstellungen, in die es zerfällt, in
dem Sinne Verschiedenes, dass die Materie als solche eine von
der Existenz der materiellen Körper, die reale Substanz eine
von der Existenz der unter ihren Begriff fallenden individuellen
Substanzen, das Vorstellen als solches ausser den Vorstellungen
eine abgesonderte Existenz besässe. Wie die Materie als Vielheit
von Körpern, die Substanz als Vielheit von Substanzen, so
existirt das Vorstellen als Vielheit von Vorstellungen (Phäno
menen), so dass diese das Vorstellen zwar zu ihrer gemeinsamen
Basis und Voraussetzung haben, ein Vorstellen aber, das nicht
zugleich Vorstellung d. i. specifisch geartetes durch einen ge
wissen Inhalt cliarakterisirtes Vorstellen wäre, nicht existirt.
Ungeachtet daher der Phänomenalismus ohne eine den Phäno
menen zu Grunde liegende Basis , welche selbst nicht Phänomen
ist, ebenso wenig bestehen kann, wie nach der Ansicht des
Materialismus die einzelnen Körper bestehen können ohne Vor
aussetzung einer Grundlage, welche selbst nicht ein einzelner
Körper, oder nach der Ansicht des Realismus die realen Sub
stanzen ohne reale Grundlage, welche selbst nicht eine Einzel
substanz ist, so geht doch jene sämmtlichen Phänomenen
gemeinsame nicht phänomenale Grundlage, das Vorstellen in
der Totalität der Einzelphänomene ebenso auf, wie die Materie
des Materialismus in der Totalität der Einzelkörper und die
Substanz des Realismus in der Gesammtsumme der realen
Einzelsubstanzen. Daraus folgt, dass die Phänomene des
Phänomenalismus im Verhältniss zu ihrer gemeinsamen Basis,
dem Vorstellen, dieselbe Rolle spielen wie die Einzelkörper
des Materialismus im Verhältniss zu ihrer gemeinsamen Basis,
der Materie, und die realen Einzelsubstanzen des Realismus im
Ueber Hurae's Stellung zu Berkeley und Kant.
101
Verhältnis zu ihrer gemeinsamen Basis, der substantiellen Rea
lität. Wie für den Materialismus jeder Einzelkörper eine
Individualisation der allgemeinen Materie, wie im Realismus
die Einzelsubstanz eine solche der allgemeinen substantiellen
Realität, so stellt sich für den Phänom.enalismus jedes einzelne
Phänomen als Individualisation des Vorstellens im Allgemeinen
d. i. als individualisirtes Vorstellen, als Vorstellungsindividuum
dar, welches dem Körperindividuum (Individualisation der Ma
terie) des Materialismus und dem Substanzindividuum (Indivi
dualisation der Substanz) des Realismus entspricht.
Zur Erläuterung diene das Beispiel des Raumes. Derselbe
kann, vom materialistischen Gesichtspunkte aus gesehen, nicht
anders denn materiell, vom realistischen aus nicht anders denn
real, vom phänomenalistischen aus nichts anderes als ein Phänomen
sein. Ersteres insofern, als das Ausgedehntsein eine Eigen
schaft ist, welche zum Wesen der Materie gehört, wenn sie
auch nicht (wie im Cartesianismus und Spinozismus) dieses
erschöpft. Das zweite, weil die räumlichen Eigenschaften der
Körper, deren Gestalt Lage Begrenzung zu den ursprüng
lichen Eigenschaften derselben gehören, die so real sind wie
diese selbst, und deren Realität jene des Raumes bedingt, von
dem diese Gestalten Entfernungen begrenzten Flächen und
Körper Theile ausmachen. Das dritte, weil unter den ihrem
Inhalt nach mannigfaltigen Aeusserungen des Vorstellens d. i.
den verschiedenen Vorstellungen sich auch solche befinden, die
sich unter einander ausschliessen d. h. deren Objecte so be
schaffen sind, dass sie nicht mit einander d. i. weder in einander,
noch zugleich als wirklich gedacht werden können, also als
ausser einander, und zwar entweder als neben einander (in der
Form der Räumlichkeit) befindlich, oder als nach einander (in
der Form der Zeitlichkeit) sich einfindend vorgestellt werden
müssen. Letztere beide sind daher nichts als Vorstellungsweisen
(Phänomene), welche durch die Beschaffenheit gewisser anderer
Vorstellungen (Phänomene) nothwendig gemacht und daher
ebenso wenig ,real‘ oder gar ,materielP, wie diese selbst, sind.
Wie im Materialismus der Raum gleichsam die ,verdünnte 1 ,
mit Ausschluss aller übrigen Eigenschaften auf jene des ,Aus
gedehntseins 1 reducirte Materie, im Realismus die Räumlichkeit
die nach Ausschluss aller übrigen ursprünglichen Eigenschaften
102
Zimmormann.
zurückgebliebene Gestalt Lage und Begrenzung der Körper,
so ist derselbe für den Pkänomenalismus die nach Abzug des
besonderen Inhalts des als im Nebeneinander befindlich Vor
gestellten allein zurückbleibende Form des Im-Ncbeneinander-
Vorstellens selbst. Im Materialismus stellt daher der Raum
als dasjenige, was übrig bleibt, wenn von allen Eigenschaften
derselben mit Ausnahme der Ausdehnung abstrahirt wird,
gleichsam eine Materie zweiter Ordnung, das von seinem In
halt entleerte Gefäss des gröberen Stoffes, im Realismus stellt
die Räumlichkeit die nach Abzug aller übrigen ursprünglichen
Eigenschaften erhaltene ,hohle' Gestalt und Begrenzungsober
fläche des Körpers, im Phänomenalismus die Raumform den
selbst phänomenalen Rahmen dar, innerhalb dessen die Bunt
heit der Phänomene im Vorstellen angeordnet ist.
Es wäre nun eines der gröbsten Missverständnisse zu
meinen, dass der auf diese Weise in ein blosses Phänomen
verwandelte Raum von dem des Materialismus und Realismus
gänzlich verschieden sei. Nur das metaphysische Wesen desselben
verwandelt sich, wie dieses ja schon im Realismus ein anderes
als im Materialismus ist; die geometrischen Eigenschaften des
selben bleiben unter allen drei angeführten Auffassungen die
nämlichen. Der Raum als Phänomen besitzt ebenso gut wie
der materielle oder der reale Raum Dreidimensionalität d. h.
die Phänomene, welche in der Form des Nebeneinander
befindlich vorgestellt werden, werden in dieser im Nebeneinander
nach drei (und nicht mehr) auf einander senkrechten Richtungen
befindlich vorgestellt. Daher bleiben auch die räumlichen
Bestimmungen der Körper, deren Lage gegen und Entfernungen
von einander dieselben, gleichviel, ob diese wie im materiellen
Raume als materiell oder wie im realen als real oder wie im
phänomenalen als phänomenal angesehen werden. Die als
blos phänomenal betrachtete Körperwclt ist daher ungeachtet
der Phänomenalität ihres Raumes als räumlich bestimmte der
für materiell oder real ausgegebenen Körperwelt, der behaup
teten Materialität oder Realität des Raumes, in welchem diese
sich ausbreiten sollen, ungeachtet, in allen geometrischen Eigen
schaften und Gesetzen völlig analog. Das Maass der Ent
fernung bleibt dasselbe, ob zwei als Phänomene vorgestellte
Körper als von einander in dieser Distanz befindlich gedacht
Ueber Hume’s Stellung zu Berkeley und Kant.
103
oder vielmehr diese Distanz als zwischen ihnen befindlich vor
gestellt wird, oder ob dieselbe, wie der Materialismus will,
zwischen materiellen Körpern als selbst materielle Linie oder,
wie der Realismus will, zwischen realen Körpern als zwar
leerer aber realer Zwischenraum vorhanden sein soll.
Die Wichtigkeit dieser Bemerkung geht aus deren An
wendung auf den Begriff der Erfahrung hervor. Dieselbe als
eine mit der wirklichen Welt harmonirende Vorstellungswelt
(imago veritatis) hat durch die Aufhebung der ersteren von
Seite des Phänomenalismus insofern eine Veränderung erlitten,
als nunmehr die angeblich ,wirkliche Welt', mit welcher die
selbe als ,Vorstellungswelt‘ harmoniren soll, nicht mehr vor
handen und die letztere (die phänomenale Welt') allein übrig
geblieben ist. Dagegen hat diese nunmehr allein vorhandene
Vorstellungswelt, welcher keine, in anderer Hinsicht die näm
lichen Eigenschaften an sich, welche im Sinne des Sensualis
mus und Empirismus bisher diejenige Vorstellungswelt, welcher
eine wirkliche Welt entspricht, die Erfahrung, an sich hatte,
nämlich einerseits die Sinnlichkeit, andererseits die räumliche
und zeitliche Anordnung ihres Inhalts, welcher in der einen
wie in der anderen Vorstellungen, wenngleich in der Erfahrung
solche sind, welche entweder selbst durch reale Objecto erzeugt
oder doch aus solchen abgeleitet, im Phänomenalismus dagegen
solche, welche weder das eine noch das andere sind. Während
die sogenannten .einfachen Ideen' des Sensualismus und Empiris
mus wirkliche ,Empfindungen' d. h. durch wii-kliche Objecte
unmittelbar erzeugt, können dieselben im Sinne des Phänomena
lismus zwar ,unmittelbar', aber niemals (durch reale Objecte)
.erzeugt', also zwar Empfindungen (insofern sie das erstere
sind) ähnlich, aber (insofern sie das letztere nicht sind) nie
mals wii-kliche Empfindungen sein. Dieselben sind ihrem
Inhalt, nicht aber ihrem Ursprung nach simxlich, geben daher
der Vorstellungswelt, deren Elemente sie ausmachen, zwar den
Charakter einer sinnlichen, nicht aber den einer durch ,Wahr
nehmung' entstandenen Welt, dergleichen die Erfahrung sein
soll und will. Ebenso treten die Phänomene in der Welt des
Phänomenalismus neben und nach einander auf, ohne dass
dieses Neben- und Nacheinander wie in der Erfahrung im
Sinne des Sensualismus und Empirismus durch ein eben solches
104
Zimmer mann.
Neben- und Nacheinander der Objecte selbst ,erzeugt* d. h.
ebenso wie das im Neben- und Nacheinander Befindliche (sinn
lich) ,wahrgenommen' würde. Während daher der Umstand,
dass in der durch reale Objecte erzeugten Vorstellungswelt
nicht blos die einzelnen Vorstellungen durch ihnen entsprechende
Objecte, sondern auch deren räumliches Neben- und zeitliches
Nacheinander durch ein entsprechendes Neben- und Nachein
ander ihrer Objecte erzeugt sein sollen, dieselbe zur ,Erfah
rung' macht, kann die phänomenale Welt des Phänomenalis
mus gerade darum, weil weder ihre einzelnen Elemente, noch
deren Neben- und Nacheinander durch reale Objecte und
deren Neben- und Nacheinander hervorgebracht sein kann,
auch niemals ,Erfahrung*, obgleich sowohl um ihrer Sinnlich
keit wie um ihrer Räumlichkeit und Zeitlichkeit willen ein
Analogon der Erfahrung heissen.
Wie darin, dass das so entstandene Analogon der Er
fahrung keine Erfahrung, der Gegensatz, so verräth sich darin,
dass dasselbe Analogon der Erfahrung ist, die verwandtschaft
liche Beziehung des Phänomenalismus zum Empirismus. Da
derselbe in Folge der gewonnenen Ueberzeugung von der Phä-
nomenalität der Körperwelt weder Sensualismus noch Empiris
mus bleiben kann, aber doch seiner Herkunft aus beiden halber
deren Ergebnissen dem Inhalt nach möglichst nahe bleiben
möchte, so sucht er den Inhalt seiner Vorstellungswelt jenem
der eigentlichen (und einzig diesen Namen verdienenden) Er
fahrung dem Material und der Formgebung nach so ähnlich
als möglich zu gestalten d. h. derselben nicht blos den Stoff,
sondern auch die Formen der wirklichen Erfahrung, so weit
dies thunlich ist, zu geben. Dabei ist vorauszusehen, dass,
je ähnlicher auf diesem Wege das Analogon der Erfahrung
dem Stoff und der Form nach der wirklichen Erfahrung ge
worden sein wird, um so leichter die Möglichkeit eintritt, das
selbe um dieser Aehnlichkeit willen mit der letzteren selbst
zu verwechseln d. h. an die Stelle wirklicher Erfahrung ein
blosses Trugbild derselben als vermeintliche Erfahrung unter
zuschieben.
Berkeley selbst hat die phänomenale Welt dadurch zu
höherem Range emporzuheben und für die Einbusse, welche
dieselbe durch die Entziehung des Charakters wirklicher
Ueber Hume’s Stellung zu Berkeley und Kant.
105
Erfahrung leidet, zu entschädigen gesucht, dass er dieselbe im
selben Sinne, wie der Theismus die wirkliche Welt, für eine
Schöpfung Gottes und zwar, da die sogenannte Materie unter
seinen Händen sich gleichfalls in ein blosses Phänomen ver
wandelt hat, für eine solche ,aus Nichts* erklärt. Wie die
weltschaffende Gottheit der theologischen Creationslehre sowohl
das Material wie die Formen der wirklichen Welt, so bringt
Gottes Schöpferthätigkeit nach Berkeley’s Darstellung des Phä
nomenalismus sowohl diejenigen Phänomene (Vorstellungen),
welche (wie Farbe Klang Geruch Geschmack Härte Weich
heit u. s. w.) das Material, wie diejenigen Phänomene (Vor
stellungen), welche, wie Räumlichkeit (Neben-) und Zeitlichkeit
(Nacheinander) die Form der phänomenalen Welt abgeben, im
Vorstellen hervor. Die so entstandene Vorstellungswelt hat als
Werk Gottes vor der Erfahrung als der durch die realen Objecte
erzeugten Vorstellungswelt das voraus, dass sie nicht blos wie
diese (besten Falls) ,imago veritatis*, sondern als Werk des wahr
haftigen Gottes die ,vcritas £ selbst ist. Dieselbe ist, obgleich
blos phänomenal, seit dem Verschwinden der sogenannten realen
Welt nicht nur die einzige, sondern vermöge ihrer Verursachung
durch Gott nothwendiger Weise eine wahrhaftige Welt. Erstere
Eigenschaft macht sie derjenigen, welche der Materialismus, wie
derjenigen, welche der Realismus für die einzige erklärt (der so
genannten ,materiellen* und der ,realen*), letztere derjenigen Vor
stellungswelt, in welcher nach der Ansicht des Sensualismus und
Empirismus allein Wahrheit enthalten ist, der Erfahrung ebenbürtig.
Sucht diese Form des Phänomenalismus ihre Vorstellungs
welt der in den Augen des Sensualismus und Empirismus allein
berechtigten Empirie dadurch gleichzustellen, dass sie der
selben einen überempirischen Ursprung (aus Gott) zuschreibt
so kann dieser Grund für diejenigen, welche wie Hume der
Meinung sind, dass einerseits (mit Locke) Erfahrung die einzige
Quelle des Wissens, andererseits (mit Bacon) die Gottheit kein
Gegenstand der Erfahrung sei, keine Beweiskraft besitzen.
Wenn Gott überhaupt kein Gegenstand der Erkenntniss, so
kann auch der Ursprung der (Berkeley zufolge phänomenalen)
Welt aus Gott kein solcher sein und der Grund, um dess-
willen derselben ,Wahrhaftigkeit* und dadurch Aehnlichkeit
mit der Erfahrung zukommen soll, wird hinfällig. Die Welt
106
Zimmermann.
des Phänomenalismus und die Erfahrung haben zwar das mit
einander gemein, dass sie beide Vorstellungsweiten sind, unter
scheiden sich aber dadurch, dass die erste ,Illusion 1 , die zweite
,Spiegelbild' d. h. dass ausser (praeter) der ersten keine,
ausser (extra) der zweiten dagegen eine andere Welt, die der
sogenannten realen Objecte, vorhanden ist. Wer daher Ber
keley in Betreff des phänomenalen Charakters der Welt zu
stimmt, den von ihm behaupteten Ursprung derselben aus
Gott aber für unerweislich hält, kann nicht umhin, dieselbe
nicht nur als ,nicht wirklich' d. i. als ,Phänomen', sondern
auch als ,nicht wahr' d. i. als ,Illusion' zu betrachten d. h.
dieselbe sowohl im metaphysischen als im erkenntnisstheorischen
Sinne als ,nichtig' anzusehen.
Hume zieht diese Consequenz und darauf beruht der
Charakter einerseits des Nihilismus andererseits des Skepti-
cismus, welchen der Phänomenalismus (Berkeley’s) unter seinen
Händen annimmt. Jener aussert sich darin, dass er in Folge
des Phänomenalismus nicht nur dem materiellen Universum
(material Universe) als Object, sondern auch dem ,Ich' (Ego)
als dem Subject des Vorstellens die Existenz abspricht, dieser
darin, dass er in Folge des Phänomenalismus die vermeintliche
Verknüpfung der Phänomene als Ursachen und Wirkungen auf
eine vermöge ihrer zeitlichen Aufeinanderfolge entstandene und
durch häufige Wiederholung zur Gewohnheit gewordene Asso
ciation derselben zurückführt.
,Wenn,' so lautet Idume’s Argumentation, ,das materielle
Universum als solches nicht existirt, so existirt erstens auch
kein solches Ding, was man Ursache von etwas nennt (no
such thing as the Cause of anything); so existirt zweitens
auch kein mit der Anordnung des Universums verknüpfter
Gedanke (no Thought connected with the Arrangement of the
Universe); so existirt drittens auch kein Ich (no Ego at all)'.
Die erste und zweite dieser Folgerungen sind, da sie nur auf
das materielle Universum, welches der Voraussetzung zufolge
nicht existirt, Bezug haben, selbstverständlich; die dritte dagegen
ist eine wirkliche und wie nicht zu leugnen scharfsinnige
Erweiterung des von Berkeley aufgestellten Princips. Die
erste der beiden Folgerungen ist insofern interessant, als sie
ein Licht wirft auf Hume’s Verhältniss zum Causalitätsbegriff,
Ueber Hurao's Stellung zu Berkeley und Kant.
107
dessen Theorie den Hauptanspruch auf seine Stellung in der
Geschichte der Philosophie ausmacht; die zweite charakterisirt
seine Stellung zu den Theologen und Vcrtheidigern einer in
der Nato nach Zweckmässigkeitsgründen verfahrenden Intelli
genz und in der Geschichte waltenden Vorsehung; die dritte
bildet die Vorläuferin zu Kant’s berühmtem ,Paralogismus 1 ,
welcher der rationalen Psychologie ihr reales Object, die Seele
entziehen sollte. Da in Hume’s Augen mit der Existenz des
materiellen Universums auch die Existenz eines Dinges, welches
,Ursache von etwas 1 sein kann, hinwegfallen soll, so ist klar,
dass sich Hume das ursächliche Verhältniss so eng mit der
Materialität verbunden denkt, dass wo die letztere fehlt auch
von jener nicht die Rede sein und folglich die von ihm später
behauptete angebliche Causalität zwischen blossen ,Phänomenen 1
mit der wirklichen Causalität nichts als den Namen gemein
haben kann. Die zweite Folgerung stützt sich darauf, dass die
teleologische Weltauffassung auf dem ursprünglichen Gegen
satz des materiellen Universums und einer ausserweltlichen
Intelligenz beruht, von welchem nach dem Hinwegfallen des
ersteren nicht mehr gesprochen werden kann. Die dritte
Folgerung ergibt sich, meint Hume, unmittelbar aus Berkeley’s
eigenem Princip. Denn wie nach Berkeley das materielle Uni
versum keine Existenz hat, weil dasselbe einzig aus solchem
besteht, was unmittelbar wahrgenommen werden kann (since
it consists only of what can be perceived immediately), so
hat gleicher Weise das Ich oder das Selbst (Seif) keine wie
immer beschaffene Existenz, weil dieses Ich selbstbewusst ist
d. i. sich selbst unmittelbar wahrnimmt und folglich darum
ausschliesslich aus solchem besteht, was unmittelbar wahrge
nommen werden kann (consists only of what can be perceived
immediately). Der Nerv dieses Beweises liegt darin, dass was
wahrgenommen wird Wahrnehmung, also nicht das Wahrge
nommene selbst sei, und da es kein anderes Mittel gibt zum
Wahrgenommenen zu gelangen, als durch die Wahrnehmung,
zu jenem überhaupt gar nicht gelangt werden könne und daher
das einzige, was wirklich besessen wird, die Wahrnehmung sei.
Insofern nun das Wahrgenommene wahrgenommen wird, ist es
nicht Wahrgenommenes, sondern Wahrnehmung; insofern es nicht
wahrgenommen wird, ist Wahrgenommenes überhaupt nicht.
108
Zimmer mann.
Wie daher kein materielles Universum neben und ausser dem
phänomenalen, so existirt kein reales Ich ausser und neben
dem phänomenalen und wie die phänomenale Welt ein Schein
ist, der uns zu dem falschen Glauben verleitet, dass neben
und ausser demselben eine wirkliche Welt existire, so ist das
phänomenale Ich ,eine Art optischer Illusion unsererseits, welche
uns dazu bringt anzunehmen, dass wir selbst existiren 1 (a sort
of optical illusion upon our part which leads us to suppose
that even we are ourselves existing).
Die richtige Consequenz des Phänomenalismus wäre daher,
meint Hanne, gewesen, nicht nur wie Berkeley thut der mate
riellen Körperwelt, sondern auch, wie er nicht thut aber
eigentlich thun müsste, dem eigenen Ich die reale Grundlage
abzusprechen. Huine dehnt die Phänomenalität, welche Berkeley
auf das Object des Vorstellens (das Vorgestellte) beschränkt,
auch auf das Subject des Vorstellens (das Vorstellende) aus,
welches letztere ihm zufolge ebenso illusorisch d. i. blosse
Vorstellung ist wie das efstere. Während Berkeley der mate
riellen Körperwelt als Object das vorstellende Ich als Subject,
stellt Hume im Ich selbst dieses als Vorstellendes sich selbst
als Vorgestelltem gegenüber und behandelt das Verhältnis
letzterer beiden auf dieselbe Weise, wie Berkeley das Verhalten
des Ichs zur Aussenwelt darstellt. Wie sich die letztere für
das Ich in Vorstellung, so löst sich für das Ich als Vorstellendes
das Ich als Vorgestelltes gleichfalls in solche auf; wie für das
Ich die Aussenwelt, so verwandelt sich für das Ich als Vor
stehendes das Ich als Vorgestelltes in eine ,optische Täuschung/
Der Schluss von dem Schein einer Körperwelt auf das
Sein einer solchen ist nach Berkeley, der Schluss von dem
Schein unseres Ich auf das Sein dieses Ich wäre nach Hume
ein Fehlschluss. Wie nach Berkeley das Vorgestellte, die
Körperwelt, so ist nach Hume der Vorstehende, das individuelle
Ich, ein blosses ,Phänomen'; die Materie und der ,Geist 1 , inso
fern er individualisirt (Einzelgeist, Seelenindividuum) ist, sind
beide nicht existent; die Anihilation, welche nach Berkeley die
materiale sowie jede reale Grundlage der phänomenalen Körper
welt traf, erstreckt sich nach Hume nunmehr auch auf jedes
real-individualistische Substrat der phänomenalen Geistesindivi
dualität. Wenn nach Berkeley nur Geister, nicht aber Materie,
Ueber Hnrae's Stellung zu Berkeley und Kant.
109
so existiren nach Hume weder Materie noch Geister; der anti-
materialistische Phänomenalismus hat einen weiteren Schritt in
der Richtung gegen den Nihilismus zu gethan, indem er als
antiindividualistischer nicht blos wie jener die Materialität der
Körper-, sondern überdies die Individualität der Geisterwelt zu
blossem Scheine herabsetzt.
Dass Hume bei dieser Folgerung aus Berkeley’s Theorie
wirklich die Aufhebung der Existenz des Individualgeistes
(nicht des Geistes überhaupt) im Auge hat, geht daraus hervor,
dass er unmittelbar an die Argumentation, dass die Existenz
des Ich eine Selbsttäuschung sei, die Bemerkung hinzufügt,
,da nun kein Ich sei, so sei auch weder Raum noch Vorwand
für die Unsterblichkeitsfrage 1 (as there is no Ego, there is no
room here nor pretext for the question of Immortality). Diese
so ausdrücklich auf das Ich bezogen kann nur die ewige
Fortdauer des Individuums als solchen, ihre Leugnung daher
nur die Fortdauer des Geistes als Individuum betreffen, wo
durch die Fortdauer des individualitätslosen Geistes ebenso
wenig als durch die Aufhebung der Existenz individueller
Geister die Existenz des (individualitätslosen) Geistes ausge
schlossen ist.
Letztere wird vielmehr durch den Nachweis, dass das
individuelle Ich ein blosses Phänomen sei, nothwendig voraus
gesetzt. Indem der Phänomenalismus dasjenige, was dem Mate
rialismus und Realismus für Wirklichkeit gilt, in ein blosses
Phänomen verwandelt, kommt er dazu, diesem letzteren einen
Träger unterzulegen, der selbst nicht wieder .Phänomen 1 ist.
Dieses selbst nicht Phänomenale, dessen Phänomen die gesammte
Körperwelt ist, ist nach Berkeley der Vorstellende, nach Hume
dagegen, für den auch der Vorstellende (das Ich) ein blosses
,Phänomen 1 ist, das (individualitätslose) Vorstellen selbst. Wie
nach Berkeley die einzelnen Körper Phänomene des Vor
stehenden, so ist nach Hume dieser Vorstehende selbst nur ein
(weiteres) Phänomen des Vorstehens, sowie das Geträumte dem
Traum, dieser selbst aber schliesslich dem Träumer zugehört.
Während daher die phänomenale Körperwelt mit der realen
verglichen, so erscheint die phänomenale Geisterwelt mit dem
Geist selbst verglichen als ,nichtig*. Wie für den consequenten
Realisten nur das Gesetztsein ohne Gesetztwerden, so hat für
110
Zi mm ermann.
den consequenten Idealisten nur das Setzen ohne Gesetztsein
wirkliche (nicht phänomenale) Existenz.
Liegt in dieser Aufhebung der Existenz des individuellen
Ich eine Erweiterung des nihilistischen, so liegt darin zugleich
eine Verstärkung des skeptischen Elements des Phänomenalismus.
Wie aus der Phänomenalität der Körperwelt die Unmöglichkeit
einer Erfahrung von denselben, so folgt aus der Phänomenalität
des Ich die Unmöglichkeit einer Erfahrung nicht blos von dem
eigenen sondern auch von fremden Ichen. Jene setzt als
,imago veritatis' die Existenz der realen Körperwelt, diese, sie
sei nun ,unmittelbar 1 (wie es nach Berkeley die Erkenntniss
des eigenen) oder mittelbar (wie es nach demselben die Er
kenntniss eines fremden Selbst sein soll), setzt die Existenz,
sei es des eigenen sei es des fremden Ich, als eine reale
voraus. Wer daher wie der Empirismus die Erfahrung für die
einzige Quelle des Wissens hält, verliert nicht nur mit der
Aufhebung der realen Existenz der Körperwelt den Boden für
alles auf eine solche, sondern mit der Aufhebung der realen
Existenz des individuellen Ichs zugleich die Basis eines auf
individuelle Geister (den eigenen und fremde) bezüglichen
Wissens unter den Füssen. Für einen solchen gibt es unter
diesen Umständen kein Wissen, weil es keine Erfahrung, und
es gibt diese nicht, weil es nach Vernichtung der realen Körper
maß individuellen Geisterwelt nichts mehr zu erfahren gibt.
Das Einzige, was nach Verwandlung sowohl der Körper- wie
der individuellen Geisterwelt in eine lediglich phänomenale übrig
bleibt, sind Vorstellungen d. i. Acte des Vorstellens, die sich
von den Vorstellungen, aus welchen die Erfahrung besteht,
dadurch unterscheiden, dass sie sich nicht auf etwas ausser
und neben ihnen Existirendes als dessen ,Erscheinungen' be
ziehen, sondern umgekehrt den Schein, als sei ein ihnen Ent
sprechendes ausser und nebst ihnen real vorhanden, ihrerseits
erzeugen d. h. nicht wie jene ,Abspiegelungen' sondern blosse
,Vorspiegelungen' sind. Wie nach Berkeley die Materie und die
aus solcher bestehende Körperwelt, so ist nach Hume das Ich und
die aus solchen bestehende Geisterwelt eine ,optische Täuschung'
(optical illusion), mit welcher das Vörstellen sich selbst täuscht.
Nicht nur die reale Körperwelt d. i. dasjenige, dessen
Inbegriff die Natur, sondern auch die individuelle Geisterwelt
y Ueber Hume’s Stellung zu Berkeley und Kant.
in
d. i. dasjenige, dessen Inbegriff den Inhalt der Geschichte
ausmacht, verwandelt sich, aus diesem Gesichtspunkt gesehen,
in eine ihrem Material nach ebenso bunte als immerfort
wechselnde Phantasmagorie, deren Formen, das räumliche
Neben- das zeitliche Nach- und das causale Auseinander, nicht
weniger illusorisch sind als dieser Inhalt selbst. Dieselbe
gleicht einem Gewebe, dessen Stoff das Vorstellen, dessen
Muster die bunte Mannigfaltigkeit der Körper- und indivi
duellen Geisterwelt ausmacht. Urheber dieses Musters, soweit
es Darstellung einer Welt materieller Körper ist, soll nach Ber
keley Gott, nach Hume kann es sowohl was den Schein einer
materiellen Körper- wie was den einer individuellen Geister
welt betrifft, nur das Vorstellen selbst sein. Dasselbe ist als
einzige nicht phänomenale Grundlage des Gesammtphänomens
einer zeitlich- räumlich-causalen Natur- und Geisterwelt Stoff
Musterzeichner und Weber zugleich.
Durch diese seine positive Seite ist der englische Phä
nomenalismus mit dem deutschen Idealismus Kant’s und seiner
idealistischen Nachfolger von Fichte bis Hegel verwandt; von
Hume ist derselbe nach seiner negativen antimetaphysischen
und insbesondere antitheologischen Seite hin ausgebeutet wor
den. Jene Verwandtschaft besteht darin, dass an die Stelle
der sogenannten wirklichen materialen oder realen Welt so
wohl im Phänomenalismus wie in diesem Idealismus eine phä
nomenale tritt, entweder, wie im Halbidealismus, als,Erscheinungs
welt', neben welcher die wirkliche als ihrem Dass nach anerkannte,
ihrem Was nach jedoch unbekannte noumenale (intelligible)
Welt (,Ding an sich') fortexistirt, oder, wie im Ganzidealismus,
als ,Scheinwelt', aber zugleich einzige Welt, in welcher statt
der Natur des Vorgestellten (des Objects) jene des Vorstellens
(des Subjects der Vorstellung) als des einzigen Seins zum Vor
schein kommt. Diese Ausbeutung besteht darin, dass Hume
aus der Phänomenalität sowohl der Körperwelt wie des indivi
duellen Ich die Folgerung zieht, dass es weder Seiendes über
haupt noch Ursachen von irgend etwas gebe, demnach eine
letzte sowohl wie eine intelligente Ursache der Welt ebensowenig
als eine individuelle Seele existire, von der Unsterblichkeit der
letzteren sonach nicht geredet werden könne. Der erste
Theil dieser Folgerung macht der Ontologie d. i. der philo-
112
Zimmer mann.
sophischen Wissenschaft vom Seienden, der zweite Theil der
natürlichen Theologie und eben solchen Psychologie d. i. den
philosophischen Wissenschaften von Gott und von der Seele,
als Wissenschaft ein Ende.
Dass es dem •,Skeptiker' Hume mit diesen Folgerungen
aus der Natur des Phänomenalismus sowie mit dieser selbst
völliger Ernst gewesen sei, ist bisher von dessen Freunden
und Gegnern, einheimischen und fremden, übereinstimmend
angenommen und es sind die versuchten Widerlegungen, die
seine Lehre von den verschiedensten Seiten her, vornehmlich
aber durch Reid in England und Kant in Deutschland erfahren
hat, auf diese Annahme gestützt worden. Nur ein einziger
Schriftsteller, der WiedererWecker des Phänomenalismus in
England und Herausgeber wie Commentator seines Haupt
werkes ,über die Principien der menschlichen Erkenntniss“,
Collyns Simon, macht davon eine Ausnahme. Er bezeichnet
(a. a. 0. S. 194) als eines der merkwürdigsten Missverständ
nisse, denen man in der Geschichte der Philosophie begegne,
merkwürdig nicht blos rücksichtlich ihrer Grösse sondern auch
ihrer Verbreitung, die, wie er selbst sagt, ,in der Gegenwart
ganz allgemeine' (now almost universal) Annahme, Hume’s
philosophische Schriften seien von ihm als ,ernsthafte meta
physische Auseinandersetzungen' (serious metaphysical expo-
sitions) gemeint gewesen. Er sagt: ,Allgemein wird gegen
wärtig vorausgesetzt, dass Hume in diesen Schriften nicht
Scherz trieb (was not in jest), dass er sich selbst als einen
Metaphysiker ansah und als ein solcher schrieb mit derselben
Ernsthaftigkeit (gravity), mit der er später seine Geschichte
Englands abfasste. Man sagt uns, er habe natürlicher Weise
erwartet, dass alle, die etwas von der Sache verstehen, es ihm
anmerken würden, dass er im Ernst rede, wenn er auf solche
erleuchtete Principien hin die Existenz des materiellen Uni
versums leugne, weder die Wissenschaft der Metaphysik, wie
manche Neuere, als eine Wissenschaft des Unsinns (science of
nonsense) lächerlich machen, noch sich auf Kosten der Meta
physiker unter seinen Zeitgenossen in einer Phantasmagorie
der bittersten Sarkasmen lustig machen wolle. Die Ueber-
zeugung vieler, besser gesagt, der meisten Neueren ist, dass,
wenn Hume von jenem obigen zu seinen weiteren berühmten
Ueber Hurao's Stellung zu Berkeley und Kant.
113
drei Grundsätzen kam, es auf diesem ernsthaften Wege des
Nachdenkens und der Logik geschah, und wir werden noch
ganz besonders aufgefordert (invited), die majestätische Gravi
tät zu bewundern, mit welcher dieser tiefe Denker zu diesen
feinen (quaint) Schlussfolgerungen fortschreitet.'
Diese Folgerungen sind im Vorhergehenden angeführt
worden. Dass Hume, wenn er einmal von der Annahme aus
ging, dass das materielle Universum nicht existire, sehr rasch
(very rapidly) zu der weiteren Folgerung gelangen konnte,
dass überhaupt nichts existire, räumt dessen Gegner selbst ein
und das Ergebniss der vorangegangenen Darstellung der Ent
wicklungsgeschichte des Phänomenalismus scheint dem zu ent
sprechen. Weder ist die ausschliessliche Phänomenalität der
Materie und der aus dieser bestehenden Körperwelt mit deren
gleichzeitiger Realität, noch ist die Aufhebung der. realen
Körperwelt mit dem Bestände eines realen Causalverbandes
oder mit der Beherrschung eines realen Universums durch eine
nach Zwecken handelnde Intelligenz verträglich. Was aber
die Leugnung der Realität des Ichs betrifft, so leitet Hume
dieselbe unter ausdrücklicher Berufung auf Berkeley auf einem
demjenigen ganz ähnlichen Wege ab, auf welchem jener selbst
die Nichtexistenz der Materie oder überhaupt jedweder dem
Phänomen einer solchen zu Grunde gelegten realen Substanz
darthut.
Warum soll nun Hume den Phänomenalismus und seine
Folgerungen daraus nicht ernst gemeint haben? Der Beweis
soll nach Simon in der Art und Weise liegen, wie er über
denselben spricht und die der Anhänger Berkeley’s als ,attacks'
auf dessen Lehre und als ,eine Phantasmagorie der bittersten
Sarkasmen' bezeichnet. .Das ganze Ding,' sagt Hume, ,ist
falsch, ja noch mehr, es ist ungereimt (absurd). Ich für
meine Person wenigstens, ich kann davon nicht anders denken
als von dem reinsten Unsinn (purest nonsense). Was mich
selbst betrifft, ich könnte die Lehre niemals annehmen; noch
halte ich es für möglich, dass irgend ein Mensch, der bei
Sinnen ist (in bis senses), im Ernst und auf die Dauer (seriously
and steadily) eine solche Lehre festhalten könnte. Der Philo
soph in seiner Studirstube mag vielleicht auf eine
halbe Stunde so von dem materiellen Universum und
Sitzungshir. d. pliil.-hist. CI. CIII. Bd. I. Hft. 8
114
Zimm ermann.
von dem menschlichen Körper denken; aber sobald er
anf die Strasse geht und mit anderen Menschen verkehrt, wird
er bald der Ungereimtheit alles dessen gewahr werden, was er
denkt und sagt über den Gegenstand/
Dass dieser erste ,Angriff' (wenn es einer war) in der
wissenschaftlichen Welt keinen Erfolg gehabt habe, gibt Simon
(nicht ohne Befriedigung) zu. ,Berkeley’s Lehre/ sagt er, .fuhr
trotzdem fort, unter den wissenschaftlichen Denkern diejenigen
Fortschritte zu machen, welche die klare Wahrheit (clear truth)
jedesmal macht unter jenen, die sich auf den Gegenstand ver
stehen/ Dass es aber ein Angriff auf die Lehre Berkeley’s,
insofern dieselbe als wissenschaftliche Meinung von Männern
der Wissenschaft und im Kreise derselben festgehalten würde,
auch gar nicht sein sollte, geht klar aus dem Zugeständniss
des vermeintlichen Angreifers hervor, ,dass der Philosoph in
seiner Studirstube', wenn auch nur in dieser und nur für die
Dauer seiner wissenschaftlichen Betrachtung diese Meinung
wirklich nicht nur hege, sondern hegen möge d. h. dass dieselbe
nur mit dem gemeinen Bewusstsein und der Praxis des täglichen
Lebens im Widerspruch, an sich wissenschaftlich aber unan
fechtbar sei. Hume befindet sich Berkeley’s Lehre von der Nicht
existenz des materiellen Universums gegenüber in einer ähnlichen
Lage, wie sich die Denkenden unter den Zeitgenossen dem
Paradoxon Zeno’s von der Nichtexistenz der Bewegung gegenüber
befunden haben mögen. Wie Diogenes dasselbe dadurch wider
legt zu haben meinte, dass er aufstand und über das Zimmer
ging, so gibt sich Hume den Anschein, als glaube er, die Lehre
von der blossen Phänomenalität der Materie lasse sich dadurch
widerlegen, dass der Philosoph selbst die Strasse beschreitet
und mit Anderen verkehrt, als ob diese wirklich existirten.
Berkeley’s Vertheidiger hat richtig gesehen, dass obige Stelle
Hume’s einen Scherz (jest) einschliesst, nur ist derjenige, über
den der ironische Schriftsteller sich lustig macht, nicht der
Philosoph, der in seiner Studirstube, wie Berkeley, durch
wissenschaftliche Gründe zur Einsicht in die Nichtigkeit des
materiellen Universums geführt wird, sondern der kurzsichtige
Laie und Weltmann, der ein wissenschaftlich begründetes Para
doxon mit den wohlfeilen Argumenten des Augenscheins und
der Praxis entkräften zu können wähnt.
Ueber Hurao's Stellung zu Berkeley und Kant.
115
In seinem zweiten vermeintlichen ,attack‘ auf Berkeley’s
Lehre folgt Hume, wie Collyns Simon meint, einem entgegen
gesetzten Angriffsplan. Trat er in dem ersten angeblich als
offener Gegner, so tritt er in diesem als (angeblich nur schein
barer) Gönner des Phänomenalismus auf. ,Berkeley/ lässt er
ihn sagen, ,ist im vollen Recht (right), seine Lehre ist klärlich
wahr (clearly true), kein Mensch, der nur das geringste Urtheil
besitzt, kann das leugnen. Aber anstatt uns Skeptiker zu
widerlegen, wie .unser junger Student (Collegian) vorhatte
(Berkeley war 24 Jahre alt, als er sein System erfand) und
wie die werthen Herren von der Kirche geglaubt haben, dass
er es gethan habe, kommt diese wunderliche (stränge) Lehre
von der Phänomenalität der Materie unserer lustigen Bruderschaft
(jocose Sect) zu Hilfe und rechtfertigt sie auf die wundervollste
Weise in ihren Theorien. Obgleich gar kein Zweifel darüber
herrschen kann, dass Berkeley nicht die Absicht hatte, Skepti-
cismus zu lehren, so lehrt er ihn doch, und zwar auf bewunde
rungswürdige Weise (admirably). Lasst uns ihm Glauben
schenken in beidem, in dem, was er tliut, und in dem, was
er wollte. Obgleich er, daran ist nicht zu zweifeln, ein ganz
anderes Ziel im Auge hatte bei der Aufstellung dieses seltsamen
kleinen Systems und sein Verdienst nicht gering ist, dasselbe
aufgel-ichtet zu haben auf einer so vollkommen unwider
leglichen Basis (upon a basis so completely irrefragable), so
ertheilt er uns dabei nichtsdestoweniger einige so vortreffliche
Lectionen in skeptischer Philosophie, als wir sie je von irgend
einem Schriftsteller erhalten haben, viel besser als meine arme
Feder je eine zu liefern im Stande war. Er zeigt uns klärlich,
dass wir an nichts, was es auch immer sei, glauben dürfen,
nicht einmal an unsere eigene Existenz, und dass wenn wir es
doch thun, wir ,Narren' sind (fools). Er erweist mit grosser
Klarheit und grosser Schönheit der Rede, dass das materielle
Universum real nicht existire; dass die Voraussetzung seiner
Existenz eine reine Einbildung (mere Illusion) und Selbstbe-
rückung (delusion) ist, denn alles, wovon wir als Materie und
materiellem Weltall sprechen, besteht einzig aus solchem, was
durch die Sinne wahrnehmbar d. i. aus solchem, was unmittelbar
(immediately) wahrnehmbar ist. Dieser Wink (hint) reicht hin
als erleuchtender Blitz (lightning glance) für den Skeptiker.
8*
116
Zimmer mann.
T
Wir können aus diesem allein mit Leichtigkeit (easily) ableiten
die Nicht-Existenz alles Uebrigen (the non-existence of all the
rest).'
Dieses ,Uebrige' ist die Causalität (physical causation),
das immaterielle Ich (immaterial Ego) und ,Gott' (god). ,Denn
da Materie und ein materielles Weltall überhaupt nicht existiren,
so ist, wie Berkeley so treffend (well) zeigt, auch keine physische
Verursachung je möglich: kein materielles Ding kann Ursache
sein von etwas (no material thing can be the cause of anything).
Weil aber physische Verursachung eine Unmöglichkeit (impos-
sibility) und eine Ungereimtheit (absurdity) ist, ist es klar,
dass es kein solches Ding wie eine Ursache von etwas geben
kann; auch gibt es, wie zu sehen, kein immaterielles Ich, denn
dieses ist ein Ding, ebenso unmittelbar wahrnehmbar wie die
Materie selbst. Endlich, da es so klar ist (evident), dass es
eine Ursache von irgend etwas nicht gibt, wie können wir
mit unserem Verstände so spielen (trifle), dennoch anzunehmen
es sei Gott?'
Diese Worte enthalten ,die Substanz von Hume’s zweitem
Angriff' und ,die Substanz von allem dem, was Hume schliess
lich (ultimately) gelehrt hat'. ,Was soll man,' fährt Col-
lyns Simon fort, ,nun von jenen Schriftstellern denken, die
uns sagen, dass Hume in alledem klärlich die Wahrheit und
Vernunftmässigkeit (reasonableness) der Lehre Berkeley’s ge
sehen und dieselbe frank und frei (francly) als ein wissen
schaftliches Factum (scientific fact) angenommen habe, an
welchem für die Person, die sie begreift, kein Zweifel möglich
sei?' Was solle man denken von Commentatoren, die uns in
langen Commentaren versichern, dass Plume hier nicht ,im
Spass' (in jest) mit eitel ,Hohn und Spott' (with sneers and
derision) rede und all diese ,Hochschätzung' (estimate) von
Berkeley’s Lehre und deren Folgerungen weder ironisch (ironial)
noch sarkastisch (sarcastic) gemeint sei, mit einem Wort, dass
Hume diese seine philosophischen' Schriften (,philosophical'
papers) mit genau der nämlichen Enthaltsamkeit von Scherz
und Trug, genau mit dem nämlichen geziemenden Anstand
(becoming gravity) und dem Ernst bei Feststellung von
Thatsachen abgefasst habe wie etwa seine Geschichte von
England?
Wenn der vortreffliche Herausgeber Berkeley’s mit den
letzten Worten nichts anderes gemeint hat, als dass der Styl
der philosophischen Schriften Hume’s ein anderer als der seiner
historischen sei, und dass sich derselbe in jenen gelegentlich
die Einmischung eines nicht blos scherzhaften, sondern satiri
schen und spöttischen Tones gestatte, die er in diesen sich
versage, so wird man ihm Recht geben müssen. Sowohl der
erste wie dieser zweite angebliche ,Angriff' ist in einem Tone
gehalten, dass man deutlich fühlt, der angebliche Angreifer
habe einem inneren Bedürfniss Genüge gethan, sich über ein
Object, das seine Lachlust herausforderte, lustig zu machen;
keineswegs aber folgt daraus ebenso gewiss, als es Simon zu
sein scheint, dass dieser fragliche Gegenstand eben die Ber-
keley’sche Lehre sei. Wie im ersten ,Angriff', wo er nach
Simon’s Versicherung sein wahres Gesicht, so hat er im zweiten,
wo er nach dieser eine Maske zeigt, für die Lehre Berkeley’s
als wissenschaftliche Meinung nicht nur Anerkennung, sondern
(nach Simon’s eigenem Ausdruck) sogar ,Hochschätzung' (esti-
mate). Dort räumt er ein, dass der Philosoph in seiner Studir-
stube ein Recht habe zu denken und zu lehren, wie Berkeley
denkt und lehrt, hier nennt er die Lehre desselben nicht nur
,wahr‘, sondern deren Basis geradezu ,unwiderleglich' (irrefra-
gable). Wenn letzterer Ausdruck Verstellung heissen soll,, so
muss entweder obiges Zugeständnis, dass der Philosoph in
seiner Studirstube Recht behalte, auch Maske heissen, oder,
wenn Hume an jener Stelle im Ernste spricht, so ist kein
Grund abzusehen, warum seine Versicherung, die Lehre sei
wahr, kein Mensch von nur ein bischen Urtheil könne sie
leugnen (least discernment), hier ironisch gemeint sein sollte.
Dass nun Hume, der in dem ersten ,Angriff' Berkeley’s
Lehre von dem Augenblicke an für augenscheinlich falsch, ja
absurd erklärt, sobald der Philosoph auf die Strasse hinaustritt
und mit Anderen verkehrt, an demselben Ort und in demselben
Sinne deren Falschheit und Ungereimtheit behauptet habe, so
lange der Philosoph in seiner Studirstube bleibt und sich aus
schliesslich der Erwägung und Betrachtung wissenschaftlicher
Schlussfolgerungen hingibt, hat Simon selbst nicht statuirt;
andererseits hat Hume dort, wo er Berkeley’s Lehre für wahr
und deren Fundament für unwiderleglich erklärt, nicht gesagt,
118
Z irainerman n.
dass sie dies anders denn als wissenschaftliche Meinung und
aus wissenschaftlichen Gründen (für die ,Studirstube‘), und
dass sie weder mit dem Augenschein, noch mit der Praxis des
täglichen Lebens im Widerstreit sei. Hat nun Hume in seinem
ersten ,attack‘ zugegeben (was Simon nicht leugnet), dass
Berkeley’s Lehre, ihrem Widerstreit gegen die Anschauungs
weise des gemeinen Bewusstseins und des praktischen Lebens
zum Trotz, vom rein philosophischen Gesichtspunkt aus be
trachtet, richtig sei oder doch sein könne, so braucht seine
ausdrückliche Behauptung im zweiten ,attack', dass dieselbe
,wahr', ja ,unwiderleglich' sei, nicht (wie Simon annimmt) eine
,Maske', seine Zustimmung zu derselben weder ,ironisch' noch
sarkastisch' d. h. der vermeintliche zweite ,attack‘ braucht
ebensowenig wie der erste als ,Angriff' auf Berkeley’s Lehre,
wenn auch vielleicht, wie es sich zeigen kann, auf Berkeley’s
Person gemeint zu sein.
Dass der scharfsinnige Denker und scharfsichtige Satiriker
zwischen letzteren beiden einen Unterschied werde gemacht
haben, lässt sich voraussetzen. Wie im ersten sogenannten
,attack‘ Hume zwischen der wissenschaftlichen Denkweise des
Philosophen, welcher an der Bestätigung durch den Augen
schein ebensowenig wie an der Brauchbarkeit derselben für
das gemeine Leben gelegen ist, und jener des sogenannten
gesunden Menschenverstandes unterscheidet, der alles dasjenige,
was dem Augenschein widerstreitet oder den für unumgänglich
erachteten Voraussetzungen des praktischen Alltagslebens zu
wider läuft, als ,falsch' und ,absurd' verwerfen zu dürfen
glaubt: so unterscheidet derselbe im zweiten ,attack' zwischen
der Lehre Berkeley’s, die, wie Hume überzeugt ist und dar-
thut, zum Skepticismus führt, und dem Urheber der Lehre d. i.
Berkeley selbst, der den Skepticismus nicht will und denselben
durch jene Lehre unmöglich gemacht zu haben wähnt. Für
den, der wie Hume selbst die wissenschaftliche Denkweise am
höchsten stellt, muss der gemeine Menschenverstand, der seinen
(unzureichenden) Maassstab an jene legt, thöricht und daher in
den Augen des Besserwissenden lächerlich erscheinen. Ebenso
bietet für denjenigen, der wie Hume aus wissenschaftlichen
Gründen überzeugt ist, dass die unausbleibliche Folge des
Phänomenalismus der Skepticismus sein müsse, derjenige, der
Ueber Hume’s Stellung zu Berkeley und Kant.
119
nicht nur das Gegentheil glaubt, sondern vielmehr den Phäno
menalismus für ein Bollwerk gegen den Skepticismus ansieht,
um dieser seiner, mit der eigenen (wahren oder vermeinten)
Scharfsichtigkeit verglichen, in die Augen fallenden Blödsichtig-
keit willen, einen komischen Anblick dar. Dieser Eindruck
steigert sich, wenn, wie im vorliegenden Falle, der in Bezug
auf die (Konsequenzen einer gewissen Denkweise so augen
scheinlich Kurzsichtige zugleich der Erfinder und erste Be
gründer dieser Denkweise selbst ist und folglich, wie Berkeley
in den Augen Hurne’s, zugleich als Entdecker einer von diesem
für ,unwiderleglich* gehaltenen Weltansicht als sehend und
für die unvermeidlichen aber von ihm ungeahnten (Konsequenzen
derselben als blind sich herausstellt.
Der Jünger Berkeley’s hat richtig gesehen. Sowohl in
der ersten wie in der zweiten Stelle hat Humc seinen Hang
zur Ironie, zum Sarkasmus und zur Satire freien Lauf gelassen,
aber der Gegenstand derselben ist Berkeley’s Lehre nicht.
Collyns Simon erblickt in der ersten Stelle einen ironisirenden
Angriff auf den Phänomenalismus, aber nicht dieser, sondern
der Angriff wird ironisirt. Wie Sokrates als der Wissende dem
Unwissenden gegenüber selbst den Unwissenden spielt, so stellt
sich Hume, der die Grundlage des Phänomenalismus für unwider
leglich hält, zum Schein auf die Seite des gemeinen d. i. un
wissenschaftlichen Bewusstseins, um in dessen Namen und mit
dessen vermeintlichen Argumenten Berkeley’s Lehre zum
Schein für widerlegt gelten zu lassen. In der zweiten Stelle
hält Collyns Simon Hume’s Anerkennung der Wahrheit und
Unwiderleglichkeit des Phänomenalismus für ,Ironie*, aber der
jenige, der nicht wissentlich wie der Ironiker den Unwissenden
spielt, sondern unwissentlich wie die komische Person der
Unwissende ist, ist hier Berkeley selbst. ,Der gute Bischof *
(the good bishop) von Cloyne geräth durch die ,unwiderleg
liche* Entdeckung, die er gemacht, und die für die Gegen
stände des Glaubens der Kirche, deren Glied er ist, geradezu
vernichtenden Folgerungen daraus, welche (nach Hume) unver
meidlich sind und die er übersehen hat, in die fatale Lage,
in Hume’s Augen entweder für einen beschränkten Kopf, wel
cher die Tragweite seiner eigenen Principien nicht zu über
schauen vermag, oder, was schlimmer wäre, für einen Heuchler
120
Zimmer m a n n.
zu gelten, der sie verleugnet. Erstere Annahme, hei welcher
nur eine Schwäche des Verstandes blossgclegt würde, könnte
nicht verfehlen, von Seite des Klügeren den Spott, und weil
der Verstand, der sich in Anbetracht der Folgerungen so schwach
zeigt, derselbe ist, der sich in Anbetracht der Grundlegung so
stark erwiesen hat, die beissendste Form desselben, den Sar
kasmus, letztere Annahme, bei welcher vielmehr eine mora
lische Schwäche offenbar würde, müsste dahin führen, von
Seite des Bessergesinnten moralischen Unwillen, und zwar, da
die wirksamste aber zugleich für den Bestraften unschädlichste
Bestrafung darin besteht, dessen üble Willensbestrebungen
dadurch zu vereiteln, dass man sie biossiegt, die Satire heraus
zufordern.
Scherz, Hohn und Spott also finden sich in beiden Stellen
reichlich aufgehäuft, in der ersten über die Unphilosophie, welche
den Philosophen, in der zweiten über den schwachherzigen
Denker, der die Vernunft (in Hume’s Sinn) meistern will. In
beiden Stellen wird nicht Berkeley’s Philosophie, sondern in
der ersten deren unphilosophischer Angreifer, in der zweiten
Berkeley selbst, deren schwachsichtiger oder schwachmüthiger
Verleugner, angegriffen. Nicht Hume’s Bekenntniss zum Phä
nomenalismus, sondern gerade umgekehrt dessen scheinbare
Bekämpfung desselben ist Ironie. Mit der Anerkennung der
selben und noch mehr ihrer Folgerungen ist es ihm völli er
Ernst.
Und warum sollte auch Hume jenen und dessen Folgen
nicht ernst gemeint haben? Etwa darum, weil der Inhalt dieser
Folgerungen von der Art sei, dass sie von einem ernsthaften
Denker überhaupt nicht festgehalten werden könnten? Oder
weil diese Folgerungen von der Art sind, dass sie Berkeley
niemals als Consequenzen seiner Lehre würde zugegeben haben?
In ersterer Hinsicht muss daran erinnert werden, dass kein
noch so paradox scheinender Inhalt eines Lehrsatzes, zu
welchem ein Denker auf dem Wege ernsten Nachdenkens mit
logischer Nothwendigkeit gelangt zu sein versichert, zu dem
Verdachte berechtigt, derselbe habe sich mit dem wissenschaft
lichen Publicum einen irreführenden Scherz zu treiben erlaubt.
In letzterer Hinsicht muss zugestanden werden, dass die Kurz
sichtigkeit des Urhebers eines Princips, dessen weitere Folgen
Ueber Hnme's Stellung zu Berkeley und Kant.
121
zu überschauen, oder die Abneigung eines solchen sich dieselben
gefallen zu lassen, diese Folgerungen selbst weder zu verhüllen,
noch zu verhindern vermag.
In ersterer Hinsicht würde der Verdacht, dass eine paradox
scheinende Lehre von ihrem Urheber nicht ernst gemeint sei,
in erster Linie den Phänomenalismus selbst d. i. Berkeley’s
eigene Lehre treffen. Denn was kann in den Augen des soge
nannten gemeinen Menschenverstandes und der mit diesem mehr
oder weniger in diesem Punkte harmonirenden materialistischen
und selbst der realistischen Philosophie Paradoxeres behauptet
werden, als dass die Materie, welche derselbe mit Händen
greifen zu können wähnt, ein blosses ,Phänomen', ein Gaukelspiel
sei, worin doch nach Simon’s eigenen Worten der Kern der
Lehre Berkeley’s, die specifisch ,Berkeley’sche Doctrin' (Berke-
leian Doctrine) besteht? Wenn Berkeley ein Recht hat zu
fordern, dass seine Lehre von der Phänomenalität der Materie,
so sehr dieselbe der herkömmlichen Ansicht widerstreitet und
die allgemein verbreitete nicht blos unter Laien, sondern unter
fast allen (englischen) Philosophen, ihn allein ausgenommen,
übliche Auffassung derselben als eines ,gänzlich Unphänomenalen
und den Sinnen Unzugänglichen' (entirely unphenomenal and
inaccessible to the senses) auf den Kopf stellt, von Männern
der Wissenschaft in wissenschaftlichem Ernste genommen und
als Ergebniss ernsten wissenschaftlichen Nachdenkens respectirt
werde, so kann Hume das gleiche Recht bezüglich der von
ihm aus dieser Lehre gezogenen Folgerungen, so sehr dieselben,
wie z. B. die Leugnung der Realität des Ich, nicht blos dem
Dafürhalten des gemeinen Bewusstseins, sondern auch dem
philosophisch gebildeter Geister und unter diesen vor allem des
Begründers und des Jüngers des Berkeley’schen Phänomena
lismus selbst zuwidcrlaufen mögen, unmöglich verweigert werden,
umsoweniger, da Hume, wie das von Collyns Simon selbst, wenn
auch zu entgegengesetztem Zweck angezogene Beispiel seiner
einstigen Vorliebe und vertrauten Freundschaft für und mit
Rousseau beweist, nicht der Mann war von Wahrheiten, die
(nach Jean Paul) ,um ein Jahrhundert zu früh kommen', um
ihrer scheinbaren Abenteuerlichkeit willen sich abschrecken zu
lassen. Näher läge es ihn zu beschuldigen, dass vermöge der
ganzen Anlage seiner Natur gerade das auffällige Paradoxale
122
Zimmer mau n.
und vom Herkömmlichen Abweichende für ihn einen besonderen
Reiz besessen und auf ihn eine bestrickende Anziehungskraft
ausgeübt habe, wornach sich denn eher eine geheime auf Wahl
verwandtschaft gegründete Hinneigung zu der ihren Zeitgenossen
und Landsleuten paradox erschienenen und darum von diesen
fast gänzlich bei Seite geschobenen und vergessenen Lehre
Berkeley’s, als eine zum Spott über dieselbe um ihrer schein
baren Curiosität und Seltsamkeit willen aufgelegte feindselige
Gesinnung bei ihm voraussetzen liesse.
War Hume kein Mann, vor einem Paradoxon, wie die
Lehre von der Phänomenalität der Materie eines war, zurück
zuschrecken, so war er es noch weniger, um Folgerungen, wie
jene waren, die sich ihm mit unvermeidlicher Nothwendigkeit
daraus zu ergeben schienen, aus dem Wege zu gehen. Dieselben
machen nach Collyns Simon’s eigenem Ausdruck die Substanz
dessen aus, was Hume schliesslich lehrte, und welches darin
besteht, dass er die Nicht-Existenz nicht nur der materiellen,
sondern auch der immateriellen Welt, sowohl eines individuellen
endlichen wie eines unendlichen Geistes behauptete. Letztere
schien ihm mit ersterer so eng verbunden, dass erstere nicht
ohne letztere behauptet, letztere dagegen von ersterer so unab
hängig, dass sie auch ohne die erstere gelehrt werden könne.
Wer von der Phänomenalität (d. i. von der Nicht-Existenz)
der Materie überzeugt ist, kann seiner Meinung nach nicht
umhin, auch von der Phänomenalität (d. i. Nicht-Existenz) des
Immateriellen (sowohl des menschlichen wie des göttlichen Geistes)
überzeugt zu werden. Wer dagegen von der Nicht-Existenz
des Immateriellen überzeugt ist, kann daneben immer noch an
die (und zwar sodann ausschliessliche) Existenz der Materie
glauben. Wem daher an dem Glauben an die Nicht-Existenz
des Immateriellen gelegen ist, für den bietet dem Vorangehenden
zufolge die Ueberzeugung von der Phänomenalität der Materie
unter allen denkbaren das sicherste Mittel dar, um dadurch
auch der Nicht-Existenz des Immateriellen gewiss zu werden,
und dies ist der Dienst, welchen Berkeley (sehr wider seinen
Willen) nach Hume’s Meinung der ,lustigen Secte' (jocose Sect),
zu der sich dieser zählt, geleistet hat.
Schon dieser Ausdruck weist darauf hin, wer unter den
,Skeptikern' (sceptics) verstanden sei. Offenbar hat Hume
lieber Hume's Stellung zu Berkeley und Kant.
123
dabei diejenigen im Auge, welchen vor allem an der Leugnung
der Wahrheiten der sogenannten natürlichen Religion d. i. der
Existenz Gottes und der Unsterblichkeit der Seele gelegen ist.
Diese Secte, die er die ,lustige' (jocose) nennt, weil sie, um
das Leben nach Art der Epikuräer zu geniessen, wie diese
den Glauben an ein künftiges Leben und eine überweltliche
Macht zu beseitigen sucht, bedarf zu diesem Zwecke einer Meta
physik, die so beschaffen ist, dass sie den Glauben an die
Existenz dieser beiden unmöglich macht. Dieselbe hat sich,
meint Hume, bisher dem Materialismus angeschlossen aus dem
Grunde, weil die Ueberzcugung von der Ausschliesslichkeit der
Existenz der Materie die Möglichkeit des Glaubens an die
Existenz und Unsterblichkeit der Seele und das Dasein Gottes
von selbst aufhebt. Dieselbe, fährt er fort, könnte sich aber aus
demselben Grunde ebenso gut dem rhänomenalismus anschliessen,
weil die Ucberzeugung von der Phänomenalität der Materie
den Glauben an die Phänomenalität des Ich und Gottes noth-
wendiger und logischer Weise im Gefolge hat. Berkeley’s
Phänomenalismus hebe daher zwar den Materialismus, aber er
hebe die Folgen desselben, die Ueberzeugung von der Nicht-
Existenz des Immateriellen so wenig auf, dass er vielmehr
seinerseits dazu wesentlich beitrage, dieselben zu befestigen.
Materialismus und Phänomenalismus, die Lehre von der Realität
und jene von der blossen Phänomenalität der Materie stünden,
was den Inhalt der natürlichen Religion, die Lehre von der
Existenz und Unsterblichkeit der menschlichen Seele und von
dem Dasein Gottes angehe, auf ganz derselben Stufe; keine
von beiden habe in diesem Punkt auch nur das Geringste vor
der anderen voraus. Die Nichtigkeit des Inhalts der natürlichen
Religion, die Nicht-Existenz des menschlichen wie des göttlichen
Geistes folge aus der einen wie aus der anderen mit gleicher
Unwiderstehlichkeit.
Wo ist in diesem ganzen Raisonnement etwas, was Hume
nicht ernst gemeint haben könnte? Davon, dass es Hume mit
seinem Unglauben an die Existenz der Unsterblichkeit der Seele
sowie an das Dasein Gottes ernst gewesen, ist wohl Collyns
Simon selbst überzeugt. Da er nun in Berkeley’s Phänomena
lismus eine Lehre erblickt hat, welche ihm diesen Unglauben
wissenschaftlich zu begründen schien, wie sollte er dieselbe
124
Zi mm ermann.
nicht ernsthaft genommen haben und seine Versicherung, die
selbe sei wahr, blosse Verstellung gewesen sein? Wenn wir in
Betracht ziehen, dass neben den beiden einander ausschliessen-
den Fällen der Realität oder der blossen Phänomenalität der
Materie kein dritter möglich ist, aber einer von beiden notin
wendig stattlinden muss, so wird, wenn sich herausstellt, dass
sowohl in dem einen, wie in dem anderen Falle die Existenz
der menschlichen Seele und Gottes ausgeschlossen bleibt, die
selbe schlechterdings und ein- für allemal unmöglich gemacht.
Darin bestand der grosse Dienst, den Berkeley in Hurne’s
Augen den Gegnern der Existenz und Unsterblichkeit der Seele
und des Daseins Gottes erwies. Bisher hatten denselben zu
diesem Zwecke nur die Materialisten gedient; Hume glaubte
bewiesen zu haben, dass auch die Immaterialisten zu dem Ende
verwendbar seien.
Allerdings ,wider Willen*, und das ist der Punkt, über
den sich Hume lustig macht. Keinem Leser der ,Principles of
human knowledge* kann es entgehen, dass der Urheber der
neuen Lehre von der Phänomenalität der Materie nicht nur
bemüht ist, deren völlige Ungefährlichkeit für den Inhalt der
Lehre der natürlichen Religion, sondern auch deren Brauch
barkeit zur entscheidenden Vernichtung der dem Inhalt dieser
letzteren entgegengesetzten Lehre der Gottes- und Seelen
leugner in volles Licht zu setzen. Nicht nur die Existenz des
eigenen Ich, sammt dessen Unsterblichkeit oder wenigstens ,In-
corruptibilität* (incorruptibility) ist nach Berkeley’s Theorie a
priori, sondern auch die Existenz anderer Geister und die
Gottes selbst ist, wenn auch nur a posteriori (by inference),
durch ihre Wirkungen oder die von ihnen in uns erzeugten
Ideen (by their operations, or the ideas by them excited in us),
aber mit Evidenz gewiss. Durch den Erweis, dass die Materie
als solche keine Realität habe, sondern ein blosses Phänomen
sei, aber sei der Behauptung des Materialismus, dass dieselbe
das ausschliessend Existirende, und was, wie Geist und Gott
nicht materiell, auch nicht existirend sei, von vorneherein der
Boden unter den Füssen entzogen. Welcher Triumph nun für
Hume, wenn er erweisen zu können glaubt, dass die zum
Verderben der Gottes- und Seelenleugner auszuschlagen be
stimmte Lehre die der Absicht ihres Urhebers gerade entgegen-
Ueber Hume’s Stellung zu Berkeley und Kant.
125
gesetzte Wirkung übt und durch ihre ungewollten aber unver
meidlichen Consequenzen die schlimmsten Theorien der letzteren
,aufs wunderbarste rechtfertigt' (justifies most wonderfully) ! Ber
keley hat, sagt Hume, der ,lustigen Secte' der Gottes- und Seelen
verächter und Unsterblichkeitspötter die ,beste' Methode, viel
besser als irgend einer von ihnen und als Hume selbst, an die
Hand und durch den ,unwiderleglichen' Nachweis, dass die
Materie nicht existire, einen unschätzbaren ,Winlc' gegeben,
wie sich beweisen lasse, dass auch sowohl Seele als Gott keine
Realität besitzen! Der gegen die Gottes- und Seelenleugner
abgeschossene Pfeil springt auf den Schützen zurück; der zur
Vernichtung des Materialismus ersonnene Phänomenalismus ver
wandelt Gott und Geist, wie dieser, in blosse Phänomene!
Nicht mit der Lehre Berkeley’s trieb Hume Spott: mit
dem Spott über Berkeley war es ihm bitterer Ernst. Für
Berkeley, den Gottesmann, kann es beinahe als ein tragikomi
sches Verhängniss gelten, durch sein System den Gegnern
Waffen, die zu ihrer Vernichtung bestimmt waren, zur Selbst-
vertheidigung in die Hand zu geben. Hume der Gottesleugner
mochte eine Art diabolischen Vergnügens darüber empfinden,
dass der zur Parirung des Angreifers geführte Hieb dem zu
Beschützenden selbst die tödtliclie Wunde versetzt habe. Ob
gleich, sagt er, nicht der mindeste Zweifel darüber herrschen
kann, dass Berkeley nicht der Meinung war, den Skepticismus
zu lehren, so tliut er es und thut es in bewunderungswürdiger
Weise (admirably). Oder kann der Skepticismus überhaupt
weiter getrieben werden als bis zum Zweifel an der eigenen
Existenz? Letztere nun leugnet er zwar nicht selbst und nicht
mit ausdrücklichen Worten; ja mit solchen behauptet er vielmehr
das Gegentheil und erklärt die Gewissheit der eigenen Existenz
für eine Erkenntniss a priori d. i. eine unmittelbare; aber diese
Enthaltsamkeit ist nur die Folge einer Inconsequenz im Denken,
und wenn er folgerichtig verführe, so müsste er sie leugnen.
Durch den ,Wink', den er uns gibt, und der darin besteht,
dass alles, von dem wir als Materiellem und Materie reden,
blosse Vorstellung, und eine Materie, die mehr oder etwas
anderes als Vorstellung wäre, gar nicht vorhanden sei, zeigt
er jklärlich' (clearly), dass dasjenige, von dem wir als unserem
Ich reden, auch nichts weiter als Vorstellung und ein Ich, das
126
Zimmer mann.
mehr oder etwas anderes wäre als blosse Vorstellung, nicht
vorhanden sein könne. Da wir daher nach seiner eigenen Ver
sicherung, wenn wir an die Existenz der Materie glaubten,
uns einer Selbsttäuschung (delusion) hingäben d. i. nach Art
Geistesgestörter Wahn für Wahrheit, Inhalt einer Hallucination
für Wirklichkeit nehmen würden, so hätte er folgerichtig hin
zufügen müssen, dass, wenn wir an die Existenz des Ich d. i.
des eigenen Selbstes glaubten, wir gleichfalls unter dem Einfluss
einer optischen Täuschung, eines zwar, wie es bei der Materie
der Fall ist, unvermeidlichen, aber grundfalschen Selbstbetrugs
ständen, also wie der Hallucinant einfach ,Narren' (fools) seien.
Wer um des Vorstehenden willen der Ansicht wäre, Hume
könne die Versicherung, dass er den Phänomenalismus für un
widerleglich und wahr halte, nicht im Ernste gemeint haben,
würde dadurch behaupten, dass der Skepticismus an der Ge
wissheit der eigenen Existenz seine Grenze finden müsse.
Descartes hat gezeigt, dass das Gegentheil der Fall ist. Die
Gewissheit des eigenen Seins ist weder unmittelbare noch die
letzte Gewissheit, von der alle übrige abhängt. Dieselbe setzt
als Bedingung die Gewissheit des eigenen Denkens, die Ge
wissheit des sum jene des cogito voraus. Indem Hume die
Existenz des eigenen Ich für aufgehoben, den Glauben an
dieselbe für Selbsttäuschung erklärt, wird von ihm zwar der
Inhalt der Ich-Vorstellung als von dieser unterschiedenes reales
Object verneint, aber die Thatsache der Ich-Vorstellung als
Act des Vorstellens und dadurch dieses selbst als Thatsache
bejaht. Mit anderen Worten: das Ich d. i. das vorstellende
Individuum als solches ist zwar ein blosses Phänomen, aber
das Vorstellen, dessen Phänomen d. i. dessen Voi'stellung es
ist, selbst ist kein Phänomen. Wie die Skepsis des Cartesia
nismus bei dem cogito, so macht die Skepsis Hurne’s bei dem
Vorstellen als solchem Halt. So wenig nach dem ersteren das
cogito, so wenig kann nach dem letzteren das Vorstellen be
zweifelt werden. Jenes wie dieses sind Thatsachen, welche
durch den Versuch der Leugnung derselben nur Bestätigung
erfahren könnten: das cogito, weil das dessen Thatsäehlichkeit
bezweifelnde dubito selbst ein Denken, das Vorstellen, weil
jedes dessen Facticität bestreitende Zweifeln selbst ein Vorstellen
wäre. Weder Descartes noch Hume haben dadurch, dass ihr
Ueber Hume's Stellung zu Berkeley und Kant.
127
Zweifel sich auch auf die Realität des eigenen Seins erstreckt,
den Anspruch verwirkt, ihr Denken als ernst und sich selbst
als ernste Denker betrachtet Zusehen. Weder der auf die That-
sache cogitp sich stützende Rationalismus des einen, noch der
auf die Thatsache des Vorstellens gebaute Phänomenalismus des
anderen kann, weil die Grundlage des einen nicht die Gewissheit
des eigenen Seins und die Basis des anderen das noch nicht
zum vorstellenden Individuum krystallisirte Vorstellen ausmacht,
der (im ersten Fall) logischen Halt- oder (im zweiten) der meta
physischen Bodenlosigkeit beschuldigt und ebensowenig dürfen
deren Urheber um deswillen verdächtigt werden, mit der wissen
schaftlichen Wahrheit frivoles ,Spiel' getrieben zu haben.
Kaum wird die, wie Collyns Simon selbst einräumt, all
gemein herrschende Meinung, dass Hume Berkeley gegenüber
ernsthaft zu nehmen sei, durch die im Vorstehenden gewürdigten
Argumente erschüttert worden sein. Indem Hume, wie oben
gezeigt, die unphilosophischen Gegner der Berkeley’schen Lehre
verspottet und die aus derselben seiner Ansicht nach mit
logischer Nothwendigkeit sich ergebenden Folgerungen sich
aneignet, erscheint er so wenig als Gegner des Phänomenalismus,
dass er vielmehr als dessen auch vor den äussersten Conse-
quenzen nicht zurückweichender Fortsetzer und (im wissen
schaftlichen Sinne) dreister Vollender gelten muss. Sowohl das
nihilistische Element wie das skeptische des Phänomenalismus
erreicht durch ihn seinen Gipfelpunkt: jenes dadurch, dass zu
der Nicht-Existenz der Materie die Nicht-Existenz des indivi
duellen Geistes, des menschlichen wie des göttlichen, sich
gesellt, dieses dadurch, dass zu der Einsicht in die Unmöglichkeit
einer Erfahrung dem Stoffe, die weitere der Unmöglichkeit
derselben der Form nach hinzutritt. Die Erweiterung des
nihilistischen Elements durch Hume bedarf nach den vorange
gangenen Erörterungen keines Beweises mehr; die Erstarkung
des skeptischen aber zeigt sich in unwiderleglicher AVeise in
den Hume allein angehörigen Untersuchungen über die Causa-
litätsform in der Erfahrung, die seinen Ruhm begründet hat.
Dass die Causalität, den Gesichtspunkt des Phänomena
lismus einmal als giltig angenommen, nicht mehr eine ,physische'
sein kann, sagt er in der ersten seiner drei Folgerungen
deutlich. Eine solche setzt sowohl von Seite des Verursachenden
128
Zimmermann.
wie des Verursachten eine Materialität oder mindestens Realität
voraus, welche blosse ,Phänomene* eben nicht besitzen. Daraus
folgt, dass, wenn zwischen Phänomenen ein Causalverband
überhaupt stattfinden soll, derselbe nur in einer Weise beschaffen
sein könne, wie es die blos phänomenale Natur des dadurch
Zusammenhängenden gestattet. Phänomene nun vermögen ein
ander nicht zu ,erzeugen*, denn dieses würde erfordern, dass
sie mehr als Phänomene d. h. dass sie Wirklichkeiten, also
nicht blos fähig Wirkungen hervorzubringen, sondern wirkend
seien. Wohl aber können sie (wie dies z. B. bei den Phänomenen
des Bewusstseins der Fall ist) das eine das andere ,nach sich
ziehen*, so dass mit dem Eintreten des einen das Eintreten des
anderen erfolgt, ohne dass doch das eine durch das andere im
strengen Sinne des Wortes hervorgebracht, sondern lediglich
das Auftreten des einen durch das Auftreten des anderen
herbeigeführt wäre. Der Unterschied beider Fälle besteht darin,
dass bei der Erzeugung das Erzeugende und das Erzeugte
dem Stoffe nach identisch sein müssen, dagegen bei dem
blossen Nachsich-Ziehen das Nachziehende und das Nachge
zogene ihrem Inhalt nach völlig verschieden sein können. Daher
lässt sich wohl aus dem Inhalt des Erzeugenden auf den des
Erzeugten, nicht aber aus dem des Nachsichziehenden auf den
des Nachgezogenen jedesmal mit Sicherheit schliessen. Letzteres
ist nur dann der Fall, wenn der Inhalt des Nachgezogenen dem
des Nachsichziehenden gleich oder in demselben eingeschlossen,
dagegen nicht, wenn er demselben völlig ungleich ist.
Da nun das Erzeugtwerden die Materialität oder mindestens
Realität des Erzeugenden und des Erzeugten voraussetzt, eine
solche im Phänomenalismus, welcher die Realität sowohl der
Materie als der Objecte leugnet, ausgeschlossen wird, so bleibt
für die Welt der Phänomene als einzig mögliche Art eines
Verbandes derselben unter einander nur diejenige übrig, durch
welche das Nachgezogenwerden des einen oder mehrerer durch
eines oder andere herbeigeführt wird. Diese Art des Verbandes
ist aber keine andere als die Association, von welcher die
sogenannte Ideenassociation in Bezug auf die Phänomene des
individuellen Bewusstseins ein Beispiel gibt. Wie in diesem
die Ideen nach dem sogenannten Gesetze der Aehnlichkeit,
des Contrastes, der Gleichzeitigkeit und der Succession sich
Ueber Hume’s Stellung zu Berkeley und Kaut.
129
unter einander in der Weise und mit dem Erfolge verbinden,
dass die gleiche die gleiche, oder die entgegengesetzte die
entgegengesetzte, die ungleiche die ungleiche aber mit ihr
gleichzeitig gewesene oder auf sie gefolgte nach sich zieht, so
associirt sich in der Welt der Phänomene das gleiche mit dem
gleichen, das ungleiche mit dem ungleichen aber gleichzeitigen
oder darauf folgenden Phänomen, was zur Folge hat, dass mit
dem gleichen das gleiche, mit dem ungleichen das ungleiche
aber gleichzeitige gleichzeitig, oder das darauf gefolgte nach
demselben einü'itt. Das gleiche Phänomen wird daher sein
gleiches immer, das ungleiche aber das ihm ungleiche nur
dann mit sich führen, wenn dasselbe mit ihm gleichzeitig
gewesen oder auf dasselbe gefolgt ist. Auch hängt die Ver
knüpfung des gleichen mit dem gleichen nicht von einem be
stimmten Zeitpunkt d. i. überhaupt nicht von der Zeit ab, da
das gleiche mit dem gleichen stets gleichzeitig ist; dagegen
beginnt die Association des ungleichen mit dem ungleichen
erst im demjenigen Zeitpunkt, in dem beide gleichzeitig waren
oder auf den das andere gefolgt ist. Während daher gleiche
Phänomene auf eine von der Zeit unabhängige, sind dagegen
ungleiche auf eine von der Zeit abhängige Weise unter einander
verknüpft, oder mit anderen Worten: die Verknüpfung gleicher
Phänomene ist eine zeitlose (ewige), die ungleicher Phänomene
eine zeitliche (in der Zeit entstandene); jene eine solche, von
der sich, da sie von der Zeit unabhängig ist, nicht sagen lässt,
dass sie zu irgend einer Zeit nicht gewesen sei und ebensowenig,
dass sie zu irgend einer Zeit nicht sein werde, diese eine
solche, die, weil sie in der Zeit entstanden ist, mindestens vor
dieser Zeit nicht war. Verbindungen der ersten Art sind aus
nahmslos, weil sie die Annahme eines Zeitpunkts, in welchem
sie nicht stattfinden, ausschliessen; Verbindungen der zweiten
Art dagegen lassen Ausnahmen zu, weil sie die Annahme einer
Zeit, zu der sie noch nicht bestanden, einschliessen. Jene
können daher mit Fug und Recht nothwendige, diese dürfen
nicht anders denn zufällige, weil durch den Zufall der Gleich
zeitigkeit oder der Aufeinanderfolge (ohne welchen sie gar nicht
entstanden wären), herbeigeführte Verknüpfungen heissen.
Der Gegensatz apriorischer d. i. von dem Eintritt was
immer für einer an irgend einen Zeitpunkt geknüpften Thatsache
Sitzungsber. d. phil.-liist. CI. CIII. Bd. I. Hft. 9
130
Zimmer man n.
unabhängiger, und empirischer d. i. durch eine Thatsache, die
auch nicht oder anders als sie erfolgt ist, hätte erfolgen können,
geknüpfter Gesetze in der materiellen Körper- oder realen Sub
stanzenwelt kommt als Gegensatz nothwendiger und zufälliger
Verbindungen unter den Phänomenen in der phänomenalen Welt
wieder zum Vorschein. Wie die Naturgesetze das bleibende,
die Freiheitsgesetze das veränderliche Element in der materiellen
und realen, so bilden die nothwendigen Zusammenhänge der Phä
nomene das apriorische, deren zufällige das empirische Element
der phänomenalen Welt. Wie jene zusammengenommen die
Form der materiellen oder realen Welt, deren Material im ersten
Fall die Materie, im zweiten die realen Substanzen ausmachen,
so bestimmen die letzteren zusammengenommen die Form der
phänomenalen Welt, deren Material die (noch unverbundenen)
,Phänomene' d. i. singulären Acte des Vorstellens ausmachen.
Von diesen Verbindungen von Phänomenen sind die noth
wendigen mit Verbindungen gleicher (identischer), die zufälligen
mit jenen ungleicher, entweder in Folge von Gleichzeitigkeit
öder von Succession mit einander associirter Phänomene gleich
bedeutend. Beide Arten sind so beschaffen, dass in Folge der
Association das eine (als antecedens) das andere (als consequens)
nach sich zieht. Ungeachtet daher das Band der Phänomene
in jedem der beiden Fälle ein anderes, in dem einen die Gleich
heit oder Aehnlichkeit, in dem anderen die blosse Gleichzeitigkeit
oder Succession der Phänomene ist, so werden dieselben doch in
Folge der Association sämmtlich in succedirende verwandelt,
indem sowohl das gleiche das gleiche, wie das ungleiche das
ungleiche nach sich zieht d. h. dasselbe als späteres sich als
dem früheren nachfolgen macht. Diese Aufeinanderfolge selbst
aber erzeugt abermals eine neue Art der Association unter den
beiden auf einander gefolgten Phänomenen nach dem Gesetze
der Succession, in deren Folge das vorangegangene Phänomen
bei seinem Wiedererscheinen umsomehr das ihm gefolgte aber
mals als folgendes nach sich ziehen wird, ein Process, der
mit jeder erneuerten Wiederholung die Stärke der Association
und dadurch den Grad der Kraft, mit dem das vorangehende
Phänomen das nachfolgende nach sich zieht, erhöht, so dass
jene zuletzt unzerreissbar und diese unwiderstehlich wird, wie
es bei jeder durch häufige Wiederholung allmälig erleichterten
Ueber Hurae's Stellung zu Berkeley und Kant.
131
und durch Uebung und Gewöhnung bis zur unvermeidlichen
Gewohnheit sich steigernden Denk-, Gefühls- und Handlungs
weise der Fall ist.
Ein Verband dieser Art zwischen Phänomenen ist es nun,
der von Hume als Causalverband bezeichnet wird. Derselbe
hat mit der .physischen* Causation das gemein, dass das eine
Phänomen jedesmal als vorangehendes, das andere jedesmal als
nachfolgendes auftritt, und diese Ordnung niemals umgekehrt
wird, sowie in der physischen Welt die Ursache stets früher
als die Wirkung erscheint und diese Ordnung immer dieselbe
bleibt. Dagegen unterscheidet sich dieselbe von jener dadurch,
dass sie ein Band zwischen blossen Phänomenen, diese dagegen
ein solches zwischen materiellen Körpern oder doch realen Sub
stanzen ausmacht, also in jener das spätere auf das frühere zwar
folgt, aber nicht durch dieses erzeugt wird, in dieser dagegen
das spätere durch das frühere erzeugt wird und daher auf das
selbe folgt. Hume selbst ist sich dessen, dass die von ihm so
genannte Causalität von dem, was in der Naturansicht der
Materialisten und Realisten mit diesem Namen belegt wird,
von Grund aus verschieden sei, vollkommen bewusst; jede Art
physischer Causation, sowie die Existenz irgend eines im physi
schen Sinn des Wortes als Ursache anzusehenden Etwas ist der
ersten seiner drei Folgerungen nach aus dem System des Phäno
menalismus ein- für allemal ausgeschlossen. Zwar stellt die Welt
der Phänomene ebenso wie jene der materiellen Körper oder
der realen Wesen ein im Fortschritt der Zeit sich veränderndes
Ganzes dar, allein mit dem Unterschiede, dass in der ersteren
das ,Neue* (d. i. die neuen Phänomene) auf das ,Alte‘ (d. i.
auf die alten) nur folgt, in diesen dagegen das .Neue* (d. i. die
neuen Körper und neuen Realitäten) durch das ,Alte‘ (d. i. die
vorangegangenen Körper und vorangegangenen Realitäten) er
zeugt wird. Der ScenenWechsel ist, um ein Beispiel aus der
poetischen Welt heranzuziehen, in der Welt des Phänomenalismus
ein epischer, in jener des Materialismus und Realismus ein dra
matischer. ln jener verläuft derselbe einfach am Faden der
Zeitlinie, in dieser treibt die vorangehende Scene die nachfol
gende mit innerer Nothwendigkeit aus sich hervor, daher
Schiller in diesem, nicht aber im Hume’schen Sinne die Cau
salität für die Kategorie des Dramas erklärt hat.
9'
I
132
Zimmer mann.
Folge dieser Verschiedenheit des Verhältnisses, in welchem
das Spätere zum Früheren in der phänomenalen, von demjenigen,
in welchem es in der materialen und realen Welt steht, ist nun
die Verschiedenheit des Grades der Zuversicht, mit welcher
das künftige Eintreten des Späteren auf Grund des Eingetreten
seins des Früheren erschlossen und vorhergesagt zu werden
vermag. Dasselbe erfolgt in der materialen und realen Welt
auf Grund des Vorhandenseins der ,physischen', d. i. der er
zeugenden Ursachen, deren Erzeugtes, die Wirkung, nicht aus-
bleiben kann, und der Grad der Zuversicht, mit welcher das
Eintreten des Künftigen erwartet werden darf, ist folglich
der höchste, der überhaupt sich denken lässt. Dagegen er
folgt dasselbe in der phänomenalen Welt auf Grund der durch
wiederholte Erneuerung im directen Verhältniss zu der Zahl
der Wiederholungen eingetretenen Verstärkung der Association
zwischen den Phänomenen mit demjenigen Grade der Zuver
sicht, welcher der eingetretenen Verstärkung proportional und
daher wie diese einer stetigen Zunahme fähig ist. Erstere
heisst, da sie nicht vermehrt werden kann, absolute, diese, da
sich stets ein höherer Grad von Zuversicht, als der ihrige ist,
denken lässt, relative Zuversicht; jene gewährt apodiktische,
diese nur problematische Gewissheit (Wahrscheinlichkeit).
Wie in der Aufhebung der Existenz des individuellen,
sei es endlichen, sei es unendlichen Geistes die Erweiterung
des nihilistischen, so liegt in der Ausschliessung apodiktischer
und alleinigen Zulassung problematischer Gewissheit die Ver
stärkung des skeptischen Elements, welche der Phänomenalismus
durch Idume erfahren hat. Letztere wird dadurch, dass die
Phänomene, deren eines das andere nach sich zieht, ursprünglich
sowohl gleiche als ungleiche gewesen sein können, zwar modi-
licirt, aber nicht aufgehoben. Die Verbindung gleicher Phäno
mene ist zwar eine nothwendige, insofern als der Grund, in
Folge dessen das eine das andere nach sich zieht, nicht deren
Gleichzeitigkeit, sondern deren Gleichheit ist; allein die Zuver
sicht, mit welcher nach dem Eintreten des einen das Eintreten
des anderen erwartet werden darf, bleibt nichtsdestoweniger
der Menge der Fälle proportional, in welchen durch den wirk
lichen Eintritt die Association beider Phänomene verstärkt und
dadurch die Kraft des vorangehenden, das nachfolgende nach
Ueber Hume's Stellung zu Berkeley und Kant.
133
sich zu ziehen, erhöht worden ist. Verbindungen ungleicher
Phänomene aber sind an sicli schon zufällig und der Grad der
Zuversicht, mit welchem nach dem Eintreten des einen jenes
des andern erwartet werden darf, kann daher gar nicht anders
als der Zahl der Wiederholungen proportional sein, in welchen
der wirkliche Eintritt des einen Phänomens nach dem andern
das Band der Succession zwischen beiden befestigt und dadurch
die Kraft des vorangehenden, das nachfolgende abermals nach
sich zu ziehen, zum AVachsen gebracht hat. Der Unterschied
der verschiedenen, obgleich unter beiden Voraussetzungen nie
mals anders als problematischen Gewissheit in dem einen und
in dem anderen Falle besteht darin, dass, sobald die Phänomene
gleiche sind, ihre Verbindung unter einander daher von der
Zeit unabhängig ist, ein Zeitpunkt, zu welchem dieselbe nicht
stattfand, niemals angegeben werden kann, folglich dieThatsache,
dass das eine das andere nach sich zieht, sich so oft wieder
holen muss, als überhaupt Momente in der Zeit gegeben sind;
während, sobald die Phänomene ungleiche, ihre Verbindung
eine erst in der Zeit entstandene ist, sich jedesmal eine Zeit
angeben lässt, in welcher dieselbe nicht vorhanden war, folglich
die Anzahl der möglichen AViederholungen obiger Thatsaehe
nothwendiger Weise kleiner sein muss als jene der in der
ganzen Zeit enthaltenen Momente. Wie daher, gegen die abso
lute d. i. einer Vermehrung unfähige Gewissheit gehalten, die
relative comparativ d. i. jederzeit der Vermehrung fähig ist,
so ist von obigen beiden relativen Gewissheiten die eine um
so viel grösser als die andere, als die Menge der Zeitpunkte
überhaupt grösser als die der von einem gegebenen an ablau
fenden ist.
AVie durch die Phänomenalität der Materie das Material
der Natur, so geräth durch die ausschliessliche Relativität der
Gewissheit deren Form, die Naturgesetzlichkeit des Zusammen
hanges ihrer Theile, ins Schwanken. Jene ersetzt die materiellen
Körper oder doch realen Substanzen durch blosse Phänomene,
diese führt an der Stelle apodiktischer d. i. von der Zahl der
sie bestätigenden Fälle unabhängiger Zusammenhänge, welche
die Möglichkeit der Nichtbestätigung ausschlicssen, und der
gleichen allein den Namen von Naturgesetzen führen und
verdienen, problematische d. i. mit der Zahl der bestätigenden
134
Zimmer mann.
Fälle an Vertrauenswürdigkeit wachsende, aber auch die Mög
lichkeit der Nichtbestätigung zulassende Zusammenhänge d. i.
blosse Naturregeln ein. Wie in Folge des ersteren an die
Stelle wirklicher der blosse Schein einer Materie, so tritt durch
das letztere an die Stelle wirklicher der Schein von Natur
gesetzen, durch beides zusammengenommen dem Material und
der Form nach an die Stelle wirklicher der blosse Schein
einer Natur.
Dieser Punkt, der äusserste, zu welchem der Phänome
nalismus durch Hume über dessen Vorgänger und seinen ur
sprünglichen Urheber, Berkeley, hinausgeführt, bezeichnet
zugleich denjenigen, von welchem an Hume’s Nachfolger Kant
von diesem abgeführt worden ist. Aus der Verwandlung der
Materie wie der realen Substanz in Schein ist schliesslich eine
solche der natürlichen in eine Scheinwelt geworden, ln der
Rückverwandlung dieser in eine naturgesetzlich geordnete Er
scheinungswelt besteht die Umbildung, welche Kant an Hume’s
Lehre vollzogen hat. Jene beginnt mit dem Material der Natur
und erstreckt sich zum Schlüsse auch auf deren Form. Diese
beginnt mit der Form der in Schein verwandelten Natur und
erstreckt sich zum Schlüsse auch auf deren Material. Während
der Phänomenalismus durch Berkeley das reale Substrat der
phänomenalen Welt in ein blos vermeintliches auflöst, durch
Hume die Naturgesetze zu blossen Naturregeln herabsetzt,
geht Kant darauf aus, nicht nur die letzteren wieder zu Natur
gesetzen zu erhöhen, sondern auch der phänomenalen (sensiblen)
wieder eine noumenale (intelligible) Welt als reales Substrat
(,Ding an sich“) unterzulegen. Ersteres Bestreben, das, wie
man sieht, die Form der in Schein verwandelten Natur betrifft,
macht dasjenige aus, was man die Widerlegung Hume’s durch
Kant, letzteres, welches durch Wiederherstellung einer realen
Grundlage des Scheins mit dem Material der in Schein ver
wandelten Natur sich zu thun macht, begreift dasjenige in sich,
was man die Wiederlegung Berkeley’s durch Kant zn nennen
ein Recht hat:
Kant’s Mitte] zur Erreichung des Erfolges in ersterer Rich
tung besteht darin, den Grund gewisser Zusammenhänge unter
den Phänomenen statt, wie Hume, in deren Association, in das
Vorstellen selbst oder vielmehr in eine diesem eigenthümliche
Ueber Hume’s Stellung zu Berkeley und Kant.
135
Disposition zu verlegen. Treten nach Hume gewisse Phänomene
in Folge der Association, so bringt sie nach Kant das Vorstellen,
dessen Phänomene sie sind, vermöge einer ihm innewohnenden
Disposition in einen solchen Verband, dass sie nicht mehr von
einander getrennt werden können. Während daher nach Hume
jener Verband der Phänomene mit der Association steht und
fällt, mit deren Eintreten beginnt, mit der Zahl ihrer Wieder
holungen an Stärke wächst, also zwar sich steigernde, aber
niemals mehr als relative (problematische) Gewissheit zu erlangen
vermag, steht und fällt er nach Kant mit der Natur des Vor
stellens selbst, dessen Phänomene sie sind, und da mit dem
Wegfallen des ersteren auch die Phänomene selbst hinwegfallen
würden, so besteht er so lange und so oft, als diese selbst be
stehen, also mit absoluter (apodiktischer) d. i. von der Zahl der
bestätigenden Fälle unabhängiger, weder einer Vermehrung noch
einer Verstärkung fähiger Gewissheit.
Verbände dieser Art unter Phänomenen, welche von einer
dem Vorstellen eigenen Disposition geschaffen werden, haben
daher diejenige Gewissheit, welche wahren Naturgesetzen eigen
und dadurch über jene in Folge blosser Association entstandenen
Naturregeln so weit erhaben ist, als das Unbedingte jeder Art
über Bedingtes, Apodiktisches über Problematisches sich erhobt.
Gerade den für den naturgesetzlichen Zusammenhang einer
Welt, mag sie im Uebrigen phänomenal oder real sein, wich
tigsten Verband, den Causalverband, welchen Hume als einen
blos in Folge der Association (ex post) entstandenen (a poste-
riorischen) betrachtet, rechnet Kant zu denjenigen, welche in
Folge einer dem Vorstellen innewohnenden Disposition durch
dieses selbst zwischen gewissen Phänomenen desselben herge-
stcllt, also diesen gleichsam ,von Haus aus' (a priori) angeschaffen
werden. Die Aufeinanderfolge gewisser Phänomene in der Ord
nung, dass jedesmal dasselbe vorhergeht und dasselbe nachfolgt,
besitzt unter dieser Voraussetzung, aber auch nur unter dieser,
die nämliche Unverbrüchlichkeit und Ausnahmslosigkeit, welche
im Sinne des Materialismus und Realismus die ,physische' Cau-
sation d. i. der Erzeugungsprocess oder die Auseinanderfolge der
Zeitfolgc des Erzeugten auf das Erzeugende verleiht, und die
dadurch zum Kennzeichen eines Naturgesetzes wird. Wenn
daher Kant dasjenige, was in seiner Auffassung als Causalverband
136
Zimmer mann.
zwischen gewissen Phänomenen figürirt, die unverbrüchliche
und ausnahmslose Aufeinanderfolge derselben in gleichbleiben
der Ordnung -des Vorher und Nachher in der Zeit, ungeachtet
dieselbe nur eine Auf- und keine Auseinanderfolge ist, als
Naturgesetz bezeichnet, so hat er dazu insofern ein Recht, als
jene Unverbrüchlichkeit und Ausnahmslosigkeit wenigstens eines
und zwar ein wesentliches derjenigen Merkmale ausmacht,
welche zum Begriff eines solchen gehören, jedenfalls ein grösseres
Recht als Hume, die nur in Folge immer wiederkehrender
Association allmälig entstandene Gewohnheit der Aufeinander
folge gewisser Phänomene, welche bei ihm Causalverband
zwischen denselben heisst, mit jenem Namen zu belegen.
Diese Unverbrüchlichkeit und Ausnahmslosigkeit gewisser
Zusammenhänge unter den Phänomenen des Vorstellens war
es, welche Kant der durch Hume’s Associationsprincip herbei
geführten Lockerung aller Bande zwischen denselben in den
Weg zu stellen sich bemühte. Nicht nur der Causalverband
zwischen Phänomenen sollte dem durch Hume’s Theorie be
günstigten Verdacht, dass derselbe der Unterbrechung durch
Ausnahmsfälle jederzeit fähig sei, entrissen d. h. der Satz,
dass keine Wirkung ohne Ursache sei, zu einem wirklichen
Naturgesetz erhoben werden, sondern auch andere Gedanken
zusammenhänge, welche in Folge des Hume’schen Skepticismus
einer nur problematischen Gewissheit anheimiielen, sollten der
nämlichen, deren wahre Naturgesetze sich erfreuen, d. i. der
absoluten Gewissheit theilhaftig werden. Unter den letzteren
lagen Kant die Zusammenhänge der mathematischen Gedanken
(d. i. der Phänomene der reinen'Mathematik) am nächsten am
Herzen, deren apodiktische Geltung gewahrt und vor dem in
Folge der Hume’schen Theorie drohenden 7 Schicksal einer blos
problematischen für immer geschützt werden sollte. Zwar hatte
Hume dieselben für analytische Verbände d. i. für Verbindungen
gleicher (identischer) Phänomene erklärt und ihnen dadurch
vor von ihm sogenannten synthetischen Verbänden d. i. vor
Verbindungen ungleicher (nicht identischer) Phänomene insofern
einen Vorzug eingeräumt, als, wie an vorangegangenem Orte
gezeigt worden ist, ersteren jederzeit eine grössere (wenngleich
ebenfalls nur problematische) Gewissheit zukommen muss als
letzteren. Kant aber war weder gewillt, sich betreffs der Geltung
U«ber Hrnne's Stellung zu Berkeley und Kant.
137
der Mathematik überhaupt mit einer nur problematischen Ge
wissheit zu begnügen, noch war er im Stande, seinerseits zu
deren Gunsten von dem analytischen Gedankenverbänden durch
Hume eingeräumten relativen Vorzug Gebrauch zu machen, da
seinem (von Schreiber dieses an anderem Orte: Sitzungsberichte
LXV1I, p. 7 dargelegten) ,mathematischen VorurtheiP zufolge
dieselben nicht (wie Hume gemeint hatte) analytischer, sondern
synthetischer Natur sein sollten. Kant befand sich daher vor
der Alternative, entweder die ihm vor allen anderen Wissen
schaften theure Mathematik dem Lose nur problematischer,
und zwar jener zweifelhafteren problematischen Gewissheit
welches nach Hume sämmtliche auf synthetischen Gedanken
verbänden beruhende Wissenschaften treffen müsste, auszu
liefern, oder Mittel und Wege zu schaffen, durch welche die
Verbände mathematischer Gedanken ihrer synthetischen Natur
zum Trotz die Unverbrüchlichkeit und Ausnahmslosigkeit wahrer
Naturgesetze zu erlangen fähig würden. Er erreichte diesen
Zweck auf dieselbe Weise, wie er es Hume gegenüber bei der
Verwandlung des Causalverbandes aus einer blossen Naturregel
in ein echtes Naturgesetz gethan hatte, indem er den Grund
der Synthese der mathematischen wie dort der als Ursache
und Wirkung verknüpften Phänomene, statt wie Hume, in die
Association dieser Phänomene selbst, in eine ursprüngliche Dis
position des Vorstellens, dessen Phänomene sie sind, verlegte.
Wie die ursprüngliche Disposition des Vorstellens, welche dem
Causalverbande zu Grunde liegt, in der transscendentalen Ana
lytik der ,Kritik der reinen Vernunft' als apriorische Urtheils-
form des reinen Verstandes, so erscheint die ursprüngliche
Disposition, welche der mathematischen Synthese den Charakter
der Unverbrüchlichkeit und Ausnahmslosigkeit eines echten
Naturgesetzes verleiht, in der transscendentalen Aesthetik der
selben als apriorische Anschauungsform der reinen Sinnlichkeit.
Das Vorstellen, das im Phänomenalismus der Träger
sämmtlicher Phänomene, aber bei Berkeley und Hume nach
Bacon’s und Locke’s Vorgang selbst tabula rasa d. i. als solches
ohne ursprüngliche (angeborene) sowohl Ideen als Anlagen und
Dispositionen ist, nimmt durch Kant den Charakter einer nach
verschiedenen Seiten hin bestehenden Prädisposition für be
stimmte Verbände und Zusammenordnungen der dasselbe er-
138
Zimmer mann.
füllenden Phänomene an, welcher dasselbe dem von Leibnitz
(gegen Locke) gebrauchten Bilde eines geäderten Marmors
ähnlich macht. Wird dabei, wie Kant im Anschluss an Wolf’s
(oder vielmehr Baumgarten’s) psychologische Seelenvermögens
theorie thut, das Vorstellen selbst in ein niederes, dem unteren
Erkenntnissvermögen (Sinn), und höheres, dem oberen (Ver
stand und Vernunft) entsprechendes geschieden, so gehört obige
Prädisposition theilweise dem ersten, theilweise dem zweiten
an. Jene fasst das durch die Sinne gegebene rohe Empiindungs-
material zu einer räumlich und zeitlich geordneten Welt an
schaulicher, diese zu einer einander inhärirender oder ursächlich
bedingender Erscheinungen zusammen. Erstere besteht nun
(nach Kant) aus den (zwei) sogenannten reinen (apriorischen)
Anschauungsformen der Sinnlichkeit (Raum und Zeit), durch
welche das Anschauliche im Neben- und Nacheinander un
geschaut, letztere einerseits aus den (zwölf) sogenannten reinen
(apriorischen) Urtheilsformen des Verstandes, durch welche
das Angeschaute im Vorhältniss des Trägers (Substanz) und
seiner Eigenschaften (Accidenzen), des Bedingenden (Ursache)
zum Bedingten (Wirkung) u. s. w. stehend gedacht, andererseits
der (drei) sogenannten reinen (apriorischen) Schlussformen der
Vernunft, durch welche das in jedem der obigen Verhältnisse
Stehende zur Einheit erhoben und als Träger der Totalität
aller Eigenschaften, als Totalität aller Ursachen und Wirkungen
u. s. w. zusammengefasst wird.
In dieser Neuerung und der dadurch herbeigeführten Er
hebung gewisser nach Hume lediglich aposteriorischer Syn
thesen, denen nur problematische, zu apriorischen, denen apo
diktische Geltung zukommt, besteht die Berichtigung, welche
Hume’s Phänomenalismus durch Kant oder, wenn man will, die
Widerlegung, welche dessen Skepticismus durch Kant’s Kriti-
cismus wirklich erfahren hat. Collyns Simon, der die angebliche
Widerlegung Hume’s durch Kant in einer von der obigen ganz
verschiedenen Richtung sucht, kann folgerichtig nicht zugeben,
dass ihm eine solche gelungen sei. Ihm zufolge, der, wie wir
gesehen haben, Hume’s vermeintlichen Phänomenalismus als
Maske betrachtet, hat Kant schon darin einen Irrthum begangen,
dass er Hume’s Deductionen aus Berkeley’s Lehre ernst ge
nommen hat, einen Irrthum freilich, der, wie Simon selbst
Ueber Huroe’s Stellung zu Berkeley und Kant.
139
zugibt, ihm als Ausländer minder zur Schuld angerechnet werden
kann, da alle Landsleute Idume’s von einst und jetzt in dem
gleichen befangen waren und noch sind. Diesen jedoch einmal
zugegeben, habe Kant die von Ilume ans Berkeley’s Lehre
(wie Simon meint, im Scherze, wie Kant gemeint habe, im Ernst)
gezogenen Folgerungen zwar widerlegen wollen, aber nicht wider
legt. Vielmehr sei das Umgekehrte eingetreten. Kant halte im
Ernst wie Hunte im Scherz an der Lehre von der Phänomena-
lität der Materie fest, aber statt die von Hurne, um sich über
dieselbe lustig zu machen, daraus gezogenen Folgerungen, dass
erstens keinerlei Ursache, zweitens keinerlei reales Ich und
drittens keinerlei intelligente AVeltursache existire, zu bestreiten,
stimme er selbst ,in aller Würde und Ernsthaftigkeit* (in all
seriousness and gravity) mit ,dcm spasshaften jungen Juristen*
(jocular young lawyer) darin überein (agrees), ,aus wissenschaft
lichen Gründen die Existenz Gottes, einer Ursache und eines
Ich zu verneinen* (in denying, on scientific gronnds, the exi-
stence of a God, of a Cause, and of an Ego). Kant, fahrt
Simon fort, habe die drei Principien in dem nämlichen Stande
gelassen wie Hume , und das Gleiche hätten seine Nachfolger
von Fichte bis Hegel gethan; die Frage sei also noch immer
wie vorher, ob es wahr sei, wie Hiuno behaupte und Kant ihm
nachspreche, dass der Nicht-Bestand einer Ursache, eines Geistes
und eines höchsten Wesens logisch und unvermeidlich folge aus
der ,unbezweifelbaren' (incontrovcrtible) Lehre Berlceley’s von
der Phänomenalität der Materie?
Letzteres ist in der gegenwärtigen Abhandlung wenigstens
nicht die Frage. Dieselbe batte lediglich zum Zweck, zu unter
suchen, nicht ob Ilume’s aus Berkeley’s Lehre gezogenen Fol
gerungen wahr, sondern ob dieselben von ihm in ernsthafter
oder, wie Simon meint, in nur scherzhafter Weise aus dieser
gezogen worden seien. Die ausschliesslich auf eine historische
Darlegung gerichtete Absicht derselben ging nicht dahin, die
Wahrheit des Phänomenalismus, sondern dessen Entstehung und
allmälige Entwicklung aus und im Gegensatz zu dem Materia
lismus und Realismus darzuthun und die im Gegensatz zu Simon
ernsthaft gemeinte Lehre Ilume’s als die natürliche Fortsetzung
Erweiterung und Vollendung der Lehre Berkeley’s offenzulegen.
Wie sie dadurch ihrem Vorhaben gemäss die Stellung Hume’s
140
Zimmer mann. Ueber Hume’s Stellung zu Berkeley und Kant.
zu Berkeley, so glaubt sie durch die Darstellung der Umbildung
welche Hume’s Phänomenalismus von Seite Kant's durch die
Einführung apriorischer anstatt ausschliesslich aposteriorischer
Synthesen erfahren hat, die Stellung Hume’s zu Kant in ähn
licher Weise klargestellt zu haben, wie es Schreiber dieses an
anderem Orte (Sitzungsberichte LXVIII, p. 713) bezüglich der
Stellung Kant’s zu Berkeley versucht hat. In die Erörterung
des Missverständnisses näher einzugehen, das dem Vertheidiger
Berkeley’s begegnet, wenn er Kant’s behauptete Unerkenn
barkeit jenseits der Grenzen der Erfahrung gelegener Dinge
für eine Leugnung derselben ansieht, und welches auf einer
Verwechslung des Standpunkts kritischer Enthaltsamkeit mit
jenem dogmatischer Verneinung beruht, ist in dieser Abhandlung
nicht der Ort. Ihr Zweck ist erreicht, wenn es gelungen ist zu
zeigen, dass nicht nur Hume’s, sondern auch Kant’s phänomenale
Welt eine natürliche Tochter des Phänomenalismus und des
letzteren Erscheinungswelt (to (jaivcgsvov), wie von der Schein
welt Berkeley’s durch ihr reales Substrat (to vcoujaevov, Ding
an sich), so von jener Hume’s durch den Apriorismus ihrer
Formen (Zeit Raum Causalität) unterschieden sei.
Go mp er z. Herodoteische Studien I.
141
Herodoteische Studien I.
Von
Prof. Dr. Th. Gomperz,
wirkt. Mitgliede der kais. Akademie der Wissenschaften.
l.
Die Frage nach dem Abschluss des lierodoteisclien
(xeschichtswerkes.
Herodot beginnt sein Werk mit einer Ankündigung,
deren Wortverstand zwar zumeist richtig aufgefasst, deren
Tragweite jedoch kaum nach Gebühr gewürdigt worden ist.
Er will — so sagt er uns — ,was von Menschen geschehen
ist“ der Vergessenheit entreissen und gleichzeitig verhindern,
dass ,grosse und wunderwürdige Thaten, welche Griechen
sowohl als Nicht-Griechen vollbracht haben, des ihnen ge
bührenden Ruhmes verlustig gehen“. Er will — dies ist augen
scheinlich der Sinn seiner Worte — einerseits das Andenken
der geschichtlichen Vergangenheit überhaupt erhalten, dieselbe
vor pietätloser Nichtachtung und Geringschätzung bewahren
helfen, andererseits der Mit- und Nachwelt hohe Vor- und
Musterbilder, Gegenstände der Nachahmung und Nacheiferung
vor Augen halten. Er will, mit einem Worte, nicht nur be
lehren, sondern zugleich erheben und erbauen. Darum und
nur darum stellt er neben das allgemeine Object seiner Ge
schichtsdarstellung ,xa ei; dvOpcwriov vsv6|j.eva‘ noch das besondere,
die geydX« xs zat Owoptacxa“ — die ,hauts faits et gestes
merveilleux“, wie Paul Louis Courier, die ,grossen Wunder
taten“, wie Friedrich Lange, die ,great and wonderful actions“,
wie George Rawlinson übersetzt. 1
1 Heinrich Stein’s Wiedergabe der durch ,Werke 1 , ,dauernde Denk
mäler 1 (s. seine Uebersetzung und commentirte Ausgabe) richtet sich
142 Goiuperz.
Wäre man sich dieser Doppelabsicht des Vaters der
Geschichte allezeit vollständig bewusst geblieben, schwerlich
hätte die Ansicht, sein Werk liege uns in unvollendeter Gestalt
vor, so weite Verbreitung gewinnen können. Mir erscheint
diese Meinung, wie ich schon vor geraumer Zeit erklärt habe
(Zeitschr. für österr. Gymn. 1859, S. 820), als völlig grundlos,
nicht nur in jener weiteren Fassung, nach welcher ,die ur
sprüngliche Disposition . . nicht zur Ausführung' gelangt und
,das ganze, grossartig angelegte Werk . . ein Torso' geblieben
ist (Kirchhoff, Ueber die Entstehungszeit 2 u. s. w., 27), sondern
auch in jener Einschränkung, mit welcher Rawlinson dieselbe
vorträgt: der Geschichtschreiber habe zwar das ursprünglich
ins Auge gefasste Ziel seiner Erzählung erreicht, jedoch sein
Werk nicht zu einem äusserlichen Abschlüsse gebracht (I 3 33
und 114). Sprechen wir von der erstgenannten Hypothese
zuerst.
Herodot würde — so meint Dahlmann — ,auch Kimon’s
Züge, den grossen egyptischen Krieg der Athener, er möchte
selbst das Eingreifen Persiens in den peloponnesischen Krieg
geschildert haben, wenn das Leben ausgereicht hätte' (Herodot,
aus seinem Buche sein Leben, S. 137—138). Und Adolf Kirch
hoff ist der Ueberzeugung, ,dass es das Vorhaben Herodot’s
war' (an dessen Ausführung ihn vielleicht nicht sowohl der
Tod, als ,die trüben Erfahrungen gleich der ersten' Jahre des
peloponnesischen Krieges gehindert haben), ,die Darstellung des
Kampfes zwischen Barbaren und Hellenen bis zur Schlacht am
Eurymedon oder bis zum Tode Kimon’s herabzuführen und
diese Darstellung in eine Verherrlichung Athens und seines
selbst. Denn weder spielt die Schilderung der Bau- und sonstigen
Kunstdenkmale in unserem Geschichtswerke eine derartige Rolle, dass
sie an so hervorragender Stelle erwähnt werden durfte, noch konnte
ein Hauptabsehen des Historikers dahin gehen, Dinge zu verherrlichen,
welche ihre Herrlichkeit laut genug selbst verkünden und mithin seines
Heroldsamtes am ehesten entratlien mochten. Will man das Sinnwidrige
dieser Auslegung und Uebertragung gleichsam mit Händen greifen, so
braucht man blos an die Stelle des Genus eine oder die andere der
Species zu setzen, also etwa: ,Herodot von Halikarnass hat dies erkundet
und aufgezeichnet, damit weder was von Menschen geschehen mit der
Zeit verklinge, noch auch — die egyptischen Pyramiden, die Tempel
von Theben ü. s. w. ihres Ruhmes verlustig gehen. 4
Herodoteische Studien I.
143
grossen Staatsmannes auslaufen zu lassen' (a. a. 0., S. 28).
Woraus erschliesst man diese Absichten des Historikers? Doch
wold nur aus der Thatsache, dass er Griechenland im Kampfe
mit Persien schildert, indem man nunmehr meint, er müsse,
was er also begonnen, bis zum letzten Ende haben durchführen
wollen. Allein dies heisst, unseres Erachtens, die tiefste Eigen-
thümlichkeit herodoteischer Geschichtsdarstellung, die Tendenzen,
von welchen sie getragen, die Antriebe, aus denen sie entsprungen
ist, vollständig missverstehen. Zwei dieser Impulse haben wir
kennen gelernt. Zu ihnen gesellen, mit ihnen verschwistern
sich andere, deren das knappe Vorwort keine Erwähnung thut.
Denn gleichwie dieses in Betreff des ersten Hauptzweckes, der
Befriedigung berechtigter Wissbegier, nur auf historische ,Ge
schehnisse' oder Begebenheiten Bezug nimmt, hingegen der
Zustände der Völker, ihrer Sitten und Bräuche, ihrer Ver-
theilung und ihrer Wohnsitze, kurz des ganzen im Verlaufe des
Werkes so reich entfalteten ethnographisch-geographischen
Hintergrundes mit keinem Worte gedenkt, so müssen wir uns
auch den zweiten — den ethischen — Hauptantrieb durch
mannigfache andere Einflüsse verstärkt, beschränkt, indivi
duell ausgestaltet denken. Herodot ist nicht nur ein für alles
Grosse und Erhabene im höchsten Masse empfänglicher Mensch,
er ist auch Grieche, und zwar ein trotz seiner beispiellosen Ge
rechtigkeit gegen Barbaren 1 national und ungeachtet seiner
1 Kein Grieche war jemals freier von Racenliochmuth und nationalem
Dünkel als Herodot. Schweres Unrecht erweist man ihm, wenn man mit
Bernays (Phokion, S. 25) annimmt, er erwähne die phönikische Abkunft des
Thaies (I, 170), um ihm dieselbe vorzuwerfen. Man muss fürwahr über
scharf sehen, um aus einem Satze, welcher das unumwundenste Lob des
grossen Milesiers enthält (^p7)<m) [sc. -poop.?)] xai . . . DaXsco av8po<;
MiXt)ct{ou EyevsTo; man beachte auch die Zusammenstellung mit Bias:
outoc piv o/j acpt yva>p.a<; xx£.), zugleich eine ,genealogische Malice 4 heraus
zulesen. Birgt jene Zwischenbemerkung (to avs'xaÖsv ys'vos eovro<; <I>otvtxo;)
in der That eine polemische Spitze, so kann sich diese nur gegen
die Zwölf-Städte-Jonier richten, welche der Halikarnassier ja auch ein
anderes Mal (ihrer nationalen Exclusivität wegen) scharf aufs Korn
nimmt (I, 146). Dann würde jener Hinweis etwa besagen sollen: erst
ein Mann von fremdländischer Herkunft musste den Joniern einen Rath
ertlieilen, der sie zu retten vermocht hätte, wären sie anders weitsichtig
und grossherzig genug gewesen, denselben anzunehmen. — War übrigens
Herodot selbst von jeder Beimischung fremden Blutes frei? Man möchte es
144
Go mp er z.
ausgesprochenen Vorliebe für Athen panhellenisch gesinnter
Grieche; er ist ferner ein warmer Volks- und Freiheitsfreund,
der die asiatische Gewalt- und Willkührherrschaft aus dem
Grunde seiner Seele verabscheut; er ist endlich eine gläubige
und tiefreligiöse Natur, welche in der Niederlage des iiber-
müthigen Nationalfeindes ein göttliches Strafgericht erblickt.
Der Zusammenfluss all’ dieser Motive hat es bewirkt, dass er
zum Ziel- und Kernpunkt seines unerhört grossartig angelegten
Weltgemäldes nicht irgendwelche andere ,Grossthaten', sondern
den heroischen Kampf seines Volkes mit der persischen
Uebermacht erhob. Darum fliesst der Strom seiner Erzählung,
der in den früheren Büchern so häufig stockt, sich in Episoden
wie in Nebenarme spaltet und zu weitläufigen zuständlichen
Schilderungen wie zu Landseen verbreitert, in den letzten drei
Büchern mächtig und ungetheilt dahin — daher die Fülle der
Vorzeichen und Traumgesichte, der Reichthum an tiefsinnigen
Aussprüchen und an ergreifenden Einzelscenen, welche der
riesengrossen, der schicksalsschweren Entscheidung vorangehen.
Mit vollstem Rechte nennt einer der wenigen Herodot eben
bürtigen Geschichtschreiber, welche die Welt gesehen hat,
den Zug des Xerxes ,und die endgültige Niederlage
seiner Streitkräfte' nicht nur ,das ausschliessliche Thema
der drei letzten Bücher', sondern ,den Hauptgegenstand
des ganzen Werkes', ,die Vollendung von Herodot’s histo
rischem Plane“, (,tlie consummation of his liistorical scheme'
Grote, hist, of Greece, V 2 , 7). Und in der That, der Höhe
punkt der Wirkung ist erreicht, ein nicht mehr zu überbieten
der Eindruck ist hervorgebracht, der Vorhang rauscht nieder
— und nun sollten wir annehmen dürfen, dass es die eigent
liche, nur durch zufällige Umstände vereitelte Absicht des
bezweifeln, wenn man sieb des unzweifelhaft karischen Namens seines
Oheims Panyassis erinnert (vgl. die Zusammenstellung der gleichartigen
Namen Bull, de corr. hell. IV, 318 und VI, 193, auch A. Milchhöfer, Die
Anfänge der Kunst in Griechenland, S. 112, Anin. 1). Beiläufig sei bemerkt,
dass der alten, jüngst mit allzu weitgehendem Skepticismus angefochtenen
Tradition über Herodot’s Familie neuerlich eine nicht unerhebliche Stütze
erwachsen ist durch das Auftauchen des Namens Lyxes (so hiess nach
Suidas der Vater des Historikers) auf einer halikarnassischen Inschrift
(Bull, de corr. hell. VI, 192).
Herodoteische Studien I.
145
gewaltigen Künstlers war, der markerschütternden Tragödie
ein Nachspiel folgen zu lassen, das zum Allermindesten den
Effect nicht zu steigern vermocht hätte und darum allein schon
ihn nothwendig ahschwachen musste? Allein dies ist nicht
Alles. Nicht nur hatte unser Historiker, der ja keineswegs
gleich Thukydides zum Behuf pragmatisch-politischer Belehrung
Geschichte schrieb, 1 keinerlei Grund über diesen Punkt hinaus
zuschreiten, er hatte die allerstärksten Gründe, eben hier Halt
zu machen. Hätte er doch — und dies scheint bisher nicht
erwogen zu sein — nicht die Ereignisse der nächsten Monate
erzählen können, ohne den Lorbeerkranz des Siegers von
Platää Blatt für Blatt zu zerpflücken; hätte er doch nicht die
Vorgänge des folgenden Jahres schildern können, ohne mit
der athenischen Mauerbau - Angelegenheit den ersten Anlass
und die früheste Aeusserung jenes Zwiespalts der beiden Gross
staaten zu berühren, welchen der pankellenische Patriot als
den Fluch seines Zeitalters empfinden musste und dem das
erhebende Gegenbild griechischer Einigkeit und griechischer
Grösse entgegenzuhalten eine der Hauptaufgaben seines Le
bens gewesen ist. Und endlich: sieht die Eingangs in den
Nebel der Urzeit tauchende Darstellung etwa so aus, als ob
sie in eine ,Geschichte der neuesten Zeit' ausmünden, in einer
ganz eigentlich zeitgenössischen Geschichte' ihren Abschluss
finden sollte? Erforderte eine solche nicht eine wesentlich an
dere, eine minder poetische und mehr staatsmännische Anlage,
als es diejenige Herodot’s war ? Konnte seine Neigung zu
novellistischer Färbung, zu theologischer Motivirung auf diesem
Felde ausreichende Nahrung und Befriedigung finden? Oder
war es seinem Genius nicht ungleich gemässer, nur solche
Stoffe zu behandeln, über welche der Duft der Sage sich zu
lagern zum Mindesten bereits begonnen hatte?
Dass jedoch das Werk wenigstens nicht zu einem äusser-
lichen Abschluss gediehen sei, dies soll angeblich ,schon aus
dem plötzlichen und unbefriedigenden Ende' (Stein, S. XLV),
1 Hätte man doch immer Otfried Müller’« güldene Worte beherzigt: ,Herodot
ist wirklich ebenso sehr ein Theolog und Dichter, wie er Historiker ist.
• . . Das blosse Wiedergeben einer gewöhnlichen Erfahrung in den
Kreisen des Menschenlebens ist nicht seine Aufgabe* (Geschichte der
griech. Literatur I 2 , 492—493).
Sitzungsbov. d. phil.-hist. CI. CIII. Bd. I. Hft. 10
146
Gomperz.
aus der ,Ungeschicklichkeit des Schlusses und dem jähen Ab
bruch der Erzählung* (,the awkwardneSs an d abruptness of its
close*, Rawlinson, a. a. 0.) umvidersprechlich hervorgehen. Es
trifft sich glücklich, dass wir hier wenigstens zwei unserer
Gegner als Zeugen wider die von ihnen vertretene These an-
rufen können. Denn ebenderselbe Rawlinson, der sich in der
Einleitung zu seiner Herodot-Uebersetzung in der angeführten
Weise ausspricht, kann sich in seiner letzten Anmerkung
(IV 3 , 466) des Eindrucks nicht erwehren, dass das Gesammt-
werk ,geschichtlich sowohl als künstlerisch* wohl abgeschlossen
sei: „geschichtlich, denn die Handlung endigt mit der sieg
reichen Heimkehr der athenischen Flotte von der Kreuzfahrt,
in welcher sie die letzten Ueberreste des Angreifers vernichtet
und durch die Einnahme von Sestos den Schlüssel ihres Con-
tinents, der sich nach allen Niederlagen des Feindes noch in
seinen Händen befand, zurückgewonnen hatte; künstlerisch,
indem das Ende durch das Sehlusscapitel wieder an den An
fang geknüpft, . . . der Grundton der ganzen Erzählung von
Neuem angeschlagen und auf ihre Moral hingewiesen wird,
dass der Sieg nämlich den kraftvollen Insassen rauher Berg
lande gehört* [wer denkt hier nicht an das Kernwort: tv) 'EXXäB:
ttsviy) piv odei xöte cuvTpoipo; eoti VII, 102 "?], ,die N iederlage den
verweichlichten Bewohnern fruchtbarer Ebenen, welche ihrer
alten kriegerischen Sitten vergessen und in Trägheit und Ueppig-
keit versinken*. 1 Und Wenig anders, freilich nicht minder sich
selber widersprechend, urtheilt Otfried Müller (Gr. Lit.-Gesch.
1 Ein neckischer Zufall hat es so gefügt, dass der Vorwurf der Inconse-
quenz, welcher hier Rawlinson mit Recht trifft, von eben diesem gegen
Dahlmann erhoben wird — auf Grund der unrichtigen Wiedergabe
einiger deutschen Worte durch einen englischen Uebersetzer. Dahlmann
schrieb nämlich (a. a. O., S. 138): ,Die Alexandriner theilten in neun
Musenbücher ein, was sie ausgearbeitet vorfanden; seitdem gilt die
unvollendete Schrift für ein in allen Gliedern abgerundetes, mit Bedacht
geschlossenes Kunstwerk. 4 In der englischen Uebertragung fehlt jedoch
das Wörtchen ,seitdem 4 , und ,gilt,‘ wird mit ,has all the value 4 über
setzt! S. Rawlinson I, 114, wo man übrigens eine Reihe der treffend
sten Bemerkungen über den Plan und Umfang des herodoteischen
Werkes findet, eine Anzahl weiterer Beweisgründe gegen die Dahlmann-
KirchhofFsche Ansicht, die wir vollinhaltlich billigen, jedoch aus Scheu
vor übermässiger Breite nicht ausdrücklich wiederholen.
Herodoteische Studien I.
147
I 2 , 490): ,Obgleich das Werk unvollendet ist, scldiesst es
doch mit einem Gedanken, der nicht ganz zufällig an das
Ende gekommen zu sein scheint, dass, wie der grosse Kyros
gesagt haben soll, nicht gerade das fruchtbarste, reichste Land
auch die tüchtigsten Männer hervorbringe/ Doch es fehlt
nicht an anderen, ganz ebenso deutlichen Anzeichen, welche
darauf hinweisen', dass Merodot an eben dieser Stelle sein
Lebenswerk beenden und beschliessen wollte. Wenn irgend
etwas das Hochgefühl, mit welchem der Grieche von den
wunderbaren Siegen seines Volkes las, zu steigern, seine
Freiheitsliebe zu entflammen, die Freude an den staatlichen
Einrichtungen seiner Heimat zu erhöhen vermochte, so war
dies die Einsicht in die zerrüttenden Wirkungen, welche der
schrankenlose Despotismus seines Gegners bis in den innersten
Familienkreis des Herrschers hinein zu üben geeignet war.
Und da sollte es ein Zufall sein, dass dem hellen Glanze von
Salamis und Artemision, von Mykale und Platää in den Wirren
und Gräueln am persischen Hofe eine Folie gegenübertritt,
wie sie dunkler nicht gedacht werden kann? Zufall sollte es
sein, dass uns gerade in einigen der letzten Abschnitte (IX,
108—113) der Einblick in jenes Pandämonium tobender Lei
denschaften gewährt wird, denen kein göttliches oder mensch
liches Gesetz, kein verwandtschaftliches Band, selbst nicht
das geschwisterliche oder das elterliche, Zaum und Zügel an
legt — ein Kreis, in dessen Mitte Xerxes, ein echter ,Purpur-
gcborner“, durch den knabenhaften Unbestand seiner Begierden
noch mehr die Verachtung, als durch deren Masslosigkeit den
Unwillen herausfordert? Und ganz ebensowenig wird es zu
fällig sein, dass der in den Eingangs-Capiteln ausgesprochene
Gedanke von dem uralten Gegensatz zwischen Morgen- und
Abendland hier wieder aufgenommen (IX, 116 greift unmittel
bar auf I, 4 zurück) und durch die Erinnerung an Protesilaos
(den ersten Griechen, der in feindlicher Absicht asiatischen
Boden betrat!) nachdrücklich aufgefrischt wird, dass an der
Begräbnissstätte eben dieses Heros ein Perser sich versündigt
und dafür entsetzliche Strafe erleiden muss. Wie ein leuchtendes
Symbol der vollendeten Befreiung Europas von der drohenden
Fremdherrschaft endlich — und dies ist das eigentlichste
Thema des ganzen Werkes — erscheint das in den letzten
io*
148
Go mp erz.
Worten der Geschichtserzählung 1 (IX, 121) erwähnte Weih
geschenk, welches die rückkehrenden Athener in die heimischen
Heiligthümer mitbringen, die Taue von den Brücken, welche
der Eroberer geschlagen hatte um die occidentalische Griechen
welt unter sein Joch zu beugen!
Allein warum — so mag man uns entgegnen — hat
ITerodot den Schluss seines Werkes nicht ausdrücklich und
unzweideutig als solchen bezeichnet? Ich antworte mit einer
Gegenfrage: Warum ist das Proömium so überaus wortkarg?
Warum ist es zugleich so knapp und so vieldeutig? Warum
verräth es von des Autors Absichten so wenig, von Inhalt
und Aufbau des Werkes so gut als gar nichts? Warum sagt
es uns nicht mit dürren Worten: Ihr werdet die Erzählung
der griechischen Freiheitskriege vernehmen und zugleich das
Wissenswürdigste aus der Natur- und Völkerkunde, aus der
Erdbeschreibung und der Geschichte der Vorzeit? Warum
gedenkt der Geschichtschreiber ebendort mit keinem Sterbens
wörtchen seiner persönlichen Umstände, seiner langjährigen
und mühevollen Vorbereitungen, seiner Studien und Reisen?
Warum versagt er es sich, auch nur den bedeutsamen Aus
spruch über den ,Wechsel alles Irdischen', den er Capitel 5
vorbringt., wie einen Lock- und Weckruf an die Spitze des
Buches zu stellen? Warum taucht er unverweilt in seinem
Stoffe unter, um nur gelegentlich und immer nur für Augen
blicke aus demselben emporzutauchen? Warum legt er seine
weitreichendsten Gedanken fast durchwegs den Personen seiner
Erzählung in den Mund und verschwindet hinter diesen so
schleunig und nahezu so vollständig, wie Aristoteles dies von
dem epischen Dichter verlangt? Man nenne dies Alles wie
man wolle: ,edle Selbstvergessenheit', strengen und vornehmen
Kunststyl, schriftstellerische Keuschheit, antike Naivetät, künst
lerische Objectivität, Scheu vor platter Ueberdeutlichkcit; nur
1 Es folgt nur mehr das Sätzchen: jund in diesem Jahre“ (es ist das
Jahr der Siege von Platää und Mykale!) ,begab sicli nichts Weiteres“,
worauf das Werk mit dem scheinbar absichtslos und darum nur um so
kunstvoller angeknüpften Rathschlag des Artembares und der vielsagen
den Antwort des Cyrus wie mit einer sinnvollen Gnome abschliesst. Wie
man hier von ,plötzlichem Abbruch“, von ,Ungeschicklichkeit“ u. s. w.
sprechen kann, ist mir schwer verständlich.
Herodoteische Stadien I.
149
vergesse man nicht, dass unser Autor in diesem Betracht genau
so verfahrt wie viele andere und nicht die mindest hervor
ragenden unter seinen Zeit- und Volksgenossen. An die epische
Dichtung haben wir bereits erinnert; aber auch ein Pindar
und ein Sophokles unterlassen es gar häufig, die inneren Be
züge zwischen verschiedenen Theilen einer Ode oder eines
Strophenpaares durch wegweisende Winke klarzulegen: sie
heischen die thätige Mitarbeit des Lesers. Und in wie hohem
Masse dies bei Plato der Fall ist, der an individueller Selbst-
entäusserung noch über unseren Geschichtschreiber hinausgeht,
dies weiss nachgerade Jedermann.
Dabei wird es denn hoffentlich wohl sein Bewenden haben.
Die Worte: ,und sie zogen es vor ein kärgliches Land als
Herren zu bewohnen, statt im Besitz eines fruchtbaren Saat
gefildes Anderen zu dienen', bilden den echten und rechten
Schluss des herodoteischen Geschichtswerkes. Die Muthmassung,
der Halikarnassier habe jemals eine Fortsetzung desselben bis
zur Zeit des peloponnesischen Krieges herab, oder bis zu
Kimon’s Tod, oder auch nur bis zur Schlacht am Eurymedon
geplant, ist nicht nur eine unerweisliche, es ist eine dem In
halt der Scldusscapitel, der Anlage des Werkes, der Neigung
und Begabung seines Urhebers gleich sehr widerstreitende
Annahme.
2.
Ueber (las Werthverliältniss der Handschriften, insbeson
dere des Codex Viudoboneiisis, des Sancroftianns und des
Vaticanus (123).
Kaum in Betreff eines anderen Schriftstellers des Alter
thums schwankt das Urthcil über die handschriftliche
Grundlage so sehr als bei Herodot. Fast jeder neue Heraus
geber bringt hier eine besondere Ansicht zu Markte, wenn er
nicht gar (wie dies bei Heinrich Stein der Fall ist) im Laufe
der Jahre deren zwei, einander schnurstracks widersprechende
zu Tage fördert. Wenn ich hier von Neuem auf diese Frage
eingehe, so geschieht dies nicht, weil ich das Urthcil, das ich
vor bald einem Vierteljahrhundert geäussert habe (Zeitschr.
f. österr. Gymn., 1859, S. 811, vgl. S. 824 ff.), irgendwie
150
Goraperz.
zu modificiren mich veranlasst sehe. Ich halte noch heute wie
ehemals daran fest, dass die durch den Sancroftianus, den
Vindohonensis, den Codex des Lorenzo Valla und (wie wir
seither durch Stein’s Mittheilungen erfahren haben) auch durch
den Vaticanns und IJrbinas, gleichwie durch mehrere andere
von' Abicht und Stein namhaft gemachte, aber bisher nicht
genauer bekannt gewordene Codices - vertretene Handschriften-
classe die treuere Bewahrerin der JTeberlieferung ist — die
treuere insofern, als sie trotz zahlreicher Lücken und Buch
stabenfehler, trotz des mehrfachen Eindringens von Glossemen
in den Text und ungeachtet der bekannten Kürzungen im
ersten Buche doch im Grossen und Ganzen von willkürlichen
Eingriffen ungleich freier ist als die andere Familie. Ver
dunkelt ward dieser Sachverhalt — für welchen es vorläufig
genügt, auf die classische Stelle V 91 (vgl. a. a. O. S. 826,
und Cobet in Variae lectiones, p. 419) zu verweisen — durch
den Umstand, dass jene andere, vornehmlich durch den Me-
diceus, den Florentinus oder Schellersheimianus und den Passio-
neus vertretene Familie in weitaus älteren und daher von
absichtslosen Irrungen freieren Exemplaren vor uns liegt; und
weiters ward der also erzeugte falsche Eindruck noch durch
andere Thatsachen, von denen sogleich die Rede sein soll, er
heblich verstärkt. Auf diese Fragen in ihrem vollen Umfange
einzugehen versage ich mir aus mehrfachen Gründen, haupt
sächlich darum, weil Cobet kürzlich die Stein-Abicht’sche
These von der Superiorität der Handschriftenclasse, die ich
fortan die zweite nennen will, in umfassendster Weise zu
bekämpfen unternommen hat und weitere Erörterungen über
diesen Gegenstand in Aussicht stellt (Mnemos. N. S. X, p. 400
sqq.). 1 Gleichzeitig ist jedoch der holländische Kritiker in einen
Irrthum verfallen, den die unvollkommene Beschaffenheit des
Stein’schen Apparates erzeugt hat und welchen ungesäumt zu
berichtigen ich mich berufen glaube. Er nennt den Vaticanus
123 (Stein’s R) den ,besten und ältesten' Vertreter der von
ihm gleichwie von mir bevorzugten Handschriften-Familie
(,Optimum omnium et antiquius ceteris . . . exemplum', a. a. O.,
1 Einen neuen Bundesgenossen in diesem Streit vermag ich eben noch in
einer Correctur-Note zu begrüssen: M. Wehrmann, de herodotei codicis
romani auctoritate (Halle, Decemb. 1882).
Herodofceisclie Studien I.
151
l>. 405). Er folgt liierbei nicht nur der ausdrücklichen Be
hauptung Stein’s (angeführt ebend. p. 403), sondern er zieht
auch aus des Letzteren Einzelangaben dasjenige Facit, welches
sich aus ihnen mit Nothwendigkeit ergeben musste. Allein
jene Behauptung ist falsch und diese Angaben sind
unvollständig. Was das Alter der Handschrift betrifft, die
Stein selbst dem 14. Jahrhundert zuweist (p. XI), so sei zu
nächst nur daran erinnert, dass die augenscheinlich und an-
erkanntermassen zu derselben Familie gehörige Wiener Hand
schrift von demselben Stein gleichfalls dem 14. Jahrhundert
zugesprochen wird (p. XIV). Was aber die Hüte des Codex
und seine .Rangordnung innerhalb seiner Sippe anlangt, so
muss der Leser der Stein’schen Ausgabe dieselbe aus Angaben
erschliessen, deren Methode ich — trotz meines lebhaften
Wunsches, jeden ungerechten oder auch nur herben Ausdruck
zu vermeiden — nicht anders als ungeheuerlich nennen kann.
Es wird nämlich ß an geradezu zahllosen Stellen als die
alleinige Quelle von Varianten genannt, die sich völlig identisch
auch im Sancroftianus und Vindobonensis (in beiden oder in
einem derselben) und fast sicherlich auch in andern Vertretern
derselben Classe vorfinden. Und nicht nur indirect wird hie
durch der falsche Eindruck von der ausserordentlichen Superio-
rität der vatikanischen Handschrift erzeugt, der Cobet zu dem
Ausspruch verleitete, ,alle anderen Handschriften“ (d. h. sämrnt-
Iichc Herodot-Codices ausser Stein’s A, B als Vertreter der
einen und R als Repräsentant der andern Classe) seien werth
ins Feuer geworfen zu werden, (a. a. O., p. 400); auch ganz
unmittelbar, nicht mehr durch blosses Stillschweigen über die
gleichartigen Lesarten der verwandten Handschriften, sondern
durch ein ausdrückliches ,ceteri“ oder ,rcliqui“ wird die Aus
schliesslichkeit jener Lesungen geradezu versichert! Ich schlage
fast aufs Gerathewohl ein Blatt der Stein’schen Ausgabe auf
(I 250—251) und merke von falschen Angaben der zweiten Art
(denn jene der ersten Kategorie aufzählen wollen, hiesse so
ziemlich jede zweite oder dritte Variante berichtigen) die fol
genden an: Zu II, 174, 4 bemerkt Stein: ,xal yjXi'cxsto Valcke-
naer: xorcaXfaxexo R, xaTiqUaxeTO ccteri“. In Wahrheit findet sich
xaracXloxeTo auch in S(ancroftianus) und V(indobonensis)! — Zu
175, 6: ,xat ä/Oogevov R: xaia^Oop&yp? z, xaxa/ v Ocp.£vov ceteri“.
152
Go mp er z.
R’s Lesart wird ebenso von SV dargeboten! — Zu 177, 24:
,xe Rz: T äs P, äs reliqui 1 . Mit Rz stimmt auch diesmal SV
vollständig überein. — Ich suche nach Argumenten, welche
irgendwie zur Erklärung oder Entschuldigung dieses monströsen
Verfahrens dienen können, und ich glaube deren zwei zu ent
decken. Einmal dürfte Herr Stein uns erwidern, dass er ja
selbst (Praef. p. XIV) den Leser darauf vorbereitet habe, die
Varianten der geringeren Handschriften (oder jener, die er als
solche ansieht) nur gelegentlich und aushilfsweise erwähnt zu
finden. Uns erscheint solch’ ein Vorgang überhaupt als unstatt
haft, denn Mittheilungen von so sporadischer Art, dass sie uns
keinerlei Einblick in die ,indoles‘ einer Handschrift eröffnen,
sind schlimmer als nutzlos; F. A. Wolfs Wort von den ,surda
oraeula nisi constanter consulentibus' darf wold noch nicht als
veraltet gelten. Doch man denke darüber, wie man wolle; 1
eine Lesart nicht erwähnen und ihre Existenz leugnen ist jeden
falls zweierlei; das letztere thut jedoch unser Herausgeber
durch sein ,eeterb und ,reliqui', und er erzeugt dadurch einen
Schein, der von der Wahrheit so weit als irgend möglich ab
liegt. Zweitens jedoch mag Herr Stein uns vielleicht erwidern,
dass er unter R nicht immer blos die eine Handschrift, son
dern mitunter auch den angeblichen Corrector verstehe, der
nach seiner Meinung in dem Stammcodex jener ganzen Classe
gewaltet habe. Etwas Derartiges scheint wenigstens aus zwei
Stellen seiner Vorrede hervorzugehen (p. XXVII): ,nam praeter
correctorem extitit alter quidam, quem dico 1P, desgleichen
(p. XXVIII): ,hoc vero dubium admodum, ab eodem illo qui
correxit, quem R appello, etiam decurtationem coeptam an
ab alio aliquo credamusb Sollten wir mit dieser Erklärung des
sonst Unerklärlichen seine Meinung getroffen haben, so bedarf
es kaum wieder der ausdrücklichen Bemerkung, dass auch
dieses Verfahren ein völlig unzulässiges ist. Denn nach dem
,index codicum“ (p. LXXVI) bedeutet die Sigle R so viel als
Vaticanus; und hiesse es nicht wie absichtlich Verwirrung
stiften und fortpflanzen, wenn man den ungewarnten Leser
durch den doppelsinnigen Gebrauch eines und desselben Aus-
1 Galt es an Raum zu sparen, so war es doch nicht allzu schwierig-, die Les
arten, welche alle oder die meisten Handschriften derselben Familie gemein
sam darbieten, durch eine besondere Sigle als solche kenntlich zu machen.
Herodoteische Studien I.
153
drucks (und nun gar eines zum Behufe der Orientirung er
sonnenen Zeichens!) willkürlich irreführte? Und ferner: seit
wann gilt denn der kritische Apparat als eine Stätte, an der
man constructiven Gebilden gleich jenem vermeintlichen Cor-
rector und seinen muthmasslichcn Leistungen Aufnahme ge
währen darf, anstatt dem Leser den objectiven Thatbestand treu,
nackt und scharf vor Augen zu stellen? So vermag ich denn
trotz redlichsten Bemühens keine irgend stichhältige Recht
fertigung für ein Verfahren ausfindig zu machen, welches in der
philologischen Literatur ebenso vereinzelt dasteht, wie es Herrn
Stein eigenthümlich ist. Hat doch eine ganz gleichartige Pro-
cedur schon vorlängst (es galt die zweite Auflage der eommcn-
tirtcn Hcrodot-Ausgabe) Herrn Abicht bittere Klagen entlockt. 1
Die zu erwartenden Folgen sind nicbt ausgeblieben. Herr
Cobet vor Allem — in dessen Arbeitsgewohnheiten es liegt,
meist nur eine Ausgabe eines Autors zur Hand zu nehmen
— ist durch Stein’s unzulängliche Angaben getäuscht worden.
Sein Urtheil über den Werth jener vaticanischen Handschrift
entbehrt mithin jedes sicheren Fundamentes. Die Frage nach
der Rangstellung von R innerhalb seiner Sippe bedarf einer
neuen Erörterung. Wir erweitern dieselbe zu der Frage nach
dem Werthverlüiltniss, in welchem S, V und R zu einander
stehen, indem wir von den übrigen Vertretern derselben Classe,
über welche uns jede sichere Kunde fehlt, nothgedrungcu ab-
selien müssen, darunter leider auch von dem sogenannten Codex
Mureti, welcher nach Abicht’s Mittheilung undFascimile (a. a. 0.,
p. 36—37) der weitaus älteste Sprössling dieses Geschlechtes
ist. Allein auch innerhalb dieser unvermeidlichen Beschrän
kung dürfte die Untersuchung, die wir mit aller nur irgend
erreichbaren Kürze führen wollen, eine für die Hauptfragen
der herodoteischen Textkritik keineswegs ergebnisslose sein.
Die Güte einer Handschrift bedeutet zweierlei : ihre
relative Fehlerlosigkeit und die relative Naivetät oder Absichts-
losigkeit der ihr anhaftenden Fehler. In ersterem Betrachte
gilt es zunächst jene Fälle ins Auge zu fassen, in welchen
1 ,Deinde vero etiarn Steinium nugari patet, in adnotatione critica liaud
raro scribentem „die Handschriften ausser T“ [so hiess die damals bevor-
' zugte Handschrift], id quod fere ubivis fictum atque commenticium est £
(De codicum Herodoti fide atque auctoritate, p. 36).
154
Go mp er z.
Cobet ganz ausdrücklich von den ,antiquae et verae Icctiones
ab Herodoti manu profectae 1 spricht, welche ,in solo Vaticano
codice 1 erhalten seien (p. 409). In dem ersten derselben
(IV, 3, wofür es irrthümlich III, 1 heisst) ist der holländische
Kritiker selbst von dem Vorwurf der Flüchtigkeit 1 nicht frei
zusprechen; denn hier hatte Stein, sicherlich richtig, angegeben,
dass die — von ihm freilich erstaunlicher Weise verschmähte,
aber schon von Gaisford, Bekker u. s. w. aufgenommene und
natürlich allein wahre — Schreibung e-etpa<pY] (statt erpoiorj)
sich im Vaticanus (und, wie Gaisford lehrt, im Sancroftianus,
desgleichen, wie ich aus Autopsie versichern kann, auch im
Vindobonensis) nur in leichter Entstellung (als eizeo-vpayri) er
halten hat. Hier ist also der Vaticanus nicht nur nicht der
einzige, sondern überhaupt kein Bewahrer des Ursprünglichen!
Im zweiten Falle: VI, 128, wo die gute, bereits von Schäfer
und Krüger in den Text gesetzte Lesart auvsstoi dem Passioneus
(Stein’s B) entnommen war (in welchem dieselbe nach des
Genannten Angabe jedoch nur von zweiter Hand und nicht
ohne die leise Trübung zu ouvexoi vorfindlich sein soll), ist, wie
ich wieder verbürgen kann, neben dem Vaticanus gleichfalls
der Vindobonensis Zeuge der echten Ueberlieferung. — Die
dritte Instanz ist Vn, 21, wo ebenfalls nicht nur ,optime romanus
über omittit xat et d et xpoa in TCpoaYsv6p.cvad, sondern S, V
und zum Theil auch andere Handschriften in diesen Auslas
sungen (gleichwie in der fehlerhaften Ersetzung von ai durch ob)
mit demselben übereinstimmen. Und in der That ist die Stelle —
bis auf die von Cobet mit Recht vorgeschlagene Tilgung von
obv. vor a^tai — genau so, wie er sie schreiben will, bereits bei
Bekker zu lesen, der von jenem Vaticanus niemals etwas
' Einer Uebereilung hat sich wohl Cobet auch dort schuldig gemacht, wo
er R’s (und SV’s) Lücke in VI, 105 durch den Verlust eines Blattes (unum
folium periit) im Stammcodex erklären will. Dann müssten 1, 77—79,
wo die drei Handschriften gleichfalls eine gemeinsame, und zwar genau
doppelt so grosse Lücke aufweisen (31—32 Zeilen der Stein’selien
Ausgabe neben 15—16 im ersten Fall), zwei Blätter verloren gegangen
sein. Ungleich wahrscheinlicher ist es, dass die VI, 105 fehlenden
40 Zeilen (zu 15—18 Buchstaben, wie Cobet ganz richtig ermittelt hat)
eine Seite und die I, 77—79 verlorenen 80 Zeilen ein Blatt, noch wahr
scheinlicher, dass die ersteren eine, dio letzteren zwei Columnen (oder
eine Seite) ausgemacht haben.
:~»i
Herodoteische Studien I. 155
vernommen hatte :■ aüxai tu xäGai ou3’ exepai xpo$ xauxrjci fsvoi*svat
<jxpaxr,Xa<jiac (xtrji; xfjcSe oüx. a^tat. 1 — Endlich, viertens, in dem
Satze (IX, 39): oi Jlspciat atpeiSeax; s^övsuov, [ou] (peiSögsvot oüxe
iwo^u-pou oüoevbg ouxs avöpwTcou konnte man das überschüssige oü
längst nach ,S al/ (so Gaisford, desgleichen fehlt es in V)
tilgen, und cs bedurfte auch hier nicht des neuen Lichtes, das
angeblich vom Vatieanus ausgegangen ist. (Wohl aber hat
Cobet das Verdienst, diese Besserung, die auch ich vor Jahr
zehnten in meinem Handexemplar angemerkt hatte, zuerst
ausgesprochen und als zweifellos richtig erwiesen zu haben.)
In Betreff all’ der anderen so überaus zahlreichen Varianten,
die Cobet zwar keineswegs insgesammt R allein beimisst,
von denen er aber doch annehmen muss, dass ein grosser
Theil nur dieser Handschrift eigen sei, da ja sonst sein Urtheil
(,optimus omnium et idem pessimus testis‘ etc. 404 — 405)
ganz und gar in der Luft schweben würde, — in Rücksicht
all’ dieser Lesarten, Lücken, Zusätze u. s. w. können wir uns
weit kürzer fassen. Sic sind, von ein paar nichtssagenden
Buchstabenfehlern (wie e^sgevexo, piXeva oder zpooxixesiv) und
von mehreren durch Homoioteleuton entstandenen Lücken ab
gesehen, durchwegs R mit SV, oder doch mit einem von beiden
oder auch mit anderen Handschriften gemein. Und obgleich
diese nicht von uns gewählten Stichproben genügen dürften,
so will ich doch noch die Erklärung beifügen, dass R meines
Wissens überhaupt keine nennenswerthen, im guten oder im
schlimmen Sinne charakteristischen Varianten darbietet, die ihm
allein eigenthümlich sind. Besteht nun keinerlei tief greifende
Verschiedenheit zwischen den Repräsentanten dieser Hand-
schriften-Familic? Gilt es gleich viel, welchen Sprossen der
selben man — falls wir nicht alle gleichmässig berücksichtigen
wollen oder können — zu ihrem typischen Vertreter erhebt?
Ich antworte: Ganz und gar nicht; es war vielmehr ein für
den Fortschritt der Herodot-Kritik geradezu verhängnissvoller
Umstand, dass der am frühesten und bis vor Kurzem allein
’ Beiläufig bemerkt, in dem analogen Fall IV, 28: 7)p.tovot 8k ou8k övoi [ oux]
avkyovrat äpyjjv, war das am, welches Stein wieder in den Text gesetzt
hat und Cobet mit vollstem Recht von Neuem tilgen will, bereits in der
Aldina (Gaisford nennt es die Vulgat-Lesart) und desgleichen Von Bekker
beseitigt worden.
SJ1L » .aw.Vg4MjS^J
156 Gomperz.
genau gekannte Repräsentant dieser Classe einer ihrer schlech
testen, wenn nicht gar ihr schlechtester Ableger ist — der
Sancroftianus, eine Handschrift, welche gar oft die Spuren
einer Willkür zeigt, die anderen Gliedern desselben Ge
schlechtes fremd geblieben ist und mithin nicht der Familie
als solcher und ihrem Stammvater zur Last fällt. Der Schreiber
dieses Codex oder seiner unmittelbaren Vorlage — und damit
wenden wir uns zum zweiten Theile unserer Betrachtung —
hat nicht selten zufällig entstandene Lücken ausgefüllt oder
verkleistert, Glosseme und das Glossirte mit einander ver
schmolzen , Textesschäden übertüncht und dadurch bis ins
Ungeheuerliche vergrössert — kurz, er hat mehr als einmal den
Pfad verschüttet, der zur Urgestalt des Textes zurückführen
konnte. Ihm gegenüber sind der Vindobonensis und Vaticanus
die ungleich treueren und naiveren Bewahrer der Uebcrliefcrung,
und Stein hat sich durch die Mittheilung der Lesarten des
ersteren ebenso sehr ein Verdienst erworben, wie er (wenngleich
in entschuldbarer Weise, da er einmal über die Bedeutung der
ganzen Classe eine falsche Ansicht gewonnen hatte) darin ge
fehlt hat, dass er sich mit der unglaublich unzulänglichen Col-
lation des Wiener Codex zufrieden gab, welche ein Unbekannter
vor mehr als einem Jahrhundert für Wesseling angefertigt hat
(vgl. Schweighäuser’s Ausgabe I, 2, XIII). Und fragen wir
endlich nach dem Werthverhältniss von V zu R, so muss die
Antwort also lauten: V ist der naivere und unbefangenere, mithin
der verlässlichere und werthvollcre der beiden Zeugen. Alle
diese Behauptungen wollen wir nunmehr durch eine Reihe von
nicht sowohl zahlreichen, als zugleich typischen und durch
sich selbst einleuchtenden Belegen zu erhärten suchen:
1. Willkürliche Verschmelzung eines Glossems mit dem
Text: In den Worten •/.cd '(ijq qj.ep(p, ctpoc/.r^aaaöai xpo? trjv ewutoü
p.oipav ßouX6p,evo<; (I, 73, 5—6) war ipipw durch smOup.wv erklärt
worden. Die Randglosse ist im Stammcodex der Classe in
den Text gedrungen und hatte die leichte Verderbniss von
•p)S zu yvjv (yrjv £cu0u[;.ü>7 ipipw VR) veranlasst. In S jedoch
liest man ytjv eiuGup.wv vfy.spov!
2. Verkleisterung einer Lücke in S: in, 148 fin. hatte
eine durch Homoioteleuton entstandene Lücke den Abschluss
eines Satzes und den Beginn eines andern verschlungen. R und
mm
Herodoteische Stadien I. 157
V zeigen die Lücke nackt, während S den Abgang (wie man
bei Gaisford nachlesen mag) aus eigenen Mitteln zu decken
bestrebt ist. Dasselbe geschieht
3. ein anderes Mal IV, 183, 2—3. Hier waren in der
S und V gemeinsamen Mutter-Handschrift die Worte zwischen
AtOioTOo; und AiOtcxei; ausgefallen. V bietet vollkommen treu und
vollkommen sinnlos: AiOioxap. xoSa? xäytaToi, S hingegen mit
dreister Interpolation: Aiöfoxai; ci x6oa? xayiaxot —.
4. Willkürliche Fortbildung eines geringen Buchstaben
fehlers: I, 111, 15 ist £(i)0w; in R zu ewpOwc, in V zu ewpOwc
(sic) geworden, in S hingegen zu cpöök 1 — Ebenso erscheint
5. [xeiEtOr) I, 114, 24 (das auch im Florentinus zu
verschrieben und nur nachträglich berichtigt ward) in V als
[j.£xfp/0-(j, in R als £[j.£xety_0-p, in S dagegen ist das Wort, offenbar
mit Rücksicht auf das fast unmittelbar vorangehende [j.axTrj'swv,
zu ejj.axii/Or; verschlimmbessert worden, desgleichen wurden
6. die Worte e? 4'wy.aiay epyovxai (II, 106, 11) leicht ent
stellt (zu e? pdr/.ai ävepyovxai in R, zu l? oaiy.ai ävepyovxat in V),
in S aber ward daraus: £9’ w y.a't ävepyovxoct. Nicht viel anders ist
7. elae d’vwv (III, 61, 3) in VR zu eiadytov verschrieben, in
S jedoch, wo man augenscheinlich das nunmehr fehlende Ver
bum zu ersetzen trachtete, weiter zu eicrf/ei verderbt worden;
gerade so wie
8. -/oipouc (H, 154, 10) in all’ den drei Handschriften zu
Zpovoup entstellt, nur in S aber das unmittelbar folgende ypovov
nun auch (wie zum Ersatz) in yüpov geändert ward.
Sind so die Fälle überaus zahlreich, in welchen V und R
die erste Stufe der Verderbniss darstellen, während die
Corruptel in S mit unheilvollem Scharfsinn weiter und weiter
tortgebildet ward, so kenne ich wenigstens keinen Fall, wo sich
von V Aehnliches behaupten Hesse. Freilich steht auch dieser
Codex gelegentlich gegen R zurück — so durch Ausfall eines
Wortes, welches in der Mutter-Handschrift von SV ausgelassen
ward (wie oeov nach oiioev III, 65, 6, das in S durch rjaaov er
setzt ward, in V hingegen unersetzt blieb), oder durch Weg
lassung von ein paar Buchstaben (wie denn III, 63, 10 ext0ep.£vov
m R zu £~i£[j.svov, in V zu ex'.evov zusammenschwand, während in
S der Text bis zur Unkenntlichkeit entstellt ward). In diesen
und ähnlichen Fällen ist jedoch in V keine Spur von Willkür
158
Gomperz.
oder mala fides zu erkennen; hingegen fehlt es nicht an Bei
spielen, in welchen V allein einen Textesschaden in seiner
primitivsten Gestalt darbietet, R und S jedoch (in gleicher
oder auch in verschiedener Weise) das Bestreben verrathen,
den Fehler in gleissneriseher Weise zu verdecken. Zwei In
stanzen mögen vorläufig genügen:
III, 4, 19 sind die AVorte amtrrsikai; Tptiflpet in R
und S zu i-cc~el\cez Tpiv-ps'i eip raiixiv verderbt worden. Nur in
V kann man den Ursprung des Fehlers gleichsam mit Händen
greifen. Im Stammcodex der Classe war EIC über KAT als
Erklärung beigeschrieben worden, und A r zeigt uns mit, einer
wahrhaft rührenden Naivetät das Glossem, wie es sich mitten
in den Text hineinschiebt — ohne den leisesten Versuch einer
Vertuschung oder Verhüllung —: Tpiqpsixa (sic) ei? xairroV.
II, 117, 8—9 waren im Stammcodex ein oder zwei Striche
unkenntlich geworden und somit lesen wir statt oixep eprapccOsv
(ewOecav ypäaöai) in V: ot xepcai xpscOev (aus OIIIGPGM ward
OinePCAi), in R jedoch nur mehr oixep xpoiOsv, in S endlich
gar blos o; xpsaöiv — ein Textesschwund, von dem aus es
ohne fremde Hilfe unmöglich gewesen wäre das Ursprüngliche
jemals wieder zu gewinnen.
Ich verzichte darauf, an dieser Stelle auch solche Fälle
namhaft zu machen, in denen die Lesart von V allein auf
die richtige Fährte und zur Verbesserung des noch immer
verdorbenen Textes führen kann; denn damit müsste ich einen
Boden betreten, auf welchem Meinungsverschiedenheiten zum
Mindesten möglich wären. Ich fasse vielmehr die Ergebnisse dieser
Erörterung wie folgt zusammen: Um die Lesarten der besseren
Handschriften-Classe in jedem einzelnen Falle mit voller Sicher
heit beurtheilen zu können, ist es unbedingt nothwendig, den
Archetypus derselben zu reeonstruiren. Die bisher erreichbare
Annäherung an dieses Ziel ist genügend um uns die Grundlosig
keit weitaus der meisten Anklagen erkennen zu lassen, welche
vordem (insbesondere von Abicht) gegen die Handschriften-Familie
als solche erhoben wurden und die in Wahrheit (insofern es sich
dabei nicht um naive und zufällige Irrungen handelt) zumeist
nur einen ihrer werthlosesten Abkömmlinge treffen.' R ist einer
1 Wie misslich die Lage Derjenigen geworden ist, welche die Superiorität
der ersten Handschriften-Classe noch immer hartnäckig bestreiten, kann
Herodoteischc Studien I.
159
der besseren Vertreter der ersten Handschriften-Classe, aber
keineswegs ein so guter, dass seine Kenntniss die Vertrautheit
mit den übrigen Sprossen der Sippe überflüssig machte. Höher
stellt durch unbefangene Treue V, dessen Lesarten bislang von
den Herausgebern so gut als gar nicht berücksichtigt wurden.
Noch höher mögen andere Handschriften stehen, von denen
wir zur Zeit kaum mehr als die Namen kennen. Ehe von
einer wahrhaft kritischen Ausgabe Herodot’s die Rede sein
kann, müssen alle Repräsentanten der ersten Handschriften-
Classe vollständig ausgebeutet und verwerthet werden. Stein’s
einseitige Bevorzugung von R war ebenso grundlos, als sein
systematisches Stillschweigen über die Mehrzahl der Lesungen
auch jener Codices, welche er genauer gekannt und gelegent
lich benützt hat, seine Nachfolger (wie Cobet’s Beispiel lehrt)
irrezuführen geeignet war.
3.
Zur Kritik und Erklärung.
Erstes Buch.
I, 2, 21 hatte Stein früher mit Gräisford, Bekker, Krüger
die Lesart von V und S pr. m. tbv KöXycv statt xbv Kokym
ßäaiXectj wie es sich gebührte, in den Text aufgenommen und
durch die Verweisung auf vieles Aehnliche bei Herodot (wie
uns Stein’s Beispiel lehren. Derselbe sieht sich zu Concessionen ge-
nötliigt, die seine Stellung vollständig unterhohlen, ohne doch den An
griff zu entwaffnen. Er muss — um unabweisbaren Thatsachen auch nur
einigermassen gerecht zu werden — das Walten eines Correetors an
nehmen, welcher in vielen und bedeutsamen Fällen das Richtige ex
ingenio gefunden und der sogar (ein im Alterthum und Mittelalter uner
hörter Fall 1) die Zeugnisse späterer Schriftsteller methodisch verwerthet
hat — und zugleich soll doch dieser eminente Kritiker den Text vielfach
mutliwillig bis ins Sinnlose entstellt haben! Und trotz dieser weittra
genden und widerspruchsvollen Zugeständnisse sieht sich Herr Stein
mehr als einmal vor die Alternative gestellt, entweder seine Theorie
über Bord zu werfen oder (und dies ist es, was er meistentheils vorzieht)
sonnenklare, von den stimmfähigsten Beurtheilern längst gutgeheissene
Verbesserungen (so zu IV, 73, 14 — 15 oder zu V, 91, 9—10) wiederaus
dem Text zu treiben und durch die sinn- und sprachwidrige Vulgata zu
ersetzen (vgl. Cobet’s mehrfach angeführten Aufsatz).
160
G om p erz.
o AuSii;, tw Topiw, xw’Apaßiw, ö üspaiQ^ u. s. w.) ausreichend begründet.
In seiner grossen Ausgabe ist er jedoch zur Lesart der Vulgata
zurückgekehrt und findet jene Variante nicht einmal mehr
einer Erwähnung werth! — Ich verzeichne diese charakteri
stische Thatsache, um an sie die Bemerkung zu knüpfen,
dass ich mit derartigen Rückbesserungen mich im Folgenden
zu befassen nicht beabsichtige. Auch zahllose andere Verbesse
rungen, welche Niemand verfehlen kann, der über das Werthver-
hältniss der Handschriften eine richtige Ansicht gewonnen hat,
können füglich einem künftigen Herausgeber überlassen bleiben.
Der Schluss von Cap. 5, der so viele Irrungen erzeugt
hat, ist augenscheinlich also zu verstehen: ,da sie (Io) sich
aber schwanger fühlte und die Eltern scheute, da sei sie frei
willig, damit es nicht ruchbar werde, mit den Phönikern davon
gefahren'. Die — schon bei Gaisford und Bekker mit Recht
in Beistriche eingeschlossenen — Worte atSsogevr) xoix; xoyiac
können nur die Empfindung bezeichnen, welche die Wahr
nehmung ihres Zustandes begleitet; denn unmöglich ist es, vor
oüxw OYj den Nachsatz beginnen zu lassen, auch dann unmöglich,
wenn man mit Herold und Krüger aiSeopivr, in aiSsopiv/jv ver
ändert. Ein Uebriges in sinnwidriger Uebcrtragung der Worte
thut übrigens Stein: ,und wie sie ihre Schwangerschaft gemerkt,
sei sie aus Scheu vor ihren Eltern und aus eigenem Willen'
(als ob dies zwei Motive wären) u. s. w. — Doch auch
solche Uebersetzungs- und Interpunctionsfehler gedenke ich
nur ganz ausnahmsweise zu berühren.
Eine grobe Interpolation in Cap. 18 scheint bisher nicht
bemerkt worden zu sein: xd \i,bt vuv ei; exea xwv e'voey.a ZacudxxY)?
o ’Äpäuot; eil Auowv r;py_£, [6 y.ai ecßäXXwv xrptxauxa kc, xrjv McXy)(ji'y]v
"i)v crxpaxt^v SaBudxxy;:; ouxo? -pap' y.ai 6 xov T:6Xep.ov fljv cuvdijjacl 1 xd
3b xevxe xwv exewv [xd kxogeva xoTat ’AXudxxY)<; 5 SotSuäxxew etroXb-
p.ee y.xe. Verrätherisch ist hier die unangemessene Anwendung
der Zeitpartikel TYjviy.aüxa, die aus Cap. 17 (oy.w? gev elrj ev xtj
Tfi y-apxbc, aopiq, xYjvr/tauxa IceßaXXs xrjv axpaxnjv) gedankenlos herüber
genommen ist, und der einmal rege gewordene Verdacht darf
wohl an der überdeutlichen Breite der völlig entbehrlichen
> Die Worte Saoudxtr); — auva^a; wollte auch Cobet tilgen; s. Bähr’s He-
rodot od. alt. I, p. X. Vgl. auch Excurs XI unserer zweiten Abhandlung.
Herodoteische Studien I.
161
Zusätze, sowie an der schwankenden Ueberlieferung eines Tlieils
der Worte neue Nahrung finden, sowie schliesslich und vor
nehmlich daran, dass jene Rückbeziehung eine unrichtige ist,
da an der soeben angeführten Stelle nicht von dem Vater,
sondern von dem Sohne die Rede ist. 1
Der Weg, der zur Herstellung von 27, 8—10 führt, ist
schon mehrmals betreten, aber nicht bis zu seinem Ziele ver
folgt worden. Schneidewin (Philolog. X, 330) und nach ihm Cobet
(Var. lect. 413) haben erkannt, dass die in mehreren Hand
schriften vorfindliclie Lesart dpäcröai das Ursprüngliche und
suysoöxi ein fremder Zusatz ist. Allein weder konnten sie es
wahrscheinlich machen, dass das von dem angeblichen ,Glossem
eüyacöad verdrängte dpäcGai nun auch ,an verkehrte Stelle ge-
rathen' sei, noch vermochten sie ferner die Ersetzung des In
finitivs durch das Particip (dpiopevot) zu erklären, noch endlich
that ihre Herstellung dem Ohr (und bei einem so rhythmischen
Schriftsteller, wie Herodot es ist, darf man auch daran erinnern)
ein volles Genüge. Der Geschichtschreiber schrieb weder:
VYjauÄTai; 8e Sozial? euysG0ai äXko r ( , eiterte vxyjattx eitüGovto ce
piXXovxa sm nanui vau-T ( yäea0ai veo:?, XaßeTv äptoptevoi AuSob? ev 0a-
Xdoovj —; (Stein mit der Vulg.)
noch auch: VYjoiwia? 8e tt Sozeei? apaoGai aXXo — Aaßelv
Auoou? av OocAdcGYj —; (Schneidewin, Cobet)
sondern: yrjoiwta? Sa ti Sozeei? äXXo fj •—■ Xaßeiv apacOat AuSou?
av OaXaoov] —;
Zur elliptischen Ausdrucksweise — welche die Wirrnisse
der Ueberlieferung vollständig erklärt 2 •— vergleiche man bei
1 Vielleicht vermisste der Interpolator eben eine Angabe über die Methode
der Kriegführung des Sadyattes gegen Milet und wollte diesem Mangel
durch den Zusatz abhelfen: .auch dieser hat gleichfalls in der über
Alyattes berichteten Weise Krieg geführt 1 , was nur zu sehr undeutlichem
Ausdruck gelangt ist.
2 Die Verkennung der Ellipse hat nämlich die Einschiebung des Infinitivs
EÜyeaOai und diese die Ersetzung des nach und neben EÜyEoOai unmöglich
erscheinenden äpaaOai durch äpmpEvoi zur Folge gehabt. Der glückliche
Zufall, welcher die Lesart ctpäaOat in einigen Handschriften erhalten hat
(im cod. Kerniger, und in den Parisini c. und 1 a, in letzterem neben der
Marginalvariante aptopEVo:, nach Wesseling, Schweighäuser und Gaisford;
nur im Paris, a und im Florent. von zweiter Hand nach Stein), eröffnet
uns den sicheren Einblick in einen Process, den sonst kein menschlicher
Scharfsinn aufzudecken vermocht hätte.
Sitzungsbor. d. phil.-hist. CI. CIII. Bd. I. Hft.
11
162
Gomperz.
Herodot selbst II, 14, 2—3: allo ti 1) oi TatixY] oiyiovxec Alfuimtov
Tceivifcoum —; und VII 168, 11—13: ?,v -pap <r?«Afj, o^süf ys oüSev
aXXo y) BouXsusouct x^ ^pwTY] xwv y;ij,sps(ov (ferner viel Derartiges bei
Krüger 62, 3, 5 und 7 oder auch Xenoph. Anab. V, 7, 26: v-A
toutou? ti Boy-slxs; oder Plato Meno 80 A: ox: ou ouBev aXXo i) aüxög
x6 äiropeu; y.xl.).
Ueber Solons Gespräch mit Krösus, dessen legendenhafter
Charakter in alter wie in neuer Zeit vergeblich bestritten
worden ist, wäre in sachlicher wie in kritischer und sprach
licher Rücksicht gar Vieles zu sagen; ich beschränke mich
auf wenige Bemerkungen. Den Widerspruch, der darin liegt,
dass die ,Lust die Welt zu sehen' zuerst als Vorwand (xcaa
Ö£up(-(); irpo<paatv, tva Bf, |j.y] xte. 29, 3) und gleich darauf als
ein realer Beweggrund (aüxtov By; uv xoixcov v.ccl tvj<; 6e(optr]<;—
£tvey,£v 30, 7—8) bezeichnet wird, löst die folgende Erwägung.
Es war ein Tlieilmotiv, welches von Solon als alleiniger Beweg
grund geltend gemacht wurde; insofern und im Gegensatz zu
dem gewichtigeren, aber unausgesprochenen Motiv, der Hintan
haltung von Verfassungsänderungen zu Athen, durfte es ein
Vorwand heissen. Mit ähnlicher Ungenauigkeit drückt sich
einmal W. v. Humboldt aus (Briefwechsel mit Goethe, S. 257):
,— wo ich unter der Ursache und dem Vorwände der
Geschäfte jede Gesellschaft mied'. — Eine crux interpretum
bilden seit jeher die Anfangsworte des Cap. 31: w? 31 xa y.axä
x'ov TeXXov xposxps4axo 6 SöXwv xov KpoDcv £?ica? koWol x£
y.ai oXßta, Eirsipwxa xt'va BeuxEpov p,sx’ sxeTvov iBoi, Boy.swv itäyyy
BeuTepeia füv ol'cscOat. Dass hier eine Textesstörung vorliegt,
dies lassen uns schon die ebenso gewagten als weit ausein
ander gehenden Uebertragungsversuche der Uebersetzer, gleich
wie die verzweifelten Auskunftsmittel der Erklärer erkennen.
In der That entziehen sich die Worte jedem sprachlichen
Verständnisse und jeder vernünftigen Auslegung. Denn weder
ist es erlaubt, mit Stein zu ixpoETpsitaxo ein ,sc. sipwxav' hinzuzu
denken oder besser zu dichten, noch konnte (wie schon Herold
dargethan hat) die Schilderung jenes schlichten Bürgerglücks
den stolzen König von Lydien ,immer begieriger' machen
weiter zu fragen (Lange), noch lässt sich Krüger’s Deutung:
,als Solon die Vorzüge des Tellos dem Krösus einleuchtend
gemacht hatte' mit den überlieferten Worten irgendwie in
Herodoteische Studien I.
163
Einklang bringen; Rawlinson endlich (,thus did Solon ad-
monish Croesus by the example of Tellus, enumerating the
manifold particulars of hi« happiness; when he had cndecb etc.)
vermeidet zwar einige der Klippen, an denen seine Vorgänger
gescheitert waren, ohne jedoch seinerseits in den sicheren Port
einer befriedigenden Uebertragung einzulaufen. 1
Ich verändere mit G. Herold (Jahrb. f. Philol. 1857, S. 424)
ei'-ai; in eitoxi, 2 will aber keineswegs mit dem trefflichen Gelehrten
Solon und Krösus ihre Stellen vertauschen lassen, sondern den
Satz wie folgt verstanden wissen: ,Als nun Krösus nothge-
drungen das Loos des Tellos hoch und glücklich gepriesen
hatte, da* u. s. w. War es denn — so frage ich —- denkbar,
dass ein Meister der Darstellung, wie Herodot es ist, uns von
der Art, wie Krösus die Mittheilung des Solon aufnimmt, kein
Sterbenswörtchen berichtet? Nahm der König dieselbe starr und
stumm wie ein Steinbild entgegen, ohne ein Wort der Zustim
mung oder-auch des Widerspruchs zu finden? Jedenfalls musste
ein guter Erzähler uns auch dies ausdrücklich sagen und durfte
es nicht blos zwischen den Zeilen lesen lassen. Wenn nun
aber (nach meiner Auffassung der Stelle) der steinreiche lydi-
sche Fürst das Loos des einfachen athenischen Bürgers mit
vollen Backen preist, halb aus Höflichkeit gegen den gefeierten
Gastfreund, und zur grösseren Hälfte um den Ausspender des
zweiten Glückspreises bei guter Laune zu erhalten (oov.smv
«rf/u BsuTEpeTa -(Gr/ oi'a-saOdt!)—wie heiter musste dies doch den
antiken Leser stimmen und mit welchem schmunzelnden Behagen
1 r.poxpir.saOau heisst nicht schlechtweg ,ermahnen' (und auch dieser Be
griff würde dem Zusammenhang nicht wohl entsprechen, sondern besten
falls jener des Belehvens), sondern ,antreiben, drängen, nöthigen', sei
es nun, dass ein nachfolgender Infinitiv oder dass ein Accusativ mit
Jtpo's oder ir.l die erforderliche Gedankenergänzung bietet (vgl. Herold
a. a. 0). — Auch Eijrsiv xtva xoAAx te xai o'Xßict kann nicht das bedeuten,
was Rawlinson es bedeuten lässt. Han vergleiche beispielsweise Sophocl.
Electr. 523: V.ax'o; Z{ as Xfpco, frg. trag, adesp. 447: ouosi; av zuzoi xstvov
avOpdmcov xx‘/.'7)c, Chaeremo frg. 24: ou^ fl); vopf^Ei; xo cppovstv fka; zaxrTi;
und daneben Aristoph. Eccles. 435: ra; uxv yuvatxa; ~ö).)7 ayaOa Ae'yee, a:
8e||jioXXc( xax.ä. Und hieran vermag das Hendiadyoin r.oWi xe xai oXßia
nichts zu ändern; s. Krüger 69, 32, 3 und (worauf Stein verweist)
Herod. VIII, 61, 9—10; IX, 107, 15—10.
2 Mehrfache Beispiele derselben Buchstabenverwechslung eben in den
Herodot-IIandschriften habe ich Krit. Beiträge III, 14 zusammengestellt.
11*
164
G o m p e r z.
mochte er aus dem nächsten Abschnitt ersehen, dass der Liehe
Mühen umsonst gewesen, dass die dem griechischen Lehens
ideal widerwillig dargebrachte Huldigung unbelohnt geblieben
war. — Der Wechsel des grammatischen Subjects kann ange
sichts der weit grelleren Fälle, wie sie uns insbesondere I, 33,
I, 114, 21—22, VI, 30 in., VH, 208, 18—19 aufstossen, nicht
im Mindesten befremden. Die Phrase ixoXXa xe y.ai oXßta endlich
gewinnt einen eigenthtimlich ironischen Beigeschmack, wenn
man sich der ganz anders gearteten, auf Fürstenmacht Und
Herrscherglanz bezüglichen Anwendung dieser Wortverbindung
erinnert, welche uns in der allbekannten Sardanapal-Grabschrift
begegnet (Choeril. Samii quae supers., ed. Näke, p. 196):
xaux’ ’i/tj) oaa’ 'ioa'(o') y.ai ssüßpica y.ai cuv k'pwxt
xspxxv’ hrafiov, xd Sk ixoXXa y.a't oXßta xxavxa XsXecxxai.
Cap. 32, 12 erörtert Solon die Frage nach dem Werth
des Reichthums und gelangt hierbei zu folgendem .Ergebniss:
Der Steinreiche, aber im Uebrigen vom Glücke nicht Begün
stigte besitzt vor dem massig Bemittelten, aber sonst Glück
lichen zwei, dieser aber vor jenem vielerlei Vorzüge. Die zwei
Vortheile des Ersteren bestehen in der Fähigkeit, einen schweren
Schicksalsschlag leichter zu ertragen und eine Begierde leichter
zu befriedigen. Die vielerlei Vorzüge des Letzteren aber setzen
sich aus all’ den Segnungen zusammen, die das Glück seinen
Günstlingen gewährt und über welche der Besitz von Geld
und Gut keinerlei Macht verleiht. Dieser klare und so weit er
reicht, richtige Gedanke ist aber durch ein altes Missverständ
nis, welches die Interpunction verderbt und die Einschaltung
der Adversativ-Partikel 8e am Unrechten Orte veranlasst hat,
bis zur Unkenntlichkeit entstellt worden. Man verstand und
versteht nämlich die Worte xaüxa ok yj äixu/b) oi äzepuxsi dahin,
als ob der wenig begüterte euxu^vj? auch von jederlei Schicksals
schlag und vor jedem Verlangen bewahrt bliebe. Wäre aber
dies richtig, dann hätte ja der pifa xxXoüaioi; ävoXßio? 8e vor seinem
Widerpart nicht etwa ,nur zwei Vorzüge' (ouolci xrpor/Ei —
p.oüvov), sondern überhaupt keinen voraus! Denn wenn dem A
ein Heilmittel gegen eine Krankheit eignet, B hingegen das
Heilmittel entbehrt, aber von der Krankheit ohnehin verschont
wird, wo bleibt dann A’s Vorzug? Man übersetze die Stelle
Herodoteische Studien I.
165
(und schreibe die fraglichen Worte) vielmehr also: ,Der gewaltig
Reiche, aber im Uebrigen Unglückselige besitzt nur zwei
Vorzüge vor Jenem, welchem das Glück hold ist, dieser aber
vor dem Reichen und Unglückseligen gar viele. Der Letztere
ist vermögender eine Begierde zu befriedigen und einen Schick
salsschlag, der ihn trifft, zu ertragen ; Jener aber hat Folgendes
vor ihm voraus. Einen Schicksalsschlag freilich und eine Be
gierde zu tragen ist er nicht gleich vermögend, allein vor dem
was ich nunmehr nennen will, bewahrt ihn sein günstiges Ge
schick: er ist frei von Gebrechen, von Siechthum und von
Leiden — mit Kindern gesegnet und mit Schönheit (Tauxa Ss
■rj sinu/tY] o't awEpuzet • a-r)poc [äs] eaxt «vouao? ÄTtaOY]; xaxÄv, sfcat?
EüEtC'öt;). Wenn er nun überdies noch sein Leben wohl be-
schliessen wird, dann hast du den Mann gefunden, den du
suchst; 1 er verdient es, glückselig zu heissend — Zweierlei, so
1 Die Worte ouxo; IxeTvo; tov au bilden ein in sich abgeschlossenes
Satzglied, indem die Copula zu oüro; ixetvo; (genau so wie zu o8’ eyw,
toS’ ixefvo, au xeivog u. dgl.) hinzugedacht wird. Vgl. Arist. Poet. c. 4
(1448 b , 16—17): — p.avOavEtv xoct auXXoyf^Eaöai x£ Exaaxov, otov oxt ouxo«;
exeTvo;. Lucian. Somn. c. 11: — fxaaro? tov TcXrjalov xiv7jaa; 8sö*si aE xw
BaxxuXo), ouxo? exeTvo«; X^ytov. Derselb. Herodot. s. Aetion §.2: — EÖstxvuxo
av xw 8axxuXto‘ouxo ; exeTvo?, 'Hpoooxo'? iaxiv, 6 xa; p.ayas xxl. Man sieht,
wie unmotivirt Stein’s Bemerkung ,iax( ist von seinem Bezüge gesperrt 4
und wie grundlos seine angebliche Besserung 6 o'Xßio; statt oXßto; ist. —
ä^pos (in den meisten und besten Handschriften zu aTtsipo; verschrieben
und von Heinsius wieder hergestellt) bezeichnet — gleich oXo'xXrjpo; —
den im Vollbesitz seiner Gliedmassen und im Vollgenuss seiner geistigen
und leiblichen Fähigkeiten befindlichen Menschen und ist somit das an
der Spitze dieser Aufzählung man möchte sagen allein mögliche Wort,
das man sehr mit Unrecht um seiner Seltenheit willen angefochten hat.
ocraOrj; xaxwv muss man, damit es eine Species neben anderen Species
und nicht ein allumfassendes Genus bedeute, in eingeschränkterem Sinne
als z. B. II, 119, 13; V, 19, 2; VII, 184 in. oder bei Plato Phaedr. 250 C
verstehen, wohl von Körperleiden (vgl. p, 384: p.avxiv ^ trjxrjpa xaxwv).
Der Widerspruch, der darin zu liegen scheint, dass der euxu/^ dennoch
von einer gelegentlichen ax7) getroffen wird, ist mehr sprachlicher als
sachlicher Art. In Wahrheit vergleicht Herodot nicht sowohl den rcXouaio;
mit dem eOxu^;, als den 7iXouxo; mit der suxuy fa. Dass die letztere in
keinem einzelnen Falle zu vollständiger Verwirklichung gelangt, dies
gesteht er ja alsbald selbst in der rückhaltlosesten Weise (za rcavxa (jle'v
Vuv. xauxa auXXaßEtv avOptorov so'vxa aduvaxo'v eoxi). Im höchsten
Grade ungereimt wäre es hingegen, dem Euxuyrj«; — wie die gegnerische
Auffassung dies erheischt — jede e^iOu(j.(a abzusprechen. (Bereits Werfer
166
Gomperz.
scheint es, hat den uralten, schon in der Anführung bei Stobäus
(Floril. 105, 63) erkennbaren Missverstand verschuldet: die
minder gewöhnliche, aber durch eine Fülle von Beispielen auch
bei Herodot gesicherte Verwendung von ,oüxoimit Bezug auf
Folgendes (vgl. Stein zu I, 137), und die unerwartete Wen
dung, mittelst welcher statt der Güter, deren der Glückliche
theilhaft wird, die Uebel genannt werden, vor welchen er
bewahrt bleibt, woran die zwei positiven Glücksfactoren, die
Solon namhaft macht, nicht ohne eine kleine Unregelmässig
keit sich anschliessen.
Die ganze Stelle ist auch darum so interessant, weil sie
wohl die älteste Anwendung der von J. St. Mill so genannten
Differenz-Methode auf moralische Gegenstände enthält. Herodot
will die damals viel verhandelte Frage über den relativen Werth
der Lebensgüter (man vergleiche vor Allem die auffallend ähnliche
Erörterung bei Euripides frg. 287) durch ein ideales Experi
ment entscheiden. Auf der einen Seite steht der Reichthum,
zur höchsten Potenz erhoben und von seinen natürlichen Con-
sequenzen begleitet, aber losgelöst von allen sonstigen Glücks
gütern ; auf der anderen Seite der Inbegriff der übrigen Glücks
gaben: leibliche und geistige Integrität, Gesundheit, Schönheit,
Kindersegen (nicht blos der quantitative) — und nun wird aus
dieser Gegenüberstellung die Bilanz gezogen. In methodischer
Beziehung mag man Platos, freilich ungleich geist- und lebens
volleres Experiment mit dem unsichtbar machenden Ring des
Gyges in der Republik vergleichen.
Die der irrigen Auffassung des Zusammenhanges entstam
mende Einschiebung eines oe lässt sich in unserem Texte, falls
ich nicht irre, noch mehrmals nachweisen, am sichersten wohl
VIII, 137 : I]crav yap x'o ttdXou -/.fiel cd xupavvi'Sec; xüv avOptoTtwv acOs-
V££c , o'u p.ouvov 6 c-qp.05 • Y) [Sb] vuvy] xou ßasi\ioq auxr; xd cnxix
G<pi Ixecce. Stein hat hier durch eine Umstellung helfen wollen,
welche eine der hervorstechendsten Eigenthümlichkeiten des
herodoteischen Sprachgebrauchs einfach wegwischt: die Voran
stellung des begründenden Nebensatzes, gleichviel ob der Haupt
satz mit einem xou', 3s oder dXXd an das frühere angeknüpft
wollte, wie seine Andeutung Acta monac. I, 98—99 lehrt, xctux« auf
das folgende beziehen •, doch hat er diese Auffassung weder begründet
noch in ihre Consequenzen verfolgt.)
Herodoteische Studien I.
167
wird, oder ob, wie an unserer Stelle, jede solche Verbindung
mangelt (vgl. Valckenaer ad loc.). Beispiele des letzteren und
selteneren Falles bieten IV, 162, 2: xoDti eiui itavxl yäp tu 3ioo-
|Asvu> Fas je, xeXeuxaibv o\ e^eirepijie ouipov xx 5. oder VIII, 94, 24 :
xaüxa Xefcvcuv aroaxeetv yap xbv ’ASeipavxov, aux:? xaSe Aeyeiv xxe. 1 —
Missverstanden ward in. E. diese Construction, ohne dass jedoch
mehr als die Interpunction darunter gelitten hätte, auch I, 112,
17 ff., wo ich die Sätze wie folgt zu verbinden empfehle: exel
xoivuv ob ouvapai cs. ireiOetv pf) exOelvat, ab oe uos xoitjocv sl br\ iräoa
■ye (js Gbiisf., Bekk. mit den besten Handschriften) md^y.-q
ötpOijvai exy.eip.Evov, 2 xexoxa ydp xai eyth, xexoxa os xeOvec?, xouxo pev
fspwv TxpoOe?, xov oe cfjs Äoxuayeo? Ouyaxpb? TralSa üc ei; rjpeiov eovxa
xpetpup.sv.
I, 38 spricht Krösus zu Atys: sl? yap pot pouvo? xuy/ave«;
eaiv jxai? - xov -(dp or] exspov Stetpöappsvov xyjv axorjv oüx eTvai poi
Xoyöjopai. Es ist traurig, dass man wieder die Feder ergreifen
muss, um die von Reiz vorgeschlagene Tilgung der durch
schossenen Worte von Neuem zu empfohlen. Freilich brauchte
,die Sage' es nicht zu achten, dass ,der bisher taubstumme
Sohn' des Krösus bei der Einnahme von Sairdis, als er vor
Schreck und Aufregung die Sprache gewinnt, ,sofort dem
Perser verständlich spricht und den Namen seines Vaters' weiss
(Stein zu I, 85). Allein Herodot kennt ihn eben nur als stumm.
Er nennt ihn I, 84 xä pev äXXa eiueixr)?, ä'ipuvo? Se und
wieder 85 6 Se -ai? ouxo? o dfpuvo?, desgleichen 34 xmv ovxepo?
pev StetpOapxo, rjv ydp 3v) xwipo?, was (wie der Orakelvers 3
1 Andere Beispiele siehe bei Melander, De anacoluthis Herodoteis p. 54—55.
2 An der Stelle, wo der Hirt den Befehl empfängt, das Leben des kleinen
Cyrus unter keinen Umständen zu verschonen, liest man (I, 110 fin.):
5)v p.7] ar.oy.TEhr^ auxci aXXa xs<;> xporcip Tusputonjori —. Nicht quodam
modo, sondern quocunque modo verlangt jedoch der Zusammenhang
(anyhow übersetzt Eawlinson mit Beeilt). Also: «XX’ otem xpdr.w wie
II, 121, 3: oxeüi xpdjtü) oivaxai —.
3 Als ein Curiosum mag es gelten, dass Stein auch bei dieser Stelle an
der Bedeutung taubgeboren, d. h. taubstumm, festhält und den Vers
nunmehr wirklich so übersetzt, wie ich Zeitsehr. f. üsterr. Gymn. 1857,
445, um seine Auffassung ad absurdum zu führen, scherzhaft empfohlen
hatte. Oder vielmehr womöglich noch verkehrter, nämlich nicht: ,Und
den Tauben vernebln ich 1 — sondern: ,Merk’ den Gedanken des
Tauben und höre die Sprache des Stummen.“ In Wahrheit bedeutet
168 Gomperz.
xai xoxpou o'j'HYjp.! xai oü ^uvsuvto; äxo'jw Cap. 47, 2 lehrt) auch
bei Herodot wie sonst mehrfach ,stumm', nicht ,taub‘ be
deutet; und endlich musste denn der Vater dem Sohne erst
sagen, welches das Gebrechen seines Bruders sei, ja kam es
denn in diesem Zusammenhänge überhaupt darauf an und nicht
vielmehr blos darauf, dass der unglückliche Prinz SisipSappivog
und nicht 6X6xXii)pog sei? Nicht weil er taub oder stumm oder
auch taubstumm, sondern weil er ein Krüppel und somit zur
Uebernahme der Regierung unfähig ist, darum zählt er dem
königlichen Vater so wenig, als oh er nicht vorhanden wäre.
Der Satz, in welchem Herodot sein Befremden über die
plumpe List ausspricht, mittelst welcher Peisistratos seine Rück
kehr nach Athen bewerkstelligt hat, 60, 10 ff., scheint sich
mir ohne Annahme einer Lücke jeder verständlichen Deutung
zu entziehen. Denn die geistige Ueberlegenheit der damaligen
Griechen über Nichtgriechen und der Athener über die sonsti
gen Griechen macht jenen Vorgang zwar erstaunlicher oder
wenn man will unbegreiflicher, aber nicht einfältiger 1 als er
an sich ist, und somit vermag ich nicht abzusehen, wie der
Hinweis auf jene Thatsachen das Urtheil eüvjOscraTov — p.xxpw irgend
zu begründen im Stande ist. Und pflegt sich denn unser Ge
schichtschreiber sonst so unbeholfen auszudrücken, wie es hier
der Fall ist: p-v^aveovTai — Tip^yga surjöscrtaxov —■ s! xai tote —
p.rp/aveo'ua: xoiaSs? Es muss ein kleines Satzglied ausgefallen
sein, welches eben der Verwunderung des Historikers directcn
Ausdruck lieh. Ich setze ein solches beispielsweise ein: — p.yj-
/avEovtat ovj Eid r?) xatöSw ftpipfp 51 EÜyjÖEtjTaToy, wq Efa) EÜpiaxo), p.a-
xpw. (Otnup.a Y«p p.oi), exel ve cbtexpiOr) ex xaXaciepou toü ßapßäpou [eO-
der Orakelvers, ohne jeden Pleonasmus: ,Ich verstehe das Lallen
des Stummen und ich höre den, der keinen Ton von sich gibt. 1 Ebenso
werden auvlrjpi und äxouco verbunden bei Hippocr. VIII, 671 Littrd:
— xai pr) äzoücov, p.rj3e Ijuvief;, OctvaxwSr);; oder bei Demosth. Midian.
§. 50: ei raup ctxouaaiEv xai auvsiev ol ßdpßapoi. Die unarticulirten
Laute des Stummen sind ebenso wenig auvEiä, wie es die articulirte Rede
eines Fremdsprachigen ist; vgl. Herod. II, 57, 8.
1 Freilich mag man eine Speculation auf die Unbildung oder Leichtgläubig
keit eines Volkes um so einfältiger und abgeschmackter nennen, je weniger
jene Voraussetzung zutrifft. Doch kann dies nur dann geschehen, wenn
der Versuch erfolglos geblieben war, was hier eben nicht der Fall ist.
Herodoteische Studien I.
169
veo?] 1 tö 'EXXirjvtx'ov e'ov xai 3e?tü)xepov xai eÖYjöeir;? yjatöiou a-yXXaygsvov
gäXXov , ei xai xoxe -ye ouxot ev ’Aörjvaiotct xotai xpcoxoiai XEYOgevotut
elvat ‘EAXijvwv co<pir ( v p.yp'aveovxai xota3e. Vgl. IX, 65, 4: öwOga 3s got
oxw? — oi)31 et? etpävvj xwv Üspaeiüv xte. (oder VI, 123, 17 OtoDga uv
got xte.) Zur Verbindung von Omugdigo und dergleichen mit et
(z. B. VIII, 8, 1 Gtougal^w 8e et xa leyogevä eoxt äXYjöea) mag
man die analogen Wendungen der englischen Sprache ver
gleichen : I marvel oder I wonder how, why u. s. w., was ebenfalls
heisst: ich staune und frage mich wie, warum u. s. w. Diese
Ausdrucksweise ist bei Herodot mehrfach verkannt worden,
so IV, 30 in.: Ocougocigo oe — oxt (lies o xi) ev x^ ’HXenr) xacp /Opy)
ou Suveaxac yivecrGat rjgtovot. Denn die Verbindung Otougalgo oxt wird
man bei unserem Autor vergebens suchen, hingegen entspricht
dieser Stelle aufs Genaueste VIII, 65, 15: ä-oGcougäi^etv xe craea?
x'ov xovtopx'ov oxeuv xoxe enj ävOpmxwv. — Ueblere Folgen als hier
hat das Missverständniss VII, 125 fin. gehabt, wo es die Inter-
punction gestört und (irre ich nicht) auch eine Interpolation
veranlasst hat. Ich lese: Owugä^w Se x'o al'xiov o xt xoxe vjv, 7wv
aXXwv [x'o ävayxaig)v| axe/oge'vou? xobp Xeovxa? x^ot xagi)Xoici ext-
xtöeaOat —. ,Ich frage mich verwundert, was wohl die Ursache
gewesen sein mag, dass - ' u. s. w. Gleichfalls sprachwidrig
oder doch dem herodoteischen Sprachgebrauch zuwiderlaufend
ist die Verbindung von Gtouga xoieeaOat mit xcept c. gen., wie sie
an einei- mehrfach interpolirten und irrig gelesenen Stelle be
gegnet, die icli daher lieber zum grösseren Theil hieher setze;
III, 22 fin. sqq. : xpb? xauxa 6 Atöt'otp obSev e<pr; (so statt e®y)
oü8ev SVR) Owugd^etv et Gtxeogevot xbxpov exea o/dya igßoucr obSe yäp
äv xooaöxa !gj>eiv SuvaaOat Gpea? (statt 3. ’Q. orep. SVR), ei gr, xw xc-
gaxt äve®epov, tppdi^wv |xoigi ’UÖuopäyotoi secl. Krüger] x'ov ctvov
1 xö ßdpßapov eOvo; kann unmöglich das gesummte barbarische Wesen be
zeichnen, welches hier dem ganzen hellenischen (tö MiXX»)Vtzöv z. B.
I, 4 fin.; I, 58 in. u. s. w., ebenso xö neXctciyizdv I 57, 6) entgegengesetzt
wird, xö ßapßapov gebraucht genau so unser Autor VIII, 19, 18, des
gleichen Dionys. Halic. (Antiquit. rom. I, 12 = I, 15, 22 Kiessl.), der
Nachahmer Herodots, der I, 29 ein Stück aus den unmittelbar vorher
gehenden Capiteln 57—58 anführt. Beiläufig, Sauppe’s Verbesserung der
wichtigen Stelle I, 58, 15 —16, lässt sich wohl zugleich etwas sprach-
gemässer und minder gewaltsam also gestalten: — aiilpjxai I; xXfjöos
sOvs'tüv 7to),).(jjv, xtov (IkXaayaiv) gdXtaxa 7tpoaxsytop7]xdx(üv xxl. Zu rXfj'Oo;
eOvEwv jioXXäiv vgl. I, 66, 15: xai xX^Oei ovx öXlytov ävSpwv.
170
Gomperz.
xouxo 1 -pap ewuxou? uir'o llepcewv eaaoüaOat. <xvxeipop.£V(ov Se [xov ßaatAEa
om. SVR] xwv ’I/O'jsoaYwv . Gioupta §e xoieuiaevwv xüv y.axa-
(TXOTCUV [xxspt T(jöv EXEWV ] ‘/.Ti.
Doch ich kehre von dieser Abschweifung zurück. I, 73,
21: ot cs xauxa xpbq Kua^apeu xaGövxe?, ocxe ävaq'.a a<petov aüxwv
xexovGoxep, sßoiAsuaav -/.xe. Nicht ein Urtheil des Historikers über
die den Skythen widerfahrene tjnbill — und nur dieses könnte
g)cx£ (= gcte) aussprechen — sondern ihre eigene Empfin
dung muss hier zum Ausdruck gelangen, um die daraus ent
springende Handlung zu motiviren. Man lese also fit? ye, wie
es in ganz ähnlichem Zusammenhänge heisst: o cs exeixe gexei'Grj
xä/iffxa, uc ye ob äva^ta swuxou xaGwv, y.xk (I, 114, 24, vgl. auch
IX, 37, 17 und Schweighäuser’s Besserung zu II, 10, 8). Dass
T und F in der Ur-Handschrift leicht verwechselt wurden, kann
auch eine andere Stelle lehren, die bis auf ein Wort bei Stein
in Ordnung gebracht ist, nämlich II, 22, 19—21: '/.tue ü>v ov)xa
peoi av axo y_icvo; (der Nil), axb xojv Oipp.oxäxuv pewv eq xa (jjuypsxEpa
ytov xä xo/Act ecxi; Ich stelle yüv aus xwv her, welches Stein
tilgt, obgleich es von beiden hier weit auseinander gehenden
Handschriften - Classen dargeboten wird und, da es die Con-
struction nur verwirrt, nicht wohl absichtlich eingeschoben sein
kann. Die abschwächende Partikel ist hingegen sehr wohl
an ihrem Platz: ,Wie sollte der Nil von Schnee her fliessen,
da er aus den allerheissesten Erdstrichen in solche tlicsst, die
(zwar nichts weniger als kalt, aber) mindestens doch zum
grossen Theile kälter (und nichts destoweniger völlig schneelos)
sind?“ Man bedenke, dass von Nubien und Egypten die Rede ist. 2
I, 77, 15 erscheint in der Handschriften-Familie, welche
ich die erste nenne, eine jener vollständig sinnlosen Lesarten,
unter denen sich so oft das Ursprüngliche zu verbergen liebt.
Krösus und Cyrus hatten in heissem, aber ergebnislosem
1 Nach Gaisford wird das minder elegante toutio nur von drei Hand
schriften, dem Schellershemianus oder Florentinus (Stein’s C) und zwei
Parisini geboten, nach Stein hingegen (dessen wunderliche Methode der
Varianten-Angabe wir sattsam kennen lernten) ist toüto vom Vatieanus
und der Aldina allein bezeugt. Jedenfalls bietet es der Vindobonensis.
2 Verwechslungen von te und yt sind in unserem Text schon vielfach
nachgewiesen worden. Sollte nicht auch HI, 35, 17 zu schreiben sein:
oj; |aev iyr/j te (so Dobree und Bekk. statt rfoiys) ou uxivoucc! je (te SV)
Jlt'paai te xapa'ppove'ouai /.te.?
Herodoteisohe Studien I.
171
Kampfe mit einander gerungen, bis die einbrecliende Nacht
die Streitenden trennte. Am nächsten Tage trat Krösus in
der Absicht, seine unzulänglichen Streitkräfte zu verstärken,
den Rückzug an, da Cyrus ihn nicht angriff. Nein! — da er
ihn ,nicht wieder angriff' (Stein), ,nicht wieder herankam“
(Lange), ,did not repeat the attack“ (Rawlinson), wie die
Natur der Sache zu übersetzen zwingt; allein der gangbare
Text erhebt dagegen Einsprache, denn aus seinem <i>; rij uctspanr)
oüx, sxstpära sx'.iov b Kupo? lässt sich unmöglich etwas Derartiges
herauslesen, ln SVK hingegen liest man statt exiwv vielmehr
sti (j.sv£tv, d. h., wenn nicht Alles täuscht: sxaveXBelv! (Aus
GriANGAÖGIN ward GTIMGN Gl N; die falsche Lesung GTI statt
Gn begegnet in der ersten Handschriften-Classe auch III, 78,
18, wo R und S sti ectswc, V mit ausnahmsweise weiter greifen
der Verderbniss scti kaxzu>: bieten statt exegtswc; desgleichen zeigt
der öfter vorgekommene Ausfall einzelner Buchstaben, dass
der Stammcodex gedrängt geschrieben war und die Lesart
sxtEgsvov [in R] statt exiOsp.Evov [III, 68, 10] weist auf eben das
schmale 0 hin, welches unsere Voraussetzung hier erfordert.)
Schliesslich mag Schweighäuser’s Lexikon lehren, dass die
Verbindung von xetpäaöai mit dem Infinitiv bei Herodot nicht
seltener ist als jene mit dem Particip. Dass aber der Redacteur
des Textes der zweiten Handschriften-Classe ohne Rücksicht auf
die wirren Zeichen, die der Archetypus darbieten mochte, das
halbwegs passende sxiiov schrieb, dies stimmt vortrefflich zu
der Vorstellung, die wir uns von diesem dreisten, aber keines
wegs ungeschickten Kritikaster bilden müssen.
I, 94 fin.: drei äs Auäwv p.ETOVop.acOrjvai auTOu? ex! toü ßactXeo.;
toü xaiäo?, . öq epsap dr^fays, sxi to'jtou xyj v £Xü)VU|jw’y)V xotEup.eviup,
[övop.aa0y)vai] Tuparpoii;. Dass der Satz so zu interpungiren ist,
hat Herold (a. a. O. S. 486) in einer Darlegung erwiesen, die
darum nicht weniger überzeugend ist, weil sie die jüngsten
Herausgeber nicht .überzeugt hat. Dieselben gehen wieder
hinter Herold zurück — indem sie den einheitlichen Satz durch
stärkere Interpunction hinter dvvjyays in zwei Hälften zerreissen
— statt über denselben hinauszuschreiten. Denn ovop.asOr;vai ist
sicherlich zu tilgen, da es das eng zusammengehörige dv-d äs Auäwv
p.sTovo|j.aGÖy;vai Tupo^voup ,statt Lyder zu heissen, Messen sie nun
mehr Tyrrhener“ auseinander zerrt und jede legitime Con-
172
Gom perz.
struction unmöglicli macht. Man vergleiche IV, 155, 10: Botxxo; 8s
lj.eT(i)vo|j.äG0-r), was ja gleichfalls besagt ,er wurde zu Battos um
getauft', oder VIII, 44, 27 (worauf Herold selbst verwies):
’AOyjvoüoi |j.sT(ovo|j.da0Y;crav ,sie veränderten ihren Namen und hiessen
fortan Athener', oder auch Antiochos von Syrakus bei Dionys.
Halic. Antiquit. rom. I, 12 (I, 15, 25 Kiessl.): au? ou p.exwvop.aG0r)Gav
’lxaXoi. 1 In ähnlich brachylogischer Weise werden auch andere
Verba gebraucht, wie sxavop0ouG0at, p.exaxi0sG0oa, eXey/etv (vgl. Stall
baum zu Plato’s Euthyphro 9D). An all’ diesen Irrungen ist der
kleine Zwischensatz 8? oroea? av-^vays allein schuld, da er ,die
nachdrückliche Wiederholung des Satzgliedes, zu dessen näherer
Bestimmung er dient, durch das Demonstrativum veranlasste'
(Herold). Die gleiche Ursache und die gleiche Wirkung wird
uns noch einmal (zu III, 97) begegnen.
Habe ich Unrecht, einen Scrupel nicht verwinden zu
können, der mir bei der Lectüre von I, 105 (fin.) immer
wieder von Neuem aufsteigt? Die Erzählung von der Plünde
rung des uralten Heiligthums zu Askalon durch die Skythen
und der göttlichen Ahndung dieses Frevels, der Verhängung
der 0v)Xea vougo? über die Plünderer und ihre Nachkommen,
schliesst mit den Worten: wgxs ap.a Xeyouci xe oi XzuSat 8ia xoüxo
G®eai; voasetv y.al opäv ixap’ swuxoigi tou? d~r/.Vcop.evo'j<; ec xr,v 2xu0iy.r)v
X<i>pvjv ü)? ota/iaxai xob? xaksouat ’Evdpeaq ot Sx60ai. Ich komme
über das folgende Dilemma nicht hinaus: Entweder Herodot
hält seine skythischen Berichterstatter für vollkommen verläss
liche und auch seinen Lesern gegenüber für ausreichende
Zeugen; warum legt er ihnen dann jenen Appell an das Zeug-
niss der ihr Land besuchenden Fremden in den Mund? Oder
es steht anders; warum beruft er sich dann, da er ja doch
Skythien selbst bereist hat (vgl. insbesondere IV, 81—82) und
überdies am Pontus die reichhaltigsten und genauesten Erkundi
gungen über Land und Leute einziehen konnte, nicht auf die
eigene Autopsie oder auf das directe Zeugniss seiner Lands
leute? Kurz, was soll diese Bekräftigung, die keine solche ist
— was die mittelbare Beglaubigung einer Nachricht dort, wo
1 Beiläufig, ebendaselbst Z. 28 muss man lesen: oiixto 8rj (nicht 8k, da aus
dem Vorhergehenden das Facit gezogen wird) StxsXoi xai Mopyrixe? zyivo'no
xte.; desgleichen ist Z. 21 nach xot 7ciaxoxaxa xai aatpkaxaxa offenbar ein
Particip ausgefallen, etwa ouvOei; oder ExXEijäpsvos.
Herodoteisclie Studien I.
173
eine unmittelbare so leicht zu erreichen war? Und nicht nur
erreichbar war dieselbe, sondern Herodot hat sie zweifelsohne
wirklich erreicht, da er an einer späteren Stelle (IV, 67) die
Enareer nicht im Mindesten als problematische Wesen betrachtet
und über ein Detail ihrer Lebensweise ganz und gar nicht wie
nach unsicherem Hörensagen berichtet. Ich vermuthe daher,
dass der Text hier schweren Schaden gelitten und ursprünglich
wie folgt gelautet hat: fixrrs ap.a Xdyou<si te ot Zxudxi oia touto ooexg
voceeiv y.ai öpav xäpeott toÜgi a7:iy.veop.svoiGi s? ty]v 2*u9t*Y)v
/üpvjv zte. Die Aussage der Skythen über die einstige Ent
stehung der Krankheit und der Augenschein, welcher ihr
gegenwärtiges Dasein bekundet, treten —- sich wechselseitig
stützend und erklärend — neben einander. 1 Wie überrascht
war ich einstens, aus Rawlinson’s Uebertragung zu ersehen,
dass er die Stelle fast genau so wiedergegeben hat, als stünde
sie ihm in der von mir vermutketen Gestalt vor Augen (vgl.
Zeitschr. für österr. Gymn. 1859, 820), nämlich also: ,They
' Ich berufe mich zur Bestätigung; meiner Vermuthung nicht auf die
Stellung von ti nach Xdyouai, denn an Beispielen derartiger Hyperbata
fehlt es keineswegs bei Herodot (vgl. Stein zu I, 207). Wohl aber war es
an sich wenig wahrscheinlich, dass der Relativsatz tou; xoPioucji ’EväpEa;
ol Sxuöai von einem Hauptsatze abhängen sollte, in welchem oi SxüOai
gleichfalls das Siibjeet ist: ,die Skythen sagen . . . dass man bei ihnen
jene Menschen antrifft, welche die Skythen Enareer nennen 1 . Und dieser
sprachliche Anstoss, den ich wenigstens nicht wegzuräumen weiss, nöthigt
mich an meiner Hypothese festzuhalten, während meine sonstigen är.opiai
sich vielleicht (wie ich nicht verhehlen will) durch eine nocli weniger
gewaltsame küui; beseitigen Hessen. Man könnte nämlich im Uebrigen
die überlieferte Textesgestalt durch eine nicht allzu gewagte Annahme
zu rechtfertigen versuchen. Man brauchte blos vorauszusetzen, dass He
rodot, als er jene Worte schrieb, seine Pontusreise noch nicht gemacht
hatte und es späterhin nicht der Mühe werth fand, die Stelle zu ändern.
Verfasste er, wie ich mit Kirchlioff glaube, die ersten Bücher zu Athen,
so mochte etwa die dortige Polizei-Wachtstube der Ort sein, wo er seine
ersten Erkundigungen über Skythien einzog, und Mitglieder des Corps
der Speusinier könnten es gewesen sein, welche die Wahrheit ihrer Er
zählung von dem göttlichen Strafgericht zu Askalon durch die Versiche
rung besiegelten: man brauche nur ihr Land zu besuchen, um sich
von dem wirklichen Vorhandensein der Enareer zu überzeugen. Unter
dieser oder einer ähnlichen Voraussetzung verlöre unser Einwurf: ,t(
paptupcov || aXXcov äxouEiv oet u. 1 a y’ Eicropöcv r.ctpa;‘ (Orest. 532—533) aller
dings seine Geltung.
174
Gomperz.
tlieruselves confess tliat tliey are afflicted with the disease
for this reason, and travellers who visit Scythia can see
what a sort of disease it is. Those who suffer from it are
called Enarees.'
Und da ich einmal der skythischen Enareer gedenken
musste, so will ich nicht von ihnen scheiden, ohne die alte
Mähre, dass das skythische Wort ,von Hippokrates durch
avavSpivfc übersetzt' sei (so Stein, aber auch viele Andere),
hoffentlich für immer zu beseitigen. avavBpu); ist weder ein
griechisches Wort, noch in irgend welcher zulässigen Weise
gebildet; itnd seit wann bedient man sich denn zu Ueber-
setzungszwecken einer Neubildung, auch einer statthaften,
dort wo der gangbare Sprachschatz uns mit einer vollkommen
ausreichenden Bezeichnung versieht? Warum übertrug der Vater
der Heilkunst das skythische Wort nicht durch ävavBpot statt zu
dem abenteuerlichen avavBpteu; zu greifen? Aber er wollte über
haupt nicht übersetzen, sondern die fremdländische Benennung,
wie er mit sonnenklarer Deutlichkeit sagt (xotXeüvcaf ts), seinen
Lesern mittheilen. Woher stammen also die dvavBpisTc, die man
im hippokratischen Texte findet? Auf richtiger Fährte war einzig
und allein Karl Neumann, als er die Vermuthung aussprach, ,die
Abschreiber' hätten ,das ihnen unbekannte barbarische Wort
dem Sinne nach gräcisirt, ohne ihm eine vollkonimen griechische
Form zu geben' (Die Hellenen im Skythenlande 162, Anm. 2).
Was steht aber in Wahrheit in den besten unter den wenigen
Handschriften, durch welche uns das Buch -rrspl otepwv, üBdtwv
•/.a! überliefert ist? Der Parisinus 2146, der Vaticanus
276 und der Monacensis 71 (über den ersten berichte ich nach
Littre, über den zweiten nach Autopsie und über den dritten
nach W. Meyers freundlicher Mittheilung) — also drei Ver
treter der besseren Handschriften-Familie (vgl. Kühlewcin im
Hermes 18, 17) — bieten überhaupt nicht ävavopiet«;, sondern
ävBpist?. Man schreibe ävapisii; und die Finsterniss ist in
Licht verwandelt! Der nur im Ausgang leicht gräcisirte arische
Name der skythischen ,Unmänner' — vielleicht der klarste
Beleg für die Richtigkeit von Müllenhoff’s Skythen-IIypothese
— tritt hier vermöge des unversehrten privativen ,a‘ noch
deutlicher hervor als in der bei Herodot erhaltenen Wortform
(vgl. Zeuss bei Neumann, S. 163). Der für die Sprachge-
Herodoteischo Studien I.
175
schichte und Ethnographie so belangreiche Satz des Hippo-
krates aber muss, wie icli denke, also gelesen werden (de aer.
aqu. et loc. §. 22 in.): "Ext xs xp'o? xoüxoiai sbvouyjai yivovxat oi
tcXeutxoi ev Sy.uQrjCi, y.ai yuvoaxvpa EpYai^ovxai, y.ai üq at '(U'ictiv.iq (Scai-
xsovxai), StaXeyovxat xe cpoiw?' xaXeüvxai xe oi xotouxoi ’Avap'.sIc.
I, 122 fin.: oi 8s xozee? — y.axiißaXov ipäxiv, oiq ibaslfAEVov
Kupov y.öuv sijsOpsik. Nicht ohne Kopfschütteln kann man die
Bemerkungen neuerer Erklärer zu dieser Stelle lesen. Krüger:
,y.axsßaXov, begründeten, ungewöhnlich so'; Stein: ,legten
den Grund zu der Sage, waren ihre Urheber, y.axs?Yjp.'.£ov'.
Was mag wohl diese Interpreten bewogen haben von der alten,
dem Zusammenhänge allein gemässen Auffassung abzuweichen
(Valla: divulgarunt; Schweighäuser: sparserunt famam; Lange:
verbreiteten das Gerücht; aber auch Rawlinson: spread the
report) ? Offenbar nichts Anderes als die mangelnde Einsicht in
den Process, durch welchen y.xxaßaXXw die hier erforderliche
Bedeutung erlangt hat. Und doch ist die Sache einfach genug,
obgleich auch die Wörterbücher hierüber hartnäckig schweigen.
Das Lexicon Yindobon. (pag. 105, 17 Nauck) bemerkt zu un
serem Verbum: xaxaßdXXei xbv TroXsp.icv y.ai y.axaßaXXE’. xä oixsp-
paxa, eine Gebrauchsweise, für welche der Thesaurus allerdings
nur eine einzige Stelle eines Kirchenschriftstellers anführt, die
in Wahrheit jedoch in allen Epochen der griechischen Sprache
nachweisbar ist. Ich citire das Wenige, was mir eben zur
Hand ist:
Plato Thcaetet. 149E: si? vtofav y9jv ~oIcv ouxov xs y.ai oixspp.a
y.axaßXy)xsov —.
Arist. Problem. -/., 12 (924 a 3): xoXXol yäp ixsixEipavxat xai p(&q
p.sxa®epovxe<; y.ai cxspp.axa y.axaßaXXovxE? —.
Pseudo-Allst.- de mirab. auscult. 80 (836 a 20—21): y.ai xouq
y.apxou? aüxoR xi;v ~(rjV ixoXXairXaoiou; äviscOai xöv y.axaßaA-
XopiEviov —.
Theopomp. frg. 143 (C. Müller): öq t/.d'iouq xbv y.apxov xbv
A-rp.-jxpiov p.Yj avopüxxEiv x.axaß7vV)0svxa dq xy;v yt)V —.
Demosthon. c. Timocrat. §. 154: aXX’ ou3s ciiEppia 8sl y.axa-
ßaXXstv xöv xotoüxwv ixpaYHaxov —.
Telephus Pergam. (xeyv. suvay. 211 Speng.): y.ai oxi ''Op,v;po<; xa
axspp.axa xi)q XEyvvjs xaxsßaXsv —.
176
Gomperz.
Clem. Alex. Strom. II, 23 (p. 506 Pott.): y.axaßaXXop,svü>v
<jx£pp.äxwv — — y.axaßäXXouoi xä ozEpp.axa oi ysiopyoi.
Longus Pastoral. III, 30 (165, 26 Hercli.): oxt p.ixpoü Bsiv oXt-
ywxEpa rjv xSv y.axaßXY)0Evx«v axEpp.äx<i)v —.
Ist es da zu verwundern, wenn an dem Verbum die Bedeu
tung des Ausstreuens, Verbreitens haften blieb, so dass
Aristoteles von y.aTaßeßXvjp.sva! p.aO^<j£i<;, y.axaßEßXYipEva icatSsipiaxa
im Sinne der allgemein verbreiteten, Jedermann geläufigen
Kenntnisse und Bildungsmittel spricht (siehe Bonitzen’s Index),
und Plato von dem was alle Welt las und kannte, von den
populärsten Büchern seiner Zeit, den protagoreischen Gelegen
heitsschriften sagt: BeSYipocuopiva irou y.axaßeßXr,xat (Sophist. 232 D),
wo übrigens Schleiermacher mit seinem ,das liegt öffentlich be
kannt gemacht . . . da - ', desgleichen H. Müller (,in veröffent
lichten Schriften nieder gelegt') die Bedeutungs-Nüance ganz
erstaunlich verfehlt haben.
Thut es Noth daran zu erinnern, dass c-sipw in diesen
und ähnlichen Verbindungen genau so gebraucht wird wie cy.sBav-
vup;? Man vergleiche, falls dies erforderlich scheint, Xen. Cyrop.
V, 2, 30: y.ai ouxo? 6 Xoyo? noXli? sairapxat mit Herod. IV,
147 : scry.sBao'p.svoj os 770-/3 xoü Xoyo’j oder Plato Minos 320 D: ofjrq
fj 9-/7p-73 y.axEcy.soacxa; mit Eurip. frg. 229: (b? 6 KAehzoq sa'xapxai
Xcyo? (vgl. auch Herod. VII, 107, 18 oder Sophocl. frg. 587
und Electr. 642, gleichwie Aristot. Poet. 1457 b 26 ff.). Eine
vollständig zutreffende Parallele zu unserer Stelle bietet endlich
ein Scholion zu Pindar Nem. VIII, 20 = 32 Böckh: itoXXai ouv,
CYjai, xxEpl xoü Kivüpou y.axaßsßXr ( vxai iaxopt'ai y.ai 3ia<popoi.
I, 139, 16: xä oüvipaxa 001 sövxa op.ota xoTai owpaci y.ai
zfj pEyaXo'xpE'xsiv) xsXsuxörii zavxa s? xwüxö ypap.pa y.xs. Von dem
ersten Theil dieser Bemerkung gilt noch immer das Wort, mit
welchem Schweighäuser seine weitläufige Erörterung der Stelle
beschliesst: ,caeterum uberiorem etiam nunc lucem locus hic vi-
detur desiderare'. Denn die bisherigen Erläuterungen derselben
stellen unsere Glaubenskraft auf eine gar harte Probe. Herodot
soll hier — dies ist die gemeinsame Voraussetzung aller Ueber-
setzer und Erklärer — von der etymologischen Bedeutung
der persischen Personennamen sprechen. Nun frage ich nicht,
ob es von vornherein wahrscheinlich ist, dass unser Geschicht
schreiber eine so tiefe Kenntniss der persischen Sprache besass
Herodoteische Studien I.
177
oder auch nur zu besitzen glauben konnte, um solch’ einen
etymologischen Versuch zu wagen, er, der durch seine un
mittelbar folgende Aeusserung über den gleichen Ausgang aller
Persernamen (wie man jetzt allgemein annimmt) den Beweis
liefert, dass er dieselben nur in ihrer gräcisirten Gestalt ge
kannt hat. 1 Ich frage nur, was der Satz unter jener Voraus
setzung bedeuten soll. Und da trifft es sich jedenfalls seltsam,
dass die Uebertragung dieser Worte um so ungereimter ausfällt,
je getreuer sie ist, und einen Schein von Sinn und Berechtigung
nur dann gewinnt, wenn man sich mit ihnen ganz und gar
unzulässige Freiheiten gestattet. Zur ersten Kategorie gehört
Lange’s Uebersetzung: ,die da hergenommen sind von dem
Leibe oder der Pracht'! Am andern Ende der Reihe steht
Rawlinson’s Deutungsversuch: ,their names which are expressive
of some bodily or mental excellence'. Und doch muss auch
Rawlinson sofort in einer Anmerkung bekennen, dass die Ge
walt, die er der Sprache anthut, der Sache wenig frommt;
denn nur ,selten' sei es der Fall, ,that the etymology can be
traced to denote physical or mental qualities'. Und Stein’s
Wiedergabe mehrerer persischer Namen durch ihre griechischen
Aequivalente (wie fhikotyaOsi;, K/rjai-trac, MIXioSwpo?, <t>i'X«nro<;) be
weist nur das Eine was sie sicherlich nicht beweisen soll: dass
jene Namen durch ihren Bedeutungsgehalt Herodot’s Erstaunen
unmöglich erregen und weder zu der uns vorliegenden noch
zu irgend einer Bemerkung Anlass geben konnten ! —• Von
all’ diesen Irrwegen führt uns die einfache Wahrnehmung zu
rück, dass cp.o'.a Eovra keineswegs das besagt, was die Inter
preten es besagen lassen: ,die da hergenommen sind“ oder
die ,in ihrer Bedeutung entsprechen' u. s. w., sondern: welche
ähnlich sind. Und wie können Namen ähnlich sein toTgi «ip.aci
y.M T?j |j.£yaXoxpsTtstr,? Doch wohl nur, indem sie einen gleich
artigen Eindruck hervorbringen. Kurz, Herodot, der von den
persischen Namen wenig mehr kennt als ihren Klang (und
von ihrer äusseren Gestalt handelt ja auch die Haupt-
1 Vgl. Matzat im Hermes VI, 447. — Auch an das seltsame Versehen,
vermöge dessen er den Gott Mithra, durch den scheinbar weiblichen
Namensausgang getäuscht, für eine Göttin hielt (I, 131), darf erinnert
werden. Vgl. Breal, De Persicis nominibus apud scriptores graecos (Paris,
1863) p. 5—8.
Sitzungsber. d. phil.-hist. CI. ‘ CIII. Bd. I. Hft. 12
178
Gomperz. Hevodoteisehe Studien I.
bemerkung, an welche unsere Notiz als eine durchaus beiläu
fige und nebensächliche sich ansehliesst, wird durch diesen an
andere Eigentümlichkeiten der Perser erinnert. Auf sein Ohr,
welches an die lispelnde Sprache seines Volkes gewöhnt ist,
machen Namen wie Ariaramnes, Artabazanos, Artaxerxes,
Mithrobarzanes, Tanyoxarkes u. s. w. mit ihrem Vocalreich-
thum und ihrer Consonantenfülle einen ähnlichen Eindruck
wie auf uns die Namen spanischer Hidalgos. Und er gibt diesen
Eindruck durch eine Bemerkung wieder, welche buchstäblich
also zu übersetzen ist: ,Ihre Namen, welche ähnlich sind ihrem
stattlichen Körperwuchs und ihrer sonstigen Pracht, endigen
alle auf denselben Buchstaben' u. s. w., oder (in freierer
Wiedergabe): ,Ihre Namen, deren voller Klang ihrem statt
lichen Wuchs und ansehnlichen Wesen entspricht' u. s. w.
(Die Worte toTci coigaci y.a'c geYaksitpeiretr] bilden ein Hendia
dyoin in dem einzigen Sinne, in welchem ich diese Redefigur
überhaupt anzuerkennen vermag, nämlich als eine Verbindung
zweier coordinirter Begriffe, deren einer auf den andern be
stimmend einwirkt, ohne jedoch in dieser Einwirkung seine
volle Kraft zu erschöpfen.) Dass die Perser in der Regel höher
gewachsen waren als die Griechen, sagt uns Herodot selbst
(VII 103),_ und wie sie ihr stattliches Ansehen noch durch
lange herabwallende Gewänder, 1 durch Stöckel und hohe Filz
mützen zu steigern wussten, darüber brauche ich ebenso wenig
etwas zu bemerken wie über die sonstige Pracht der Kleidung,
der Rüstung, der Pferde und Wagen und des Hausgerätlies
dieses damals weltbeherrschenden Volkes und seiner vornehmen
Häupter im Gegensatz zu Hellas, welchem ,xsvfoj p,ev aisi xots
G’JVTpOIJO?' Y)V.
1 Darüber und über die, das griechische Auge zugleich blendende und
schreckende (s. Her. VI, 112 fin.), medische Tracht überhaupt vgl. nebst
Xenoph. Cyrop. VIII, 1, 40—41 die reichlichen Zusammenstellungen hei
Brisson, de regio Persarum principatu p. 245 sqq.
IV. SITZUNG VOM 31. JÄNNER 1883.
Von der k. Akademie der Wissenschaften in Berlin wird
der IX. Band des Werkes: ,Politische Correspondenz König
Friedrichs II/, von Herrn Dr. S. Gelbhaus in Karlstadt seine
Schrift: ,Imre Schefer“ für die akademische Bibliothek ein
gesendet.
Von Herrn Dr. Anton Frank, Professor in Reichenberg,
wird eine Abhandlung: ,Ueber den Begriff des Sittlich-Schönen
und seine Bedeutung für Schiller’s Philosophie“ mit dem Ersuchen
um ihre Aufnahme in die Sitzungsberichte übersendet.
Die Abhandlung wird einer Commission zur Begutachtung
zugewiesen.
Das w. M. Herr A. Freiherr von Kremer legt eine für
die Sitzungsberichte bestimmte Abhandlung unter dem Titel:
,Beiträge zur arabischen Lexikographie“ vor.
Das c. M. Herr Professor Dr. Otto Hirschfeld über
reicht für die Sitzungsberichte: ,Gallische Studien. I. Die
civitates foederatae im Narbonensischen Gallien“.
Als Mitglieder der Central-Direction der Monumenta Ger-
maniae in Berlin werden die wirklichen Mitglieder Herr Hofrath
Sickel und Herr Hofrath Maassen mit einer vierjährigen
Functionsdauer seitens der kaiserlichen Akademie der Wissen
schaften neuerlich delegirt.
Auf Antrag der philosophisch-historischen Classe wurde in
der Gesammtsitzung am 30. Jänner d. J. von der kaiserlichen
Akademie die ihr für das Jahr 1881 zur Verfügung gestellte
12*
180
Zinsenmasse des Savigny-Stiftungs-Vermögens im Betrage von
4400 Reichsmark dem Herrn Dr. Paul Ewald in Berlin zur
Herstellung einer kritischen Ausgabe der sogenannten Avellana,
einer Sammlung von Schreiben und Verordnungen römischer
Kaiser und Päpste, überwiesen.
An Druckschriften wurden vorgelegt:
Archaeological Survey of India: Report of Tours in the south-eastern
Provinces in 1874—1875 and 1875—1876 by J. D. Beglar. Vol. XIII.
Calcutta, 1882; 8°. — Report of a Tour in the Punjab in 1878—1879
by Alexander Cunningham, C. S. J., C. J. E. Vol. XIV. Calcutta,
1882; 8°.
Association, the American philological: Transactions. 1882. Vol. XIII.
Cambridge, 1882; 8°.
Central-Commission, k. k. statistische: Ausweise über den auswärtigen
Handel der österreichisch-ungarischen Monarchie im Jahre 1881. XLII.
Jahrgang, I. Abtheilung. Wien, 1882; 4°.
— Statistisches Jahrbuch für das Jahr 1880. III. und IV. Heft. Wien,
1882; 8°. — Nachrichten über Industrie, Handel und Verkehr. XXIV.
Band, IV. und V. Heft. Wien, 1882; 80.
Genootschap, het Bataviaasch van Künsten en Wetenschappen: Realia.
Register op de generale Resolutien van het Kasteei Batavia, 1632 bis
1805. I. Deel. Leiden, 1882; 4°.
Geschichtsverein und naturhistorisches Landesmuseum in Kärnten:
Carinthia. Zeitschrift für Vaterlandskunde, Belehrung und Unterhaltung.
72. Jahrgang, 1882. Klagenfurt; 8°.
Hamburg: Verhandlungen zwischen Senat und Bürgerschaft im Jahre 1880.
Hamburg, 1881; 4°.
Maatschappij der Nederlandsche Letterkunde te Leiden: Handelingen en
Mededeelingen over het Jaar 1882. Leiden, 1882; 8°. — Levensberichten
der afgestorvene Medeleden. Leiden, 1882; 8°.
Mittheilungen aus Justus Perthes’ geographischer Anstalt von Dr. A. Peter
mann. XXIX. Band, 1883. I. Gotha; 4 # .
Society, the Asiatic of Bengal: Bibliotheca indica. Old series, Nr. 244.
Calcutta, 1882; 8°. — New series, Nrs. 473, 475, 476, 484, 485. Calcutta,
1882; 8» und 4°.
— The oriental biographical Dictionary, edited under the superintendence
of Henry George Keene, M. R. A. S. Calcutta, 1881; 4°.
— the royal geographical: Proceedings and monthly record of Geography.
Vol. V, Nr. 1. January, 1883. London; 8°.
Wissenschaftlicher Club in Wien: Monatsblätter. IV. Jahrgang, Nr. 4
und Ausserordentliche Beilagen Nr. II und III. Wien, 1883; 4°.
Krem er. Beiträge zur arabischen Lexikographie.
181
Beiträge zur arabischen Lexikographie.
Von
A. Freiherrn von Kremer,
wirklichem Mitglicde der kais. Akademie der Wissenschaften.
Die grosse Arbeit des gelehrten Professors der Hochschule
zu Leyden, R. Dozy’s: Supplement aux dictionnaires arabes, hat
das bleibende Verdienst, einen wichtigen Fortschritt angebahnt
zu haben, indem zum ersten Male die Literatur und die Volks
dialekte in umfassender Weise zur Bereicherung des Lexikons
herangezogen und hiedurch ein bisher ungeahnter Grad von
Vollständigkeit in der Beherrschung des lexikographischen Ma
terials erreicht wurde.
Allerdings ist diese Aufgabe eine so grosse und schwie
rige, dass sie die Kräfte eines Einzelnen übersteigt. Nur der
gemeinsamen Arbeit Vieler wird dies gelingen, soweit überhaupt
bei der lexikographischen Darstellung einer Sprache, und be
sonders einer so schwierigen wie der arabischen, eine annähernde
Vollständigkeit erreicht werden kann.
Den ersten Beitrag in dieser Richtung lieferte der geheime
Hofrath und Professor in Leipzig, Dr. H. L. Fleischer, durch
seine Studien über R. Dozy’s ,Supplement aux dictionnaires
arabes' in den Berichten der philolog.-hist. Classe der Königl.
Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften, 188L
Hiedurch angeregt, meine im Laufe vieler Jahre gesam
melten Materialien zu sichten, fand ich, dass hieraus eine nicht
ganz unbedeutende Nachlese sich zusammenstellen lasse.
Dies geschieht hier für die erste Hälfte des Wortschatzes,
indem eine grössere Anzahl von Wortformen gegeben wird,
die entweder in den Wörterbüchern fehlen, oder doch unge
nügend erklärt worden sind.
1S2
Krem er.
Diese Nachträge erstrecken sich auf das gesummte Sprach
gebiet von der ältesten classischen Zeit der Sprache bis aut die
vulgären Dialekte der Gegenwart. Während die ersteren aus
den Literaturwerken gesammelt wurden, sind die letzteren zum
grossen Theil aus dem Volksmunde aufgezeichnet und erklärt
worden.
Die Benützung europäischer Sammelwerke, Glossare u. s. w.
blieb principiell ausgeschlossen. Selbst de Goeje’s treffliches
Glossar zu den arabischen Geographen, das von Dozy nur zum
kleinen Theile herangezogen werden konnte, bleibt bei meinen
Nachträgen ausgeschlossen. Es wird die Aufgabe des Bear
beiters eines Nachtragsheftes zu Dozy’s Werk sein, das in
solchen Arbeiten angesammelte werthvolle Material, das gerade
in den letzten Jahren vielfache Bereicherung erfahren hat,
zusammenzustellen. 1
Eine solche compilirende Thätigkeit war nicht meine
Aufgabe. Ich beschränkte mich darauf, meine eigenen Samm
lungen, von deren Inhalte allerdings Dozy’s Werk den bei
Weitem grössten Theil entbehrlich gemacht hatte, zu be
nützen. Nur ein einziges arabisches Sammelwerk habe ich
herangezogen, nämlich das Buch: Shifä’ alghalyl fyma fy
kaläm al'arab min aldachyl von Chafägy. (Ausgabe von Kairo
vom Jahre 1282 H.)
Bei den aus gedruckten oder handschriftlichen Werken
geschöpften Wortformen ist immer die bezogene Stelle genau
angegeben und, da viele dieser Werke schwer zugänglich sind,
oft auch noch die betreffende Stelle, wo das Wort vorkommt,
angeführt worden.
Ich lasse hier das Verzeichniss der benützten Werke
folgen und füge den Titel der im Druck herausgegebenen,
dann auch nebst dem Druckort die Jahreszahl bei, da viele
seitdem in mehreren Ausgaben erschienen sind.
1 Ich nenne nur Soein’s Arbeiten Uber den Dialekt von Mosul und Mardin
in der Zeitschrift der Deutschen morgenländischen Gesellschaft, Bd.XXXVI
u. ff. Desselben: Arabische Sprichwörter und lledensarten. Tübingen, 1878.
Spitta-Bey’s: Grammatik des arabischen Vulgärdialektes von Aegypten.
Leipzig, 1880. Desselben: Contes arabes modernes. Leide, 1883. Huart:
Notes sur quelques expressions du dialecte arabe de Damas. Journal
Asiatique. Janvier, 1883 u. s. w.
Boiträge zur arabischen Lexikographie.
183
Aghäny: Ausgabe von Bulak. 1285 H. 1
Anbäry (^Lol): Nozhat al’alibbä’ fy ta’rych al’odabä’:
Lithographie. Kairo. 1294 H.
'Antar: Syrat 'Antar. Ausgabe von Beirut. 1871.
'Aräis: Kisas al’anbija’ von Ta'laby. Kairo. 1282. H. Die
Redaction, welche in dieser Ausgabe vorliegt, enthält viele alte
dialektische Eigentümlichkeiten.
Ibn 'Arabshah: Alta’lyf alzähir fy sbijam almalik alzähir
Aby Sa'yd Gakmak. Manuscript meiner Sammlung.
Ash'är: unter dieser Aufschrift citire ich der Kürze halber
ein Manuscript meiner Sammlung, das eine Abschrift aus
einem Manuscript der Bibliothek des Khedive ist und im Kata
loge die Aufschrift Jö trägt. Es ist in Wirklichkeit
der zweite Band eines Commentars zum ’Adab alkätib des Ibn
Kotaibah und der Verfasser ist ein Philologe der strengen, alten
Schule. Der Commentar des Gawälyky ist es nicht.
Asma'y: Commentar zu den Gedichten des Tarafah und
Zohair. Manuscript meiner Sammlung.
’Ätär al’owwal fy tartyb aldowal. Kairo. 1295 H. Verfasst
im Jahre 708 H.
Azdy (Abu Ismä'yl), Ausgabe von W. N. Lees in der
Bibliotheca Indica. Calcutta. 1854.
Bakurah: Albäkurat alsolaimänijjah fy kashf asrär aldi-
jänat alnosairijjah. Beirut.
Bochäry: Sahyh albochäry. Buläk. 1280 H. Da diese
Traditionssammlung in zahlreichen Ausgaben erschienen ist, so
bietet die Art und Weise der Citationen einige Schwierigkeit.
Ich citire zuerst jede Tradition nach der fortlaufenden Nummer
der einzelnen Capitel (bäb), dann aber noch die Nummer der
Tradition in jedem einzelnen Buche (kitäb).
Ibn Chaldun: Universalgeschichte, Ausgabe von Bulak.
VII Bände. 1284 H.
Ibn Chaldun: Prolegomenes etc. Ausgabe und Ueber-
setzung von Slane in den Notices et Extraits de la Biblio-
theque Imperiale, T. XX u. ff.
1 Mit besonderem Danke muss ich hier der Bereitwilligkeit gedenken, mit
welcher Dr. Fritz Hommel, Secretiir der Hof- und Staatsbibliothek in
München, mehrere Stellen des Kitäb alaghäny mit den Handschriften der
Münchener Bibliothek verglich,
184
K l* e m e r.
Fawät: Fawät alwafajät vonIhn Shäkir. Buläk. Ohne Datum.
Fihrist ed. Flügel.
Gabarty: 'Agä'ib alätar fyltarägim wal’achbär. Bulak. Ohne
Datum (der Druck fand im Jahre 1880 statt). Ich benützte
für diese Arbeit den zuerst erschienenen IV. Band, den ich
mit einem eingeborenen Ivairiner las, der alle die oft vorkom
menden Localidiotismen mir erklärte. Dort, wo ich Gabarty
citire und eine arabische Erklärung beifüge, sind dies die
Worte meines Gewährsmannes von Kairo.
Gähiz: Rasäi'l, gesammelte Auszüge aus den Briefen und
Abhandlungen desselben. Manuscript meiner Sammlung.
Gähiz: Kitäb alhaiwän. Manuscript der Hofbibliothek.
Gähiz: Almahäsin wal’addäd. Manuscript meiner Sammlung.
Hädirah: Specimen etc. Alhadirae. Ed. Engelmann. Ley
den. 1858.
Hamadäny: Rasäi'l. Gedruckt auf dem Rande der in Buläk
1291 erschienenen Ausgabe des Werkes: Chazänat al’adab.
Ibn Hamdun: Tadkirah. Manuscript meiner Sammlung.
Ibn Häni’: Dywän. Ausgabe von Kairo. 1274.
Haryry: Dorrat alghawwas. Ed. Thorbecke. Leipzig. 1871.
Tkd: Al'ikd alfaryd von Ibn 'Abd Rabbih. Bulak. 1293.
Tläm alnäs bimä waka' lilbarämikah fy Bany l'abbäs, von
Itlydy. Kairo. 1280 H.
Isfahäny: Mohädarät von Räghib alisfahäny. Buläk. 1287.
Latäif: Latäif alma'ärif auctore at-Tha’älibi, ed. de Jong.
Leyden. 1867.
Lozumijjät von Ma'arry. Manuscript meiner Sammlung.
Makkary: Alnafh altyb. Ausgabe von Kairo. 1279.
Makryzy: Chitat. Kairo. 1270 H.
Ibn Mamäty: Kawänyn aldawäwyn. Manuscript meiner
Sammlung.
Mas'udy: Les Prairies d’or. Ausgabe von Barbier de
Meynard.
Mowatta’, Sharh alzorkäny 'alk ImowaRa’, Zorkäny’s Com-
mentar zur Traditionssammlung des Mälik Ibn ’Anas. Kairo.
1279—1280. 4 Bände.
'Orwah: Gedichte des 'Orwah Ibn alward. Herausgegeben
von Th. Nöldeke (IX. Band der Abhandlungen der Königl.
Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen).
Beiträge zur arabischen Lexikographie.
185
Raby' al’abrär, Auszug dieses Werkes von Ibn Kasim.
Kairo. 1279.
Rashf alnasäih etc. Manuscript der Wiener Hofbibliotbek:
Saif aljazan: Syrat färis aljaman Saif Ibn alraalik Dul-
jazan. Litbograpbirte Ausgabe aus Castelli’s Presse, Kairo. Nur
das erste Heft erschien. Die spätere, gedruckte Ausgabe enthält
nicht so viele vulgäre Formen.
Sakt alzand von Ma'arry. Buläk. 1286.
Slia'räny: Kitäb albahr almaurud fylmawätyk wal'ohud.
Lithographirt in Kairo. 1278 Ii.
Sha'räny: Kitäb aljawakyt walgawähir fy bajän 'akäid
al’akäbir. Kairo. 1277.
Sha'räny: Kitäb alkibryt al’ahmar fy bajän 'olum alshaich
al’akbar. Lithographirte Ausgabe. Kairo. 1277.
Shyräzy: Jus Shafiiticum, at-Tanbih, auctore Abu Ishak
as-Shirazi. Ed. A. W. T. Juynboll. Lugd. Batavorum. 1879.
Sobky: Mo'yd alni'am wa mobyd alnikam. Manuscript
meiner Sammlung.
Abu Tammäm: Gedichtsammlung. Ausgabe von Kairo.
1292 H.
Tanbyh: unter diesem Titel citire ich ein Manuscript
meiner Sammlung, dessen voller Titel lautet wie folgt:
Sl 5 yi Ja—Hit! Der Verfasser ist Abulkasim
'Aly Ibn Hamzah, ein hervorragender Gelehrter, der nach
Sojuty (Tabakät alnohah) im Jahre 375 H. starb. Das Werk
enthält kritische Bemerkungen zu den folgenden Schriften:
L Nawädir des Abu zijäd alkalby al’a'räby. 2. Nawädir des
Abu 'Amr alshaibäny. 3. Kitäb alnabat des Abu Hanyfah
aldynawary. 4. Alkämil von Abul'abbäs Mohammad Ibn al-
mobarrad. 5. Alfasyh von AbuFabbäs Ahmad Ibn Jahja Ta'lab.
6. Gharyb almosannaf von Abu 'Obaid alkäsim Ibn Salläm.
7. Islah almantik von Ibn alsikkyt. 8. Almaksm- walmamdud
von Abul'abbäs Ibn Mohammad Ibn Walläd.
Die Handschrift, die ich benütze, ist aus einer sehr alten
Handschrift der Bibliothek des Khedive abgeschrieben und
sorgfältig collationirt. Der letzte Abschnitt ist nicht vollständig,
so dass der Schluss der kritischen Bemerkungen zur Schrift
des Ibn Walläd fehlt.
186
Kremer.
Tashyf; Das Werk, welches ich hiemit bezeichne, führt
folgende Aufschrift: aui Lx> »jil
^j S.JJI Oy.r. A+=»l ^j! oLJIj '—ijjSÄ.JI j
^5Es ist wie das früher genannte ausschliesslich der
Textkritik gewidmet. Der Verfasser 'Askary starb 382 H.
(Vgl. Ibn Challikän, ed. Wüstenfeld, Vita 163). Leider ist nur
der erste Theil erhalten. Das Manuscript meiner Sammlung ist
die Abschrift eines alten, leider oft unpunktirten Codex der
Bibliothek des Khedive in Kairo. Ein anderes Exemplar dieses
Werkes ist mir nicht bekannt.
Ibn alwardy: Tatimmat almochtasar fy achbär albashar;
Auszug und Fortsetzung der Geschichte des Abulfeda. Ausgabe
von Kairo. 1285 H.
Zahar al’ädab von IJosry, gedruckt auf dem Rande der
früher angeführten Ausgabe des 'Ikd alfaryd.
I.
Elf — Die Frucht des Sarh-Baumes: £ ^yjl Jlä
JLs 5II! 0*.Aj Eli oUI tAs>
' £ OJ _, „ e
iltj ^
r ■■ a w
U^UJI x IVLj ijäxjI y. ^.«Jt ilüH l+ilj
Jl — Tanbyh, fol. 106 b und 107 \
Die bezogene Stelle findet sich bei Ibn Wallad:
Kitäb almaksur walmamdud fol. 1. Das Wort kommt
nur in der oben angeführten Stelle des Zohair (I,
v. 16. ed. Ahlwardt) und in einer Tradition vor,
die im Tag-al'arus sub voce citirt wird.
^I^jI — ^jiVjI : Trog, Kufe, Badewanne. Aghany V, 32, Z. 7;
XVIII, 143, Z. 6 v. u., 147, Z. 16; XIX, 51, Z. 11.
Persisch
Beiträge zur arabischen Lexikographie.
187
tjsdjl — uöjI auch ijAj| = jJ&J.il, die Zeit. Ihn Doraid
S. 153, Z. 1. Generalog. etymolog. Handwörterbuch,
herausgegeben von Wüstenfeld.
^j| — j-d = (jLuil, Shifä S. 36. — ai^-o ^-d,
ein giftiges Insekt, die Tarantel. Fawät I, 135,
Z. 11: Journal asiatique, 1854. Aoüt-Septembre,
S. 225.
dSl — Der Saum des Gewandes: iLUJt ibl cixAiJ
Lg-wl^. Türkisch: etek. Saif aljazan, S. 56.
P- ^
^i'l — qyt nächtliche Erscheinung, Gespenst. Makkary
E
I, 198, Z. 4 v. u.: aj^. V npl a+j^-o l\ac &üL> ^8”.
S^oCj tXi*il! t_ÄAÄ£ Vgl. Ihn
■Adary H, S. 288, Z. 14.
— vj!, der für eine oder mehrere Pflanzenarten
geeignete Culturboden. Ihn Mamaty, S. 45:
^UJI, IkiJI. Eyii! ^.jf. S. 46: y—jI äAj^J!
^UXit äUs>UJIj y/.xjJ\j
y a.jVI vtLUJI, der Aetherhimmel. Makkary II, 740,
Z. 1 v. u.
^=»■1 — äiL^I grosse Schüssel: Mas'udy VIII, 270. Chi
nesische Vase: Makryzy I, 415, Z. 14.
~~ o ^
^ül — t> t, Elephantiasis, Hodengeschwulst, sehr ver
breitet in Aegypten, auch äha/Ai genannt. Gaharty
IV, 275, Z. 15.
» 9.'°t
v^k! — iü'y, die Grube, worin Feuer angemacht wird:
w * P-
Jljjül jvi'^b Lg^i Jäy&=>. Lgj| äj^H £
4» P-
»Jul ^Ldl lg.Ai ^Jyfa.5 uJI, yxJI lg.A.Le ^üLj
«bjl ^41, ä=*4l \zj3yi ii\£. Tanbyh fol. 80\
^i.^1 — eine Art Stoff: Aghäny V, 173, Z. 12 v. u.: y 6 ,
aillaASk, a^od Jaxi o-a: A•
-
188
Kiemer.
v»
t -
u;'-
In einem Gedichte des ’A'sha heisst es:
Aber Abu 'Ohaidah und
Asma'y überliefern die Lesart als Plural von
o.> '
kj^l, das die Bedeutung von Aid AL, Unglücksfälle,
haben soll und sie erklären ^1 als gleichbedeutend
mit ^t, Bedrängniss. Von andern jedoch wird die
Lesart ^1 beibehalten, und zwar soll Plural
u; 1 ’ folgende Bedeutungen haben : Unglück, die
Linie auf dem Kopfe des Chamäleons, und endlich
im Dialekte von Bagdad : frische Käse. Tashyf,
fol. 128 a .
AäJI £ L*J
V. sich um etwas bekümmern:
5 ^ 53 ) o > t . w . . J 9 9 0 ^ o
ySL&l) & A^vJ 0, V.4J ^
,Er kümmert sich nicht um das, was in dem Kessel
seiner wartet, und es nagt nicht an seinem Einge
weide der Hunger/ Der Vers ist aus einem Gedichte
des ’A'sha Bähilah. Ash'är, fol. 5 a .
ö ✓
s ; l, Die Grube, in der Feuer gemacht und dann
das Brod gebacken wird. ä^LgJJUü s^iAl
Tashyf, fol. 56 r°.
s- "
y\ — )jiyo die Hüfte, <JJ&. In einem Verse des Abul-
Nagm al'igly:
o —£- > - ✓ ? o f.. " ) G (i / o s . . .
I L^.^/0 L.$ax> y ^LdAj
Ash'är. fol. 198 a .
s>
•,Lo
in dem von Haryry, Dorrah
S. 52 angeführten Ausspruch des Propheten.
oy
oder iovt
iw^t, Unglück, Schicksalsschlag,
Widerwärtigkeit. Tashyf, fol. 128°. Vgl.
^—ity, indisches Rohr als Lanzenschaft.
'Orwah p. 40, Z. 11, aber auch gleichbedeutend mit
jjUj gebraucht. Aghany XVin, 161, Z. 6.
Beiträge zur arabischen Lexikographie.
189
i\Ul
iM
&
(Jil AÜ
— üv^ul y0, ein Haus aus Ziegeln und Gyps er
baut, Aghany XVI, 43, Z. 1. So aueb in den Mün
chener Handschriften, 472, fol. 16 r°, 495, fol. 9 v n .
— eine Speise, sauer eingemachte Rebhühner. Aghany
X, 125, Z. 7. Persisch: Lj Aajjw.
— auch üS^Alw, der Wein der Nichtaraber (|*&-Lfcl),
oder auch ein aus Negerkorn (äj5) bereitetes Getränk
der Abessinier. Mowatta’ IV, 27, Z. 9.
— pl. ^3Ul, Denvischbrüderschaft, religiöser Verein,
Gesammtbezeichnung für die Bettolderwische. Ga-
barty IV, 120, Z. 17; 165, Z. 22.
— der Blinde, im syrischen Dialekt. Shifä S. 38.
Das Wort ist sonst nicht zu belegen und demnach
sehr zweifelhaft.
P•
— cUÜCwl sich aneignen. Gabarty IV, 299, Z. 14.
a#
— ^ül der Bock. Aghany XVII, 30, Z. 9: ^-aäJI
SaaaÜ'j .vij i^jJ! i-jlA.il-
— eine Art Jagdfalken. Atär-alowwal S. 140, Z. 5 v. u.
— pl. von (ji>—jAS(" (türkisch), Klepper, Lastpferd.
Gabarty IV, p. 226, Z. 13 v. u.
^ o •j' ^ ? O W . **
— vSCA-’l JA!, sprichwörtliche Redens
art: er genoss lange Zeit Essen und Trinken. Kämil
S. 125, Z. 11. Ed. Wright.
— jLsü ^.aA l,uo. Makryzy 1,416, Z. 17 v. u. Silberne
Knöpfe oder Knäufe.
— gestreifter Stoff aus Baumwolle und Seide, türkisch
Alageh genannt. Gabarty IV, 223, Z. 5 v. u.
— pl. i^jl-ilAil, Name einer Söldnertruppe: v-AÜ
|V—
A&I jJ^!^ kD-iU» J| . liN I . ,_AAujÄJ I. J.HJI
GjJ Gabarty IV, 127, Z. 16.
MM1-i.JUL-U-L-i
190
j:i - fjli i j»l die Flamme, das Feuer. »Sakt I, 159, Z. 3.
J.X4-ci pl die Welt. Isfahäny II, 217, Z. 10.
2 ^
»l*A3
l>l der Yerrath, Eidbruch
V, 157, Z. 11.
0 Aghany
yo!
y
)y^ 7^
j*t Hyäne. Meid. IH. S. 118. Z. 8 v. u.
*1 Hyäne. Tashyf, fol. 59.
•—• v^otj' sieb verhalten, sich benehmen, thun wie ein
Emyr. Gabarty IV, 307, Z. 3 v. u.
S fi. 2 . . .
jjoL, pl. terrassenartige Anhöhen. —&]yo
. Tashyf, fol. 158, wo als Beleg
der folgende Vers angeführt wird:
r G
,j<!> CJ.U cMlc J.t ^.ju*_*. j J .u
jbwol, Befehlshaberschaft, Emyrat. Gabarty IV, 11,
Z. 11 v. u.
Lo, das Feuer. Shifa S. 210.
— Stallmeister; ^K.w^_ax!, Jägermeister; |*Ae ^yol
General (Mirlivä). Sobky, fol. 13.
— cjLgjo^l ,_*EjI, Imhät, eine Dattelart. Makryzy
II. 24, Z. 8. Kremer: Aegypten I, 214.
— pl. cuLsYst, die Mangofrucht, aus dem indischen,
auch ins Persische übergegangenen s_ol. Istachry
S. 173, 176; Ta'aliby; Latäif S. 110. Conserven im
Allgemeinen: Shifa S. 36. Mango conserven: Kremer:
Culturgeschichte I, S. 301.
Sa. ' "f .
k_Ajl:£\jt -— ein grober, einfarbiger Kleiderstoff ohne Dessins.
Mowafta’ I, 182, Z. 16; Bochary 254 (Kitäb alsaläh 14).
— eine Art Stoff von Gewändern. Makkary
H, 1200, Z. 10.
CS - ‘f’
— pl. ^ud^t, eine Art von Gründen,
die in Betreff der Steuer einer besonderen Stellung
sich erfreuen. Gabarty IV, 93, Z. 3 v. u.; 95, Z. 6;
123, Z. 2 v. u.; 281, Z. 9 v. u.
r
u“y
Beiträge zur arabischen Lexikographie.
191
4»
Ju!
Jot
ibl
h 5 *
üb
<*» e"£ ^
iljb J^l, nach und nach. Ihn Mamäty p. 34.
Vulgär: J^b J^l.
— v^ol oder ool, eine Interjection, welche die Ver-
wunderung ausdrückt, und mit J construirt
wird, wie in folgendem Verse:
^ ^ 1 ^ /- ^ 53 ö ^ 0^. 0^ ), fi ^ ) O O ^
ool Xju^sJI Jö üt
wozu der Ueberlieferer noch die'Bemerkung beifügt:
* , ^ ) x J m ^ O* 1 , w ^
^x>Nt ItXgJ ool JUü >_*j£\.ji3 ^>ol j*£A! oo!
L*äj| Tashyf, fol. 127 11 .
— oUJ, Stützpfeiler. Ibn Doraid p. 104, Z. 10 v. u.
— xJ.j! Name einer Schlange in einer alten
Legende: ouiJas i_äJL«JI 3 ool£5L=* klot odö
JaJI u*Ul Jl®. Sakt I, 197, Z. 14 v. u.
— eine Art Tanz: gl^jl xjJo i_ftjbäjJf (ja.jyjj
iA jb'l Jl JuUXwjJI uai'jJt. Aghäny XIX,
139, Z. 3.
= was, was für ein: aJJI Aa-c b öljw aJ JLäi
I Affi Jb' IÄ# jvjI (j-jl Bochäry 2218
(Kitäb almaghäzy 61). Hiezu bemerkt der Com-
mentar: £L.w!^.a£j jva+JI. tbil ^.üj. Vgl. übrigens
Lane ad vocem |*jI.
lj.
— der Flecksieder, Fleckausbringer. Sobky, fol. 49 °.
oLbil 5Lubi äi! J \jöy^ ^,1 jobi bL.il
r üJI 5 ^ÄJI, JaSlijl. J jyXSXi L^.-Lu»C Aa-£
Der Barbier Shifä S. 48.
— ein Kosewort für kleine Kinder. Bochäry 763:
|VA*il ! ; Jb' dJ^_d ^.jc (j^^jb b Jb'.
— Verzehrungssteuer, Zoll auf Lebensmittel. Shifä
S. 43. Türkisch: —-b.
192
Kr ein er.
^b — Jo, das in die Erde gegrabene Loch, worin das
Fleisch gebraten wird, wie im folgenden, von Sok-
kary überlieferten Verse:
tC-
y u w 5 0^ ^ ■** n ^ ^
Lki^Lw bjLyoJt viLiAXjLu/
l—-g-g.A4.-J 51 jLcJ ! -IaJI. lXaS.1I bbc.
^ ' o Q
Das Wort l.o..c hat hier die Bedeutung von OÜLe,
Bratspiess. Tashyf, fol. 92 b .
sU*vb — Persisch: sli^b. Shifa S. 44.
^b — Vm. In der Tradition bei Bochary (3904 Kitäb
altauhyd 35) überliefert Katadah die Lesart ^LäjI
statt ; Uül mit der Bedeutung: aufsammeln, anhäufen
cXÄXi^b — Gähiz: Rasä'il, fol. 68 b , wo es von den Türken
heisst: ^—=£« *IbsJI ^.aaJ!. kJ^+JI J^xbJI IäJ.
O.-»-Ul. cXbli^bjl^ . i-_a.Ail.s\Jt
kj^g..w.Jt lI^a^LI« Xa-coCcxII kc.üs+Jf. ülX^-c5d■.
— Im Persischen bedeutet I \ Lj den rückwärts
bis über die Schultern herabhängenden Besatz des
Mantelkragens. Es handelt sich also um ein eigen-
thümliches Kleidungsstück. Vgl. de Goeje: Biblio-
theca Geogr. Arab. IV, S. 278.
oAäa-LuAj — Wurf ketten zum Entern, auf den Kriegsschiffen.
’Atär al’owwal S. 196, Z. 1. Es heisst dort bei der
Beschreibung der Ausrüstung der arabischen Kriegs
schiffe, S. 195: II• j OvjJb Lg.A^Äj |».j
. l^».- -aJ5UJI^ (S. 196) 1 ^KVI •
lX-JlXä. Jul*) Lg-uu.^ ^ (J'AW^Xau * OJ L-Ä a4.au La Jl
jib — ojLwIaJI, Eisenfesseln, ^.jl b ^(«.A-o Jlü
JLäaJI cA-coLaJI^ J5Lc5H »Aff. Antar, Heft 89, S. 519,
Z. 1. JLüaJI ojLauIaJI^ J5be5ltj OjaäJ! ^ wÄää^
Ibid., S. 550, Z. 7.
Beiträge zur arabischen Lexikographie.
193
JL? — Yllf.sicli stützen, sich verlassen (<X*.Ä.el). Tanbyh,
f ol - 14’’: yjQ j cX'Wv j I ^
y E- -O
■. w.Ä. jö j*j.i oüliol
, ^ y } ^ j
^ 3 *.3 li^D o-n.^=>lX3‘
LtOJt)! J^oL^I! JLö^l, JLs.
■C "£ o ■£’
— ^bl, stolzer, hochmüthiger. Meid. I, 195, Z. 6.
v3-*J
€’
*j, die Schleussen, sonst gewöhnlich die
Kanalöffnungen, Abflussstellen. Ibn Atyr IX, 413,
Z. 6; II, 331, Z. 3.
- J
— ä?, der Weih oder der Sperber. Kr einer: Aegyp
ten I, S. 150.
5 Q sl
-*rrsj
eine Schindmähre, schlechter Klepper.
Joj-® [♦jff ^ saAc Jjjjli. Aghany
XIV, 167, Z. 12. Vgl MemL II, 81, Z. 14 v. u.
S
U^.=^ — Spalt, Riss. Gabarty IV, 312, Z. 10. ^=*1?
pl. fliessend. Kämil p. 153, Z. 17.
von der Seekrankheit ergriffen werden. Ibn
Doraid, p. 118, Z. 10 v. u.
^sxl! £-H., bequem zum Sitzen, vom Reitsattel. Atär
al’owwal p. 156, Z. 3.
5 ^ Q ^
p»i> = |*t>. Ibn Doraid p. 118, Z. 11.
xj^XäXj eine Art Jagdfalken (aus Balangar
im Lande der Chazaren). ’Atär al’owwal S. 141, Z. 1.
jp^üt Byruny S. 268, Z. 3; die heissesten Tage
im Monat Juli. Sliifa, S. 45.
M ü f
^■=2 — (5^: eine Art Hühner mit befiederten Füssen
Aghany XVII, 101, Z. 13. oy.il, vom
Glücke begünstigt. — Ebenso: Makkary
III, 101, Z. 16 v. u.
— Gärtner, vom türkischen ^=il^£\-cLj. Gabarty
IV, 308, Z. 14 v. u.
Sitzungsbor. d. pliil.-hist. CI. CIII. Bd. I. Hft.
13
194
K r, e in e v.
— jü^joNI Äijyjf, ein besonderes Ehrengewand, für
Prinzessinnen, wie es scheint. Tabary III, iv, S. 1083,
Zeile 2.
9
Ijo — äsloü, die Wüste im Dialekte der Bann Tajjih
Tashyf, fol. IIP.
iütjo, plur. uyljttXj. Gabarty IV, 64, Z. 15 v. u.
Scheint zu bedeuten:
die Zöglinge eines Derwisch-Scheichs. Mein Gewährs
mann in Kairo konnte das Wort nicht erklären und
ist es nicht mehr im Gebrauch.
yi — plur. von ^Lj. Ueber die besondere Bedeu
tung dieses Wortes: Ibn Atyr II, 304, Z. 13.
I, frömmer, der frömmste. Kämil 135, Z. 19.
Localitäten = ^y5lxd. Aghäny III, 184, Z. 9
v. u. Vielleicht ist zu lesen — Der Mün
chener Codex, 473, fol. 142’’, hat
— Ackerboden dritter Qualität. Ibn Mamaty S. 46.
— kitzeln, ausstöbern, aufkratzen. Syrisch, vulgär.
U, ^ ? 9 J
Oyj — jücXJvJ Aghäny XI, 161, Z. 11 v. u. ist
fehlerhaft für ioOovJ l>.o, also Mäntel der Leute
vom Stamme Jazyd, die sich eines grossen Rufes
erfreuten. Sie waren roth gefärbt und deshalb sagt
ein alter Dichter (Tashyf, fol. 149 1 ’):
’ ’ “Kit " " ^ - > > V -- l . 't II “ " °t. a '
p ^ jM ^-O L> . »J CUul I 4-j LS sIaLJI tXi» V ^jyXXJ
,Sie straucheln, von der Spitze der Schwertür ge
troffen, als wären mit (rothen) Mänteln von Jazyd
bekleidet worden die Panzer.' Nach dem Verfasser
des Tashyf (1. 1.) sind die Jazyd Kaufleute in Mekka,
welche diese rothen Mäntel verkaufen. Die Lesart
Ooo statt Ajyj ist falsch.
der Vorhang, üvLau im Dialekte von Bag
dad. Shifä S. 39. Vgl.
poetischer Ausdruck, um den Anbruch
des Morgens aiizudeuten, weil der Schmuck, den
SBBBBBBSSS
Beitrage .zur arabischen Lexikographie.
195
die Frau trägt, dann kühl geworden ist. ö^
— uiLiJI poetische Wendungen, um die sorg
lose Ruhe anzudeuten. Shifa S. 49.
Die
kühles (Wasser). Labyd S. 52, Z. 2
Beschreibung, die Lane gicbt, ist ganz richtig, aber
es scheint, dass auch eine besondere Vorrichtung
zum Kühlen des Wassers mit diesem Wort bezeichnet
wird, wobei die Wassergefässe in Bewegung gesetzt,
oder ein künstlicher Luftzug erzeugt wurde, was mit
Geräusch verbunden war. Denn nur so ist die fol
gende Stelle (Atär al’owwal S. 114, Z. 7) zu ver
stehen: A pLo ^ kJ. All a.ac
(jAxj A £+mj.3 A-LJI «iy-Ax» of Ax.o xJ 'iy.Sh.Xjc
Axj RXaJ oLo.j is cyj-o. Vor-
zii.o'Uch nässten hiezu die Erlau fern lmen I )nzv’
zuglich passen hiezu die Erläuterungen Dozy’s zum
Worte
— erbeutete Griechenmädchen, weisse Sklavinnen.
Das Wort findet sich in einem Gedichte des 'Aggäg,
Oo o*
von dem Ihn Kotaibah folgende Bruchstücke anführt:
»Ajyl (J *y
muo
j —~ ' A A.^- ■ 1 ^ .
1—rhk + JI A cy-sly L*A I .äkj yöLo a
t|6l ».J 'väVxj
o
' 09
1 Ä-yAiO LL^/3 iilj j
O /Oz
L=^.aäJ| IoaaaJI i_öXlc
Hiezu wird folgende Erklärung gegeben: rl_AAxj|
L* AA A_r. y iüxi üU A? o.a, aa \a,0ä^. yJ | !Sy.ü a! I
S^AaJ! ck-y y— 1 *1 ly ^^AA/.+Jf A A' 1 Si, a 1 ^ (\ (y— yMi\^ L Vü>-
Oy.Ao| ALs» A ' I * * L AV ^JjaaJ ; C i_k1 i (JyyA^A^J i *
Jls l+V ^LajJI oLü.! *AA’
«-Ajyi olfti-l A (^LuaiJI
fj V-»» w
'ov.^o^ £>\ j.juj ^ s.äj viLJo jLr L*.3l •
& " CI
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Xa*J ^yXJliiy »UJI jv3.LL.iAj viUtXj \y+^ fV.SA.JtJl ^yjO
\y äJI J jÜaJ ! ^L+a=»I ätA.^0 L^J^S. ^yX+X^ io.AAxXJ
ijl \S&y- :? ^7^^ laj.iJI ^L*.Ä2»Lj
u^äJI tX.A£ Ä-Lo! I t\S2 Cid^..« 3 (J.Xll*JI
J-S^A Oj.*JI. Ash'ar, fol. 148 b , 149“.
— Ackerboden, der besonders für Gemüsezucht
geeignet ist. Ibn Mamäty, S. 46.
°
— ^.isyj^i Mostafrif, Ausgabe von Kairo, 1268 H.
II, S. 56, Z. 13. Betrüger, Schwindler.’
— Holzbalken, Pfosten, plur. yj.5a\yj. Gabarty IV,
258, Z. 13; 300, Z. 13.
— eine Art Schiff. Ibn Mamäty, S. 24.
— 1*2ein Fussring, JLsxLb.. Aghäny VIII, 98,
Zeile 2. ü+jvj — Stoppelzieher, tire-bouchon.
oder <2-jcLjy?. Factura, Waarenverzeichniss. Mo-
watta’III, 138, Z. 1.
— plur. Zigeuner. Gabarty IV, 198, Z. 12.
Kremer: Aegypten I, S. 141.
— Tabary III, iv, S. 1169, Z. 14. Nach dem Sliifä
Z. 36 ist die Bedeutung von auch ü.^br.. also:
das Anhängsel, der Zusatz, das Hinzugefügte. In
der oben angeführten Stelle würde es also den Be
satz, oder die aufgenähte Einsäumung bedeuten.
— III = £*U oder dli. Aghäny XIII, 103, Z. 9.
— statt 3 Zy£ bei Freytag ist zu verbessern
isvi, und hat das Wort den Sinn gewaltig,
reichlich. Shifa S. 57. — »jfjj, der Markt der Lein
ölhändler, oder der Leinsamenhändler. Sliifä S. 57.
Beiträge zur arabischen Lexikographie.
197
y.MJ
SO *
^ p s
ü.3 liä*\j
illA.-'
|WÜA
LN2.J
*1^
£oj
Lj
— eine Art Backwerk, Aghäny IV, 97, Z. 11; 154,
Z. 7 v. u.; IX, 63, Z. 1. Ibn Hamdun II, fol. 185 b .
Vgl. Persisch: O^Lo^j.
— s. mit Hämorrhoiden behaftet. Vulgär.
Shifa S. 42.
— eine Speise. Ibn Hamdun I, fol. 136 b . Persisch:
— die göttliche Huld. Kibryt.
S. 226, Z. 8 v. u.
— plur. der Vorhang, ’l'läm-alnäs S. 134,
Z. 6; S. 135, Z. 9 v. u. Das Mückennetz. Shifa S. 55,
jetzt kÄ^uyotj genannt.
— V. hässlich finden: ^jLi. Aghäny
XIX, 137, Z. 4.
— ein Fünfpiasterstück. Türkisch: Gabarty IV,
312, Z. 6 v. u.
— j.LLyo, pl. von starkem Ekel ergriffen.
Ilädirah p. 4, Z. 11.
d 1s
— (Jä_aj, Vulg. sehen, schauen. Acgypt. Syr. —
i^oLaj, Spion, Polizeiagent. Vulg. Aegypt.
= »yjo, ein Zettel, ein Briefchen. Gabarty IV,
61, Z. 1 v. u.
> > 0 -f
— V. — ä vkij', zerspringen, von der Haut.
Tashyf, fol. 148 b . -— sjudj, Teppich kLw.j. Tasljyf,
fol. 149 a . — ein Kleinhändler, Hausierer.
Vulgär.
— äkj, pl. LLj, grosses Gcfäss aus Leder:
jJkLl yjjo LaA Gabarty IV, 202, Z. 12. Shifa,
S. 43. Schmalztiegel.
— ^— vk.-. Ibn Chaldun III, 35, Z. 11 v. u.
198
Kr cm er.
— y«iaj, grosses Kriegsschiff. Atar al’owwal p. 197,
Zeile 4. '
(jiizj — äLciJa.', grosses Kriegsschiff. Makryzy: I, 480.
Z. 16 v. u. — = J*.Jaye, zu Boden ge
worfen. Bochäry, 3900 (Bäb altauhyd 31).
iLsÜaj — Register, Verzeichniss. Makryzy I, 415, Z. 9.
— Jlkj, ein Spassmacher, Possenreisser. sJ JÜoj
'Arais p. 195, Z. 3 v. u. —
J-.L2.y0 = -_d JV, Lügner. Gabarty IV, 249, Z. 14.
O' 9
[vaIoj — Nüsse des wilden Pistazienbaumes. Russell: Na
tural History of Aleppo.
iJ — jüüaj, Unterfutter, Unterkleid, Hemd. Gabarty
IV, 228, Z. 15; 255, Z. 5; 283, Z. 13. Der vertrau-
teste Freundeskreis, aüüllaj ^0 J^l. ’l'läm
alnas p. 163, Z. 2. Boclmry 3813 (Kitäb alahkäm
41). Futter des Helmes. 'Antar, Heft 94, p. 121,
Z. 12. — jLoiaj, ein rauher Stoff aus Schafwolle,
weiss oder grau, auch mit rothen oder braunen
. Streifen am Rande verziert, dessen sich die Be
duinen der libyschen Wüste bedienen, um sich
darin einzuhüllen, vorzüglich in Tunis verfertigt. —
'f ' 9 w
äUiayo, ein gefüttertes Oberkleid: jGis»yo J J-is-Jo
.^\ jLo er trat herein in einem
gefütterten Oberkleide und eingehüllt in einen Shawl
wie die Rechtsgelehrten. Aghäny V, 109, Z. 9.
^ — II. grossthun, prahlen. So im folgenden Verse
des Abu Tammam:
' , Ä r. “ ’ ?. -
3£>
lSSLZ^L- y J ^ I
,Als mir klar ward an dir die Gemeinheit, um
welche sich drängt eine Schaar (von Schwindlern),
bei welcher Grossthuerei als Regel gilt/ Dywän.
S. 198, wo kyoj.2. jedenfalls emendationsbedürftig
Beitrage zur arabischen Lexikographie.
199
e*
Iäj
(JsXJ
X.'CÖj
^a£j
ist. Vgl. auch den Vers im Journal Asiatique 1854,
Mars-Avril S. 300, Z. 1 v. u.
— unzüchtige Bewegungen machen. 1001 N. I, S. 47,
Z. 10 v. u. Ausgabe von Bulak vom Jahre 1252.
— galoppiren (vom Kameel). 1001 N. I, S. 303,
Z. 6. — 2üyyo er veränderte sein Aussehen,
verkleidete sich, s-Ai'Lw Ai'«
J ifcl. ^.vXjl« ^XJ. ^-A'.
jjäLxj^l^ ^l^-xj^l. Antar, Heft 108, S. 76, Z. 10.
— cyt S «.xj, Entsendungen. Gabarty IV, 269,
Z. 11 v. u.
-j
II, Hl.
der Schlupfwinkel der Eidechse.
Meid.
— sich versammeln. Ihn Doraid S. 99, Z. 4.
— IV. Bei Freytag ist zu lesen Lwj.i äIx.'I i. q.
jÜ.a~»I statt
— chinesisches Porcellan. Gabarty IV, 223, Z. 9.
— XaJÜuJI !?kA-'l, eine Art Silbermünzen, die alten
unter den Sasaniden geschlagenen Silberstücke. —
kJLxj, pl. c'iU.', eine Art von Sklavinnen, aus ge
mischten Ehen von europäischen Sklaven mit afri
kanischen oder anderen Sklavinnen entsprossen. So
nach Gähiz in Shifä S. 51.
. 5 s- o S- __
—• saä.', ein ganzes Stück Kattun. Fawät I,
21, Z. 3 v. u.
Ackerboden erster Qualität. Ibn Mamaty S. 45.
— Ackerboden vierter Qualität. Ibn Mamaty S. 46.
Hiezu findet sich eine Bandnote wie folgt:
^ Jjo ^ kü>U.A ^AÄ^iy+JI jUauJ! J*c-
^.L^äJ! I Ia» 1*.
— III. anschreien, schmähen. Gabarty IV, 27, Z. 12,
200
Krem er.
— « i'Jui ^xj JoyJI j,Uo (_£*=* jooLsv-L auwji S-^t
das Pferd mit dem Zügel bewältigen, bezwingen.
Vgl- *
Arais 212, Z. 13.
— Obertschokadar, Hausoffizier der türkischen
Grossen oder des Sultans. Gabarty IV, 249, Z. 3.
ä-LCi — pl. JJo, Portion (einer Speise). Makryzy I, 493,
Z. 17: ^ 4.V, — \.1Vj *.! Jr ^vx 1 .
(«Io — i—^Jy3 — s^Iää. LabydS. 120, Z. 8. — xaSIj,
ein Bogengewölbe, Xy+s. Gabarty IV, 190, Z. 14.
AaXaIj — Gefäss, Korb, Tasche. Aghäny XII, 167, Z. 10.
cy-L — abbrechen, ein Gespräch, im folgenden Verse
des
ey-yj ,j|y L^o! &M1ÄJ Lcw,j ,jC^I Ä LgJ ^jlS'
,Es ist, als suche sie auf der Erde etwas Vergessenes,
das sie verfolgt in ihren Gedanken, und wenn sie
mit dir spricht, bricht sie plötzlich ab.‘ Der Vers
schildert ein Mädchen, das vor Bescheidenheit die
Augen auf den Boden senkt. Ash'ar, fol. 144 b .
— grosses Weingefäss, Amphore. Makryzy I, 416,
Zeile 2.
— Dieses Wort, das bei Frey tag in der Bedeutung
von vultur senescens erscheint, ist nach Tashyf,
fol. 35, durch Schreibfehler aus hervorgegangen.
Das Wort ^3 erscheint in einem alten, von dem
Philologen Tawwazy überlieferten Verse:
(W-* AüJ
' es ^
Hiezu wird bemerkt, dass ^y 4.^0 das Weibchen
des Adlers, das Männchen und ^3 den jungen
Adler bedeute. Der Plural ist ^LAj oder
I asljyf 1. 1. Im Tag al'arus findet sich aber nur die
BHÜ
Beiträge zur arabischen Lexikographie.
201
Form und, wie bei andern Lexikographen, auch
die Form und so dürfte die angeführte Stelle
zu berichtigen sein.
Cja-L — die Bestechung = Sy. Sha'räny: Albahr
S. 94, Z. 10.
Mj — III. Aghäny VIII, 110, Z. 13 ist zu verbessern
in JaJLo.
— kilo, gelbe Lederpantoffel, Fussbekleidung der
untern Volksclasse in Aegypten. PI. Al.'. Ibn Chal-
dun V, 475, Z. 11. Gabarty IV, 95, Z. 16.
\joyaJ.j — pl. soll ein Wort sein, das aus einem ge
fälschten Verse stammt. Das Wort selbst findet sich
bei Byruny S. 254, Z. 17, dann im Tanbyh, fol. 108 b ,
wo die vorhergehende Bemerkung gemacht wird und
bei Ibn Walläd im Kitäb almaksur, fol. 7 a , der aber
gegen die Echtheit nichts vorbringt, sondern sogar
aus einem Gedichte eine Belegstelle anführt. Im
Mogmal aber fehlt das Wort, während Gauhary es
aufgenommen hat.
xjjXäXj — eine Art Jagdfalken, siehe
rALJ! J^t — Ibn Atyr II, 391, Z. 6 v. u.: 404, Z. 1.
— Makkary I, 184, Z. 13, ein spanisches Kleidungs
stück (vielleicht polaina, Kamaschen).
IcXaj äJajwi» — Extrapostsendung, Beservatdepesche. -Tabary III,
iv, 1130, Z. 17; 31, Z. 1.
— Gefäss, Riechfläschchen? Makryzy I, 415, Z. 10.
Io -
Name der Anhänger des Amyn, sind
identisch mit der Truppe, die den Namen Har-
bijjali führt. Ibn Atyr VI, 200, Z. 4 v. u.; 208,
Z. 7; 223, Z. 10. — JJJ, ä’.Lü — edle Pferde.
Lojiun, fol. 240 r°. ist der Name einer be-
Of | I
rühmten Stute. — yid. cyLo — oLö, weisse
202
K r o m o r.
weisse Wollten, die vor Eintritt der Sommerhitze
sich zeigen. Tanbyh, fol. 85. — auf-
gewärmte Suppe. Shifä S. 54. — vJjl >cAaj, eine
Pflanze. Meid. II, 709.
L. In dem Verse des Shabyb Ibn albarsä
4d vaElJ! cAJäsßb Ü Lg_ALoSd
Tanbyh, fol. ll a .
— l3-S"r' uAajI, sehr weiss. Ibn At.yr III, 41, Z. 6.
Vgl. (Jjjü oi-ul.
— Athiete. Gabarty IV, 309, Z. 4 v. u.
^ o } 9 o ^
— a.^axi, südarab. behauen, ausgemeisselt.
Iklyl nach Müller: Die Burgen und Schlösser Süd
arabiens, in den Sitzungsberichten der Wiener Aka
demie 1879, S. 390, Note.
äjü — Gattung, Art = dann das Schattenspiel,
von dem zwei Arten (xjL) angeführt werden: Jl
und dann M Ad JIa^. Bäbah ist der
Name des koptischen Monats, in dem die Nilschwelle
eintritt. Shifa S. 50.
^«.j — VIII. »vSA-j ^A.1! J.Ä.4.J jj!
cL*äj |vJ Lo JjJü <j! slfrÄ^lj m *.■&.Jj. Aghäny I,
53, Z. 1.
^ Ui o w
— V. Aghäny, XIII, 131, Z. 8. Ls^-aü oiyö. Die
entsprechende Bedeutung fehlt in den Wörterbüchern.
— iXi-Xi. Isfahäny II, 371, Z. 2 v. u. Ein Igel
besonderer Art.
^a+O, eine Art Birne. Ibn Mamäty
Seite 45.
..
^_aaj — v_aaj oder &—ao, Wasserabfluss, Rinnsal. Ihn
Doraid S. 44, Z. 9; 147, Z. 5 v. u.
taAAj — II. einfügen, einsetzen. i3j._a4ji.JI ( *aÖj ait
x-bä? (j, &Äaas *a-Ic K.j!j i_ää^JI Saif
Beiträge zur arabischen Lexikographie.
203
aljazan S. 77. — äj'Lo, die Nachtwache, die Nacht
wächter. Makryzy II, 200, Z. 14 v. u. Es ist von der
Nachtronde um den Palast des Sultans die Rede:
c- . "
joLüJI^ IjäJ! *J . ■
— pl. va&.IL, Lastpferd, Wallache, von dem türki
schen das bejgir ausgesprochen wird. Gabarty
IV, 202, Z. 1.
zsj — ^t/u, Dünger, pl. ipjU»Lo. Aghäny XVIII, 11,
Z. 8 v. u.; 12, Z. 5. Kämil S. 245, Z. 13, wo sich
die Anmerkung findet, das Wort _Iaj bedeute el+v.
,Fisch* und sei das, womit man den Fisch
fängt. Hiezu stimmen aber nicht die oben ange
führten Textstellen.
^jcXaj oder ^iXaj — der für die Jagd abgerichtete Weiher
oder Sperber Atär al’owwal S. 138, Z. 3
v. u. Es ist wohl das Richtige. Vgl. Shifä, S.41.
Li-o — eine Art feiner Trinkschalen: IajÜ! ^yi p^j
«yi JUJI. Gabarty IV, 224, Z. 2.
— ^XlcLuJ! v_i.Ls.JI, eine Art Datteln. Ibn Hamdun,
fol. 187.”
uoIaj — Weisswaare, Leinwand. Gabarty IV, 206, Z. 1
v. u. Die ägypt. Aussprache ist ^oLo.
— r Lo.aj j*l, der Kessel. 'Orwäh S. 35, Z. 15.
vcjKaj — Wasseruhr. Zahr al’adab I, S. 363, Z. 7. Vgl.
persisch Vulgär j»Kaj oder pjK.U’.
— Meissei, Grabstichel. 1001 Nacht I, 247, Z. 1
V. u. JÜLckJ äis.iiA’. Ö^äJ! blSyo pps^-J
,Js£
204
K r e m e r.
äyb — frisch = Türkisch-persisch. Syrisch-aegyp-
tisch vulgär.
jö — II. vergolden, ausschmücken: Lozum, fol. 107 b :
yyi by-gJ jSSlJl 0<jb ^ybi Jb'
^S*\Ä JI v^tX-'l i, (^a3 30
5 ) ü x f / l\«
«aj — cjaäxi, von einem Geiste (^b'j heimgesucht.
Aghäny III, 189, Z. 17.
i_yb, die Milchstrasse. Bäkurah S. 9.
^ - 7& vulgär statt j.a=ü. Ihn Doraid S. 120, Z. 9 v. u.
°.T „
o.i — pl. o>yÜ, Kisten. Koffer, Waarenballen. Aghäny
V, 63, Z. 6: »y ^iLwtyi* yj c^yü
yj ^yA' JsIäau!.
W »
i_5yj — ^lyb, Spitzname der Anhänger 'Aly’s, der den
Beinamen ulyä yj! führte. Ihn Atyr III, 397, Z. 18.
Tkd n, 301, Z. 10.
V - Ibo, Binsenkörbe oder Fischreusen. Makryzy
I, 494, Z. 18 v. u. üb-wJI L^äJ! Jiyb+Jl..
ijhjS — (jj-yJ, Schimpfwort: Elender, Wicht. Syrisch,
. ö ‘"
Aegyptisch, Vulgär. — ^juby-i, Eseltreiber, welche
Erde, Schutt oder Getreide auf ihren Thieren in
Körben transportiren. Gabarty IV, 31, Z. 13; 273,
Z. 8 v. u.; 281, Z. 8 v. u.; dann 1001 Nacht I, 75,
Z. 2 v. u.; 76, Z. 1.
k=*yj — pl. «yLs»yj, Hobelbank, aus dem türk. sKxu/O.
Gabarty IV, 291, Z. 2 v. u.
— ^yXÄx, unglücklich, dem Untergange geweiht.
Dorrah S. 82.
yyb*j' — Der Kaiser von Byzanz. Aus dem Armenischen:
takavur. Aghäny XVII, 45, Z. 5 und 7.
Beiträge zur arabischen Lexikographie.
205
Ji* 3
l 4 3
ob
osLs
,b
— ,jb sehr einfältig. Meid. III, 117, Z. 9.
— der innere Sudan, Centralafrika; davon
pl. kjjKj, einer der aus dem Sudan stammt. Makkary
III, 113, Z. 4. Kremer: Aegypten II, 280.
0 . u 09
— *AäÄ***/o, hoch emporragend. Nöldeke: Beiträge
S. 139.
— cjliShjJ. zusammen mit i_i gebraucht.
Sporteln, Naturalbezüge. Grabarty IY, 171, Z. 15.
Vgl. zu Hamäsah, S. 380, Z. 5.
o ^
Jo, pl. ^UJö, (telj) im Dialekte der Beduinen
von Higäz das Lamm. Es entspricht dem hebräi
schen nStO und dem altarabischen iUo, pl. ^LdJe,
Nach mündlicher Mittheilung des Professors Dr. Ro
bertson Smith. — auch Jo' ausgesprochen: der
Draht. Türkisch: Jö. Grabarty IV, 314, Z. 10.
■— immer, andauernd. Adverbial gebraucht. Syrisch,
ägyptisch. Vulgär. Vom türkischen
— <5*°^ = Juli"» stolz, hochmüthig. Meid. III, 53,
Z. 6 v. u.
— cAj, sich in sein Kleid verhüllen, sich damit
bedecken: v_>yÜL |5|. Ibn DoraidS. 59, Z.8.
— II. ^y 3 -! schwächen, entnerven. Mas'udy
V, 94. Es ist wahrscheinlich zu verbessern &2y'J.
— tetal, vulgär statt Jooo, der Steinbock, ibex.
0^ ü
— sehnsüchtig. Diese Bedeutung giebt Ibn
Doraid S. 162 mit Anführung eines Verses als Be
legstelle. Sie ist von den späteren Lexikographen
übergangen worden.
— xx-oJI cjI^LäJI, Erklärung dieses Ausdruckes.
Dorrak S. 7.
— Vulgäres Schimpfwort: Syrisch, ägyptisch. Es
ist das altarabische in moderner Aussprache.
In demselben Sinn wird gebraucht. Shifä’ al-
ghalyl S. 62.
— v^sxj, pl. die Trebern oder Trester
(Hülsen von ausgepressten Datteln, Trauben oder
andern Früchten). Aghäny XIII, 28, Z. 12 v. u. —
9 9 w . w ^ #
n. x3+äpJi = iLosX, breit machen, erweitern, lbn
Doraid S. 120, Z. 10 v. u.
— VII. bei Dozy nach Ihn Doraid. (Wright) S. 25,
hängt offenbar mit der Wurzel »:£X3 zusammen in
der Bedeutung sich erweitern, sich ausbreiten.
— äo^j, eine Pflanze der Wüste. Aghäny XIV, 95,
Z. 1 üiLa hi Ä-LTi' jjUAÖjiJt äÄAi'O jÜ.üj
j'.
Lai
— zur Schlange werden. Makkary II, 766, Z. 16 v. u.
— X. t = ^Ul, in Bewegung setzen, auf
wühlen. Aghäny VIII, 68, Z. 1 v. u.
üJLcÜ Iffvil^si icjjül l-lil
ls>^Lij| J.I
^ O
— 15^%: eine Frau, welche drei Gatten hatte. Dieser
Bedeutung liegt aber eine andere, ältere zu Grunde,
und diese deutet auf die alte Polyandrie hin, indem
das Wort eine Frau bczeiclinete, die drei Ehe
männer hat. Den Beweis hiefür finde ich in ein
paar alten Reimen, die anlässlich einer lexikalischen
Erörterung im Tanbyh, fol. 76 r° angeführt werden.
Ich lasse sie hier folgen, indem ich nur beifüge,
dass man sie dem weisen Lokmän zuschreibt. Die
Stelle lautet:
Hi
Beitrüge zur arabischen Lexikographie.
207
ä._3C14.IoLä.JI !öL xJ .
Ä (jbjiJ ^
xXJ u^xJ ^^.^J ^AxxaJ X__SCaxO.+J! Xz^v.^vJ C
,0 du Besitzei - des schwarzen Oberkleides — und
der gemeinschaftlichen Gattin — sie kommt nicht
dem zu, der nicht dir (befreundet) ist/ — Wie
immer man den letzten Vers verstehen mag — denn
der Sinn ist dunkel — so zeigen doch die beiden
ersten deutlich das polyandrische Verhältniss, das
später in volle Vergessenheit gerieth, so dass der
ursprüngliche Sinn des Wortes ^ ä£x> ganz verdun
kelt ward.
xxxjj, pl. £Üt und ausser der gewöhnlichen Be
deutung wird der Plural gebraucht zur Bezeichnung
einer Gruppe von drei Sternen in der Nähe des mit
dem Namen bezeichneten Sternbildes. So
sagt Bohtory:
'^ " Gö y 55 ^ ^ J ö ^ x ^ ü
JOjO ; UJ| ^hlJ ^2) .0 I gj ojI 1 jl_if •
Shifä’ alghalyl S. 27. ^
Sl3 =
i_>y£XVo. Tanbyh, fol. 38 a . v_aäax> be
deutet sowohl ,durchbohrt', als auch ,angezündet',
und in letzterer Bedeutung findet es sich Aghäny
XV, 71, Z. 1. LaäLo lifrj c^-cy-cv Lj. Vgl. Lane.
Jjij' — cJ.äaa3, ein beladenes Kameel. Tashyf, fol. 17 x
und 86\
Jj' — JjJUI, pl. von JjAjI, vermuthlich Schreibfehler
~ > £. ’
für JvJU, pl. von 'Aräi's S. 166, Z. 11 v. u.
Q' '
Sicherheit, Gemüthsruhe: ^jJi ^aüaJI I
xxi dlxohi. Mowatta’ IV, 71, Z. 4 v. u.; vgl. Lane
sub voce. Baläclory 214 cv.aaJ| und die Bemerkung
von de Goeje zu dieser Stelle.
(v4j — |v1ääai, poetisch für d. i. der steinerne Trog
am Brunnen. Labyd S. 64, Z. 2 v. u.
Cfl ' Cfi
208
Kreme l*.
dauerhaft, beständig. Zoliair S. 90, V. 26
(Ahlwardt).
— üx^oLc+JI. Isfahäny II, 205, Z. 11 v. u. Die acht
Kurfürsten von Jemen, welche den Oberkönig wähl
ten. Vgl. Kremer: Südarab. Sage S. 125.
° 9 9 ° 9
— ^^aVo, pl. ^aa^o, der, welcher nach dem Opfer
feste in Mink noch zwei Nächte dort verweilt; das
Wort findet sich im folgenden Verse des Dü-lrommah:
S^\ jJUz ^Js- jLlß C^-^o L^-la
" * ° * c i / c * ° , ,
o^***'*“? ^UaJ\ cy° '^**j* ui
Tanbyh, fol. 23 a .
0 ^
V U - V-Sb, eine Reiterschaar (poetisch). Hamäsah
S 526, Z. 8 v. u.
£
r u - LoU. 'Antar, Heft 114, S. 286, Z. 17:
; IaS" ^_AAoi‘ cul-als! (J-+-C ^yxi ^.aaVjXmj- — Ein
grosser Vorhang griechischer Arbeit, mit aufgenähten
Flecken (oder runden Ausschnitten) von Goldbrokat.
— In der Bedeutung Becher ist das Wort schon
früh aus dem Persischen herübergenommen worden.
Vgl. Bochäry 1739 (Kitäb alwasäjä 36). Das Wort
hat auch die Bedeutung: Tasse, Platte: cyl /oL>
mehrere Tassen mit Mandorlate. Mas'udy
VIII, 270. — ein mit runden Flecken
benähtes Kleid. Makryzy I, 410, Z. 10.
v_a=» — c ^ e Vertiefung, der Trog, in dem der Färber
die Wolle färbt. 'Aräi's S. 423, Z. 13. v_a=-
= <3JI »>—äj, das Grübchen am Kinn. Shifä
Seite 70. — i_j^.a^? — &AAÄ’j| ^^0 nJi'ö ^tUh
Sobky, fol. IS 11 .
e-
-..e»
Zeile 16.
pl. _Ia=», Bienennester. Makkary II, 696,
Beiträge zur arabischen Lexikographie.
209
o
— in Kairo Collectivbezeichnung der Leute von der
ostafrikanischen Küste.
Gypsstampfer. Gabarty IV, 198, Z. 2 v. u.
— II. xUftJI, verkehrt, mit dem Gesichte nach
rückwärts (wie die Verurtheilten) jemand reiten
lassen. Bochäry 3606 (Kitäb almoharibyn 10)
Lu^Xäjo. — UjU: scharf
sehend. Aghäny XI, 142, Z. 7 AU ^
cU wozu bemerkt wird: CK* J| (5- jU
4U| tkJtLci UjUj. — -UJI L>U*, Wasser
behälter. Ibn 'Adäry 108, Z. 5.
(*U — IV. = II. Kämil 223, Z. 12. — *U, fest,
schwellend (vom Busen). Näbighah VII, 30.
. O/
cU — ein Thier, das der Heuschrecke ähnlich ist und
auch fliegt. Ibn Doraid S. 29.
^ auch 13t oder t5 3t, der arabische Eulen
spiegel, Witzbold, Spassvogel. Hiezu macht Kaljuby
in seinem Nawädir S. 81 (Ausgabe von W. N. Lees,
Calcutta, 1856) die Bemerkung: iS: £| jjxl 5
JLäj cUo J^XxjC OwlU il
JUI xJUfj Ipt Ist.
u. - >
— 0<3o>, kleine Kupfermünzen, Para: Gabarty IV,
313, Z. 12. Im Singular AjA=*. — Ein Para =
10 Gadyd.
«^ItU — Fetzen, zerrissene Kleider, angeblich vom per
sischen oIlU Shifä S. 68.
w P
jXz*. — jv^ol eine ungerade Zahl, eine Zahl, die nicht
durch Multiplication hergestellt werden kann. Shifä
Seite 77.
£i3o=. — pl. (gad'än); im ägyptischen Dia
lekt wird ptG- b ja gada' gebraucht im Sinne von
Lj, he Junge, Bursche!
Sitzungsber. d. phil.-hist. CI. CIII. Bd. I. Hft.
14
210
Krem er.
eine Art Steine (Jemen)
j^jJ! JjoI. Mosämerät I, 183. — in
der Bedeutung: Heerde von wilden Eseln, gehört
nach einer Angabe des Jäkut dem Dialekte des
Kinänahstammes an. Maräsid V, S. 48.
— Meid. III, 69; siehe Freytag sub:
Aegypt.
— Aghäny V, 158, Z. 13.
— Aghäny XVI, 76, Z. 4: ^tXlf
Angaben sind ungenau, denn der Name Garägimah
bezeichnet die in den gebirgigen Theilen Syriens
erhaltenen Reste der alten, nicht arabischen Be
völkerung. Kremer: Culturgeschichte II, S. 163.
Jo — II. einschreihen (in den Register der Löhnungs-
berechtigten): Aghäny XVIII,
^ o ^
23, Z. 14. — üeine Truppenahtheilung. Gabarty
IV, 225, Z. 2v. u.’— cM, glebae adscripti.
Amari: Storia dei Musulmani in Sicilia III, 1, 238.
— Milch, deren Schaum abgeschüpft ist, die
keinen Schaum hat, Buttermilch. Ash'är, fol. 192 b .
Der Vers des ’A'slia Bakr, wo das Wort vorkommt,
lautet:
,Es gehen uns Bürgschaft ihre Hüften (der Kameele)
für das Fleisch in unseren Kochtöpfen, und ihre
Beiträge zur arabischen Lexikographie.
211
Euter (verbürgen) uns reine Milch/ In der Hand
schrift der Wiener Hofbibliothek Nr. 241 (in Flügel’s
Katalog) ist eine andere, theihveise fehlerhafte Re
daction dieser Verse erhalten, und zwar fol. 172 b .
— Jos.si, militärische Expedition. Gabarty IV, 305,
Zeile 4.
Ibn Atyr V, 11, Z. 12.
— Aghäny X, 136, Z. 17.
Der letzte Halbvers lautet an einer andern Stelle:
^y-oLihüJt iü. Aghäny XIII, 130,
Z. 13. Persiscü i—ioo, ein Braten. Siehe
uöyz» — II. <jöj>.=ü. Aghäny XV, 18, Z. 7.
— II. Rinnsale ziehen, zum Zwecke der Bewässe
rung. Vulgär. Gabarty IV, 112, Z. 2. — cj
Rinnsale, Furchen (franz. rigoles); das Ufer,
der Rand = Ixci. Gabarty IV, 116, Z. 8.
y'O ^
— ein Gebäck in Damascus, dem ül*5 -Zwieback
sehr ähnlich. Türkisch
— II. Geld erpressen, mit Accusativ der Person;
Gelderpressung. Gabarty IV, 307, Z. 8 =
MT*-*'
— ^Übova., pl. iüLol^=>, Name der alten, nicht ara
bischen Bevölkerung in Irak. Kremer: Culturge-
schichte II, S. 164. Kämus:
S X 5
Diminutiv von Meid. II, 817.
cSy? - 4LL4J! Julr ^53.=* ; wer von liegendem Besitz
thum ein fixes Einkommen hat. Ibn Atyr II, 392,
Z. 8. — der fixe Gehalt. —- ^Uü >_*=>.Lo,
der Zahlmeister, pl. Aghäny III, 95, Z. 7.
Ibn Mamäty p. 33. — leichtes Gewicht, im
212
K rem e r.
'r“
e;^
ijoj^
JL^
; x ~
JO
\jks
Gegensatz zum schweren ^vao/. Ihn Mamäty p. 37,
49, 57.
— iy=>, Koranabtheilung. Fawät II, 109, Z. 4; 160,
Z. 12. Collegienheft. Fawät II, 163, Z. 5.
— Futteral eines Buches. Aegyptisch.
— Süh^., ein Stück. 1001 Nacht I, 73, Z. 11 v. u.
= 75, Z. 11 jütki’.
— roth gefärbt sein. Ibn Häni’ p. 30.
— IV. = I., gefrässig sein. Aghäny VI, 25, Z. 6.
Vgl. Ibn Atyr III, 382, Z. 6, wo die V. Form: schwer
ertragen, scheuen, vermeiden wollen zu bedeuten
scheint.
— eine Speise, eine Platte von einer Speise. Aghäny
XIV, 113, Z. 7 v. u. Aber die Münchener Hand
schrift 470, fol. 189 b hat an dieser Stelle
Der Codex der Wiener Hofbibliothek hat
— eine besondere Krankheit der Falken. Atär al-
’owwal S. 143, Z. 7 v. u. Vgl. (.vas..
g fl ^
— Kameelmist: Freytag bemerkt aber nicht,
dass das Wort ausschliesslich dem Dialekte des
Stammes ’Azd angehört. Aghäny XII, 50, Z. 5 v. u.
^ o -• .f Oy ...
— die Hyäne. Vgl. J lo?*, ausschliesslich jetzt
im Gebrauche bei dem Takyf- und Hodailstamme.
Mündliche Mittheilung des Professors W. Robertson
Smith.
— dick, plump. Ta.shyf, fob 89 b , nach
’Asma'y.
— eine Art Schiff. Gähiz: Kitäb alhaiwän, fol. 196.
Die bezügliche Stelle ist abgedruckt in meiner Ab
handlung: Ibn Chaldun und seine Culturgeschieilte.
Sitzungsberichte der Wiener Akademie, XCIII. Bd.
Seite 636.
— der Pfeilköcher. Ibn Doraid S. 198, Z. 9.
Beiträge zur arabischen Lexikographie.
213
— ein Kleid. Makryzy I, 418, Z. 2.
Jus. — Jä, Segel. Plural nebst dem gewöhnlichen
\ ^
auch J>UI in einem Verse des Garyr. Tanbyh
Cu y y
fol. 46 a . — äJL=», pl. die Kugel. Gabarty IV,
11, Z. 14; 110, Z. 13. Fawät II, 28, Z. 4 v. u.
w 9 O ^
jy&jtis. jLL> Ai iLJL+JI^. — Jj-Us 1 , geballt,
kugelförmig. Chalaf al’aljmar S. 64.
> ' o*
aus dem Sudan importirte Sklaven. Ihn
'Arabshäh, fol. 35, 110: £ xa-1.c. ( c ä2 - c
(jiyXJI xJyXxi: als die Sklaven gegen ihn sich
empörten, in seinem Palaste unterhalb (des Schlosses)
Kal'at alkabsh (in Kairo). Iyjüii |*i’
^IkJLJI : dann verabredeten sich
die Sklaven unsern Herrn, den Sultan, zu überfallen.
— ioiLa-, die Sklavenhändler. Makkary II, 740,
Z. 8 v. u. Sing. die Karawane,
Waarensendung. Makkary I, 170, Z. 8.
oLA.=* — 'Antar, Heft 97, S. 258: ckuSj
xjA=*^: er fasste ihn an dem herabhängenden Theile
des Panzerhemdes und zog ihn. 'Antar, Heft 133,
S. 441: sAj ^j.ä-1 Aij. Das Wort
bedeutet also: den Zipfel, den herabhängenden Theil.
A~U* — OyJLs? = AA=». Dorrah S. 165.
(3.4=. — äÄj^k=>. Das Wort kommt bei Kortoby: Kitäb
o ^ 0
almilal walnihal, fol. 180 b vor: J.—«ÜA
( * I j?A^ ÜÄsLwl
Jl 4_U |fby. Es sind wob) die
christlichen Bewohner von Galicien gemeint und
vielleicht im Gegensätze zu den Priestern: die Laien
im Allgemeinen.
(3-g-W- — 3.so’iC=a., pl. Armbrust, mit der man
kleine Kugeln schoss (3 A-UJI u^yj). Ibn Atyr III,
214
K r e m e r.
145, Z. 5 z. u., auch u*ys genannt. Kitab
almowashshä, fol. 187.
s ✓
einer, der mit Wohlgerüchen durchräuchert.
Aghäny XU, 130, Z. 10.
— ) L^, Vorläufer. Aghäny XVI, 75, Z. 6. —
is\L*=>, Kameele, die im Passschritte traben. Lataif
S. 15. Gähiz-Rasäil, fol. 198 b .
— Laubengang. Gabarty IV, 28, Z. 16.
— Seiltänzer. Türkisch jjloU. Gabarty IV, 198,
Zeile 11.
9 --
— ein munter trabendes Kameel. Tarafah
Mo'all. V. 26 (Arnold), S. 45. — eine Art
Schiffe. Aghäny IX, 32, Z. 14.
* . | — ° —
2Ü0Laa^
— Meid. III, 177.
- £ U ^ kurz, kurzbeinig (vom Kameel). (ä^-y^i'),
der Pfeil ohne Spitze, das Rinnsal, der Damm (oLa^).
Aghäny VIII, 139, Z. 1 v. u.
Ö-S* — (Jpjr’" Aghäny XVIII, 86 Z. 12 v. u. Die Hand
schrift 481 in München hat Ljü^.=», und Codex 471
Läjy^.
— V. Dywan Imra’alkais (ed. de Slane S. 22) dürfte
bei Dozy zu streichen sein, indem die bessere Lesart
in der Ausgabe von Ahlwardt lautet.
— die Stadt: jLoA+JI xj«.il. Aghäny
I, 22, Z. 4 v. u. In der Tradition kommt das Wort
in der Bedeutung: Bodensenkung, Vertiefung, wo
sich das Wasser ansammelt, vor und lautet im PI.
Bochäry 2035 (Kitäb bad’ alchalk 55).
— VII. r Läx. = schwach. Gabarty IV,
68, Z. 9 v. u.
Beiträge zur arabischen Lexikographie.
215
— türk, Kammerdiener, Hausofficier im
Haushalte der türkischen Grossen oder des Sultans.
Gabarty IV, 249, Z. 6.
— H. iaiU Schönschreibekunst. Fawät II,
23, Z. 5. 0y^? jL~*. Gabarty IV, 95, Z. 2.
— y Masdarform, abweichen, abschwenken,
J.ckc. In einem Verse des 'Aggäg:
jAllmälig entfernt sie (die Barke) von der Abschwen
kung (in das unrichtige Fahrwasser) das Anziehen
der Taue (>5J durch die Matrosen, wenn da bläst
in ihr aufgespanntes Segel eine frische Brise
die da kommt von den Bergen des Sinai/ Ash'är,
fol. 216 a . In dem Manuscript der Wiener Hofbiblio-
thek Nr. 241 iinden sich folgende Varianten: x-oUj
Pilger am Pilgerfeste. Vgl. Caussin de Perceval:
Essai sur 1’liistoire des Arabes II, 262. Aghäny III,
4, Z. 17. — Mit Unrecht hat Laue
diese schon von Freytag gegebene Bedeutung nicht
aufgenommen. Sie ist alt. Vgl. Tabary II, i, S. 225,
Z. 19. —• grosser, doppelt gewundener Turban.
Gabarty IV, 164, Z. 4 v. u.
S . sl s .
yy^. — ein mit runden Flecken benähtes oder
gemustertes Kleid. Makryzy I, 410, Z. 10. Vgl.
— pl. Aghäny XII, 167, Z. 13 v. u.
i, das junge
Huhn. Persisch sLi, aräbisirt in dwoLi. Vgl.
Damyry sub voce.
216
Kleiner.
die Grube, Bodenvertiefung, Tläm S. 306,
9
(bis), eine Speise. Aghänj XVII, 81,
Z. 15 v. u. — yi>Lo^: Sha'räny: Albahr S. 72,
Z. 9 v. u.: Ig-sbs 3 ! aui ^Li v^jLo^yatJI j»L*is Lclj
iüyc\j c^Lo^s! l+j| , JL*JI £ xA-La j.a£. LgJ-*i
U*^äÄJ!: Schwelgerei. Vgl. ,j^=i bei Freytag.
t U — IV. = JuJ oder berabhängen lassen.
Labyd S. 132, 133. Aber sicher ist dieses Wort
nicht, denn eine andere Lesart gibt an dieser Stelle
^.=>1 statt *Lö.|.
— X. s_)Lsx^l, nehmen, rauben, einsacken; in der
Diebssprache. Shifä S. 75.
= Ai, ein grosser Becher. Aghäny XIII,
112, Z. 4 v. u. Codex der Wiener Hofbibliothek:
° 9
— verdorben (vom Fleische). Syrisch, vulgär
migwif ausgesprochen.
c
, die Krätze. Shifä S. 79.
— Gaukler, Possenreisser. Gabarty IV, 198, Z. 11.
& J6Laif,
H ! 1 • | • .
7^ — *7^-^-: Aghäny XIV, 30, Z. 7 v. u., dürfte
zu lesen sein: und so schreiben die
Codd. in München und Wien. — V, die Ober
priesterwürde (bei den Juden). 'Aräis S. 230, Z. 2
Sa
y. u. -— v.yS’, verziert, geschmückt. Labyd S. 80, Z. 1.
Ja«». — iaga», von kurzer Gestalt. Ibn Doraid S. 6, Z. 12.
Jä^ — iä^SP, Possenreisser. Sha'räny: Albahr S. 189,
Z. 12. J .! »y-g-äJI £G •y-GG ^
Beiträge zur arabischen Lexikographie.
217
^IxJU LsO^-i. .! Ua^ ^,£5. Vgl.Dozy zum
Wort
vtL.=. — I. heften, binden (ein Buch). Sobky, fol. 40 a .
(auch modern ägyptisch). — ein Hefter. Ga
barty IV, 198, Z. 4 v. u.
i ’f I
pl. L-3^7 der Ort, wo jemand hockt, und
die Spur im Sande, die er zurücklässt, wenn er auf
steht. Aghäny XI, 147, Z. 1 v. u.
5-o>
— yjiss — (3*3',, fest, fest gemacht. Labyd S. 77,
Z. 3 v. u.
S 5,
— jLo,S:, Thürhüter, Kämmerer. Sobky, fol. 14 a .
— ,^»1=., der Fuss, der Rand des Berges
Gabarty IV, 29, Z. 17.
— ia>Lai£^t vdlUl, 'Antar, Heft 114, S. 276, an
beiden Seiten mit Schildern behangene Streitrosse
oder Kameele.
0 o.
— (^^3 nach Freytag: male nutritus infans, ist ein
fach zu streichen, indem es irrthümlich für
steht. Hiernach ist auch die Stelle in Nöldeke: Bei
träge zur Kenntniss der altarabischen Poesie S. 128
richtig zu stellen. — xJä, Schilf = \jOy~?- Gabarty
IV, 300, Z. 14; 309, Z. 15.
Ueber die Bedeutung dieses Wortes habe
ich in meiner Culturgescliichte I, S. 200, Note, ein
gehend mich geäussert und ganz unabhängig davon
Dozy in seinem Supplement. Nach seiner Ansicht
bedeutet der Ausdruck jl, so viel als:
Polizeipräfekt, und in der That lässt es sich an
vielen Stellen nur so übersetzen, aber anderseits be
deutet das Wort wie ich schon in der be
zogenen Stelle hervorhob, auch ein Einkommen und
die Aufgabe des J,|, war die Einhebung
dieser Einnahmen. Wenn ich damals dies nur als
Vermuthung aussprach, so kann ich nun einen Be-
218
K r e m o r.
weis hiefiir Vorbringen. In den gesammelten Briefen
des Hamadäny findet sich ein, wie es scheint, an
einen höheren Beamten gerichtetes Schreiben, worin
sich die folgende Stelle findet (Hamadäny: Briefe,
S. 545): fjöyjtXi k dld-c.
ilrlLo! oj|>i ^Aj ^
^ y
!jol=* y JLo ya ouäJI ^c.
k_ft^.ÄJ! ojoIj okjuA/oli JLo Hier
aus erhellt, dass die Ahdät eine Abgabe von den
Erbschaften sind, also eine Art Erbschaftssteuer.
Es ist nicht ausgeschlossen, dass aber auch andere
Einnahmsquellen ebenfalls hiezu gerechnet wurden.
— k£>t<A=*iH Mäwardy S. 306, Z. 2.
Diese Stelle, die von Dozy nicht besprochen wird,
bietet grosse Schwierigkeit. Im Texte ist statt
wie die Ausgabe von Enger hat, mit einer sehr alten
Handschrift in meinem Besitze zu lesen Alio, wonach
zu übersetzen wäre: ,und es erfordern die Häuser
für die jungen Männer und Mädchen zehn Millionen
Dirham'. Enger (S. 32) versteht hierunter Waisen
häuser. Mit Sicherheit lässt sich nichts sagen, so
lange nicht andere hierauf bezügliche Stellen bei
den Schriftstellern aufgefunden sein werden. - >1
O-s ckJ.!, die juridische Schule von Irak im Gegen
sätze zu den ^tyi >!, der juridischen Schule von
Idigäz. Shahrastäny: Haarbrücker I, S. 39.
= -.(X—sxxi eine Krankheit (nicht
vulgär-ägyptisch). Gabarty IV, 22, Z. 11.
J<A=» — Saum, Rand des Zeltes, wo es am Boden
befestigt wird. Ibn Chaldun V, 441, Z. 11 v. u.
Vgl.
der Weih, Sperber. Plur. (vulg.
ägypt.). Sha'räny: Albahr S. 255, Z. 1.
<A=», PI. pl. von sing. kjjiXy- Aghäny
IV, 126, Z. 16.
Beiträge zur arabischen Lexikographie.
219
oA=* — pl. oöLs’, der Wurfstock, die Schleuder.
Ihn Doraid S. 51, Z. 9.
— ä^tA.=*, die äussere Erscheinung, das Aussehen:
s^lA=* tA® s'^lAs. Lo^. Aghäny XX, 102,
Z. 8. Abu No was, ed. Ahlwardt IX, v. 2 ist
fehlerhaft statt - .A^).
7=- ~ Oel aus Saflorsamen: auch
y I y
genannt. Gabarty IV, 291, Z. 6. Kremer: Aegyp-
Ö
ten I, 210, 211. — adscriptus, geweiht =
'Arai's S. 403, Z. 16. Jjt=» ^ I j|
1-^.aLc * I
— k_Ajv=ll Aä4-I. Vgl. Kremer: Culturgeschichte
I. 236.
— ÜLä., coitus — ^ 1+^. Ihjä' II, S. 333, Z. 8.
U" — ein Beiname des Löwen. Ihn Doraid S. 154, Z. 9.
07=- - VIII. die Nilüberschwemmung
nahm ab, reichte nicht aus. Gabarty IV, 153, Z. 8.
Collectivbezeichnung für die beiden Stämme
Banu Sa'd und Banu Taim. Tashyf, fol. 136’’, wie
auch im Kamus.
^ ^ y <J ^
— ^Loül das Schnupftuch der Begnadigung.
Gabarty IV, 129, Z. 5 v. u.
— pl. cjÜIAx^ä., Erker, vorspringendes, vergittertes
Fenster. Gabarty IV, 28, Z. 8.
— isdy^, ein Schnitt, eine Schnittwunde. Aghäny
XIV, 173, Z. 8.
— '• pl. odi 1 , Jahrescyclus. Byruny S. 291,
Z. 1: 295, Z. 11 und 12.
-'O ^5
— eingekerkert. Aghäny II, 31, Z. 17. Vgl.
Diese letztere Aussprache soll die richtige
sein. ’Ash'är, fol. 153.
220
K r e m e r.
— oLuLwäI, sinnliche Wahrnehmungen, ’lhja IV,
144, Z. 7 v. u.
^_*j*.=* — frommer Duldersinn: • ^ y<aJt kwil
Mowatta’ II, 25, Z. 2.
jyLwjs. — II. die Formel aJj! Ü.^=» aussprechen. Gabarty
IV, 225, Z. 5 v. u.
das Mal, Schönheitsmal. Kup
pelei. Kuppler. Aegyptisch, vulgär. Shifä
S. 37, 84.
— II. sich aufmachen (zur Reise). Azdy S. 32, Z. 12.
»Ai — Agent der Finanzverwaltung. Ihn Mamäty
S. 15: ^UaJIj ^AäJL JU^bü *x>üj ».Alit
joojJt. — is^_A=», eine kräftige Kameclstutc. ’Ash'är
fol. 143 b .
»-o--n — Enge, Beengung (ijyyä), von Palmen ge
sagt, bedeutet es die zu enge Anpflanzung: wie in
dem Verse des Labyd (Labyd S. 53). Es ist nämlich
eine alte Regel der Palmenzüchter, dass zwischen
den einzelnen Bäumen ein hinreichender Raum ge
lassen werden müsse. Abu Hätim in seiner Schrift
üder bie Palmen führt eine Stelle aus Asma'y an,
wo er sagt: ,eine Parabel der Perser und Nabatäer
lautet, dass die Palme zu ihrem Schwesterbaume
sagt: halte dich ferne von mir, so trage ich meine
Last (von Früchten) und die deine noch dazu/ Von
Palmen gesagt, bedeutet die geringe Distanz
zwischen den Stämmen (J^—to^l ^..o Lo yj^lÄj).
Die Regel ist, dass die Stämme zwanzig Ellen ent
fernt sein müssen, wenn auf das Erträgniss der
Palmen, anderer Baumarten und des Bodens ge
rechnet wird; fünfzehn Ellen, wenn man nur auf
die Palmen und anderen Bäume rechnet; zwölf Ellen,
wenn man ausschliesslich die Dattelernte im Auge
hat. Tanbyh, fol. 38’’, 39 a , — bei Dozy
Beiträge zur arabischen Lexikographie.
221
bedeutet: 'Abadäny-Stroh- oder Binsenmatten.- Vgl.
Kremer: Culturgeschichte II, 298.
— busrum in der modernen Aussprache: der aus
unreifen Trauben gepresste Saft, den man in man
chen Theilen Syriens statt des Essigs gebraucht.
Russell: Natural History of Aleppo.
— Jyas?, pl. Gerichtstaxen. Gabarty IV,
249, Z. 7 v. u. xJ JLs..
yiäst- — Sj-tÖÄ., die Residenz. s^_vdi! JL+jiI, die zum Ge
biete der Residenz gehörigen Bezirke. Ihn Challikän,
Vita Hl (ed. Wüstenfeld).
— VIII. sich nähern. Aghäny VII, 162, Z. 13. —
Verfertiger der Stoffe V LÜI.
Rashh alnasäih, fol. 71.
Ibn Chaldun V, 463, Z. 12;
473, Z. 18. — OjAä?,
des Labyd, ed. Arnold, ö. »o.
Jääa. — in der Türkei jetzt die Reserve, in
Aegypten die Gendarmerie.
JaXis». — JaAftjS?, ein Pedant, Sylbenstecher. 'Ajäd Tantäwy:
Traite de la langue arabe vulgaire I.
das Spiel, wo der Verlierende
sich verpflichtet, den Wunsch des Gewinnenden zu
erfüllen. Tläm S. 236, Z. 16.
pl. frei, erledigt, ohne Inhaber:
IV, 249, Z. 8.
— XjIäA=>, Pantoffel aus Binsengeflechte. Sha'räny:
Albahr S. 221, Z. 2 v. u.
(JS-l’ 2 *- — monopolisiren, sequestriren. Gabarty
o
IV, 279, Z. 7 v. u. — k£La., der von der Behörde
222
Kreme r.
bestimmte Verkaufsplatz für gewisse Lebensmittel,
von denen die Regierung eine Verzehrungssteuer
einliebt, z. B. sdi-Ui, der Fischmarkt (in
Kairo). — mit einer Krankheit am Gliede
behaftet: Shifä S. 80 oL**i »Xi ^5tX-M. Vgl. Aghäny
XII, 107, Z. 7. — rr? , das
Opferfest von Minii. Aghäny, ed. Kosegarten, S. 224.
Aghäny (Bulak) I, 150. Der Name kommt daher,
weil unmittelbar nach der Ceremonie der Steinigung
des Teufels am grossen Opferfeste in Mink die Wall-
fahrtsceremonie als beendet gilt, demnach jeder
Pilger das Wallfahrercostüme ablegt und sieb den
Bart sekeeren lässt. Vgl. Burton: Pilgrimage III, 284.
— «.wl+o, Fehde, Kampf. Aghäny XVI, 49, Z. 9.
iLylsclil A ciohAJÜ.
(jA + => — euLd+iä’, Agrumen. Ibn Mamäty S. 44.
(A+ä. — Kronleuchter aus Glas. Ga-
barty IV, 245, Z. 11. — Gepäck. Ibid.
S. 122, Z. 10; 123, Z. 13. xi^ S. 74, Z. 1 v. u.
XA+il solche, die sich in strenger Diät
befinden, Reconvalescenten. Abdallatif, ed. Sacy,
1810, S. 316.
~ £5 - C5
— cP 2 *} ‘ n ^er Bedeutung von gerade
Zf w 9
so wie man sagt: oder ^ Solche
Wörter heissen ^Lo'l. Vgl. Aghäny XI, 121, Z. 9.
Ueber ^ |va- vgl. Tanbyh, fol. 121.
Makkary II, 1200. Vgl. Dozy ad vocem.
das Rhinoceros dessen Horn
die Eigenschaft haben soll, das Gift auszuscheiden.
'Antar, Heft 122, S. 52.
— die Bedeutung propulit bei Freytag ist zu strei
chen, wie schon Lane getlian hat. Es ist, wie im
Beiträge zur arabischen Lexikographie.
223
Tanbyh, fol. 90“ bemerkt wird, der Fehler dadurch
entstanden, dass verschrieben ward in (jAäs»..
) ° 9 t ° 9
oder ein Keptil oder Insekt. Ihn Doraid
S. 75, Z. 14.
? ü 9
— das Männchen der Heuschrecke. Ihid.
pl. oIäö.1, Angehörige der Schule des
Abu Hanyfali, Hanefiten. Gabarty IV, S. 260,
Z. 4 v. u.
Ia=> pl. von StoLa», Schenke. Ihn Atyr II,
369, Z. 5.
— uU, Schrannenschreiber, *_aäJo v.AiS'
lX~o-=£L*J . ^äJI L*J UajUö yki. Ihn Ma-
mäty S. 14. (Statt lese ich — )\j=* i
der Posten des Einnehmers der Armentaxe
Mowatta’ II, 51, Z. 2 v. u. j
sbryt aui |v^-Ä^o.
- yy, einjährig. Ihn Mamäty S. 31. Von Thieren
gesagt: (_ry° L 4-l-
ph Schlangenfänger, Gaukler. Meid.
I, 419. Gabarty IV, 198, Z. 11; 309, Z. 4 v. u.
verzaubert, gegen die Schlangen gefeit.
D. H. Müller: Sitzungsberichte der Wiener Aka
demie, 1879, Ed. XCIV, S. 50 (nach dem Iklyl).
— x.a=£, Glückwunschschreiben. Aghäny IX, 87,
ü
Z. 4 v. u. (J«dJ! iAa^, die Nacht stets im Gebete
zubringend. Ibn Atyr III, 345, Z. 3 v. u.
— iXaä-, pl. von Aa~.I, sich abwendend: 15j
Aaä vaij I. Tashyf, fol. 153 b .
‘-ha — c_äjL&., nicht vollgewichtig. Shifä S. 87.
224
K r e m e r.
J.a=»
U«aA~».
ä.=*
AX-A~is-
— ^^=>5 pl. «j^Xa.=», Gerichtsbote: ^Lj
fj-j» &-JI c yJ 200Sha'räny:
Albahr 130, Z. 17; 218, Z. 18.
— ^Slä! = vJjlgJI. Mo'all, ed. Arnold, S. 182.
t
— )L&, Tafeldecker, der Diener, welcher bei der
Tafel bedient. Tkd III, S. 7, Z. 21. Ibn Atyr II,
365, Z. 11.
^ 0 T
— (ja-uA», pl. Ibn Atyr II, 336, Z. 1. Aghäny
XVII, 102, Z. 6.
— ioL^ä., Verwirrung. Ibn 'Arabshäh, fol. 110, 112 b .
— das Geschenk = k*ia*Jl. Tashyf, fol. 123 a .
Nach Abu 'Obaidah.-
— xa+ää., Stempeltaxe. Gabarty IV, 95, Z. 16.
— sAis?. Shifä S. 222 führt hiezu die sprichwört
liche Redensart an: is Ais? Ai=* und
erklärt sie für eine versteckte Androhung eines bald
zu erwartenden Unglücks.
— oLi-Ai-, Becher:
„ . '■£
i_*Aau ey_Ls ^5 Ai I J.AÜ 51!
f^A—If x--L.*.j oL^A.^*-
Aghäny VIII, 40, Z. 2 v. u.
— r^’ Eunuche: man ver-
muthete, er sei ein Eunuche gewesen. Masudy VIII,
43. Aber diese Bedeutung hat das Wort nicht aus
schliesslich. Vgl. Aghäny XVIII, 184, Z. 10.
s ? .->
— cAis?, mit dem Schwerte verwundet. Das Wort
kommt in einem Verse des Abu Do’aib vor: Us^
j w ^ j 9 *" ^
pAi 1 oUüJI J.laj , wo aber eine andere Lesart lautet
V
Beiträge zur arabischen Lexikographie.
225
d. i. in den Kriegslisten erfahren. Tashyf,
fol. 148>\
. xO "T 9 -• /■
— äÄJtXi», wohl richtiger aLoiXi»-, Dame, hohe Frau,
ist das türkische oder Ihn Chaldun
HI, 80. Z. 12: äoUtfjJt äLö<X=>.
Latä'if S. 30.
ijöa. yol <
Schlacken, Gabarty IV, 312, Z. 2.
9» *£,
Scorie,
— der Abtritt, die Retirade. Fawät I, 82, Z. 7 v. u.
— Eseltreiber. AghänylV, 174, Z.2. Auch _<A>Oj~*.
Raby' alabrär, S. 261, Z. 8.
r-y=* — pl. vorspringende Fenster, Erker,
Balkon. Gabarty IV, 28, Z. 8. — coj.-*iJ! yy^y^* =
eoj-<a..!l ^s. Shifa S. 92. — Steuer
einhebungsamt. Al'ikd I, 179, Z. 15. — —
Kameele, die den baktrischen Kameelen
ähnlich sind (Job!! o.:£Ut JX”Li Lo). 'Aräis,
S. 70, Z. 14.
»^09
^5^10 vi^ — Weinpokal. Makryzy: I, 414, Z. 14.
yy=*- — Steinplatte, welche die Brunnenöffnung um-
schliesst oder einfasst. ^.aaJI p-s Joa y^l-
Gabarty IV, 162, Z. 18. — )/^ J ph jy&, die Naht.
Labyd S. 96, Z. 1. — ^' e Näherin. Lozumijjät
fol. 244b.
’ C) Ji ^
L— LryÜ (5 ^=l^bü = unbebaute, brachliegende
Gründe. Gabarty IV, 156, Z. 13 v. u.
— o a -?.y^^ ph ® a ^l H, 84, Z. 2. — (joo^äi
= Shifa S. 59.
4 s yöa- — XII. diese Form findet sich nur im
Aghäny XI, 25, Z. 2, und zwar in einer Stelle, die
Sitznngsbor. i. phil.-hist. CI. CIII. Bä. I. Hft. 15
*r.i
im
226
Kiemer.
auch in andern Werken wiederholt wird, nämlich
der Beschreibung des Löwen durch Abu Zabyd,
aber sowohl bei Gähiz: Mahäsin, fol. 95, als in den
Mosämarät des Ibn ’A'raby II, 94 liest man JojjJad.
ioj.il >iLoLyi.JI, aus gedrechseltem Holz
augefertigte Fenstergitter, in Kairo: Masharabijjeh
. X*
genannt. Gabarty IV, 28, Z. 10. — äkuvi., Couvert
eines Briefes, Umschlag, Umhüllung desselben. Aghäny
VI, 76, Z. 14. Tasche, Portefeuille. Ibid. 90, Z. 17.;
Depesche (amtliche) Lulyil (jdi j._ö tX+oH
Ahmed hatte die Depeschen zu eröffnen. Aghäny
XIV, 37, Z. 11; Postfelleisen. Isfahany II, 301, Z. 5.
— II. jvUj-i, mit sich Uberheben, sich in die
Brust werfen. Aghäny XHI, 83, Z. 10 v. u.
äliv=>
— (jAijJä\ rauh, uneben, grobkörnig. Gabarty IV,
305, Z. 10; 312, Z. 2. — ( jXajj_ü > ; der Hahn. Tan-
byh, fol. 85 b : o5L*JI yi.ijj.ispj tVetcol Jlij
uiAÄjl löl i-jjJI l+itj, also der Hahn,
wenn er die Federn sträubt. — Das Wort
fehlt auch in den Wörterbüchern, hingegen hat Frey
tag nach dem Kamus oder (_vaxi^ä.l in der
Bedeutung: schweigen.
— Pfotenhiebe der Katze oder Kratzwunden,
die sie macht. Meid. III, S. 477.
— jjli. geronnene Milch. Aghäny VIII, 74
Z. 4 v. u. Das Wort ist ein Schreibfehler oder eine
dialektische Variante statt
— ein Gewand: J,t ^Lg^ot
LgJ ItkoLi’ &I.JI cXaä
cdLsj-IoJI ^ pLw.äI.J lashyf,
fol. 22\
.isf, eine besondere Art von Registern, im
Kanzleistyl. Shifa S. 88.
Beiträge zur arabischen Lexikographie.
227
—- (XXj x-oj-i., eine Classe von steuerfreien Grund
stücken. Gabarty IV, 94, Z. 17.
-ä***i» — >—Flechtwerk aus Palmblättern: jjl (Siel,
s^J.x=* iS**“ ^ tjJ<Xsb Saif al-
jazan S. 20.
— das Segel Näbighah, Commentar der
Ausgabe von 'Kairo S. 26. Das Wort als Variante
angeführt zu V, 46 der Ausgabe der sechs Dichter
von Ahlwardt für io!^x~*.
. 59LI. Sha'rany: Albahr S. 128,
Z. 9 v. u.
.7. ... rj t
- — wAlI?. Ahlwardt: The Divans S. 170, V. 33
ist wahrscheinlich eine falsche Lesart. In dem Gam-
harat al'arab von Korashy, fol. 34 b , Manuscript
meiner Sammlung liest man statt v_*AÜs? LgA« —
— AjA=* Loä, ein eiserner Stab. Ibn Chaldun
IV, 57, Z. 10, eine Art Speer: ^-L<n kSikiJI jAiyc.
J5* 0 J-J ^5® L«. Makryzy: Chi tat I, 412,
Z. 15. 'Antar, Heft 111, S. 195. Wurfspeere, Heft 134,
S. 461.
uHAA~» — pl. Freunde, Kameraden (von den
Mameluken unter einander gesagt). Vgl. Dozy. Ga
barty IV, 22, Z. 15; 27, Z. 11; 195, Z. 9.
— ein Kleiderstoff. ( £y-^ r -Li' oder nach
anderer Lesart Aghäny II, 124, Z. 8 v. u.
oder vibUXAä.. Mas'udy VIII, 230. Gabarty IV, 137,
Z. 9 v. u. Vgl. Dozy.
15^?^ ~ üjS'ö sIaj! v_*sco jcjJI. Sobky,
fol. 13”.
ss *
grüne, d. i. frische, unvergessene
Wohlthaten. I lam S. 202, Z. 4 v. u. — ~ ^ , grün.
schwarz, aber auch: himmelblau. *51«! äJU!
16*
228
K r e m e r.
cL+awJ! IiLyAia. jvXjcjOv! lyiLtf. 'Aldus
S. 230, Z. 5 v. u.
dLü. — oLLd^J! J-iV! I, Dattelpalme, die nur verküm
merte Frucht trägt. Nach dem Buche Nawädir von
Abu 'Amr. Tanbyh, fol. 142 b .
^yxü* — I. kokettiren (Jji). Tashyf, fol. 152 a .
M wj <2 J O ^ G 9 9 " p ^ ^ w ^ j5 9
y\ ^yXÄJ ^y^Lfllyä. ^l^Uly^ää.^^a.1^5
^yAxkwLLJf O LxÄj I • rA^L-Lj LwA.t,-%- ! *..i>. *
kJ^ÜuJf «.Lölsül^.
iaä. — x+*J Jai», den Namen (im Register) strei
chen. Aghäny XI, 164, Z. 14 v. u. — äiö~>., Stadt
viertel. Gabarty IV. 256, Z. 16 v. u. — kialhaä.,
pl. langfüssig, lange Beine habend. 'Antar, Heft 107,
S. 60: olg.J! yß i>ly=M £^2}
JlykJf «.JfllLiLt ^y0 JÜ^yjoiM ^j.^0 yjO t ^y0 jJI-Äj'.
,und stürzte auch das Ross, so kam er auf den Boden
zu stehen und nichts konnte ihm ein Leid verur
sachen: denn er war einer der Langbeinigen, Hoch
gewachsenen' — Das Wort scheint eine vulgäre
Fortbildung der Wurzel Uaä. zu sein.
l&L. — HI. verbergen. Tarafah XIII. v. 11. Ahlwardt.
Aber sicher ist das Wort nicht, denn bei Zohair
XV, v. 13 findet sich die IV. Form. Keiner der
alten Lexikographen hat die in. Form aufgenommen,
obgleich sie nach Ahlwardt in allen Handschriften
erscheint.
elis- — adverbial = (j-o, zwischen. Labyd, S. 70,
104. Tarafah (Ahlwardt) S. 65, v. 11; S. 66, v. 2.
— tM- — ^y/i yffi lx>; es ist nicht der
Essig für meinen Salat. Volksthümliche Redensart.
Shifä S. 91.
Beiträge zur arabischen Lexikographie.
229
— XII. ^Xi.!. Zohair XX, v. 25 (Ahlwardt). Diese
Form fehlt bei den alten Lexikographen, demnach ist
wahrscheinlich die überlieferte Lesart falsch, oder der
Vers unecht. Letzteres dürfte in der That der Fall
sein. Vgl. Kremer: Culturgeschichte II, S. 385, Note.
UflXä. — (jaJli., im modernen ägyptischen Dialekte in
adverbialem Sinn zur Verstärkung der Bedeutung
eines vorhergehenden Eigenschaftswortes gebraucht,
so wie IÄ_=. oder z. B. (_>£.] LX ^11*3, sehr
ermüdet, (jaJli. (jwj^A, sehr schön u. s. w.
— IV. mit schenken. 'Antar. Heft 137, S. 64,
Z . 2 t f ■ äi L- 3 üyXXu . ' .A A.W £ yZ L*J .
kXjy£ S s.3i . | “’V XA-Lc.
^-Lli. — Zuckerrohr schlechter Qualität. Tbn Ma-
mäty S. 48,49. — iüuL=>, Ofiicier über fünfzig Mann,
zur Zeit des Chalifen Mosta'yn. Ibn Chaldun HI,
299. Vgl. Kremer: Culturgeschichte I, S. 237. —
lJ.aJÜS’, die Eingeweide, die Abfälle?, wahrscheinlich
im Sing. o^. Das Wort kommt zur Bezeichnung
einer besonderen Art Fleisch nur einmal vor, und
zwar bei der Beschreibung der Nahrung, die dem
Falken, wenn er maust, gegeben werden soll:
JA J, OcLsvj. *Lo ^j.jc äj U=J y^Sa JA ^aj
r ül Xjum bßcLotXj i_&aJIäJI yxLzj^. Atär al’owwal
Seite 143.
— V. mit zürnen auf jemand. Gabarty IV,
116, Z. 2. XI5 [ d-A. . • — ^Lüli.,
poetisch: die Wolke. Labyd S. 85, Z. 4 v. u. —
jolilli., ein Fetzen, ein Lappen. Mochtasar Raby'
al’abrär S. 9, Z. 11: äjlä-ULlj Lgjj^c A3.
Xi. — LgjUu Xi. A3 HUI, eine Frau, die im Alter
vorgeschritten war. Aghany II, 196, Z. 10. Ueber diese
Redensart vgl. Lane, wo Xi. in derselben Be-
230
K r e ra e r.
deutung angeführt wird. — mit jemand ge
heim sprechen. Aghäny XV, 137, Z. 11. Vgl. Lane.
. /■«
das Wort ist von den alten Lexikographen
nicht aufgenommen worden. Wie es scheint, auch
mit Recht. Es kommt zweimal in einem dem Nä-
bighah fälschlich zugeschriebenen Gedichte vor. Ahl-
wardt: The Divans S. 170, V. 17 und 26. Die Be
deutung ist: berauschend, betäubend.
ß . ✓ O/
— kj.Lw-4-ii., Fünfparastück, eine Kupfermünze. Ga-
barty IV, 312, Z. 6 v. u; 313, Z. 12 v. u.
vox, strepitus bei Freytag ist zu streichen,
O y'
denn es ist verschrieben für
l .
= J-Ac. Käniil S. 66, Z. 6, nach einer
? o >
vereinzelten Lesart. Vgl. das an dieser Stelle
am passendsten scheint.
47. Es kommt auch das Femininum vor: Aghäny
II, 174, Z. 15.
— ein Kleiderstoff. Makkary I, 168, Z. 6 v. u '
— schlechte Nachrede"J| pikXM, nach
einem Verse des Azdy, der hier folgt:
Als Varianten werden hiezu angeführt die Formen:
£^1Is., Tashyf, fol. 161 b .
^ Oy'
— das befestigte Lager. Goeje: Fragmenta Histor.
I, 188, Z. 2.
ptkÄia. — jbotLtil s^l^. Aghäny VI, 93, Z. 4 v. u. Dieselbe
Lesart auch im Münchener Codex 478
Beiträge zur arabischen Lexikographie.
231
leicht verschrieben fiir denn es fehlen andere
Belege für diese Bedeutung.
(JtÄä- — der Kragen (des Kleides). Gabarty IV,
33, Z. 12 (vulgär).
j&ia- — musieiren, musikalisch sich produciren. Aghany
V, 15, Z. 2 v. u. Vgl. Dozy. — Musikant.
Sänger. Aghany V, 64, Z. 7 v. u. PI. yXTxÄi»..
Aghany XVII, 123, Z. 18. Persisch:
äyi=. = 5y~D, Bruderschaft. Shifä S. 88.
yyi* — I. sich abwenden, ablassen von, mit dem Accusativ
der Person. Aghany VI, 63, Z. 12. cJlyl D,
wozu der Commentar bemerkt: L$a£ bojgjä.
ö Cu x*
ytyA-, der Wildstier, das Männchen der Wildkuh,
poetisch so genannt in dem Verse des Dulrommah:
X Luo J"£= (J) yl J.A= l$J
cyl_Cy j-JI Jy-g--^>
Es wird eine verlassene Wohnstätte (ylo) geschildert,
wo nur der Wildstier, der Strauss und die alten
Wildkühe mit ihren Kälbern sich herumtummeln.
Ash'är, fol. 182”.
— ein Eingeborener von Chuzistan (Susiana). Der
Name wird als Schimpfwort gebraucht. Aghany VIII,
174, Z. 8 v. u.
(JA La-w pl. XAaaLaav^A*- Fawät I, 109, Z. 17 yji I •
— spärlich geben: Jl?
Lui Iöl UUajJI. Tashyf, fol. I42 a .
JyA» — Jj A», pl. cyNyA., die als Frauen gekleideten
Tänzer, die in Kairo den Namen Chawal führen.
Gabarty IV, 101, Z. 11: ^iAaSsJ! p-gjJjäS’j
cyjy+JI p.bk.Xl)Lj ^y+lkjo ^yJ()JI ^yAi«^~*-DI
yXjUiöy OyiJ> Vgl. Lane: Modern Egyp
232
K r e m e r.
tians, unter dem Worte khowal. — pl-
oder der Gärtner. Gabarty IV, 195, Z. 9;
275, Z. 6 (modern ägyptisch: choly ausgesprochen).
Nach einer Note in der Ausgabe des Shifä’ alghalyl
ist die moderne Bedeutung des Wortes: Obergärtner.
Vorstand der Gärtner und der ländlichen Arbeiter,
S. 87. Zur Zeit des Verfassers dieses Werkes hatte
es vorwiegend die Bedeutung: Schafhirte.
a ^ — dasselbe wie 1001 Nacht I, 222, Z. 8 v. u.
dasselbe wie ^LsUä*, daraus zubereitetes
Wasser. ^ Lsjyil *Lo. 1001 Nacht I, 138, Z. 15.
Jöyia. — pl. Dame, hohe Frau. Gabarty
IV, S. 92, Z. 1 v. u.
— ä^ÄlLt. Ueber die Bedeutung dieses Ausdrucks
vgl. Ibn Atyr II, 304, Z. 13.
iaxia. — ‘ Ihn Atyr III, 124,
Z. 19; 163, "Z. 19. Tabary III, iv, 1095, Z. 14.
Jyi* - JJaJI Jl aS yx 1 , das Schattenspiel. Shifä S. 50.
Vgl. das zu dem Worte iolj Gesagte.
— siehe
— eine Art Aepfel. Shifä S. 101.
— pl. Frachtschiff (im Rothen Meer). Ga
barty IV, 53, Z. 2 v. u.; 103, Z. 2; 126, Z. 12 v. u.
— kyO, pl. Satteldecke, ein Tuch oder
Teppich, der über den Sattel der Reitesel gebreitet
wird. Sha'räny: Albahr S. 110, Z. 6: ^_*Jo
j LjI * JI
— Partei nehmen, für oder gegen jemand, im Spiele.
Atär al’owwal S. 131, Z. 12, wo von dem Verhalten
Beiträge zur arabischen Lexikographie.
23a
im Schachspiele die Rede ist, wenn man mit dem
Sultan spielt: sLi ^ oaÄTä cil+J-J Jliü ülj
cwi sLcw^l v^AiAj sLw JUü L*of^ V^)Lo
' ^ O y
Jo xju>j.Ji Joavj g, ^^ixccJI ^ v_a*-UI
161^ (]. aJuo) xJuo £ £7*^ 2üKj<? ^äo
l^tXotXo ^kJ.Xj ^yO Üw^
CJ^.Ä.w-3^ J.JlXCv.xi &aJ! jJjj.J All
einer andern Stelle auf derselben Seite: dU i^cXöJo
® /
er nimmt Partei für dich gegen mich.
.0^ o * ? ^ ^ °
— U*oi>!, fern, t L*o 0; man sagt: 000.,
was so viel bedeutet als So nach Asma'y.
Tanbyh, fol. 87 1 '. Vgl. u*o^
o ^
— jjioO, Bruchstein (moellon), unbehauener Bau
stein. So in Kairo. Gabarty IV, 253, Z. 16.
y A~»J> — die Truhe, worin feine Leinwand auf bewahrt
wird und davon die Leinwand selbst. Das Wort
kommt in einem Verse des Abu Do’ad al’ijädy vor,
wo ein Pferd geschildert wird, dem, nachdem es
sorgfältig zum Rennen vorbereitet worden, die Decke
abgenommen wird:
\^ A—£h-A't &+a1£cU( A-^*- L+sAö^ L-.
Hiezu bemerkt der Commentar: m+Aj' LJ Jyö
e* — rT. _ '
►lö \
„o 7
xA=> \X£. LuLiJ X.J..C j.LäJ!^
Jl' 20 Lo ä.AÄJ 20
v Ü^,awmO ÜÜ
l^.Ä+^dÄJ
vL^I- Ash'ar, fol. 154k Vgl. Aghäny II, 24, Z. 2
v. u.; 41, Z. 9. Der oben citirte Vers findet sich
auch im Divan der Hodail (ed. Kosegarten) S. 249.
— vj^L=»-i$. Tabary III, iv, S. 1169. Vermuthlich
Statt (JÄJ^L~a.O.
Joa-0 -— Shifä, S. 92.
234
K r e m e r.
Ibn Atyr II, 151, Z. 5 ist fehlerhaft,
denn das Richtige ist:
— ^LöJI i—»j4>, siehe
bei Dozy ohne Vocale, der Riegel.
dJoy> — pl- «ylA-o^A, der Engpass Persisch.
Atär al’öwwal S. 170, Z. 6.
— ioA^A = ^A^A. Byruny, S. 182, Z. 12.
y)A — II. j_j^Aö, das Einsäumen und Steppen der
Kleider. Ihjä’ IY, 288, Z. 9: ^^yjo^-giö Jjt J-ö'Ai
O^Ajdl xJJI d^° X-Ul JyA*j A*J J^l Jylo
ciol^ Lg.jl_ä i_i5 ^.j^iXäJLj ^äjij
w w ^ f
(.jäALj y» AyycAdlj iYw JJiö.
— bei Frey tag, ist Schreibfehler für yA^A und dem
nach zu streichen.
U*)A — oberflächliches Studium. Shifä S. 65,
./• ü
im Gegensatz zu (3*£=k — (jA^A—x , Rabbiner,
Schriftgelehrter. Bochäry 1964 (Kitäb algihäd 122)
3674 (Kitäb alikräh 3) Lä=»^_s? Ay-gj Jl Iyiiiiail JLäi
LdL^^s., 2278 (Kitäb tafsyr alkor’än
*o
28), slyjjJL lyjli |VÄJ66 X-Ul jV-gJ JLäi
•Oy.
(_cA.ll Lg_tA^A^° ^Ayi ^A>aUö Ußyij'li
l*=*yll kjl xl5^Lg_w^Aj.
w ~~ U y
ij^A — Beiname einer Art von Büssern oder
Asketen: IXsjyA lS 4-^~> 11iXso £ dLluA ^yo
— jGiyjO, eine Art hoher Mützen (JlyiaJI (_p*i iLäJI).
Ibn Gauzy: Montazam zum Jahre 246 H. Manu-
script meiner Sammlung.
y O y m *- O ^
^yjA — s^yjA, auf den Strassen herumziehen, um durch
Scherze und Possen Almosen zu sammeln. In der
Gaunersprache. Shifä S. 125.
Beiträge iur arabischen Lexikographie.
235
— Persisch: Lüge, Betrug. Shifa S. 104.
!^t> — mit Durah (Mais) bepflanzte Felder. Ga-
barty IV, 101, Z. 16. — ^y^ Durahpflan-
zungen. Ibid. S. 138, Z. 12. — im ägypti
schen Dialekte: lange Stange, um das Schiff im
seichten Wasser fortzustossen (gewöhnlich midre
ausgesprochen).
— stossen, stechen, verwunden. 'Antar, Heft 100,
S. 326, Z. 14.
^ o j
— Commandant einer Festung. Ihn alwardy I, 323.
Shifa S. 100. Persisch.
o ^ o
cuuö — wie Lane schreibt oder cu»), wie ich in Kairo
aussprechen hörte, bedeutet einen kupfernen Kessel.
PI. Gabarty IV, 256, Z. 18. Vgl. sonst Dozy
und Lane.
— die Taste eines Musikinstrumentes. Mas'udy VIII,
99 ist jjLä'-ujO statt zu lesen. Die Art und
Weise, wie ein Ton auf einer Laute angeschlagen
wird, der Anschlag oder der Griff beim Lautenspiel.
Aghäny VI, 79, Z. 1: äiLxis?
äi-L-is' er sang ohne Präcision mit ver
schiedenen Saiten und verschiedenen Griffen. Aghäny
VI, 80, Z. 15. Äi» oil oD-üi
äÄJaJl £*))) A-Ai: Ich
sprach zu dem Mann: Bei meinem Vater (beschwöre
ich dich), nimm die Laute, ziehe die Saite so und
so an, erhöhe den Ton und wende den Anschlag
so und so an.
JSilS — der 'Handschuh oder Fäustling des Falkners.
Atär al’owwal S. 137, Z. 14. Abu Nowäs, Manuscript
der Wiener Hofbibliothek, fol. 60 il .
tLuüiu/O eine Art Tanz. Aghäny XIX, 139, Z. 2. Vgl. Lane,
236
Kremer.
o
0
7**
Oi)
<Jo
ü
&>
— Fläschchen. Anbäry S. 121: ^x> ^jUcsvZwO ***j
j-y=*‘ er hatte zwei Fläschchen Tinte mit sich. —
Aaaj xsa.^w^, Weinflasche V, 170, Z. 7 v. u.
— das Original, das Autograph. Fihrist S. 151, Z. 7:
20 U ^ J^Jt ^avJ* co!^ t_X.' • •
Ibid. S. 345, Z. 13: a-yio *j4-l !<Ä*o
ö ^ 9
— zusammengehalten, befestigt, verbunden.
‘Aräis S. 298, Z. 6 v. u.
— ä^LtAJI J.®l, Räuber, Strolche plL.i').
Sakt n, 46, Z. 8. Aghany XVI, 61, Z 9 v. u.
5 - - >
— (türkisch), eine Art Gnadengabe für
die Armen. Gabarty IV, 211, Z. 18: L*ijl sjvJ
(_5y=-Lcü^.jLw.JL U-I o^~o ,1
Lgjj^aj |fjLc^i x
— £i>lAi5, pl. von äiiXiO, Gemüthsaufregung. Ma-
wakif S. 226, Z. 9.
G3», ^
— pl. = v_iyo abLcc, ein Oberkleid
nach Art der 'Abäjeh, aus Schafwollstoff. Gabarty
IV, 283, Z. 1.
— äio, Tribüne, Schaffot. Ghorar S. 214, Z. 16:
JCfcLttJjt ^ «50 »U-O j.a\j
obk-s. Lg-J»C !j(A-*.aoI |VJ-
ü)iSX — Taschenspieler, Gaukler. Shifa S. 125.
— VI. sich drücken, sich drängen. Labyd S. 27,
Zeile 5.
J ✓ 0? > <,
— cwOc poetisch: der Wasserschlauch. Hä-
dirah S. 8, Z. 9.
— ein Regierungsschreiber. Ibn Mamäty S. 14:
iwüj ajli
l.£jlc.j^.X! l_sL*_ol^ Lg.fi Ulo .jö^üsH cL<fijb^ .
Beiträge zur arabischen Lexikographie.
237
v /.xJo } LgJtjl V ■
düo £ d ; jJI rV ;JL jux.
vV — I. sich wenden, umkehren. Ihn Doraid S. 140,
Z. 8 v. u. Aghany VI, 5, Z. 9.
£-JiS, widerlich oder fade von Geschmack.
1001 Nacht, I, S. 242, Z. 9.
— silo oder jhöült), im sing. uP'* Gaharty IV,
3, Z. 18; 214, Z. 13; 229, Z. 2 v. u. Name der irre
gulären Reiter, die im Türkischen J,ti heissen.
Ihre Kopfbedeckung bestand in einer fast einen
Meter hohen, schwarzen Filzröhre ohne Krampe,
unten mit einem Tuche umwunden. Sie waren mit
Lanze, Schwert und Gewehr oder Tromblon be
waffnet. 'Abbäs-Pascha führte sie wieder in Aegyp
ten ein, musste aber diese Truppe in Folge der
Einsprache der Consuln auflösen, indem sie sehr in-
disciplinirt war und wegen ihres Fanatismus die
Sicherheit der Europäer gefährdete. Vgl. über die
Delybashy Mouriez: Histoire de Me hem et Ali. Paris,
1855, Vol. I, S. 192.
W 0^9
(im ägyptischen Dialekt), Name einer
vorzüglichen Qualität von Wassermelonen, so benannt
,-0-5
nach dem Dorfe äj-yoO.
So .
Stallmist (jj-öJb |*2LgjJI Jo^).
Gaharty IV, 125, Z. 8.
£»0 _ in der modernen Sprache wird es oft ge
braucht in dem Sinn von: Kopf (u*ly)- «xLeO
seinen Sinn ändern. Gaharty IV, 112, Z. 5 v. u.
— X. = IV. bluten machen. Aghany XVI, 107. Z. 21.
tS^-Q. 45 — ein abführender Trank. Shifä S. 190.
— jLwjO, der Schmutz. 'Antar, Heft 108, S. 76.
Siehe *ulj.
238
K r e m e i\
— liLijijJ Mas'udy V, 24. Die Lesart
scheint fehlerhaft. Die Ausgabe von Kairo hat
<>
IjLcoJßO. Vgl. (j£Ji3L>. Ihn Doraid S. 326, Z. 3.
— II. (3-öl\ö, sparen, knausern. Gähiz: Rasail,
fol. 209. Vgl. Lane.
Genosse, Gefährte. Abu No was XII,
v. 5 (Ahlwardt).
— I. mit den Füssen treten (u*fj). Gabarty IV,
163, Z. 5 v. u.
in der modernen Aussprache, der allge
meine, feierliche Eanpfang bei Hofe, jetzt in Indien
Durbar, d. i. genannt. Fawät I, 195, Z. 10:
Ajij ,nach Aufhebung der allgemeinen
Audienz'. Statt £±6 ist besser zu lesen
(?<-> —- Ihjä’III, 141, Z. 9 v. u. Schwarze
Rosse, die angebunden im Stalle stehen. Vgl. Lane.
(jL+itO — I. überlisten, überrumpeln wollen. Sha'räny: A1-
bahr S. 92, Z. 18: LäI «laLc LlX+jbj löl
£ iLca+JßjJI.
— II. sich ungestüm benehmen. Filmst. S. 190, Z. 21.
— V. Byruny S. 4, Z. 5; es ist an dieser Stelle zu
lesen ^lVj statt denn für den
Gebrauch der V. Verbalform der Wurzel ^ .0> ist
sonst keine sichere Belegstelle zu finden. Vgl. übri
gens Dozy sub voce.
Futterstand, Krippe, im Stalle, vulgär
o
statt Gabarty IV, 159, Z. 7. 1001 Nacht 1,
5, Z. 9 v. u.
Name eines Gefängnisses in Jamämah.
Kämil S. 91, Z. 9. — die Mühle, wo der
Reis enthülst wird: Jt aui ,jjJo ^5 jJ! J.^11.
Beiträge zur arabischen Lexikographie.
239
Gabarty IV, 154, Z. 20. — Jü.tlJI, die Ringe des
Helmes, mit welchen dieser vor dem Gefechte am
Panzer festgemacht wird, damit er nicht herabfalle.
Der Verfasser des Tanbyh, fol. 62 b führt dies des
Näheren aus, indem er gegen Mobarrad, den Ver
fasser des Kämil polemisirt: >-yvJi3 ^ ^LlxJf .jl JL;,
Der oben angeführte Vers des 'Orwah findet sich
im Kämil (ed. Wright) S. 349, wo die schlechte Les
art jjIjO zu beseitigen ist. Das Bruchstück aus
einem Gedichte des Monachchal findet sich in der
Hamäsali S. 264, wo gleichfalls die falsche Lesart
zu berichtigen ist. Das Wort so!t>, pl. wird
bei den alten Dichtern in der Bedeutung: Hinter-
theil des Hufes gebraucht. Vgl. Hädirah S. 12, Mo'all.
Labyd (ed. Arnold) S. 101. Es passt für den Helm
um so weniger, da er, wenn nur hinten befestigt, um
so leichter herabgefallen wäre. Das altarabische
Panzerhemd ward Uber den Kopf gezogen, dann
der Helm daraufgesetzt und derselbe an den Ringen
des Panzerhemdes sowohl von vorn als rückwärts
befestigt. Die Lesart ist also falsch. jJ«l A*
die Tenne, wo der Reis gereinigt
240
K r e ra e r.
und enthülst wird. Gabarty IV, 255, Z. 11. Vgl.
dAx> bei Dozy.
' o „
J.ö — Job (südarabiscb), derjenige, der die Vertbei-
lung des Wassers zur Bewässerung der Saaten über
wacht. Iklyl nach D. H. Müller: ,Die Burgen und
Schlösser Südarabiens* in den Sitzungsberichten der
Wiener Akademie, Bd. XCIV, S. 393.
— ibolji}, die Erde. Tanbyh, fol. 18 b .
<5
OJj J
&
— 0^51, schärfer, schneidender:
cojöl [viil p
Tashyf, fol. 164 b .
— P^' ' öl Gedächtnissfest eines christ
lichen Heiligen. Byruny S. 288, Z. 18, 19. ^Kjuc,
Ibn Atyr III, 89, Z. 11.
— HxyJö, Rüssel (des Elephanten). 'Antar, Heft 72,
S. 622, Z. 3. Vgl. iocyjy
— Vergoldung. Sobky, fol. 17 b : Jo aoü
a - , * j ^
küjaxx) Jo £—v^oö|l>
(^3-xöJl, auf der einen Seite verkrüppelt (von einem
Kinde). Ibn Atyr IH, 93, Z. 12.
— ojl jjo, Becher, Trinkgefass. Mas'udy VIII, 243.
— H. bei Freytag in der Bedeutung: vilem reddidit
ist falsch, indem einfach zu schreiben ist &■ Im
Tanbyh, fol. 77 b und 78 a wird hiezu folgendes ge
sagt: Jljo IäoJö ä.ä=£<5
Jläj J<3
9 9 * 9 9
Vgl. auch Tag al'arus sub voce.
Beiträge zur arabischen Lexikographie.
241
bester Qualität. Ibn Marnaty S. 48, 49: s_*aoü
S. 108: forteilen, entfliehen. Aghany XII,
127, Z. 13: vom Wege abweichen Sliifä
S. 110: oi-Ai, entschieden (für eine Sache) sich
aussprechen. Ja'kuby S. 86, Z. 7: ‘—iAfj liiks.
x-uR; S. 90, Z. 1 v. u.: jvJ
Staatssekretär. Sacy:
Abdallatif: Relation de l’Egypte S. 480. Grosswezyr
unter den Chalifen. Ibn alwardy I, 357, 363. Diese
Benennung erscheint zum ersten Mal unter dem
Chalifen Kami. Ibn Chaldun III, 458, Z. 2 v. u.;
460, Z. 10 und 6 v. u.
— ein Getränk. Aghany X, S. 102, Z. 12.
V) — ^ e ' Makryzy II, 233, Z. 1 v. u. kommt
das Wort in einer eigenthümlichen Bedeutung, als
Name eines Schiffes vor. Es wird erzählt, dass jemand
zwei Schriftstücke in den Nil wirft:
Aajuw Jlä oüyt^ kJjill ,j.aj U^.j
o LJI. «..Litt &-Lüo ^Ä*.J
islla. M u- u^- iXXr.
kjj, pl. (die Schreibart bei Dozy ist irrig),
Sitzungsbev. d. pliil.-liist. CI. C1II. Bd. I. Hft.
IG
&
lX-v
der frische, in Blüthe stehende junge Klee, im Gegen
sätze zum ausgewachsenen Gabarty IV,
52, Z. 1.
—- II. sich schämen, beschämt den Kopf senken.
So in einem Verse des 'Aggäg:
) ijl)
Tanbyh, fol. 78 a .
— ^iX?y die Bogensehne (poetisch). Kamil S. 193,
Z. 7; 195, Z. 18. Bei Freytag dürfte zu strei
chen sein, eben so wie bei Dozy die Bedeutung:
rapide.
ijäjj — Tanbyh, fol. 76 a : JU
xjlXaxjj js_^v£« 2üJJb xj Ij.^ I SU=»
. » >
—- ^-*Jy dem Stamme Baby'ah ungehörig. Ihn
Atyr III, 398, Z. 2. — ^>1^, Taglöhner. 1001 N.
I, 373, Z. 11 v. u. Gabarty IV, 156, Z. 12 v. u.
o* -
I, nachlassen, sich abschwächen. Shifa S. 33.
Aus einer Tradition im Moktadib des Ihn Sajjid.
„ s- ,
Es dürfte übrigens .jli J zu lesen sein.
yiy — IV. wird in der Bedeutung von gebraucht:
verweilen = ein Findling (wört
lich: der, den der Ortsrichter aufgezogen hat). Shifa,
Seite 65.
v_ö> — y.j'1^, vollständig erwachsen, von Kühen, Büffeln
u. s. w. Ihn Mamäty S. 31: y&y (j*
v-*-3iyi j 0.lVüI! öLii-Ais’j
SJuJby fixes Einkommen. Aghäny
XV, 37, Z. 14.
V £'>
von unten.
, Verbalnomen von ^y 'Arüi's S. 41, Z. 10
Beiträge zur arabischen Lexikographie.
243
Vulgär syrisch und ägyptisch statt Jo»j,
denn letzteres Wort ist in der Volkssprache nicht
üblich.
J.£»p — I. zum Sattel nehmen, als Reitthier besteigen. Abu
No was (Ahlwardt) XXIV, v. 3. — vulgär,
Lesepult (für den Koran). Shifa S. 109. —
Frachtschiff. Gabarty IV, 114, Z. 17.
^ 0 z' /-
— II. (Tj.a.yyj, sich geistlichen Uebungen ergeben.
Gabarty IV, 195, Z. 11 v. u.
— iüL=*j, Mühle. Lozumijjät, fol. 3IO' 1 .
— eine Speise. Tashyf, fol. 28 b .
er zog die Festkleider an.
'Antar, Heft 62, S. 282, Z. 5.
— V. \_xxiaJlj gdyi, sich mit Salben und Wohlge
rüchen parfümiren. Ash'är, fol. 101 b .
oO^j — pl. Collectivbezeichnung jener
arabischen Stämme,die erst nach den beiden Schlachten
von Jarmuk und Kädisijah sich an den Eroberungs
kriegen betheiligten und deshalb geringere Jahres
dotationen aus dem Staatsschätze erhielten als die
Mohägirs und die Ansärs. Makryzy: I, 93, Z. 12. —
9
Oi>vxi, hinter dem Kameelreiter sitzend. Labyd
Seite 132.
I j>LoOj. Aghäny XVI, 96, Z. 8, abge
rundete, volle Fersen habend.
/•Ü/
ijjjo — **))' ein Grundstück, das jemand zur Nutzniessung
besitzt. Shifa S. 109. — ii.jyjj.xi, die Söldner, Sold
truppen. Kremer: Culturgeschichte S. 236.
O)) ~ VIH. = I. Aghäny XVIII, 186, Z. 8 v. u.
‘Xwy — Aa-wj, volljährig. Shyräzy: Glossar — A-wjl,
der Erstgeborene: LäJUe l£Lo ü.xjlX+11 sAss Aj
16*
244
K reine r.
JUi>
r
Aao^.
Cr 3 ;
; k ;
Juj A ,j.x) AAjiU cJa*j^ AJ Saif aljazan S. 24,
Zeile 15.
— AA, = AAL. Labyd S. 90: '—ä_co^j
— eine Art Zuckerwerk. Gabarty IV, 213, Z. 9.
— IV. für immer festmacben 'Arais S. 447, Z. 2:
ApOl i! (•»Li L^.AA>.iI j^.-2-Jöloi (31 ^jXv.4.2 p"L^ÄAAi
Q y (J ^
— ^.ssj iLoLc), eine Goldrosette. 'Antar,H.136,S.33:
^.x> IUiLoj aäji _• 0 A xäajV AÄ£ A=»L< |*j
,_A jJI Heft 138, S. 79: JuSl Ö! JJAS" $ l_»JUAi
v_a»ÄM ^ jUiLo^j |»-gjd>Ä-
— tätowiren, bei Labyd S. 62, Z. G, wozu der Com-
Ö X- * O s s s
mentar bemerkt: cy~Aj cA-O).
— das Lamm im ersten Jahre. Ibn Mamäty
S. 31: ^Ju äLA l p OjjA (joLaaJI ^lAbfl
&AAW.J 1 ^2. S^^A.C A— ^*AaÖ^ ,A>— AA ) Lgjljlj ^W. aV L^aILj^
d,n
— Schlamm, Koth. ^yÄiJ! Gabarty IV, 202,
Zeile 1.
— üyldaLjo, Schwänke, Schnurren. Fihrist S. 151,
Z. 3 v. u.
. 9 * O s O 9
' W a.-£^ — ^cXüJI i weites Schrittmaass haltend (vom
Pferde). Ahlwardt: Chalef alahmar S. 126.
OAi. — II aus dem Dienst entlassen, vom Amte absetzen,
türkisch AaI o.ü — ä.AÄi), Passierschein, für
Waaren, welche den Zoll entrichtet haben.
Ai) — »oliv, das Helmfutter. 'Antar, Heft 120, S. 517:
XAwLfljf ^>.a A+=i J &awL ^ll iA.aaw.J1
SoliJt oAiiai' LpCL — Kopfpolster unter dem Helm.
Beiträge zur arabischen Lexikographie.
245
&
ä)
f^;
/;
'Antar, Heft 109, S. 129: äJÜ) J.*ä
kjolr Lg5ji Ovaö J.=-Ü!) k+A^ic.
\\2jJ*k+}! <S^J iLydLtf Xj^ww-0.
— oL*>! £i^, summiren, addiren. Shifa S. 109 ? 110.
jwy'j
*-ö^, vulgär: fein, dünn, zart. Ibid. S. 109.
k*j!^jo, Steuererhöhung. Makryzy: II, 291, Z. 14:
0 V-Cj |vi ^yjwy OC v\j> I . &.J0 Lj I ei? Lxj L-.1 i .
uL*il p die Summe, der Totalbetrag. Shifa
S. 109. ^Ujjt, das Einkommen, Erträgniss eines
Gutes. Fawät I, 157: v-yXplijM LjJ «XLc
— £?,)’ ^ e ' n< b weiche Erde. Aghany VI, 62, Z. 17:
^IbJI ^.AÄi=a..lt V—»lyXJI — kji, Niederlage,
Platz, wo das Getreide zum Verkaufe aufgesckichtet
wird. Gabarty IV, 63, Z. 14: A J^LäJI I.
& JI } " Lö 7 *J!. S. 92, Z. 1: es wird vom Getreide
gesagt: cjLöj.*JI. £:JL >.£..
— Man sagt: il+il ,i p-Jj-J von dem, der in
einer Handarbeit sehr gewandt ist. Ibn Doraid S. 45.
— die Hauptstadt, der Hauptort eines Landes
oder eines Distriktes. — eine Art Bratwürste
(Jilüi. Shifa, S. 211. Im afrikanischen Dialekte.
— als Verbalnomen. Aghäny XV, 46, Z. 14.
Q®T* >
— |v5>/o, aufgehäuft, aufgestaut. Kämil S. 168, Z. 5.
^ ° >
— ein Ast, ein starker Zweig, im südarabi
schen Dialekte. Ibn Doraid S. 54, Z. 6.
— plündernd durchstreifen (eine Gegend). Gabarty
IV, S. 174, Z. 16: äyA=»i p.A.liTj l^_ta*i
I «-si^.vj, IJI. — , der
Vordertheil des Pferdes, der Bug, der Rist. Zu Zo-
hair XV, v. 29 sagt Asma'y in seinem Commentar
(S. 189): . |j^vi.il iLib ^ääj x.Ej,
246
Krem er.
Jli' U<w'väJI j*ItXi’
ijy Lr“7 Ä ^
Ein Vers des Shammäch lautet:
y X Q ^ ^ ^ Q ^ ^ ^ yj J ^ .. ^
oül &-Äxi ^.^.ilA^I Lc
wozu Asma'y bemerkt: x.sOjX^j.~*
^^.äJI *_äjf &j IM ^-^vJI. Tashyf, fol. 147 b .
Es beschreibt der oben angeführte Vers den Wild
esel , der die Stuten beriecht, während diese aus-
schlagen und ihn auf den Vordertheil des Nackens
treffen und zwar auf dieselbe Stelle, welche der
Lanzenschaft trifft, wenn mit demselben das Ross
9
geschlagen wird. Das Wort hat die Bedeutung
G 9s Os s
von g.vibo. — T'j*) ein gewaltiger Lanzen-
stoss. Labyd S. 134, Zeile 3. — <A*au ^j! ^ jC )i
die Krücke ü^Kä. Saht II, 189, Z. 11. — ^} J °)" lCI , das
Wettrennen, das Gerydspiel. Gabarty IV, 173, Z. 11.
^ sO'
fjX) — Gemurmel. Bocbäry 1642 (Kitäb alsha-
hädät 3), 1899 (Kitäb alwasäjä 158), 3287 (Kitäb
aladab 96).
das Lamm (weiblich), im ersten Jahre.
(Statt (_pLy°^ Ihn Taghrybardy II, 382
ist demnach zu verbessern o»*.i»). Ibn Ma-
mäty S. 31.
pl. Musikanten, Sänger. Persisch
yiijij.Ay Abu Nowäs III, v. 8. Agliäny XVII, S. 154,
Z. 3 v. u.
^ yWh’ I X.W.AX) ^ ^ ! ä.vC'.A.^ b ^jjj.A.00 1^.J LJ
Im Text steht fehlerhaft ^.civot^ und —
das Myrthenblatt u-ilt . Shifä, S. 108.
— kjLo^, Zuschlag zu den Steuern, Erhöhung der
selben. Gabarty IV, 68, Z. 1 v. u.
Beiträge zur arabischen Lexikographie.
247
gf)
i_*jL.«, pl. von Näbighah I, v. 12.
i_)Ljy, oder auch äAjsxs^. , eine Art Hof-
musikbande am Hofe der ägyptischen Sultane. Mak-
ryzy I, 446, Z. 9; 452, Z. 12 v. u.; Z. 7 v. u.;
453, Z. 15 v. u.; 475, Z. 15.
— ,jlyfc), Passgänger (Pferd, Esel oder Maulthier).
Gabarty IV, 121, Z. 1 v. u.
^ o ^
— äsfjjj', eine Taxe auf den Verkauf der Waaren.
Gabarty IV, 100, Z. 2 k^ivi yo!«
iLo^Ail j |vxlül
— y\y der Schiffspatron. Nach dein Werke ’Asäs
(albaläghah). Shifä S. 111.
— d er Taglöhner. Ibn Chaldun HI, 197, Z. 15.
ioolj^ — der Pensionsregister (im ägyptischen Kanzlei
styl). Davon der Pensionist, der in diesem
Register eingeschrieben ist. Gabarty IV, 50, Z. 6.
poetisch, d. i. der Behälter, das
Gefäss des Zephirs, für: 6“ L, Windfang, Ven
tilationsvorrichtung. Shifä S. 110.
— altpersisches Fest, das am 21. jedes Monates
gefeiert ward. Shifä S. 109. Das Wort kommt bei
Abu Nowäs vor.
— V. sich besprechen. Gabarty IV, 3, Z. 5 v. u: Jläi
ä.£iLijo ajw aj ai. —
Ländereien, die von der Nilüberschwemmung
erreicht werden und künstliche Bewässerung nicht
erfordern, im Gegensätze zu oder
Ländereien, die künstliche Bewässerung erfordern.
Kremer: Aegypten I, S. 179. — ^'LiÜI Acker
gründe zweiter Qualität in Aegypten. Ibn Mamäty
S. 45: äj^.x2.4.JI ^UtXJU äcl^it (jöjl
248
Krem er.
^ ^1LjwÜ! ^^ L l^xi JUui LgJf ysJ L
Lüj^ (J*i^ (J^*4.AU (^r iO^JCrwJ ^JCL+AJ^
^L-wj 15*^ trr=*j V”*^ {?)} t) ö 7*
r SL r
(? ioyui) ko
äfl>L*
— V. Ju^ö, auf besondere Art singen (technischer
Ausdruck). Aghäny VI, 81, Z. 6.
-— ,j!^, der Schmutz, der Rost. Ihjä’ III, 15, Z. 1
v. u.: Lo j> AatJ! ^oöf Io! JLi'
(JkÄ^a oLi'j y& töli kÄXj ä/.Ij' |ä, oXi
jud.i‘ ^Jjlj L^aj Aj^ olx ^1,. Hiemit
o ^
scheint das Wort synonym zu sein. Ihja’ IV,
385, Z. 5.
)
— JjAJI oj, Geisel oder Ochsenziemer aus Rhino-
ceroshaut. Gabarty IV, 68, Z. 6 v. u.
53 O-«" J | w
Aj^ — xjAju^, pl. oIjAaj^ Sänfte, Palankin. Aghäny
V, 29 Z. 13 v. u. Aber auch Tasse, kleine, ver-
tiefte Schüssel, jetzt iüAJj ausgesprochen, pl.
Aghäny XVIII, 185, Z. 6 v. u.
^ ^yJL LJ! o^xij, ,er trinkt den Wein in
einem gläsernen Becher'; eine sprichwörtliche Re
densart, die so viel bedeutet, als: ,er kann sein
Geheimniss nicht bewahren“. Shifä S. 134.
—- ä^.=.v, ein Augurium, eine Vorhersagung nach
5 ^ 0^
dem Vogelfluge. Kamil S. 84, Z. 5. — ^.=^1, ein
Wahrsager nach dem Vogclfluge besonders erfahren,
Kämil 1. 1. Z. 4.
, schwach, hohl oU*a2.JI Ibn
Doraid S. 326, Z. 7.
Beiträge zur arabischen Lexikographie.
249
ein mit einem Holzgriffe versehener kurzer
Riemen, womit die kleine Handtrommel geschlagen
wird. Gabarty IV, S. 191, Z. 11 v. u.
*)>
o
— ‘- > ))i gelb, persisch iiyy Kämil S. 335, Z. 13.
— Saffran e. Shifä S. 112. o°;; hei Dozy.
— ein Kleiderstoff aus Seide und Baumwolle: —S
jüy*j Gabarty IV, 82 Z. 2, 223,
Zeile 19.
— Reihe, Linie. Aghäny IX, 25, Z. 11 Li'ljJüy
Ash'är, fol. 151 b 152 a , wo es in einem Verse des
Aus Ihn Hogr heisst:
[Jjäjj ^IäJ! |V<Ö 151
*.+a2_'
,Es umfasste sie (d. i. den Strauss und sein Junges)
in ihrem Laufe eine breitgetretene Karawanenstrasse,
die aber dort wo Bergvorsprünge sie einengten, wie
eine Linie war*. Vgl. Gawälyky S. 71.
— II belügen, betrügen. Shifä S. 117. Vgl. übrigens
Dozy. — Wahrsager, Sterndeuter: davon das
Sprichwort: oiXSj. Shifä S. 117.
der Flaum, Bartanflug. Shifä S. 116.
(J'j — stechen, stossen, mit der Lanze. ‘Antar, Heft 100,
Seite 382.
J'i) — ein syrischer Volksstamm. Ibn Atyr VI,
178, Z. 13; de Goeje: Fragmenta Historicorum Ara-
bicorum S. 328, Z. 11.
ermattet, abgemagert. Labyd S. 44, Z. 15.
J) — ~j), Teppich = äll). Ibn Atyr VIII, 13, Z. 17.
-k--) — iJaJj, pl. Kupfermünze, Scheidemünze.
Gabarty IV, 156, Z. 8. IiüuuJ
f^; — *—der Rüssel des Elephanten. 'Antar,
Heft 77, S. 151; Heft 112, S. 236; Heft 139, S. 116,
Schnauze. Vgl. iLyJö und Dozy zu iUjJj.
250
Kreme r.
oi.k — J, im Kanzleistyl, bedeutet die Umrechnung
des mohammedanischen Mondjahres in das Sonnen
jahr, sonst auch genannt. In der ersten Zeit
des Islam pflegte man nach je 32 arabischen Mond
jahren eiu Jahr abzuziehen, um mit der Rechnung
in Sonnenjahren in Uebereinstimmung zu bleiben
und dies nannte man oN^I. Shifä S. 28, 116.
^ 53
(Jidj — kiNK, Pflasterweg. Gabarty IV, 104, Z. 9. Damm
wie bei Ibn Mamäty S. 51: xaäjo kJLö löl
XAS r LJI J.io Xiiik g..O ^11 g.x.'
Uu.*d x_j^ tX-iXwbi! (Jlljjla*. — jjLschiefe
Ebene, Böschung. Gabarty IV, 162, Z. 13.
^ — j»Lo^, Controlor, Aufseher. Tabarylll, iv, S. 1183,
Z. 15, 16. Aber es ist nicht ganz sicher, ob nicht
LeLo^ zu lesen sei. Vgl. Dozy sub voce.
mit Geflecht überspannt. Ihjä’ TV, 290,
Z. 2: KjvAo JyA’yo y?y M <J' £ - (v3Lä er schlief
auf einem Ruhebette, das mit Palmstricken über
flochten war. Andere Belegstellen fehlen.
■j
— xA^v, Sammelbüchse, Almoscnschale der Bettler.
Makryzy II, 318, Z. 2 v. u.
— die Glocke oder das Tamtam. Fihrist S. 339,
Z. 25. Persisch sJJijy
o^-
— ‘-ftjji ein Räucherwerk. Lozumijjat, fol. 190 b :
^uJoLx^o kCJji- |*S"j
— die von Dozy angeführte IX. Form iindet
sich in der Bulaker Ausgabe der 1001 Nacht I,
S. 75, Z. 11 ersetzt durch ^y welches offenbar so
viel bedeutet als: ,durch den Schlund hinabwürgen'.
Lane übersetzt yjyU he was choked.
Beiträge zur arabischen Lexikographie.
251
— 'Antar, Heft 148, S. 483: U-Lj
L-g.j I &J JLi>. j.1^ ! Aff v^-Ai ^y/>
JÜ.JI. Die Bedeutung ist mir unbekannt.
^jk — ein hartes Holz: iX-xdil v_*.wiL!. Gabarty IV,
297, Z. 6.
ji\ — jy^ in Aegypten, grosser Filtrirkrug aus porö
sem Thon.
(Jjj\ — äiüv, eine Art Kleider aus Zyk, einem Orte bei
Naisäbur. Nach andern ein grober, schlechter Kleider
stoff aus Oberägypten. Mowatja’ III, S. 131, Z. 7 v. u.
— was Dozy sagt, passt auf und ich glaube,
dass auch dort, wo in der Bedeutung verzieren,
schmücken vorkommt, überall dLo^ zu lesen ist.
U"
— X. bei Dozy in der Bedeutung: ,sich dem Tode
weihen' scheint mir aus einem Schreibfehler ent
standen und ist dafür zu lesen .
— eine indische Völkerschaft. Vgl. Bala-
dory S. 375, 376. Gawälyky S. 82.
— -LsOII, _luaJI, das Forte und das Piano im
C ^ C
Gesänge. Aghäny V, 102, Z. 9 v. u. _Uä?},
c * c e
pianissimo IX, 51, Z. 5 v. u.
— j&'Ai ein Stoff, in welchem Zeichnungen von
Bäumen gestickt sind: x.aas> v_*s>AJb ^y^-Xia
Gabarty IV, 179, Z. 8, wozu noch bemerkt
werden muss, dass statt & Baum, die ägyptische
vulgäre Aussprache ^ lautet.
pl. kleinste Scheidemünze, Bruch-
thcil eines Para, jetzt nicht mehr im Gebrauch. Ga
barty IV, 313, Z. 13.
252
K r e m e r.
7^
^ u ^
^.KlyMJ
— y&, eine Art Zwieback: ^Ja£*JI Aa.Ö I. Gabarty
W 9 O y
IV, 278, Z. 14 v. u. — ^ÄA/o, verdorben, sauer
geworden. Vgl. Lane ad voccm Aghany IV,
99, Z. 4 v. u. ^jLwjt> u-dy
<S Ö ) (ts^^* 0 ) -
yj Ü S #
— jUJL^ 1 , im ägyptischen Vulgärdialekt: die Eid
echse. ShaTany: Albahr S. 235, Z. 1.
2 ✓ 5o^ b
— ^U.^1, dunkel in der Farbe des Körpers, tief
braun. Ibn Doraid S. 62, Z. 1 v. u.
G 9' ... A
— v. . verhöhnend, betrügerisch. Lozumijjät,
fol. 105 b .
;^Sji l«jT i*3fr iS ;f •*
✓ ^
> O ^ O
— dein Auge möge heiss werden; eine
Verwünschung. Aghany XVIII, S. 59, Z. 4; XX,
156, Z. 3 v. u.
— «dIjTöpfe, Schmalztiegel. Gabarty IV, 279,
Z. 1 = ^4-wJ! ^J.A.cly.'O.
— dlA^, ein grosser Korb yuXJl J.xödt. Aghany
XVII, 98, Z. 1 und 4.
— ib-y^u, die Reise, das Herumziehen ^_>.wXU
Gabarty IV, 144, Z. 3; 235, Z. 11 v. u. - ^!y-w,
ein Hausirer, ein wandernder Händler. Gabarty IV,
252, Z. 17.
— Zügel, Zaum. Fawät I, 127, Z. 1 v. u. Persisch
\ L.W.- fjmj .
— eine Art berauschendes Getränk. Kremer: Cultur-
geschichtliche Streifzüge S. 68.
äjlyw — pl. Palast, türkisch ^ety-w. Gabarty IV,
183, Z. 4 v. u. — kj^Lw, Reptilien oder Insekten,
die nur Nachts aus den Löchern kriechen: Ibn Do
raid S. 108, Z. 9.
Beiträge zur arabischen Lexikographie.
253
^.ia.w — pl. das platte Dach, die Terrasse:
in der Vulgärsprache wird der Plural statt des Sin
gulars gebraucht. Gabarty IV, 92, Z. 8:
h ... 11. eine sprichwörtliche Redensart, die so viel
bedeutet als: jemand durch schöne Worte beruhigen.
JJa-w — ein Bettler, der sich blind stellt, um Mit-
leid zu erregen. Shifä, S. 125. — im ägypt.
Dialekt: derjenige, der dem Genüsse des Hashysh
ergeben ist. Shifä S. 119, 125. — J-knoH durch den
Genuss des Hashysh sich berauschen 1. 1.
der Vordertheil des Schiffes. Atär al-
’owwal S.’ 197:
iki ^X! üil^ LgJtHj A (JiyiJ kgjli
^.r. LgJjLäj Jo L^j jj-LajJbH
uJLJI isOAi? jUo^Jo äJocX=> ^L^JI xJ Jliü
OyÜ i\x£. Jöa-tXj 1 1
p»t\ÄjO J ^
ein Beiname, womit ein hinfälliger,
entkräfteter Greis bezeichnet wird. Shifä S. 35. —
lXjuw, in übertragener Bedeutung: die Lüge.
Shifä S. 95.
x=>-,, ein verzerrtes, hässliches Gesicht.
1001 Nacht I, 47, Z. 18.
ja.*, — jmj, sing. oder Posaune oder
das hiezu verwendete Widderhorn. Byruny 275,
Z. 16: (jUiLaXT-I! J ^ J Lj \XS .
— äjULw, pl. Flöte. Gabarty IV, 73, Z. 15.
Ibn Chaldun IV, S. 31, Z. 12 v. u. sliXi
^ ^ o ^ * ° m
&Ä.wJuu« l + jj vilJ<3. Hiernach scheint die von Slane
254
Krem© r.
gegebene Bedeutung: ,Betrug, Schlechtigkeit' ge
rechtfertigt. Vgl. Dozy ad vocem.
xLilLw — eine türkische Truppengattung. Gabarty IV, 177,
Z. 1; auch zu Pferde, 212, Z. 1: «dLe»-! iL-wLiuuJI.
— Gürtel (eines Kleides). Baladory S. 308, Z. 18
und 19: &2Lö (Jj._A.AAu — (Jj-uAÄAu be
deutet im modernen Vulgärdialekt von Mosul: das
Hosenband. Vgl. Socin: Sprichwörter, Nr. 460. Es
dürfte also zu lesen sein: (JjAÄA.
— p ._e.au , ein heftig blasender, heisser Wind. Nül-
decke: Beiträge S. 111, Z. 4. — «jüuujo. Nach Ihn
Doraid S. 82, Z. 17, ein südarabisches Wort in der
Bedeutung: J (jAXJI XaJI.
— bei Freytag ist irrig, die richtige Schreibart ist
bmi. Vgl. Kämus, Gauhary und Mohyt.
. X» Ö f O ^
Dieser Ausdruck, der in einem
Verse des 'Alkamah Ibn 'Abdah vorkommt (1—A
bezieht sich auf die Legende
der Tamuditen und das Kameel des Propheten Salih.
Vgl. Koran Sur. VII und Sur. XI. Tashyf, fol. 164 b .
— (jyÜAu, der Löffel. 'Antar, Heft 142, S. 217:
J.£au — xJIäau, pl. JuÖ'IauI, Schiffstreppe, Brett das vom
Schiffe aufs Ufer führt. Aus dem italienischen scala.
— die Leitern, das Gerüste bei einem Bau.
Makryzy: II, 407, Z. 12 v. u.
dl*« — ä£.w, pl. dlXw, Poststation. Sprenger: Post- und
Reiserouten S. 2.
x 0 ' 9
oA.au — kleine Stechmücke, Muskito, die beim
Fliegen nicht summt, aber sehr empfindlich stiebt;
Beiträge zur arabischen Lexikographie.
255
deshalb auch oAFoj JATj genannt. Aegyptisch.
Vulgär.
jtjXwf — Name des Registers der im Postamte
eingeschriebenen Briefe. Aus dem persischen
xSj\. Dieser Register enthielt also die Angabe
der Provenienz jedes Briefes. Sprenger: Die Post-
und Reiserouten des Orients S. 159. Diese Bedeutung
eines Vormerkregisters scheint das Wort auch in der
Stelle zu haben, wo es im Aghäny V, 61, Z. 6 ge
braucht wird.
, „ 0 „
^1 jXmi., vulgäre Ausdrucksweise, die so
viel bedeutet als: vollständig betrunken. Shifä, S. 47
m o s 9
126. — assecuriren, ySys+jo, assecurirt, vom
italienischen: assicurare; vulgär.
xFXaJ — pl. tl/LJ, Hafenplatz, Hafenstadt. Gabarty IV,
126, Z. 11 v. u. Französisch: echelle.
&AÄA Xau i\ . . eine in die Mode gekommene Fri
sur, nicht blos für Damen, sondern auch für Herren,
so genannt nach der Gattin Husains, des Enkels des
Propheten. Aghäny XIV, 165, Z. 3 und 2 v. u.
— v_aFw, Seil aus Palmbast. Gabarty IV, 252,
Z. 12. — ^.aaJI IuXau, Brunnenseil. 1001 Nacht I,
356, Z, 15. — ^LJLu, ein Musikinstrument. Mas'udy
VIII, 91.
pl. ä.„wjJL*u, Bettler, in der Gauner
sprache. Shifa S. 125.
^ o
— die Fontäne, der Springbrunn, Jl J.aa.^.1.«/.
Gabarty IV, 28, Z. 12, der aus Marmor gehauene
mittlere Aufsatz der Fontäne, von dem das Wasser
herabfliesst.
Name Gottes bei dem Dichter ’Omajjah.
Ihn Abylsalt. Aghäny III, 187, Z. 13.
256
Kr e m e r.
’&m — ^^Lw, ein gelber Seidenstoff Gabarty IV, 223,
Z. 5 v. u.
C“ 7
o, Dotation, Geldanweisung. Gabarty IV,
68, Z. 15 v. u.; 311, Z. 12.
der Zuhörerkreis:
kjii.il.!
^.Ul u-LÜl. Gabarty IV, 69, Z. 8. Vgl.
Lane. IsyoLwj wo als Füllwort
in der Bedeutung von w*Lc, verödet, gebraucht wird.
Müller : Die Burgen und Schlösser Südarabiens.
Sitzungsberichte der Wiener Akademie, Bd. XCVII,
S. 1035. Nach dem Iklyl. — sJ-J, eine im Ge
spräche zugebrachte Nacht, so sagt Zohair:
jJtl! ^j.xi^Lg.D! ^3 !ö! sjl im »AH cuLj UU
Tashyf, fol. 69 a . Statt coL ist wohl c*jLj zu lesen.
Der Vers fehlt übrigens in den Gedichten des Zohair.
— ein Zobelpelz. Aghäny XIII, 25, Z. 9 v. u.
pl. eine Art Zwieback. Gabarty
IV, 309, Z. 3 v. u. Vgl. Aa + -w.
_ , „ 0 -e
— Jo!^! (jLLwil, die Altersklassen der Kameele, in
welche sie zum Behufe der Besteuerung mit der
Armentaxe (sadakah) eingetheilt waren. Bochäry,
3846. (Kitäb al’i'tisäm bilkitäb walsonnah 6).
— Fuchspelz, Shifä S. 120.
o~i.w — — cuü«. Mas'udy VIII, 37: ^jXmj ks!l=»
^j liö, mit der Jahreszahl versehene Gold
stücke. Aghäny X, 164, Z. 4.
Redensart, die so viel bedeutet
als: eine schöne Handschrift schreiben. Sliifa S. 213.
0 S S SS
x-Xm, — hXmj jUau, in der Tradition, als vom Propheten
gebraucht angeführt; Ausruf der Bewunderung.
Bochäry 3207 (Kitäb aladab 17), an einer anderen
Beiträge zur arabischen Lexikographie.
257
Stelle 3109 (Kitäb allibäs 22) kommt das Wort in
der Form »UL*/ vor. Es soll nach dem Commentar
abessyniscb sein und schon bedeuten.
— <Sy-die Zeit der Nachtwache, die Zeit, wo
man wacht. Gabarty IV, 215, Z. 5. Diese Form ist
vulgär ägyptisch. Vgl. Spitta: Contes arabes, Leide,
1883, S. 37: ^l^Ut £ ,am selben Tage'. Saif al-
jazan S. 59: ,in der Nachmittags-
stunde“. Der Singular ist u. s. w.
— roth (persisch); bei der Beschreibung eines Fal
ken. Abu Nowas. Manuscript der Hofbibliothek,
fol. 60:
w ) ) ^ o > • I p I w x o >
^ iA—- ' i—^ Lw 5 »! ^ JLJ I y
J*g.w — Iniinitivform JL^ö. Imra’ alkais: Dywän L1I,
v. 17 fehlt bei Lane.
0^77
(v-g-w — pl. f»y-g-"> Stange, langes Holzstück. Ga
barty IV. 258, Z. 12; 300, Z. 13. Die dicken Balken
> u,
heissen pji
die Bevölkerung des Landstriches t>lyu.
Ihjä I, 47, Z. 5; 112, Z. 8.
9
j)-*“■> das Hochzeitsfest. Shifä S. 120. Ibn Ma-
mäty S. 24: (persisch).
j,Lu — stimmen (ein Musikinstrument), ’l'läm alnäs S. 135,
w 9 ü. ^
Z. 6: xjuLo
xaJI.
— -LIyMj., der Zubereiter der sehr zähen Teigmasse,
die den Namen uiifllj trägt und eine beliebte süsse
Speise ist. Aghäny V, 125, Z. 8 v. u. Dieser Teig
muss nämlich lange geschlagen, gezogen und ge
knetet werden.
Sitzungsber. d. pliil.-hist. CI. CIII. lid. I. Hft.
17
258
K r e m e r.
IV. I, frei lassen, laufen lassen. ‘Antar, Heft
93, S. 84, 7-i. 16. v^wUu \y
— ü^jLw, eine Art Gehalt: Gaharty IV, 211, Z. 18:
ÜvSLJIj si.jX+II Ovxj J, 1-Aj! üy.^lS' |vj
— im ägyptischen Kanzleistyl: s,+a-H
SjSLJI, die fortlaufende Nummer der Register oder der
Aktenstücke. — Procession, feierlicher Um
zug. Gaharty IV, 190, Z. 8. Kremer: Mittelsyrien
und Damascus S. 133. — eine Art
länglicher Kürbisse. Gaharty IV, 223, Z. 15.
r*?
-— Sesamöl. Aegyptisch.
-— eine Art unechten Golddrahtes. Bei den ägypti
schen Zigeunern ist die Benennung der unter
ihnen gebräuchlichen Diebssprache. Kremer: Aegyp
ten I, 144.
— Name des Mondes bei den Sabiern. Byruny,
S. 205, Z. 18. — kiLLu, Zelte. Vgl. Gabarty
IV, 122, Z. 1.
u* 1
— Das Wort ist offenbar verschrieben für
das junge Huhn. Aghäny XX, 57, Z. 1. Ueber
letzteres Wort vgl. Damyry.
I, die Tarantel. Aegyptisch.
yjy.jiü — Rappe, Pferd von dunkler Farbe. Shifä S. 129.
Aus dem persischen
vaä — »„.jLi, die Schläfe, die Wange. Aghäny VII,
33, Z. 13 V. U. XJ Ij*Aj ^j-jo O,.*.!( Äi-Ls
L^j^Lxo i,
— I. ins Netz locken (den Vogel, abfangen). So
heisst es in einem Gedichte:
Beiträge zur arabischen Lexikographie.
259
a ^ - o . . . **>
iCJlXaA I^JlXaO I öl
C5-
Shifä S. 139. — Es ist von dem Worte QiülA ab
geleitet , welches die Landleute in Nordsyrien zu
rufen pflegen, wenn sie einen Fremden sehen, wo
bei sie sein Pferd oder Reitthier anhalten und die
Hand ausstrecken, um ein kleines Geschenk zu em
pfangen. Vgl. Russell: Natural History of Aleppo,
der die Sitte recht gut schildert.
LaA — III. Aghany XII, 130, Z. 19. Die Bedeutung ist
vermuthlich: mit gekrümmtem Rücken sitzen, einen
Buckel machen wie der L«.aA, ein im Euphrat vor
kommender Fisch (vgl. Aghany XIII, 18, Z. 9) oder
die darnach benannte Laute JoajL-AJI 0 ,lA—aa.II.
Aghany V, 24, Z. 6. — JoIaA« JöIac., Geschrei und
Gezanke. Gabarty IV, 138, Z. 7 v. u.
-AaA — V. sich an einander fügen. 'Ara'is S. 213, Z. 5:
O)1^Aa0 f- LJ f \ ^jtcL+JI JLas.^1 adJI ^_^«U
eAi'UaJI Diese Stelle bezieht sich auf den
Durchzug der Israeliten durch das Rothe Meer.
^j-aA —- cjUIaA, eine zum Zwecke der Besteuerung auf-
gestellte Altersklasse für Büffel, indem nach den
verschiedenen Altersstufen der Thiere die Steuer
sich änderte. Ihn Mamäty S.31: diese Klassen führen
folgende Namen: ^_X'k cuLiIaA J,!
. Vermuthlich istculiC.A zu schreiben.
*aA — sLaAI, an der Sonne getrocknete oder ge
brannte (^.=A) Ziegel. Labyd S. 112, Z. 8.
I^äA — |VajLa.xi, pl. vom sing. ^LuLo, einer, der heftig
beschimpft oder schmäht. Hädirab S. 4, Z. 11.
^yÄA — «aj^äA, Ackerboden fünfter Qualität. Ibn Ma
mäty S. 45, 46. An beiden Stellen steht üaj^a'A und
17*
260
K r e ra e r.
i
L>aJiäi
iXjii
nicht ioyc^i. Ygl. Dozy ^g.Loi, woraus trotzdem
die Lesart äjytii als die richtigere erscheint.
— <Aaa=U Aac £:££', sprichwörtlicher Ausdruck für
ein Gebrechen, das die Schönheit des Betreffenden
erhöht, wie die Narbe des 'Abd alhamyd ihn noch
schöner erscheinen liess als früher. Shifa S. 136.
— das Betteln, die Bettelei. Ihn 'Arabshäh
fol. 114. Shifa S. 133. Vulgär oder äj'U 1 .
— V. selten werden, sich verringern. =
klyi. Gabarty IV, 158, Z. 6: cyJaiäAj' dUi v_aa.ao^
l_y Li t odc» iy.xiS' r Laao ^ f.
— 11. in Wirklichkeit vorweisen, tbatsächlich vor
zeigen oder herbeibringen. Shifa S. 134. —
von Geldmünzen gesagt: effectiv, baar, comptant.
Gabarty IV, 117, Z. 1 u. a. a. 0.
— LoJLi, Ausruf der Verwunderung statt: sJLil Lo.
Shifä S. 134.
— ui)y, im Dialekt von Kairo: der Begleiter
der Sängerin oder Tänzerin, der zu applaudiren hat,
wenn sie sich producirt, auch ^.aL.x> genannt. Sha'-
räny, Albahr S. 189: ijnA?
& XI <5 £-
ILlA^ ^,1 ,*AJ y^
-— pl. ; o!yjiii Verkaufsstätten des Holzes, Holznieder
lagen in Bulak bei Kairo. Ga
barty IV, 11, Z. 7 v. u. Vermuthlich vom türkischen
Zelt.
•—- Scherbetverkäufer. Gabarty IV, 198,
Z. 5 v. u.
S o ^
[v=»yi
— lang von Gestalt, gross. Ibn ’A'räby Mosämarät
^ O X-
I, 308, Z. 3 v. u. = v_a:?.ww und
Beiträge zur arabischen Lexikographie.
261
er"
x ✓ 5n./- y - .. ß.
— * pl. J! Glastafeln
(^IjJt). Gabarty IV, 28, Z. 10.
— Jvß = xXx 5 Jsß. auf seine Verantwort
lichkeit, auf seine Rechnung. Gabarty IV, 236,
Z. 10 v. u. — der Notar. Sobky, fol. 21 b .
Auch oLäpI, im Iklyl. Müller: Die Burgen
und Schlösser Südarabiens, in den Sitzungsberichten
der Wiener Akademie, XCVII. Bd., III, S. 1035.
— vgl. Kamil S. 449, Z. 10 und 13.
*i. Imra’ alkais IV, v. 57, nach
einer Variante, dann Kämil S. 87, Z. 9, gestreift (wie
die Kleiderstoffe von Shar'ab). Aghäny XIV, 88,
Z. 4, wo das Wort erklärt wird:
T
Jo^JoJf Jj^iaJl.
— ijjlwCi Ländereien, die zu hoch
liegen, um von der Nilüberschwemmung erreicht zu
werden, die also künstlich bewässert werden müssen.
Aegyptisch. Es wird davon das Verbum ( JjyM und
das Verbalnomen (JjOj_cio' gebildet. — Zünd
holz zum Feuer machen. Aegyptisch. Auch
Gabarty IV, 309, Z. 3. Aber die gewöhn
liche Aussprache ist — oJ ü l^il , weisse
Sklaven oder Sklavinnen, die aus dem Hause eines
Grossen ausgemustert oder entlassen werden. Ga
barty IV, 266.
— d ;r cö, pl. 4J^L.w, Segment, Ausschnitt in der
Form eines Dreieckes, wie bei den einzelnen Stücken
eines Zeltdaches oder Sonnenschirmes. Makryzy I,
448, Z. 11, wo von dem Sonnenschirm des Chalifen
gesagt wird: JA"JjLo ijöy£-1jä+s Lot
' . y.jC ! y ~-y ^ . 0^1.j. ö t ÄÖ^O äJ *.L . yA-CÜ
262
Kreraer.
lA=» jjyAs'O.. — xA.yJt 'Jj-w.-c. Aghäny XIX, 137,
Z. 3; vielleicht ist zu lesen x=»yJI foäi-*-
^.A, — ®i n kleiner Wasserweg. Gabarty IV, 121,
Z. 7 v. u.; 311, Z. 8. Die Abzweigung eines Kanales.
Ijjm — xjLAi, die Irrlehre der Sekte sL_A, d. i. der
Azrakiten. Aghäny XVI, 153, Z. 2; 157, Z. 13 v. u.
— V. sich zerschneiden, sich verwunden. Saif al-
jazan II, 41. — xlkA;, der Federstrich (um ein Wort
zu tilgen). Shifä S. 138.
„kAi
ykA.
u_ak.A
■^/.SLXki
lX
— I. sich entfernen, abweichen. Sha'räny: Jawäkyt
II, 116, Z. 7: x*jyAJI yrlk ^kA; ^y/o £y*=»j
,alle, die von dem äusseren Sinne der Offenbarung
sich entfernen/ — Sich überheben, sich emanzipiren:
Sha'räny: Kibryt S. 173, Z. 10:
xjU! aAJI ^p-kAi ^y 4 x> ki>! y£\ xlJI
xiGAJ b^k=* ^.kAJ! J-yäj.
— «y^kA, Schnitten, eine Speise. Aghäny VIII,
185, Z. 5 v. u. Vgl. Dozy: Axw.
— xäkA;, ein grünes Band, das die Nachkommen
des Propheten, die Sheryfe, um den Turban zu tragen
pflegen. Shifä S. 139.
— v_**»A, ein Felsriff. Gabarty IV, 142, Z. 16.
. . -’M) • ✓
AU = AlAA-i, also ein Ausruf wie: Gott er
halte dich. Shifä S. 134. Nach dem Werke: Tahdyb.
c-
— sA-olA-A sb! = Sj-wLa., unbekleidet, unver
hüllt. Aghäny XVII, 121, Z. 8; das Wort ist, so
lange nicht andere Stellen nachgewiesen sind, zwei
felhaft. Vielleicht ist zu lesen xAaAAc.
— ^l*A, die Ziegen. Ibn Mamäty S. 31: ^IxAÄlt
xaLaJI xAwJ! A; oLslxc yj La yj Lg/Ul
xAw aULA. y5*k* L*. aA. — -—
Beitrage zur arabischen Lexikographie.
263
die Beduinen des Stammes Sha'ärah, welche
der ägyptischen Pilgerkarawane das Geleit geben.
Sha'räny: Albaljr S. 218.
die Flechsen, die Muskeln, die feine Haut,
die auf dem Fleische sitzt. Gabarty IV, 257, Z. 8:
eiJt-cÜI . iajLwJ I, wozu mir mein Gewährsmann in
Kairo folgende Erklärung gab: .ijH^J! JaJLwJI
r ^.'l ^ IlXä- kÄAivJI ScXlil I •.
iS-*
— kj>idyjiü. Kameeltreiber. Gabarty IV, 5, Z. 8.
— (jw + .w eine Art Ackerland. Ibn Mamaty
S. 46: y&j ^ Rbl-xa ^3^
(JjW^ <Sy^ <Sy^'
Rii, Zelt, »JLi. Lozumijjät, fol. 108 n . Ma-
kryzy II, 200, Z. 21: k + A~*. küJI J,l
kjt.wJO0 &J.J .
— pl. ^y-oliuo, eine Art YVildpret. ^..oLüJ! ^.l^.
Aghäny X, 136, Z. 17: XIII, 130, Z. 13. Der Text
ist an beiden Stellen zu berichtigen.
^ u
(jaü •— (ja.iw.xi, Hebel, Hebebaum. Atär al’owwal S. 192,
Z. 7. Es ist von einer schweren Belagerungsmaschine
die Rede und wird die Art und Weise erklärt, wie
sie in Bewegung gesetzt wird: ^J^-Llxd yjJJii
£• '
Lgj «ijo (jai'lw. + j .1 ,man setzt sie in Bewegung
entweder durch eine Welle oder durch Hebel, wo
mit sie voi’wärts geschoben wird. 1
— x^lüAxi olxj,
Rasäi'l S. 156.
eine Art Kleider.
Hamadäny:
‘— lajLaiwX!, eine Art Kleidungsstücke. Makkary
II, 1200, Z. 12.
aL& — stechen, kitzeln. 1001 Nacht I, 96, Z. lO.II.Waaren
auf Credit nehmen und dann (ohne Ermächtigung)
264
Krem er.
CD Laī<LcO
an einen Dritten abgeben. Sha'räny: Albahr S. 105^
Z. 7 v. u: ^JLJI viJLC&J» ü O^J! Lulc 3~J
Cj-w^ i_}Lai yiy s^CX. 1 ! sJoUJl? btU^J
&jcl+£ tV^Ls ^LaJI j ^LwX j.Q
I joc l$wJo. — «KX, die vollständige Rüstung, mit.
Einschluss der Waffen. Aghäny XX, 132, Z. 17.
— eine Art Nilschiff, mit Rudern. Gabarty IV, 8,
Z. 10 v. u. Jetzt ist das Wort nicht mehr üblich.
— Lei, pl. «jjXLw, arabische Soldtruppe. Kre-
mer: Culturgeschichte I, 238.
— J.Xci, elegant = oa-j^-iä. Aghäny XVII, 8, Z. 14.
XX, 114, Z. 12 v. u. Vgl. auch Aghäny IX, 140,
Z. 10 v. u.: >—äj^-ta J.Xw
— |vyX*il, Lederglirtel der Mönche. Makryzy II,
508, Z. 9 v. u: ckJo* y$*j
— I. besprengen, bespritzen (mit Wasser). Bäkurah
S. 33: k_joLgJI io^liü «Ul sX» Jl ^gjo ooi«
k+lcli J.I J,! is^t> Lgj^ ^x!I io
t ^ 1 ; jsX. kad.W •' 'j* S*. k r l y, ^} i
\i.A. 11 1 A^ Üä^aw AIAaÜIaX' ^ . j. A.A.Ay.^, J 1 ^yAA!
iüuLco oaäAaää ^La.A| yjjjiJI o*. JX. j. —
Jagdtasche. Vgl. bei Dozy. Fawät I,
195, Z. 13.
— eine Art kleinerer Kriegsschiffe. Gabarty IV,
259, Z. 3.
— türkisch Gabarty IV, 56, Z. 4. Auch
aLLlLw wie bei Dozy.
0 --
— k.w.4.w, Rosette, Medaillon. ShifäS. 138. —
Sonnenschirm. Tabary III, iv, S. 1183, Z. 18.
v r
Beiträge zur arabischen Lexikographie.
265
L-Lw
XS
vilLi
7-^
— X-U.W, ein Tuch, worin etwas eingehüllt wird.
Fachry S. 361. Nach Lane: Arabian Nights III, 570:
ein Mantel, ein Ueberwurf. — kX+.w = kj.:^, Ober
kleid. Gabarty IV, 105, Z. 15 v. u.
— k®L*..w, Ackerboden vierter Qualität. Ibn Ma-
mäty S. 47.
Aghäny XII, 130, Z. 2. Oie Wiener Handschrift
schreibt AO-w. Bedeutung unsicher.
— eine Art Schiffe. Gabarty IV, 298, Z. 13. Aus
dem türkischen ^y~^-
—■ II. emporsteigen, sich erhöhen. Tashyf, fol. 32 a ;
es wird dort ein alter Dichter angeführt, der sagte:
«A ,aber der Edle ist erhaben'. Aus
einem andern alten Gedichte wird angeführt: 15!
Ijutxi J,LäJ! ^Xl! ,wenn sich der nächst
folgende Stern von den Plejaden aus in die Höhe
bewegt'.
— Tabary III, iv, S. 1170, Z. 8. Bedeutung unsicher.
— pl. iiljlAXo, aus dem türkischen üLLoi, Volksfest,
Beleuchtung. Gabarty IV, 81, Z. 1; 173, Z. 11. Hier-
. - ?
nach ist Dozy ad vocem viU-w zu berichtigen.
tkscLw, der Assistent, Adjunkt im Kanzleidienste.
Ibn Mamäty S. 14. — JuJUl Asdpoetisch: die
Gestirne. Shifä S. 135.
— II. an den Pranger stellen = Shifä S. 136.
— kj^icLco, eine Pomade. Shifä S. 165. —
ein Kennzeichen, Merkmal. Kainil 682, Z. 4.
— pl. oder k^Lg_co, eine aus der Zeit des
persischen Reiches stammende Classe von Landedel
leuten oder Grundbesitzern, die sich noch bis in die
Chalifenzeit hinein erhielten, sich selbst mit Stolz
,Söhne der Dikhäns (Aghäny XII, 176, Z. 3 v. u.)
nannten und besonders im nördlichen Mesopotamien
266
Kremer.
am längsten ihren Einfluss sich wahrten. Sie be
kannten sich daselbst vorwiegend zum Christenthum.
Vgl. Ihn Haukal, ed. de Goeje S. 145. Ibn Atyr II,
407. Nöldeke: Geschichte der Perser und Araber
nach Tabary S. 102, Note 2.
= sl^Lw, Reichsstrasse. Shifä S. 139.
— II. expediren, befördern, Vorschub leisten. Dozy
ist hienach zu berichtigen. Vulgär, aber auch im
Kanzleistyl üblich.
r-ucLä — ein Musikinstrument, das geschlagen wird. Ihjä'
II, 319, Z. 1 v. u. Vermuthlich eine Art Handtrom
mel. Das Zünglein der Wage. Shifä S. 137.
— Appetit, Begierde. 1001 Nacht I, S. 3,
Z, 13; S. 70, Z. 5.
— poetisch: der Wildstier, das Männchen
der wilden Kuh, einer Antilopenart. Labyd S. 66,
Zeile 7.
— gemischt = JfijAiä?. So in einem Verse
des Solaik:
pLaÄj! A Ai il/Oj jvA «.äl! uA dL
Ash'är, fol. 212 b ,es wird dir Ersatz geben für die
saure Milch deines Stammes das auf Kohlen gebra
tene Fleisch und die Suppe der Kessel, die in den
Schüsseln gemischt wird*. (Variante: ^jOjXa).
— eine Art Schiffe. Gabarty IV, 298, Z. 13. Ver
gleiche Dozy.
i^AiLui — Augenwasser. Makryzy II, 406, Z. 2 v. u.
J-aA — JLyi, Lastträger = Jlxc oder
Wirbel im Wasser, pl. Shifä S. 133,
wo nur für die Pluralform eine Belegstelle ange
führt wird.
LgÄ
Yj 7 U
schöner, herrlicher.
Aghäny XVI, 124,
Beiträge zur arabischen Lexikographie.
267
».yo — Aghäny VII, 43, Z. 9. — der
Ballast, vom italienischen savorra. Shifa S. 126; eben
so in derselben Bedeutung S^jjLa. Shifa S. 126, 143.
^ v f . y
— 'iuäP, pl. ^SP-, Leuchter mit mehreren Kerzen.
Gabarty IV, 28, Z. 13 v. u. — Diener,
Lakai. Gabarty IV, 111, Z. 10 v. u. Sie werden un
mittelbar nach den angeführt.
— (5 äjLä 5 j, = j,, wegen mir, meinethalber.
Gabarty IV, 224, Z. 5.
cViJP — jJäSÜ! oLd.g.JI. Nabighah VII, 28 erklärt der
Commentar als: ,glatte Felsblöckef
ytX^o — yo, ein fürstliches Haus, einem Manne
gehörig, der yS^> ist. Vgl. Uber dieses Wort Dozy.
’l'lam S. 151, Z. 9. — yjjJkl idy Fawät II,
215, Z. 2 v. u. scheint zu bedeuten: er stand in An
sehen in Kairo.
S > A
pcLo — p entscheidend, das Urtheil sprechend. Vgl.
Lane: ciX -j£>. Abu Ismä'yl alazdy S. 29,
- t, ’s > -
Z. 12:
— die Ohrläppchen. Saif aljazan II, 54.
t ^09 ^9 «..09
(»vac — k/iy^o, pl. (»j.-'öj rother Schuh. Aegypt. — ^jLojais,
Schuster. Gabarty IV, 71, Z. 9.
„ 9 ü
x.iy.h.^1 — aus dem italienischen stoffa, eine Art Seidenzeug.
Gabarty IV, 223, Z. 6 v. u.
A-sS-aM — <X=Ssa2.a!, in der Beschreibung des Löwen. Gahiz:
Mahäsin, fol. 97 b :
■•II I Kl I I ■Ai''’ w .u" J *3"^
jhU ‘ ^y2>- {JHy+MÜ |^yjy^C-
Im Aghäny XI, 25, wo dieselbe Schilderung des
Löwen gegeben wird, fehlen diese Verse. Die Form
fehlt in den Wörterbüchern. Vgl. AÄ^al,
268
Krem er.
das aber im Sahah nicht aufgenommen ist. Hingegen
ist cXi*jo! zu belegen aus Aghäny VII, 182, Z. 18.
— In einer Handschrift desselben Werkes auf der
Wiener Hofbibliothek (Mixt. 94, fol. 48 11 ) findet man
die Lesart
jooiitLa
yiua
iLo
— Possenreisser = * Fihrist S. 3, Z. 8;
S. 140, Z. 8.
— pl. der Zeltring, der auf dem
Tragpfeiler sitzt und die Spitze des Zeltes trägt.
Makryzy II, 419, Z. 12; 125, 33.
— vulgäre Redensart: stehlen. Shifä
S. 144. — Makkary H, 878, Z. 17, ein
Schmähwort, das einen bezeichnet, der immer Schläge
erhält.
— eine Art türkischer Truppen oder Polizeisoldaten.
Gabarty IV, 129, Z. 15. Auch jLyiUuv geschrieben.
— II. iL.La.j', Liquidation einer Concursmasse. '—
^Lajo, pl. Töpfe. Gabarty IV, 312, Z. 11.
-— eine Art Soldaten oder Regierungsbedienstete.
Gabarty IV, 177, Z. 1. Sie werden daselbst zusam
men mit den L._.lIaac angeführt: V*
iLJ yji LwaäJI. Dcib Wort entspricht
dem türkischen ,JUU
— jUx.La, Vollblut, von ungemischter Abstammung.
Aghäny XVII, 9, Z. 16: ju.,yLa joL5Ü..o
y$^^ 177i. 4.
— k^.*ajo, Administration, z. B. A+Jt iG^a», die
Administration des Salzes. Modern ägyptisch. Vgl.
Gabarty IV, 10, Z. 8 v. u.
Beiträge zur arabischen Lexikographie.
269
— I. kneten. Bochary 1997 (Kitäb bad’alchalk 18):
^ ® 9 ^ im y ^ 9
(Jlx2-<Ua XaJsO» «*(3!
Lf.
uiio —■ sjLLo, Prahlerei, Dünkel, Grossmuth. Mostatrif
I, S. 18, Z. 8 v. u.: J-äc ^c. äJNAJl ^ ^
hh /C . 2Lw^G/0 I ^
aCCiJ.^3 »XVj x^L.
eil.o — cJ^-Lo, die Armuth. Ihn Doraid S. 170, Z. 5.
Vgl.
ih-o — II. sprichwörtliche Redensart für
yiLäJj Shifä S. 142. —■ III. = J. -*ol. oder
v-j^lä, ein südarabisches Wort, das bei Ilamdäny
sowohl im Iklyl als in seiner Beschreibung von Ara
bien öfters vorkommt, in der Bedeutung angränzen,
anstossen, z. B. L^aJLojjI Lg.Äx dltXi. Müller,
Die Burgen und Schlösser u. s. w. in den Sitzungs
berichten der Wiener Akademie, Bd. XCIV, S. 383.
— J,La, vulgär im Dialekte von Damascus und
Horns mit der Bedeutung: abwartend, aufpassend.
Shifa S. 143.
r=
j+-*o
i ^ #
— [V^öl = oder y$ ö. Aghäny VI, 129, Z. 7 v. u.
— ^.v—mo, der Mann, welcher die Palme durch
Uebertragung des Bltithenstaubes der männlichen
auf die weibliche Blüthe befruchtet. Ash'är, fol. 192.
In einer Handschrift der Wiener Hofbibliothek (Flü
gel: Katalog Nr. 241, fol. 173) findet sich aber hie-
für und wird das Wort erklärt als: ausge
trocknetes Holz. Das Wort kommt in einem Gedichte
des ’Omajjah Ibn Abylsalt, vor, von dem ich ein
Bruchstück bekannt machte in der Abhandlung:
Ueber die Gedichte des Labyd (Sitzungsberichte
der Wiener Akademie, Bd. XCVIII, S. 576).
^ G ^
— xäo, das Normalgewicht. Ibn Mamäty S. 41,
42: jlö) ^Ijd! J,l Lsßj.^A=»t xJ v^o.üj
I x^lxs! Lo U^xCj (^LuGI
270
Kr ein er. Beiträge zur arabischen Lexikographie.
vom Weine gesagt: roth; in einem Ge
dichte des Ibn Mokbil:
(j;—* 0^5 Ä f T 3 L 4*; £7 X *
Ash'ar, fol. 118 a . Bei Mas'udy VIII. 328 wird es in
der Bedeutung: kalt, frostig gebraucht.
chäry 2202 (Kitab almaghäzy 45). — ->y—«a, ein
dichtes Palmengehölze (so nach Abu Hatim), nicht
blos: junge Palmen. Der Plural lautet Tan-
byh, fol. 16 1 *. Vgl. Aghany XIII, 123, Z. 1 v. u. —
^1yo-i der Matrose, der Schiffer, in einem alten von
Makryzy II, 121, Z. 14 v. u. angeführten Verse. Es
ist wohl zu lesen.
Piano. Aghany V, 98, Z. 15; 102, Z. 9 v. u.
oyo — XjjJLo, Apothekergeschilft. Fihrist S. 317, Z. 11.
oLyö — pl. die Sommersaaten. Ibn Ma-
maty S. 48, 52.
Anmerkung. Alle jene Wörter, bei welchen die Quelle
nicht angegeben ist, sind aus dem Volksmunde aufgezeichnet.
Zu S. 187 u. 199 muss ich einen Schreibfehler berichtigen: es ist
ü+flsLtb zu verbessern in itffil+jü. Mit «ialia-». S. 228 ist zu ver
gleichen von nach Dozy. Von Nachträgen habe
ich nur zwei beizufügen: im ägyptischen Dialekt in
derselben Bedeutung, die Freytag zu gibt. — der
Bajazzo, Spassmacher, ähnlich dem als ^.jl bei den Hoch
zeitsfesten in Kairo auftretenden Komiker.
Hirschfeld. Gallische Studien.
271
Gallische Studien.
Von
Dr. Otto Hirschfeld,
correspondirendein Mitgliede der kais. Akademie der Wissenschaften.
Die Bearbeitung der lateinischen Inschriften von Gallien
hat mir Veranlassung geboten, verschiedene historische und
epigraphische Fragen zu untersuchen, die innerhalb der engen
Grenzen des Corpus Inscriptionum nur andeutungsweise berührt
werden können. Es schien daher angemessen, einige wichtigere
Punkte in einer Reihe von Aufsätzen einem weiteren Leserkreise,
als ihn die Folianten des grossen Inschriftenwerkes beanspruchen
können, an dieser Stelle vorzulegen. Dass diese Ausführungen
vorläufig einer systematischen Anordnung entbehren, ist durch
die Natur des Materials bedingt; vielleicht wird mir nach Ab
schluss der Inschriftenarbeit vergönnt sein, die anscheinend
nicht in engem Zusammenhänge stehenden Einzelforschungen
zu einem organischen Ganzen zu verbinden. — Da der Ab
schluss des zwölften Bandes des Corpus, welcher die Inschriften
der narbonensischen Provinz umfassen wird, in nächster Zeit
noch nicht erfolgen dürfte, werde ich bei Anführung der In
schriften neben der Nummer des Corpus noch eine und die
andere zugängliche Publication citiren; von einer Vollständigkeit
der bibliographischen Angaben, so leicht dieselbe sich bewerk
stelligen liesse, ist hier selbstverständlich Abstand genommen
worden.
I. Die Civitates Foederatae im narbonensischen Gallien.
Mit der Eroberung Gallien’s ist von Julius Caesar der
erste und entscheidende Schritt gethan worden, die Besitzer
greifung des Westens durch die Römer aus der engen Begrenzt-
272
H irschfei d.
heit einer rein militärischen Occupation, wie sie bis dahin in
Spanien und dem südlichen Frankreich angestrebt war, zu einer
Herrschaft des römischen Geistes und Wesens über die von
civilisatorischen Einflüssen noch wenig berührten Barbarenländer
umzugestalten und zu veredeln. Die Romanisirung des westlichen
Europa hat dem hohen Geiste Caesars als grosse dem römischen
Volke vom Schicksal beschiedene Aufgabe nicht etwa nur- in
unbestimmten Umrissen vorgeschwebt, sondern ist von ihm mit
kraftvoller und sicherer Hand energisch in Angriff genommen
worden. Der Mann, der die Worte niederschrieb, ,Cicero habe
einen um so viel schöneren Lorbeer, als ihn alle Triumphe
gewähren könnten, errungen, um wie viel grösser das Verdienst
sei, die Grenzen des Geistes, als die des Reiches erweitert
zu haben/ hat sicherlich auch seine Siege nur als Mittel zu
dem hohen Ziele angesehen, die durch die Waffen eroberte
Welt durch römische Cultur zu einem einheitlichen Ganzen zu
verschmelzen. Es war ihm vom Schicksal nicht beschieden,
dies Werk in dem Lande, das er selbst dem römischen Reiche
gewonnen hatte, zu beginnen; nur in dem Süden Galliens ist
ihm zu zeigen vergönnt gewesen, in welchem Sinne und mit
welchen Mitteln er an die Durchführung dieser Aufgabe zu
gehen gedachte, und es ist ihm in unglaublich kurzer Zeit ge
lungen, diesem reichen und schönen Lande unauslöschlich den
römischen Stempel aufzudrücken. Durch die Gründung zahl
reicher Colonien an der Küste des Meeres und an den Ufern
der Rhone ist Südfrankreich römisch geworden, während es bis
auf diese Zeit theils griechisch, theils keltisch war, denn die
einzige Colonie Narbo — Aquae Sextiae hatte wohl aus Rück
sicht auf das benachbarte Massalia noch nicht Stadtrecht er
halten — hat, so weit wir sehen können, auf die Romanisirung
selbst des westlichen Theils der Provinz nicht den mindesten
Einfluss geübt oder auch nur angestrebt. 1 Es musste zuvor
1 Dass zahlreiche römische Kaufleute sich schon vor Caesar in der Provinz
Geschäfte halber auf hielten, wie aus den bekannten Worten Cicero’s
(pro Fonteio §. 11—12): referta Gallia neyotiatorum est, plena civium Roma
norum; nemo Gallorum'sine cive Romano quiequam negotii gerit; nummus in
Gallia nullus sine civium Romanorum tabulis commovetur ersichtlich ist,
spricht natürlich nicht dagegen, denn bekanntlich sind römische Kaufleute
auch im mittleren Gallien bereits während der Feldzüge Caesar’s massen-
Gallische Studien.
273
das Emporium griechischen Handels und griechischer Cultur:
das mächtige Massalia niedergeworfen werden, ehe Rom hier
seine civilisatorische Mission beginnen konnte. Die Eroberung
Massalias durch Caesar bildet den Wendepunkt der römischen
Politik im Süden von Gallien:'ein Blick auf die Vorgeschichte
dieser Stadt, die eine so bedeutungsvolle Rolle in der Ge
schichte der Civilisation zu spielen berufen gewesen ist, wird
den Abstand zwischen dem machtvollen alten Massalia und
dem Schattenbilde, das seinen Namen in der Kaiserzeit trägt,
darzuthun geeignet sein.
Die Gründung Massalias 1 fällt in das Jahr 600 vor
unserer Zeitrechnung: Seefahrer aus dem ionischen Phokaea
waren es, die an dieser für eine Handelsstation unvergleichlich
günstigen Stelle 2 im Gebiete der ligurischen Salyer dem Grie
chenthum die erste Stätte bereiteten. Einen Zuwachs erhielt die
junge Colonie etwa sechzig Jahre nach ihrer Gründung durch
flüchtige Landsleute, die nach Eroberung ihrer Vaterstadt
durch Harpagos den heimatlichen Boden verliessen, um sich
neue Wohnsitze im Westen zu suchen. 3 Die Fehden, in welche
liaft vorhanden gewesen und daher regelmässig zuerst der Wuth der Gallier
zum Opfer gefallen, so in Cenabum (b. G. VII, 3, 1), in Cabillonum
(VII, 42, ö), in Noviodunum (VII, 55, 5). Dagegen geht aus Cicero’s
Worten (a. a. 0. §. 12) über die genera hominum et civilatum, welche
siimmtlich den Römern offen feindlich seien, klar hervor, dass abgesehen
von der Colonie Narbo (colonia nostrorum civium, specula populi Romani
ac propugnaculum istis ipsis nationibns oppositum et obiec-
tum) und Massalia die Römer keine moralischen Eroberungen in der
Provinz gemacht hatten.
’ Die Geschichte Massalia’s ist vielfach behandelt worden, allerdings wesent
lich mit Rücksicht auf die ältere Zeit; vgl. die Literatur bei IC. Fr.
Hermann, Griechische Staatsaltertlnimer, fünfte Aufl., §. 78 Anm. 28.
2 Vgl. Kiepert, Alte Geographie §. 436: ,Massalia umfasste ein von Höhen
eingeschlossenes sicheres Hafenbecken, hinreichend entfernt von den
Mündungen des Rhodanus, um der Alluvion des Flusses nicht ansgesetzt
zu sein, nahe genug, um sich den ausgezeichneten Handelsweg nach
dem Norden, welchen der Fluss darbietet, zu sichern.“ Ueber die Lage
der alten Stadt vgl. de Villeneuve, Statist,ique du diparlement des Bouches-
du-Rhbne II S. 200.
3 Die Gründung der Stadt wird bekanntlich von mehreren Schriftstellern
erst in die Zeit nach der Einnahme Phokaeas gesetzt; wir folgen mit
den meisten Neueren den Angaben des Aristoteles (bei Harpocration
s. v. M«ooaX(a) und des Timaeus (I p. 201 Fragm. 40 Müller).
Sitznngsbor. d. phil.-hist. CI. CHI. Bd. I. Hft. 18
274
Hirschfeld,
die Stadt mit den umwohnenden Barbarenstämmen nothwendig
verwickelt werden musste, vermochten nicht ihr rasches Auf
blühen zu hindern und als sie dann später den unvermeidlichen
Kampf mit den an der spanischen und gallischen 1 Küste sess
haften Karthagern zu bestehen hatte, zeigte sie sich dem mäch
tigen Nebenbuhler nicht allein gewachsen, sondern ging siegreich
aus dem gefährlichen Kampfe hervor. 2 \ erbindungen mit den
Iberern, die wahrscheinlich mit Massalia gegen den gemein
samen Feind gekämpft hatten, wurden angeknüpft; aber auch
nach Süden hin finden wir die Stadt im vierten Jahrhundert
bereits in reger Wechselbeziehung. Denn so wenig auch
die Angabe des Galliers Pompeius Trogus 3 Glauben verdient,
dass die Freundschaft mit Rom schon unter Tarquinius Priscus
von den auf der Fahrt nach Gallien begriffenen Phokaeern
geschlossen worden sei, so spricht doch die unverdächtige
Nachricht Diodor’s, 4 es sei im Jahre 358 d. St. nach der
Einnahme von Yeji das von den Römern nach Delphi gesandte
Weihgeschenk in dem Schatzhause der Massalioten niedergelegt
worden, für freundschaftliche Beziehungen zwischen beiden
Städten. Wenige Jahre später ward Rom ein Opfer der galli
schen Horden: wohl mochten mit Theilnahme und nicht ohne
Sorge die Massalioten von dem gallischen Brande hören, viel
leicht selbst durch materielle Unterstützung ihr Mitgefühl be-
thätigen, 5 und es mag seit jener Zeit sich ein näheres Ver-
1 Ueber die phönikischen Niederlassungen an der Südküste Galliens vgl.
Desjardins, Geographie de Ja Gaide II p. 131 ff. Auch der Name Massa
lia wird in neuerer Zeit als phönikisch erklärt, vgl. Schroeder, Die
phönikische Sprache (Halle 1869) S. 241: ,Der Name MaaaaXta ist offenbar
nicht griechischen, sondern phönizischen Ursprunges und bedeutet Woh
nung, Niederlassung 4 , und Kiepert, Alte Geographie §. 436, n. 2-, andere
Ableitungen bei Dederich Rhein. Museum für Philol. 4, 1836, S. 104.
2 Justinus 1. 43 c. 5: Cavthaginiensium quoque exercitus, cum bellum captis
piscatorum navibus ortum esset, saepe fuderunt pacemque victis dederunt;
cum Hispanis amicitiam iunxerunt. Vgl. Müllenhoff, Deutsche Alterthums
kunde I S. 179 ff.
3 Justinus 1. 43, c. 3.
4 Diodor 1. 14, c. 93.
5 Justinus 1. 43 c. 5: Massüiensium legati . . . audiverant urbem Roman am a
Gallis captam. incensamque. Qua re domi nuntiata (so lesen nach freund
licher Mittheilung Rühl’s die Transalpinen Handschriften, quam rem domi
nuntiatam die Italischen) publico funere (der Gebrauch von funns für
Gallische Studien.
275
hältniss zu Rom gebildet haben, möglicherweise sogar damals
bereits ein Btlndniss abgeschlossen sein. 1 Jedesfalls linden wir
bei Ausbruch des hannibalischen Krieges die Massalioten als
Bundesgenossen 9 auf Seiten der Römer und treu haben sie in
jenem wechselvollen Kampfe, wie auch in den folgenden Zeiten 3
zu ihnen gestanden. Wenn Hannibal den tollkühnen und für ihn
selbst im Gelingen fast verhängnissvollen Zug über die Alpen
wagte, anstatt längs der leicht zu passirenden Küste in Italien
einzufallen, so bewog ihn dazu in erster Linie wohl die Erwägung,
dass der Marsch auf einem von massaliotischen Colonien bedeck
ten Gebiete dem römischen Heere entgegen, mit der mäch
tigen Stadt im Rücken, ein noch grösseres Wagniss sein würde. 4
Hing doch an der Entscheidung dieses Kampfes auch die Zu
kunft Massalias, ja des ganzen Westens; blieb Hannibal in
Italien Sieger, so war auch Gallien den Karthagern rettungslos
luctvs ist meines Wissens unerhört, vielleicht ist zu schreiben mutiere eam,
niimlich urhem. Romanam; übrigens liest, wie mir soeben Professor Rülil
mittheilt, der den übrigen Classen selbständig gegenüberstehende Codex
Casinas pnblico munere) Massilienses prosecuti sunt aurumque et argen-
tum publicum privatumgue confulerunt ad explendum pondus Gallis, a guibus
redemptam pacem cognoverant. Auf diese Nachricht ist freilich nicht viel
zu geben, denn es ist nicht unwahrscheinlich, dass Trogus durch starke
Hervorhebung der alten und in schweren Zeiten bewährten Freundschaft
Massalia’s zu Gunsten der zu seiner Zeit so schwer getroffenen Stadt
Stimmung zu machen suchte.
1 Auch auf diese Angabe des Trogus bei Justinus a. a. O.: oh guod me-
ritum et immunitas illis decreta et locus spectaculoru.nl in senatu datus et
foedus aequo iure percussum ist wenig Gewicht zu legen; jedoch nimmt
auch Mommsen (R. G. I 6 S. 416 und S. 452) an, dass die Graecostasis
in Rom im vierten Jahrhundert zunächst für die Massalioten errichtet
worden sei. Vgl. Strabo IV, 1, 5 p. 180: (ot JlaaaakitoTat) Trpo'-npov piv
ouv eOtuyow oiayspövrws, xspl re raXXa xai r.ep\ tt|v jrpo; 'Piop.a!ou; ipiXi’av,
ü! noXXa av ti? Xaßoi ar)p.£ia. xai ot) xai ro gbavov rij? ’Aprf^ioo; rrfs ev xü>
’AßEvrüo ot 'Piopaioi Trjv aurrjv SiaÜEoiv Evov tö napa rot? MaaaaXitnrai;
ävE'OEoav, und dazu Herzog, Gail. Narhon. p. 38 f.
2 Livius XXI, 20, 7—8: nec hospitale quicqnam pacatumve satis prius auditum
quam Massiliam venere; ihi omnia ab sociis inquisita cum cura acfiele cognita.
3 Polybius III, 95, 7: EÜyEvSs yäp, ei xai tive; ETEpoi, xsxotvtovijxaai 'Pcop-aioi;
~pay|i-dt(j)v xai [MaaaaAiäkai, TtoXXäxi; V.GV xai u-Eiä xaura, paXiara oi xata
rov ’Avvißaixöv xbXqj.ov.
4 Anders Mommsen (R. G. 1° S. 579): ,abgesehen von dem Küstenweg,
den Hannibal nicht einschlug, nicht weil die Römer ihn sperrten,
sondern weil er ihn von seinem Ziele abgeführt haben würde. 1
18*
276
Hirschfel d.
ausgeliefert. Nach der Niederwerfung des furchtbaren Feindes
hatte Massalia hier keinen Nebenbuhler mehr zu fürchten; es
stand auf dem Höhepunkte seiner Entwicklung. 1 Seine Handels-
Stationen zogen sich längs der Meeresküste von Monoecus (Mo
naco) bis nachEmporiae (Ampurias) in Spanien, am linken Rhone
ufer bis Avennio (Avignon) hin; 2 der gesammte Handel nach
dem Norden lag in seinen Händen; 3 massaliotische Münzen
fanden ihren Weg weit über die Grenzen Galliens hinaus. 4
Griechische Sprache und griechische Schrift waren nicht allein
in dem von seinen Ansiedelungen besetzten Gebiete heimisch, 0
sondern auch die Kelten fingen allmälig an, sich des griechi
schen Alphabets für ihre sparsamen' Aufzeichnungen zu be
dienen, 6 und wohl darf man für die spätere Zeit bis zu einem
1 Ich kann daher den Worten Müllenhoff’s (Deutsche Alterthumskunde I,
S. 178): ,offenbar fällt die höchste Blüthe von Massilia in das vierte Jahr
hundert 1 nicht zustimmen, denn wenn auch bereits zur Zeit des kühnen
massaliotischen Seefahrers Pytheas das Ansehen und die Macht der Stadt
bedeutend gewesen sein muss, so hat doch sicherlich erst die Verdrängung
der Karthager aus Spanien den Handel Massalia’s zu voller Blüthe gebracht.
2 Vgl. die Zusammenstellung derselben bei Desjardins, Geographie II S. 185 ff.
und die Karte zu S. 224, auf der die massaliotischen Orte mit rother
Farbe bezeichnet sind.
3 Ueber den Transport des Zinns von Britannien durch Gallien nach
Massalia vgl. Diodor V, 38, 5; Thierry, Hisloire des Gaulois I, S. 542;
Friedländer, Deutsche Rundschau 1877, S. 399.
4 Ueber die Funde massaliotischer oder nach massaliotischem Muster ge
prägter Münzen in Oberitalien, Tirol und dem Alpengebiet vgl. Momm-
sen, Römisches Münzwesen S. 397.
5 Ueber den Namen Gretia auf der Peutinger’schen Tafel vgl. Desjardins,
Table de Peutinger, Gaule (Paris 1869), introduction p. XXIX, und Geo
graphie H p. 146.
6 Bezeugt wird dies von Caesar b. G. I, 29: in caslrts Helvetiorum tabulae
repertae sunt lilteris Graecis (aber gewiss in keltischer Sprache) confectae,
und VI, 14 : (Druides) cum in reliquis fere rebus, publicis privatisque rationi-
bus Graecis litteris utantur; Strabo IV, 1, 5 p. 181: ctXi$ (MaocjaX(a) . . .
^iXAXrjva; zaxEazEÜai(s xou; TaXcixa;, wijxe xal xä <TU|i.ßöXa’.a 'ÜXXrjvioxi ypä^Eiv.
Vgl. auch die Bronzehand unbekannten Fundortes, die sich jetzt im Pariser
Cabinet de mddailles n. 3884 befindet (C. I. Gr. n. 6778 = Herzog n. 616)
mit der Aufschrift: STMBoAoN | IIPoS | OTEAATlMoTS. Im Norden Galliens
scheint dagegen noch zu Caesar’s Zeit die griechische Sprache und Schrift
unbekannt gewesen zu sein, da er an den im Lande der Nervier ein
geschlossenen Q. Cicero einen Brief sendet: Graecis conscriptam litteris, ne
intercepta epistula nostra ab hostibus consilia cognoscantur (b. G. V, 48).
Gallische Studien.
277
gewissen Grade die Worte des Trogus 1 gelten lassen: ,ab bis
igitur Galli et usum vitae cultioris deposita ac mansuefacta bar-
baria et agrorum cultus et urbes vioenibus cingere didicerunt.
Tune et legibus, non armis vivere, tune et vitem putare, tune oli-
vam serere consuerunt, adeoque magnus et hominibus et rebus
impositus est nitor, ut non Graecia in Galliam emigrasse, sed
Gallia in Graeciam translata videretur
Das Verhältniss Massalia’s zu Rom hatte sich nach dem
hannibalischen Kriege noch inniger gestaltet. Der Gedanke,
dass die Römer, die im Osten immer grossartigere Erfolge er
rangen, über Spanien hinaus ihren Blick auf Gallien werfen
könnten, scheint den leichtblütigen, vor Allem auf Handels
gewinn und Lebensgenuss bedachten Massalioten wenig Sorge
gemacht zu haben. Man fing an die eigene Wehrkraft zu
vernachlässigen und verliess sich auf den starken Arm des
mächtigen Freundes; man war sogar unbesonnen genug, die
Römer selbst ins Land zu rufen, um sich der unbequemen
Angriffe der benachbarten Barbaren, die bereits die massalioti-
schen Orte Nicaea und Antipolis einzunehmen drohten, zu
erwehren. Wie aus diesen Römerzügen nach Gallien sich bald
genug der blutige Kampf entwickelte, in dem die überlegene
Kraft der Legionen über die mächtigen Stämme der Allobroger
und Arverner triumphirte, wie Rom dann von dem reichen
Lande selbst Besitz ergriff, Aquae Sextiae im Osten in un
mittelbarer Nähe von Massalia gründete und nahe der spani
schen Grenze die feste Colonie Narbo und Tolosa zu Stütz
punkten der neuen römischen Provinz machte, durch Anlage
der via Domitia die Communication mit Spanien sofort gesichert
ward, ist sattsam bekannt; der dominirenden Stellung Massalias
war in der That damit bereits ein Ende gemacht, wenn auch
Rom vorläufig die alte Bundesstadt nicht nur schonte, sondern
Es ist eine bemerkenswerthe und von Villefosse (an dem unten citirten
Orte) hervorgehobene Thatsache, dass die erhaltenen keltischen In
schriften im Süden von Frankreich in griechischer, in Mittel- und Nord
frankreich in lateinischer Schrift eingehauen sind; vgl. die Zusammen
stellung, die übrigens bereits aus neuen Funden vermehrt werden kann,
bei H4ron de Villefosse, Inscriptions de St-Remy et des Baux (Separat
abdruck aus dem Bulletin monumental 1878 und 1879) S. 24ff.; Serrure
itudes Grauloises, premiere partie, Bruxelles 1883.
1 Justinus 1. 43 c. 4.
278
Hirschfeld.
sogar ihr Gebiet ans Erkenntlichkeit für alte und neue Dienste
vergrösserte. 1 Doch die Tage ihrer Herrlichkeit waren gezählt:
in dem Kampfe zwischen Caesar und Pompeius, der über das
Schicksal der Welt entschied, ward auch der Massalioten Ge
schick besiegelt. Wohl mochten sie, die beiden Männern zu
Dank verpflichtet waren, die Neutralität zu wahren wünschen:
aber sei es, dass sie, wie Caesar es darstellen will, während
der Verhandlungen den Pompejaner Domitius in die Stadt
einliessen, oder dass Caesar selbst, der sich mit einer Neutra
litätserklärung nicht zufrieden geben wollte, sie zu offener
Parteinahme für den Feind zwang, 2 sie wurden in den Wirbel
des Kampfes hineingezogen und nach langer und heldenmiithiger
Vertheidigung mussten sie sich dem aus Spanien zurückkeh
renden Sieger auf Gnade und Ungnade ergeben. Caesar gab
zwar die Stadt nicht der Kache und der Raubgier seiner Sol
daten preis, 3 aber ihre Waffen, ihre Schiffe, 4 ihren Schatz Hess
1 So haben sie bereits von Sextius Calvinus den westlichen von den
Saly ern bewohnten Küstenstrich erhalten (Strabo IV, 1, 5 p. 180);
Marius überliess ihnen den Hafenzoll aus den von ihm von den Rhoue-
mündungen zum Meere gegrabenen Canal, den sogenannten fossae Maria-
nae (Strabo IV, 1, 8 p. 183); schliesslich haben dann Pompeius und Caesar
ihnen Theile des Gebietes der Salyer, der Volcae Arecomici und der
Hel vier geschenkt: Caesar, b. c. I, 35 mit Anmerkung Nipperdey’s.
2 Vgl. Florus II, 13, 23: misera dum cupit pacem, belli metu in bellum in-
cidit. Die Darstellung Caesar’s über das Verhalten Massalia’s (b. c. I,
35—36) ist, wie die ganze Schrift über den Bürgerkrieg, mit Vorsicht,
aufzunehmen; Dio 41, 19, dem hier wohl Livius als Quelle gedient hat,
weiss weder von der Aufnahme des Domitius in die Stadt während der
Verhandlungen, noch von dem schmählichen Ausfall der Massalioten
während des Waffenstillstandes (Caesar, b. c. II, 14) zu berichten, sondern
behauptet vielmehr, dass die Römer die Angreifer gewesen seien (1. 41
c. 25): to'v te AouItiov tmE^feEp^av, z.ai roh? arparuor«? röiOspEVOu? atploiv
sv rat? cmovSaT? vuzro? oürto oiE'Osaav wote |j.7]8ev ro),[j.^aa:. Offenbar
ist Caesar’s Bestreben darauf gerichtet, die harte und in Rom viel
fach gemissbilligte Bestrafung der Massalioten durch ihren Treubruch zu
moti viren.
3 Er sagt kurz (b. c. II, 22, 6): magis eos pro nomine et velustate quam
pro meritis in se civitatis conservans; dass er zuerst der Stadt mit Plünde
rung gedroht hatte, scheint aus Cic.ero’s Worten (Philipp. 8, 6, 19) her
vorzugehen: Caesar ipse, qui illis fuerat iratissimus, tarnen propter singu
lärem eius civitatis gravitatem et fidem cotidie aliquid iracvndiae remittebat.
4 Ueber die Roste zweier im Jahre 1864 in der Nähe der Kirche Saint-
Ferreol gefundenen Galeeren (eine befindet sich im Museum von Marseille)
Gallische Studien.
279
er sich sofort ausliefern; fast das gesammte massaliotische Ge
biet ward confiscirt, um mit ihm die römischen und latinischen
Colonien, die dem Uictator ihre Entstehung verdanken: Forum
Julii, Arelate, Baeterrae, Antipolis, Glanum, Avennio, Cabellio,
Nemausus(?), auszustatten; 1 auch das Münzrecht ist vielleicht
damals bereits der Stadt entzogen worden 2 und das Bild Massa-
lia’s prangte zum Schmerze Cicero’s und seiner Gesinnungs
genossen 3 in Caesar’s Triumphzug. Mit einem Schlage war
an Stelle der griechischen Oberhoheit im südlichen Gallien
die römische Herrschaft getreten, und wenn man sich auch
unmittelbar nach dem Tode des Dictators in römischen Aristo
kratenkreisen mit dem Gedanken getragen hat, der befreundeten
Stadt das Geraubte wiederzugeben, 4 so hat doch Augustus, wie
seine Nachfolger, auch in dieser Hinsicht die von Caesar vor
gezeichnete Bahn nicht verlassen. Nur der kleine östliche
Küstenstrich bis Athenopolis nebst den davorliegenden Stoe-
chadischen Inseln 5 (lies d’ Hy eres) blieb Massalia erhalten, dazu
das Gebiet von Nicaca jenseits des Varus- Flusses, das noch im
vgl. Penon et Saurel, Le musie d*archeologie de Marseille (Marseille 1876)
S. 31 und S.41 n. 6: ,des medailles anterieures, contemporaines ou peu poste-
rieures (?) a Jules Cesar, etaient arretees et comme incrustdes dans le bois. 1
1 Vielleicht ist die Einziehung des Landes erst einige Jahre später, als
der Vater des Kaisers Tiberius im Aufträge Caesar’s die Coloniegründungen
in Gallia Narbonensis vollzog (Sueton. Tiber, c. 4), durchgeführt worden;
darauf scheint auch Dio (41, 25) hinzudeuten: /.ai 85 ixelvtov tote p.'sv t<x
te OTcXa xai Ta; vau; x<x te ^p7](j.axa acpE^Xsxo. uaxspov o£ xal xa Xotrca Tzavxa.
2 Dies nimmt Mommsen Röm. Münz wesen S. 675, an, während de la Saus-
saye, Numismatique de la Gaule Narbonnaise S. 78ff., der Meinung ist
(S. 81): ,que le monnayage, quoique fort vestreint, subsista jusqu' aux temps
de la decadence complete des arts‘, vgl. auch Lenormant, La monnaie dans
l'antiquiU II S. 191: ,la ville libre et autonome de Massalie . . continue
jusque dans le II e siecle la fabrication de ses petits quadrans
3 Cicero, de offic. II, 8, 28, Philipp. VIII, 6, 18.
1 Das wirft Antonius (Cicero, Philipp. 13, 15, 32) der Senatspartei vor:
Massiliensibus iure belli adempta reddituros vos pollicemini, vgl. auch
Cicero, ad Attic. XIV, 14, 6 (Ende April 710 geschrieben): tu autem quasi
iam recuperata republica vicinis tuis Massiliensibus sua reddis; ha ec
annis, quae quam firma habeamus ignoro, restitui fortasse possunt, auctori-
tate non possunt.
5 Plinius, n. h. 3, 35: in ora autem Athenopolis Massiliensium (am Golfe
de St-Tropez, vgl. Desjardins, Geographie II p. 174) und Tacitus, hist. 3,
43: Stoechadas Massiliensium insulas.
280
Hi r schfeld.
zweiten Jahrhundert der Kaiserzeit als massaliotische Enclave
von einheimischen Beamten verwaltet worden ist, während da
gegen Antipolis bereits ausserhalb ihres Gebietes lag 1 und in
dem Hafen von Forum Julii eine römische Flottille ankerte.
Auch sein Handel erlitt einen starken Stoss nicht allein durch
die Concurrenz von Arelate und Narbo, das bereits in der
Zeit des Augustus den Höhepunkt seiner Entwicklung erreicht
zu haben scheint, 2 sondern mehr noch durch die beispiellos
rasche Bliithe der neuen Hauptstadt Galliens Lugudunum, das
bald nach seiner Gründung den Handel nach dem Norden an
sich gerissen haben dürfte. 3
Aber auch nach seiner politischen und commerciellen
Depossedirung hat Massalia sich eine Sonderstellung bewahrt
1 Strabo IV, 1, 9, p. 184: rj Ntxata ttj; ’HocXta; ytvsTai xaxoc tov vüv oaioos-
8Eiy(j.£vov opov xocOtsp ouaa MaaaaXuoTtov . . . vuv( 8s Toaoüxov ::poa0ET^ov
oit T7)s p.kv ’AvtitcoXsco; sv to?; T7j; NapßwvfriBo; jjfipeat xetpivrj;, ttj; 8s
Ntxata; sv to?; T7j; TnxXta;, 7j p.sv Nlxata utio toi; MaaaaXuoxat; pivst xat
T7j; izixpylaq (vTzapyJoo; die Handschriften) sarta, rj 8’ ’AvxtaoXt; tüjv ’lTaXuo-
Tt8tov s^sTa^sTatj xptOstaa 7zpo<; tou; MaaaaXtooTa; (man erwartet etwa ixno-
xpiOstua töjv MacaaXiajTäiv) xat iXsuOspaiOsiara t<Sv Kap' exstatov rpoaTay[J.aTtov.
Dementsprechend findet sich ein massaliotischer Beamter als episcopus
Nicaensium in der S. 284 besprochenen Inschrift: C. J. L. V n. 7914,
der freilich im dritten Jahrhundert durch einen kaiserlichen proc(urator)
Aug(ustorum) n(ostrorum), item ducenarius episcepseos chorae iuferioris (C. J.
L. V n. 7870, vgl. Mommsen ebendas, p. 916) ersetzt worden ist. Dass
noch im Beginn des dritten Jahrhunderts dieser Besitz den Massalioten
geblieben war, bezeugt die in Vence auf zwei zusammengehörigen Säulen
gefundene Inschrift (C. J. L. XII n. 7 = Herzog n. 610): [res publica?]
Massüiensium curante ac dedicante JuX(io) Honorato proc(uratore) Aug(usti)
ex p(rimi)p(ilo) praesid(e) Alp(ium) Maritimarum; derselbe Mann kehrt
wieder auf zwei im Jahre 213 von Caracalla gesetzten und in der Nähe von
Vence gefundenen Meilensteinen (Blanc, Epigvaphie antique du departe-
ment des Alpes maritimes I n. 62 und 63), in denen einer Restitution der
Brücken und Strassen durch den damals übrigens gerade in Gallien be
findlichen Kaiser gedacht wird, und es ist denkbar, dass aus diesem
Anlass von Massalia, das vielleicht für die Erhaltung derselben mitzu
sorgen verpflichtet war, das oben erwähnte Monument errichtet worden ist.
2 Das bezeugen die wahrhaft monumentalen Inschriften, die grösstentheils
dem ersten Beginne der Kaiserzeit angehören.
3 Schon Strabo (IV, 3, 2 p. 192) sagt von Lugudunum: suav8ps? 8s p.aXiaTa
töjv aXXiov 7:X^v Napßcovo; - xat yap ep-Kopio) ypamat. Ueber die Bedeutung
von Narbo als Handelsplatz vgl. auch Strabo IV, 1, 12 p. 186; Fried
länder, Deutsche Rundschau 1877, S. 402.
Gallische Studien.
281
und es ist nicht ohne Interesse, die ferneren Geschicke der
Griechenstadt in der römischen Provinz zu verfolgen.
Der Ehrenname einer ,freien und verbündeten' Stadt nebst
der Unabhängigkeit von dem römischen Statthalter 1 und dem
Exilrecht 2 ist Massalia dauernd belassen worden, und seihst
die wahrscheinlich hei und nach der caesarischen Belagerung
zerstörten Mauern sind unter der Regierung des griechenfreund
lichen Kaisers Nero von einem reichen und patriotischen Mit-
1 Florus II, 13: mox dedentibus se omnia ablata praeter quam potiorem
omnibus habebant libertatem. Dio 41, 25: dtpelXezo ... za Xoirca 7:avxa,
7:Xt)v xou TTjs eXeudepla; ovo'p.axo5. Orosius VI, 15: Caesar Massiliam re-
diens, obsidione domitam, vita tantum et libertate concessa, ceteris rebus
abrasit. Für den Beginn der Kaiserzeit wird diese auf Livius zurück
gehende Angabe bestätigt von Strabo, IV 1, 5 p. 181: xai 6 Kaiaap oe
xai ol jj.ex' exeivov ^ye(j.ov£; rpo; xa; iv xd> 7toX^[iü) yEVrjOEi'cjai; ap.apx(a<;
Ejj.Expfaaav, p.E[xvr)p.£voi x% <piX{a$ xat X7jv auxovopdav EtpuXaS-av, ijv ££ ap^rj;
filyEv fi 710X15, toaxE {j-7j u7:axou£iv xwv £?; X7jv ircapylav 7X£[J.7rouivtov oxpax^ytuv
pjxs aüx7jv {J-T^XE xot>5 ut^jxo'ou?, und Plinius, n. h. 3, 34: in ora Massilia
Graecorum Phocaeensium foederata.
2 Dass Massalia dies Recht vor Caesar besessen hat, ist selbstverständlich
und durch den bekannten Fall des Milo überdies bezeugt. Aber noch
zum J. 58 n. Chr. berichtet Tacitus, arm. 13, 47: Cornelius Sulla . . .
proinde, quasi convictus esset, cedere patria et Massiliensium moenibus
coerceri iubetur. In eine etwas frühere Zeit (25 n. Chr.) gehört die
Nachricht des Tacitus, ann. 4, 43 : tractatae Massiliensium preces, pro-
batumque P. Rutilii exemplum. Namque eum legibus piäsum civem sibi
Zmyrnaei addiderant. Quo iure Volcacius Moschus exul in Massilienses
receptus bona sua rei publicae eorum ut patriae reliquerat. Es ist dies
übrigens, beiläufig bemerkt, unzweifelhaft der zu August’s Zeit be
rühmte Rhetor aus Pergamum, dessen Process Horaz {epp. I, 5, 9, vgl.
Porphyr, z. d. St.) erwähnt und der nach seiner Verurtheilung seine
Lehrtätigkeit in Massalia fortsetzte, vgl. Seneca controv. 11,5, 13: novi
declamatores post Moschum Apollodor eum, qui reus veneßcii fuit et a Pol-
lione Asinio defensus, damnatus Massiliae docuit; aber auch der angeb
liche Rhetor Oscus in Massalia bei Seneca, controv. X praef., §. 10 und
VII, 3, 8 (in der letzteren Stelle lesen alle Handschriften noscum), ist
allem Anscheine nach mit demselben identisch. — Der Kieselstein mit
der Inschrift Maaat(Xi'a) [<I>ün]x(ascov) aauX(o<;) aur(o'vop.o5), zuerst ver
öffentlicht von Caylus, recueil VI p. 130 tab. 39 n. 3, ist bereits von
Anderen (Franz zu C. J. Gr. III n. 6766; Herzog G. N. S. 163 Anm. 28),
wie auch neuerdings von dem jetzigen Besitzer Herrn Thddenat (Revue
arckiol. 40, 1880, S. 229 ff.) als unzweifelhafte Fälschung bezeichnet
worden.
282
Hirschfeld.
bürger* wieder erbaut worden. Vor Allem blieb Massalia seine
einheimische von Cicero 2 hochgepriesene aristocratische Ver
fassung, die spätestens im vierten Jahrhundert an Stelle der
ursprünglichen oligarchischen getreten war. 3 Ein wenigstens
in den Hauptzügen ausgeführtes Bild derselben verdanken wir
Strabo, 1 dessen Angaben theilweise wenigstens aus Aristoteles
geschöpft sein mögen.
1 Plinius, n. h. 29, 9: Crinas Massiliensis (medicus) . . nuper HS |cj reli-
quit, muris patriae moenibusque aliis (wohl die Hafenbefestigungen) paene
non minore summa exstructis; den Namen Kpiva? trägt übrigens ein Massa-
liote in der Inschrift bei Wescher-Foucart, Inscr. de Delphes n. 18. Noch
in dem gewöhnlich unter dem Namen des Eiunenius gehenden Pane-
gyricus auf Constantinus wird (c. 19) die starke Befestigung der Stadt
und des Hafens, wenn auch nicht ohne rhetorische Uebertreibung,
gerühmt.
2 Cicero, pro Flacco 26, 63: Massilia . . . quae tarn procul a Graecorum
omnium regionibus, disciplinis linguaque divisa, cum inultimis terris cincta
Gallorum gentibus barbariae ßuctibus adluatur, sic optimatium consilio
gubernatur, ut omnes eins instituta laudare facilius possint quam aemulari.
Vgl. de republ. I, 27, 43.
3 Aristoteles, polit. V, 6 p. 1305 b: oxav ollyo 1 . acpoöpa (batv ol ev Tai? xt[j.ai?,
otov ev MaaaaXta xai iv "Iaxpio ‘/.cd iv 'HpaxXeta . . . xai Iv0a jxkv noXixixco-
Tcpa iyivEzo f\ oXiyap^fa, iv ’laxpw 6 1 et? of)(xov a^ETeXeuirjaev, iv *Hpa/.Xe(a
6’ if iXarroviov et? ISaxoafou? ^Xöev. Wahrscheinlich ist zu Ende an
Stelle von *HpaxXe(a zu schreiben MaaaaXta und der erste Satz evÖa —
oXtyapyJa auf Heracleia zu beziehen, wenn nicht evQoc aus iv *HpaxXefa
verdorben ist; der Variante iv Kt5 für evQoc in dem Codex des Wilhelm
von Moerbeke ist gewiss keine Bedeutung beizumessen, da nach dem
Vorhergehenden die Nennung derselben drei Städte nothwendig erwartet
wird. Susemihl (ed. 1879) schreibt iv MaaaaXta an erster Stelle für
£vöa, aber einerseits passen die Worte 7coXixixu)Tipa iyivexo 7) oXtyapyta
wenig zu der nachweislich streng aristokratischen Verfassung Massalias,
andererseits wissen wir zwar von Massalia, aber nicht von Heracleia,
dass es einen Regierungsausschuss von 6Ö0 besessen habe. Wäre aber
das auch in Heracleia der Fall gewesen, so hätte Aristoteles wenigstens
beide Städte zusammen nennen müssen. — Aristoteles hatte übrigens
die Verfassung Massalia’s in seinen Politien geschildert (Athenaeus XIII,
36 p. 576; Iiarpocration s. v. MaaaaXta, vgl. die Fragmente bei Rose in
der Ausgabe der Berliner Akademie V p. 1561 n. 508). Dass Strabo in
seiner Darstellung sich hieran anlehne, ist eine wahrscheinliche Ver-
muthung von Rose, Aristoteles pseudepigraphus p. 499; doch ist dabei im
Auge zu behalten, dass diese Institutionen offenbar noch zu Strabo’s Zeit
in Kraft waren.
4 Strabo IV, 1, 5 p. 179.
Gallische Studien.
283
Der Rath der Massalioten ist aus sechshundert auf Lebens
zeit bestellten Timuchen zusammengesetzt, die mindestens im
dritten Gliede Bürger und im Besitze von Kindern sein müssen.
Als Ausführer der Rathsbeschlüsse fungirt ein Vorstand von
fünfzehn Männern, dieselben, mit denen Caesar vor Eröffnung
der Belagerung die Unterhandlungen führt, die jedoch nur die
Beschlüsse des Rathes einzuholen und auszurichten haben. 1
Aus ihnen ist dann ein engerer Ausschuss von drei Männern
mit ausgedehnter Vollmacht, von denen einer das oberste Prä
sidium führt, bestellt. Das Volk nimmt offenbar eine ganz
untergeordnete Stellung ein und scheint von jeder Mitwirkung
an der Regierung ausgeschlossen gewesen zu sein. 2 Sicherlich
ist dieses Verfassungsschema nach phokäischem oder vielleicht
allgemein ionischem Muster gestaltet, wie das von den eigen-
thümlichen Gesetzen und Vorschriften, aus denen einige inter
essante Züge ein römischer Schriftsteller mittheilt, 3 ausdrück
lich Strabo hervorhebt 1 und durch analoge Einrichtungen
anderer ionischer Städte bestätigt wird. 5 Auch auf sacralem
1 Caesar, b. c. I, 35: evocat ad se Caesar Massilia quindecim primos. Cum
his agil, ne initium inferendi belli ab Massiliensibus oriatur. . . . Cuius
oralionem legati domum referunt atque ex auctoritate haec Caesari
renuntiant. Wahrscheinlich hat auch das Recht, Todesstrafen zu ver
hängen, nur den 600 zugestanden, wenigstens deutet darauf die eigen-
thtimliche Nachricht hei Valerius Maximus (II, 6, 7), dass in ihrer
Obhut sicli Schierlingsgift befunden habe, das sie Selbstmördern, die
ihnen hinreichende Gründe zur Motivirung ihres Entschlusses angaben,
auszufolgen befugt waren.
2 Cicero, de republ. I, 27, 43: si Massilienses per delectos et principes eines
summa iustilia reguntur (vgl. §. 44 Massiliensium paucorum et principum
administrationi), inest tarnen in ea condieione popnli similitudo quaedam
seivitutis. Ein solches Eingeständniss wiegt doppelt schwer in Cicero’s
Munde.
3 Valerius Maximus II, 6, 7.
4 Strabo IV, 1, 5 p. 179: ot oi vopoi ’hovexoi.
6 Timuchen in anderen Jonischen Städten: Athenaeus IV c. 13 p. 149
(Naucratis); C. J. Gr. n. 3044 v. 29: Ttp.ouyfovrE? und n. 3059, 3060 (Teos);
n. 2162 eine Frau (Thasos). Dersolbe Name findet sich übrigens auch bei
den Messeniern: Suidas s. v. Tbilzoupo? und Tip.ouj'o;. Vgl. Brückner,
Iiistoria reipuhlicae Massiliensium S. 42 f, • Geisow Ce Massiliensium repu~
blica S. 35. — Die öjaxdoioi kehren wieder in Lampsakos (vgl. das
neuerdings gefundene Decret aus dem Jahre 196 v. Chr.: Lölling in Mit
theilungen des deutschen archäolog. Instituts in Athen 1881 S. 96);
284
Hirschfeld.
Gebiete tritt der enge Anschluss und Zusammenhang mit der
Mutterstadt noch in der Kaiserzeit deutlich zu Tage, 1 wenn
sich auch früh zu den heimischen Göttern 2 der Kaisercult und
zu den griechischen Priestern die römischen Diener des all
mächtigen und übei’all verehrten Kaisergottes gesellt haben. 3
Jedoch bereits unter Marc Aurel begegnet in Massalia ein augur
perpetuus 4 und in einer schwerlich viel späteren Inschrift,
deren Echtheit früher fälschlich in Zweifel gezogen worden
ist, treten die römischen Colonialämter: Quaestur, Duovirat
und Quinquennalität auf, 5 die ausser Zweifel stellen, dass in
nicht damit zusammenzustellen ist der Kath der 600 in Athen. Auch bei
den Nerviern werden übrigens /300 Senatoren von Caesar (6. G. II, 28)
erwähnt, vgl. Waitz, Deutsche Verfassungsgeschichte I 3 S. 225 Anm. 1.
1 Vgl. die in Phokaea gefundenen Inschriften eines Tipitcm; tj^avr^dpo; xal
Upeu; rrje MaoaaWa; xo y’ und einer Ttpuravt? OT£cpavr)cpdpo; ot; xai Upsia
1% MotaaaXla; aytovoOdri;: C. J. Gr. II, n. 3413 und 3415; letztere ist die
Tochter eines Moschus, vielleicht verwandt mit dem oben (S, 281. Anm. 2)
erwähnten. Beide Inschriften gehören wohl in die Kaiserzeit.
2 Ueber die Verehrung der Artemis Ephesia, des Apollo, der Athena und
ihre Darstellung auf massaliotischen Münzen vgl. Brückner a. a. O.
S. 47 ff., und Geisow a. a. O. S. 41 ff. In den lateinischen Inschriften
finden sich nur Apollo (auch als Belenus), Jupiter Optimus Maximus
und Dolichenus und die Mater Magna mit dem Dendrophorencolleg;
über die 0Ea Atzrua vgl. Franz zu C. J. Gr. III n. 6764.
3 Dedication an Germanicus aus dem Jahre 19, wohl unmittelbar nach
seinem Tode, von drei magiatri Larum Aug[ustorum]: XII n. 406 =
Herzog n. 607; zwei aeviri Auguatales corporati: XII n. 400 = Herzog
n. 612 und XII n. 409 = Murat. 704, 9. — Betreffs der griechischen
Priester vgl. C. J. Gr. n. 6771, wo der bpsu; AeuzoBfa; und der Tcpoyrjir);
sich auf Massalia zu beziehen scheinen. Ein prophetea scheint auch
in einer im Museum von Marseille befindlichen , stark verwitterten
lateinischen Inschrift aus der Zeit Marc Aurel’s (XII n. 410 = Herzog
n. 613) genannt zu werden; npocpfjrai in anderen griechischen Städten:
Roehl, Index zu C. J. Gr. p. 39 s. v. und Kaibel im Bullett. dell' Inatitido
archeolog. 1878, S. 36.
4 C. J. L. XII n. 410 = Herzog n. 613.
5 C. J. L. V n. 7914: O. Memmio Macrino q(uaestori), [duo] virfoj Mas-
sil(iensium), [duo] virfoj qfuinjqfuennali), item praefecto pro duoviro
qfuinjqfuennaliJ, agonothetae, episcopo Nicaensium. — Ein decurio C. J. L.
XII n. 407 == Penon, Catalogue dumusee p. 60 n. 102. Die Bemerkung von
Jung, Die romanischen Landschaften des römischen Reiches S. 211:
,Die Bedeutung der Stadt zeigt sich nicht zum wenigsten in dem Um
stande, dass die Regierung die municipale Autonomie hier, wie sonst
nur in den Hauptstädten des Reiches beschränkte und die Verwaltung
Gallische Studien.
285
jener Zeit, unter oder kurz vor Marc Aurel, die einlieimische
Verfassung durch das römische Colonialschema ersetzt worden
ist. 1 Damals mag auch Massalia, das als freie griechische
Stadt ausserhalb des Tribusverbandes stand, in die Tribus Qui-
rina, die in zwei massaliotischen Ehreninschriften dieser Zeit 2
sich findet, aufgenommen worden sein, wenn auch das Fehlen
derselben in den zahlreichen Grabschriften eher darauf hinzu
weisen scheint, dass jene Männer entweder persönlich diese
Tribus erhalten haben, oder nicht aus Massalia selbst, sondern
vielleicht aus den benachbarten, der, Quirina zugetheilten
Alpenprovinzen stammten. Aber von einer eigentlichen Ro-
manisirung der Stadt, die trotz der zahlreichen römischen,
keltischen 3 und phönikischen Elemente 4 doch durchaus ihren
griechischen Charakter zu bewahren gewusst hat, kann keines
wegs gesprochen werden, 5 und obschon die griechischen In-
durch Reichsbeamte führen liess‘, ist wohl auf eine Verwechslung mit
Lugudunum zurückzuführen.
1 Eine ganz analoge Wandlung ist jetzt für Tomi bezeugt, vgl. Tocilescu
in Archäologisch-epigraphische Mittheilungen aus Oesterreich VI, 1882,
S. IG n. 29.
2 C. J. L. XII n. 410 = Herzog n. 613: Cn. Val(erio) Cn. f. Quir(ina)
Pomp(eiof) Valeriano und C. J. Gr. III, n. 6771: T. ITopxhp Hopx(iou) Aouxt-
Xiuvou i^o^cotctTou av8pö<; xai Tcpocp^rou ulö KupeGa KopvrjXiavto. — Der zur
Tribus Voltinia gehörige L. Dudistius Novanus (XII n. 408 = Herzog
n. 609) war wohl aus Aquae Sextiae gebürtig.
3 Varro (bei Hieronymus, comvient. in epistul. ad Galatas cap. III lib. 2
und Isidorus origg. XV, 1, 63) nennt die Massilienser: trilingues, quod et
Graece loquantur et Latine et Gallice. Keltische Inschriften haben sich
in Marseille bis jetzt nicht gefunden.
4 Ueber die grosse im Jahre 1845 in Marseille gefundene phönikische
Inschrift und ihre zahlreichen Bearbeiter vgl. Desjardins Geographie II
S. 135—136: y elle nous fait, connaitre les prescriptions religieuses envoyöes
de CavtJiage, de la mere patrie; les caractbres ne denoncent qvüune epoque
assez hasse, prohablement le Il e sihcle avant notre cre . . . Elle prouverait
. . . que les Plieniciens avaient un comptoir et peut-etre leur quartier
rfoervö dans la ville phocdenne 1 . Ueber phönikische Funde in Marseille
vgl. Lentheric, La Grece et VOrient en Provence (Paris 1878) S. 382 ff.
5 Für die ältere Kaiserzeit mag der Hinweis auf die Worte des Pomponius
Mela II, 5 genügen: nunc ut pacatis, ita dissimillimis tarnen vicina genti-
hus, mirum quam facile et tune sedem alienam ceperit et adhuc morem
suum teneat. Aber noch in dem um das Jahr 400 abgefassten Staats
handbuch (Notit. Dignit. Occid. c. 42, 16) heisst die Stadt Massilia Grae-
corum.
286
Hirsclifeld.
Schriften an Zahl weit hinter den allerdings meist kurzen und
inhaltleeren römischen Inschriften 1 zuriickstehen und auch die
römische Namengebung in Massalia früh an Stelle der griechi
schen getreten zu sein scheint, so zeigen doch schon die nur
Massalia eigenthümlichen gräcisirenden Buchstabenformen in
den lateinischen Inschriften, dass die lateinische Schrift den
heimischen Steinmetzen stets eine fremde geblieben ist. War
doch Massalia, wie einst in den Zeiten seiner Grösse, 2 noch
lange nach seinem Fall eine Pflegstätte griechischer Wissen
schaft und Literatur geblieben, in der nicht allein gallische Jüng
linge, sondern auch vornehme junge Römer, deren Väter den Auf
enthalt in der einfachen und sittenstrengen Provinzialstadt dem
Leben in den üppigen griechischen und kleinasiatischen Städten
vorziehen mochten, 3 ihren Studien oblagen. Freilich hat sich
1 Es sind etwa 100 römische Inschriften, besonders in der auch für
christliche Inschriften ergiebigen Gegend bei dem sogenannten bassin
du Carenage am Hafen nahe der Kirche St.-Victor gefunden worden,
während die Zahl der griechischen Inschriften kaum den vierten Theil
betragen dürfte. Uebrigens sind aus diesem Zalilenverhältniss keine
Schlüsse zu ziehen, da die in Marseille zu Tage getretenen inschrift
lichen wie monumentalen Reste in Folge der mannigfachen Verände
rungen der Stadt im Alterthum, Mittelalter und Neuzeit im Verhältniss
zu ihrer einstigen Bedeutung ausserordentlich gering sind, vgl. de Ville-
neuve, Statistique du departement des Bouches-du-Ehone II p. 384 ff.
2 Ich verweise auf die bei Brückner S. 61 ff. und Geisow S. 30 ff. zu
sammengestellten Notizen. Ueber die Bedeutung der geographischen
Studien des Pytheas vgl. jetzt besonders Müllenhoff, Deutsche Alter
thumskunde I S. 307 ff.; über die massaliotische Recension der homeri
schen Gedichte, die unter den alten Editionen zaxa uo'Xei; am häufigsten
citirt wird, vgl. Sengebusch Homer, dissert. prior. S. 188 ff. und S. 197.
3 Strabo IV, 1, 5 p. 181: orp.oi os r« xaOe<JT»)xo'Ta vuvi • rA'r.zc väp ol ya-
piEVn; r.pbc, t'o Xs'yEtv zpiizcmai zai cptXoaroipsTv, SoG’ fj 7:0X1? [juxpov pL
r.po-ctpo'i toi; ßapßäp015 <xveito uaioeutrjptov zal oiXe’XXrjva? xaTEOzsua^E tou;
I'aXctTac, foaiE zal Ta crupßoXaia 'EXXrjviarl ypacpetv ■ ev ob to> r.apov: 1 . zal
tou; yvtüpiptoTäTou; 'Ptopaiojv jtbjteixEV, dv:i Ei; ’AOijva; auoorjpla; exeToe
'po'.rav, cpiXopaOst; ovra;. opoivTE; 8b toutou; ol TaXaTa: zal apa Eip^vrjV ayovTE;,
rrjv ayoXrjv äapevoi r.pb% tou; toioutou; SiarlOEvra: ßiou; ob za:’ avBpa povov, aXXa
zal 8r)|j.o7i'a • aotpiara; youv u-oos'yovTai tou; pbv tS!a, tou; 3b [xaTa ?] jtoXei;
xoivfl piaöoüpEvoi, xaOdrap zal iarpou;. Tacitus, avn. 4, 44: L. Anlomum
seposuit Aiiguslus in civitatem Massiliensem, ubi specie studiorwm nonien
exilii tegeretur. Tacitus, Agricol. c. 4: arcebat eum ab illecebris peccantinm
praeter ipsins bonarn integramque naturam, quod statim 'parvulus sedem
ac magistram studiorum Massilium habnit, locum Graeca comitate et pro-
Gallische Studien.
287
die einst sprichwörtliche massaliotische Sittenstrenge 1 bereits im
Laufe des zweiten Jahrhunderts in ihr Gegentheil verkehrt, 2 und
wahrscheinlich hat auch sein wissenschaftlicher Ruf nicht die
späteren Jahrhunderte überdauert, denn unter den ,berühmten
Städten' des Ausonius hat Massalia keine Stelle gefunden.
Inwieweit das Eindringen des Christenthums beigetragen
hat, die antik-heidnische Bildung zu verdrängen, lässt sich
hier, wie überall, kaum feststellen. Dass in einer mit Kleinasien
in so enger Verbindung stehenden griechischen Seestadt sich
frühzeitig eine grössere Christengemeinde, wie sie in Vienna
und Lugudunum bereits zu Marc Aurels Zeit bestanden hat,
gebildet habe, ist jedoch eine an und für sich sehr wahrscheinliche
Annahme, die durch eine spätestens dem dritten Jahrhundert ange-
vinciali parsimonia mixtum, ac bene compositum. Agricola war bekanntlich
in dem benachbarten Forum Iulii geboren und nach Massalia in die
Schule geschickt; doch blieb er dort offenbar bis er erwachsen war, denn
Tacitus fügt hinzu: memoria teneo solitum ipsum narrare se prima in
iuventa Studium philosophiae acrius ultra quam concessum Romano ac
senatori hausine. In griechischen in Marseille gefundenen Inschriften
findet sich ein ’AOrjvdSi); AiocrzoupfSou ypapLiumzo; 'Pmuai/.d; (Repertoire
de la sociiti de statistique de Marseille III, 1839, S. 469), und ein T. Fla-
vius Nicostratus wird als xaOrpfjpnk bezeichnet: Bulletin de la soci&U
des antiquaires de France 1877, S. 113. Ueber die Anstellung von
(grossentlieils wohl massaliotischen) Sophisten und Aerzten in Gallien
berichtet Strabo a. a. O.; der Rhetor Agroetas aus Massalia scheint in
Rom docirt zu haben (Seneca, conlrov. II, 6, 12); fremde Rhetoren, wie
Moschus (s. o.) und wohl auch Pacatus (Seneca, controv. X praef. §. 10)
wirkten wiederum in Massalia.
1 Plaut-us, Casina 5, 4, 1: uln tu es, qui colere mores Massilienses postulas?
Cicero, pro Flacco 26, 43: Massilia . . . cuius ego civitatis disciplinam
atque gravitatem non solum Graeciae, sed haud scio an cunctis gentibus ante-
ponendam dicam. Strabo IV, 1, 5, p. 181 führt als Zeugniss für die
Xixo'xr); twv ßltov an, dass die höchste Mitgift bei ihnen hundert Gold
stücke betrage und dazu fünf Goldstücke für die Kleidung und ebenso
viel für den Goldschmuck. Ueber die Einfachheit der mit Spreu und Erde
gedeckten Häuser: Yitruv. II, 1, 5. Die d.isciplinae gravitas und prisci
moris observantia rühmt Valerius Maximus II, 6, 7 und berichtet, dass in
dieser civitas severitatis custos acerrima die Aufführung von Mimen ver
boten sei. Vgl. auch die eben angeführten Worte des Tacitus.
2 Athenaeus XII, c. 25 p. 523c (also am Anfang des dritten Jahrhunderts):
MaaCTaXttSxat 8’ E07)XuvO7;aav oi xov auxov "'Ißqpai xfj; saOijxo; oopouvis; zoapov *
dc^ijjxovoOat yoüv oii xJ|V ev Tat; 'b-jya.ii; paXaxlav, Stä xpu'prjv yovaixojca-
Ooüvxe; • oöev xal jxapoipfa naprjXOE ,uXs’jaEia; Ei; MaocaXfav’.
288
Hirsch fei d.
hörige Inschrift, welche freilich möglicherweise von Rom nach
Marseille verschleppt sein könnte, 1 auch eine äussere Bestäti
gung zu erhalten scheint. Jedesfalls dürfte, wenn man der
Schilderung in den allerdings wenig zuverlässigen Acten des
heiligen Victor, 2 in denen Massalia als ,sehr eifrige Verehrerin
der römischen Dämonen* bezeichnet wird, Glauben schenken
kann, das Christenthum nicht ohne heftigen Kampf hier Einlass
gefunden haben. Der Bischof von Massalia erscheint bereits in
den Acten des arelatensischen Concils vom Jahre 314, während
die in der Nähe des früh zu hoher Berühmtheit und grossem Um
fang erwachsenen Klosters des heiligen Victor und in der Krypta
der Kirche selbst zu Tage getretenen christlichen Inschriften
grossentheils 3 erst dem fünften und sechsten Jahrhundert an
zugehören scheinen, also einer Zeit, in der Massalia bereits
in Folge der erfolgreichen Thätigkeit des Johannes Cassianus,
der hier zwei Klöster gründete, und des an derselben Stätte in
seinem Geiste wirkenden Salvianus, ein Hauptsitz des Christen
thums und insbesondere der sogenannten semipelagianischen
Richtung in Gallien geworden war. — Mit der Besitzergreifung
der Provence durch die Franken ist auch Massalia nach dem
Zeugniss eines Schriftstellers jener Zeit aus einer helleni
schen zu einer barbarischen Stadt geworden und hat an Stelle
der heimischen die Gesetze seiner neuen Herren angenom
men. 4 Aber ein Funken griechischen Geistes scheint sich
1 XII n. 489 = Leblant II n. 548 n (nach meiner Copie): [Valjerio Vo-
lusiano . . . Eutychetis filio [et ... ]o Fortunato qui vim [f ignijs passi
sunt. Die Ergänzung rührt von Leblant her, der mit Recht die Inschrift,
über deren Fundort leider nichts bekannt ist, bezeichnet als ,contem-
poraine cles plus vieux vnarbres de la Rome souterraine 1 . Derselbe fügt
hinzu: ,devant une teile anliquite, les mots PASSI SV NT, la mention du
genre de mort, prennent, on le conqoit, une haute importance. Si, par une
r&serve peut-8tre excessive, je nose toutefois affirmer que nous soyons en
face d'une tovibe de martyrs, md ne pensera, je crois, ä nier la possibilitö
de ce fait. 1 Vgl. seine priface p. XXXIII.
2 Vgl. Tillemont, Memoires pour sevvir ä Vhist. ecclis. (ed. 1706) IV, 3,
p. 1165 und 1346.
3 Aelter (nach Leblant wohl dem vierten Jahrhundert angehörig) ist XII
n. 490 = Leblant II n. 490.
4 Agathias, histor. I, 2: vuv ££ 'EXXrjvtöog eart ßapßapr/75 • xrjv yap rcaiptov
aTCoßeßXvjxuux TCoXixefav, xotg tojv xpaiouviojv ^pfjxai vop.fp.otg * cpodvExat xat
Gallische Studien.
289
noch bis in das Mittelalter in der phokäischen Stadt erhalten
zu haben,’ die Jahrhunderte, bevor Rom, auf den von ihr ge
ebneten Wegen fortschreitend, seine civilisatorische Mission im
Westen begonnen, griechische Sprache und Cultur auf den
gallischen Boden verpflanzt hat. —
Ein eigentliiimliches Gegenbild zu der griechischen Han
delsstadt bietet die zweite verbündete Gemeinde der narbonen-
sischen Provinz: die civitaa Vocontiorum, deren Gebiet zwischen
den Flüssen Isere, Rhone, Durance und den cottischen Alpen
liegend, einen Theil der Departements Drome, Yaucluse, Basses-
Alpes, Hautes-Alpes und Isere umfasst. 2 Erst mit der Unter
werfung unter die Herrschaft Roms treten die Yocontier in
unseren Gesichtskreis 2 und auch dann begegnet uns ihr Name
nur selten in den Annalen jener Zeit. In dem Kampfe der
Römer gegen ihre nördlichen Nachbarn: die Allobroger, traf
sie der erste Stoss, dem sie wol ohne ernstlichen Widerstand
erlagen. 1 Zu einer wirklichen Occupation des zum Theil rauhen
vuv ou |j.«Xa Trjs txljas rtöv 7taXaitov oir.r^öpw'i XKTaSEECtfpa • eIcji yxp ol
Ü>p«YYOi ou vopdoe; etc.
1 Kiepert, Alte Geographie §. 43G, Anm. 4: Abschriften griechischer Werke
sind hier noch im früheren Mittelalter gemacht worden (worauf diese
Angabe beruht, habe ich übrigens nicht ermitteln können), und der Name
Graecia war damals für die Landschaft, mare graecnm für den Meer
busen noch in Gebrauch. 1 Ueber Massalia zur Zeit Gregors von Tours
vgl. Longnon, Geographie de la Garde au VF sibcle S. 447ff.; die Ein
fuhr des Papyrus aus Aegypten bezeugt Gregorius, Rist. Franc. V, 5,
vgl. auch über den Handel mit Aegypten ebendas. VI, G und Jung
Romanische Landschaften S. 210.
2 Betreffs der im Einzelnen nicht ganz sicheren Begrenzung des Gebietes
vgl. Desjardins, Geographie II S. 228 ff., und Florian Vallentin, Bulletin
de la socidte d’eludes des Hautes-Alpes I, 1882, S. 22 ff., und die soeben
erschienene Schrift desselben Verfassers: Les Alpes Cottiennes et Graies
(Paris, 1883) S. 24 ff. Die angrenzenden kleineren gallischen Stämme,
wie die Vulgientes, Memini u. a. m. dürften in älterer Zeit den Vocon-
tiern botmässig gewesen sein, vgl. Desjardins a. a. O. S. 232: ,1'impor-
tance assez secondaire de tous ces peuples . . . avait dü les faire absorber
dans la clienlhle des Vocontii'. Ueber das Fortbestehen der gallischen
civitates in ihren wesentlich unveränderten Grenzen in römischer Zeit vgl.
E. Kuhn, Ueber die Entstehung der Städte der Alten (Leipzig 1878) S. 443.
3 Gelegentlich des Zuges Hannibals nennt sie Livius 21, 31.
4 Ihr Name erscheint in den Jahren 631 und G32 in den capitoliuischen
Triumphalfasten: C. J. L. I p. 4G0.
Sitzungsber. d. phil.-hist. CI. CIII. Bd. I. Hft. 19
290
Hirsch fei d.
und unwegsamen Gebirgslandes hat aber die in Folge dieses
Krieges beschlossene Errichtung der narbonensischen Provinz
sicherlich nicht geführt: die gewaltigen Kämpfe gegen die
Cimbern und Teutonen, gegen die Italiker und Mithradates
haben ein halbes Jahrhundert hindurch Korn nicht zur Ruhe
kommen lassen und eine energische Occupation und Organisa
tion der gallischen Provinz hinausgeschoben. Eine Erhebung
der gallischen Stämme, die kein gemeinsames Band verknüpfte,
war freilich, so lange Rom hier auf Ausübung seiner Oberhoheit
verzichtete und Gallien dem Kriegsschauplatz fern blieb, nicht
zu befürchten. 1 Erst der kühne und gross angelegte Versuch
des genialen Sertorius, den Westen zu gemeinsamer Erhebung
gegen die Aristokratenpartei in Rom in die Schranken zu rufen,
rüttelte auch die gallischen Stämme aus ihrer apathischen Un
zufriedenheit zu offenem Kampf gegen die Unterdrücker auf.
Als Pompeius über den Mont-Genevre in das Land der Vo-
contier einrückte, fand er hier den ersten heftigen Wider
stand ; ' 2 die Beendigung des Kampfes musste er, da ihn immer
dringendere Hilferufe der von Sertorius bedrängten Städte zur
Eile mahnten, dem Statthalter von Gallien Marcus Fonteius
überlassen. Die arge Verstümmelung der gerade für gallische
Verhältnisse so wichtigen Rede Cicero’s für Fonteius hat uns
näherer Nachrichten über den Verlauf des Krieges beraubt;
nur aus der erhaltenen Uebersclirift de hello Vocontiorum 3
können wir schliessen, dass es hier zu ernsten Kämpfen ge
kommen ist. Jedoch darf man nach der bekannten Tactik
der Römer erwarten, dass auch in diesem gallischen Stamme
neben der nationalen eine römische Partei nicht gefehlt
haben wird, eine Annahme die sowohl durch die Angabe
des Vocontiers Pompeius Trogus, 4 dass sein Grossvater im
1 Vgl. über die Stellung von Narbonensis in dieser Zeit Herzog, G. N.
S. 59 ff.
2 Epist. Cn. Fompei ad senatum §. 4 (Sallust. p. 118 Jordan): diebus qua-
draginta exercitum paravi hostisque in cervicibus iam Italiae ag entis
ab Alpibus in Hispaniam submovi; per eas (über die Alpes Cottiae) Her
aliud atque Hannibal, nobis opportunius patefeci. Recepi Galliam etc.
3 Auch die neugefundenen Fragmente des Nicolaus von Cues haben zur
Ausfüllung dieser Lücke (§. 20) keinen Ertrag gewährt.
4 Der keltische Name Trogus (= miser, cf. Zeuss, gramm. celt. ed. II, p. 23
und 1057) ist sonst in dieser Gegend nicht nachweisbar; das davon ab-
Gallische Studien.
291
sertorianischen Kriege (las römische Bürgerrecht erhalten habe
und im mithradatischen sein Oheim Reiteroffizier unter Pompeius
gewesen sei, 1 als durch das auf Bürgerrechtsverleihungen im
weiteren Umfange deutende mehrfache Auftreten des Namens
Pompeius in den Inschriften des Gebietes der Vocontier und
der benachbarten Vulgienter eine Bestätigung findet. Mit der Be
seitigung des Sertorius und der Auflösung der nur durch seine
geniale Persönlichkeit zusammengehaltenen Banden war auch der
Widerstand in Gallien hoffnungslos geworden, 2 und seit jener
Zeit haben die Vocontier keinen neuen Versuch gewagt, das
römische Joch abzuschütteln: Caesar, bei dem der Vater des
Trogus eine Vertrauensstellung einnimmt,zieht bei dem Ein
marsch in Gallien ungehindert durch ihr Gebiet 4 und wenn
Plancus im Jahre 711 an Cicero meldet, dass der Weg durch
das Land der Vocontier zuverlässig offen stehe, 5 so ist daraus
nicht auf eine Parteinahme derselben gegen Marcus Antonius,
sondern wohl nur auf vollständige Passivität in diesem Kampfe
zu schliessen. So haben sie auch nach der definitiven Gestal
tung Galliens durch Augustus als Theil der narbonensischen
Provinz eine stille, von den gewaltigen Erschütterungen des
römischen Reiches kaum berührte Existenz geführt.
geleitete gentile Trogius findet sich in einer Inschrift von Nemausus
(Murat. 1563, 12), ebendaselbst und in der Umgegend die Formen Tro-
cius und Troccius (Murat. 1411, 4 und 1779, 10).
1 Justinus 43, 5, 11: in postremo libj'o Trogus maiores suos a Vocontiis ori-
ginem ducere: avum suum Trogum Pompeium Sevtoriano hello civitatem
a Cn. Pompeio percepisse dicit, patruum Mithridatico hello turmcis equitum
suh eodem Pompeio duxisse.
2 Betreffs der verunglückten Rebellionsversuche der Allobroger (Cicero,
in Catilin. III, 9, 22: ex civitate male pacata, quae gens una restat, quae
bellum populo Romano facere posse et non nolle videatuv) vgl. Herzog,
G. N. S. 68; ein Bild der verzweifelten Lage derselben nach der Nieder
werfung der Empörung gibt Sallust, Catilina c. 40.
3 Justinus 43, 5, 12: (Trogus dicit) patrem quoque suh Gaio Caesare mili-
tasse epistularumque et legationum, simul et anuli curam hahuisse.
4 Caesar, h. G. I, 10, 5: ah Ocelo, quod est citerioris provinciae extremum,
in fines Vocontiorum ulterioris provinciae die septimo pervenit: inde in
Allohrogum fines, ah Allohrogihus in Segusiavos exercitum ducit.
'' Plancus bei Cicero, ad famil. X, 23, 2: Vocontii suh manu ut essent, per
quorum loca fideliter mihi pateret iter.
19*
292
Hirschfeld.
Und doch, so wenig dieser Stamm im gewöhnlichen Sinne
des Wortes historisch interessant ist, bieten die Vocontier ein
eigenartiges, allerdings bis jetzt kaum beachtetes 1 Bild in dem
anscheinend so gleichförmigen Gewebe des römischen Kaiser
reiches. Abseits von dem grossen Getriebe hat sich hier eine
in den Hauptzügen alte nationale Verfassung erhalten, die in
merkwürdiger Weise sich von dem alles Individuelle verwischen
den Schema der römischen Municipalordnung abhebt. Wie der
griechischen Stadt der Massalioten, so ist dem keltischen Stamme
der Vocontier, ohne Zweifel als Lohn für geleistete Dienste
und bewiesene Treue, vielleicht schon vor Caesar die privilegirte
Stellung einer verbündeten Gemeinde zuerkannt worden. Wenn
irgendwo, so darf man daher hier hoffen, ein nach heimischer
Sitte organisirtes Gemeinwesen erhalten zu finden, 2 und in der
That haben die staatlichen Institutionen hier eine stärkere
Widerstandsfähigkeit bewiesen als die heimische Sprache, die,
wenn auch vielleicht nur im schriftlichen Gebrauch, von der römi
schen fast vollständig verdrängt worden ist. 3 Bei unserer geringen
1 Sowohl in der Abhandlung über die Vocontii von Moreau de Verone im
Bulletin de la societe de statistique de la Brome I, 1837, S. 70 ff. und
S. 129 ff, als auch in der werthvollen Monographie von Jean-Denis Long:
Recherches sur les antiquitAs Romaines du pays des Vocontiens (in Me
moire» prhentis par divers savants a V academie des Inscriptions et Belles-
I.ettres, IB sdrie, t. II, 1849, S. 278ff mit Karte) ist auf die Verfassung
der Vocontier kaum Rücksicht genommen. Auch die Ausführungen
Herzog’s in seinem sehr verdienstlichen Buche über Gallia Narbonensis
sind gerade betreffs der Verfassung der Vocontier, da wichtige Zeugnisse
erst später zu Tage getreten sind, in wesentlichen Punkten verfehlt.
Eine kurze Uebersicht über die Beamten und Priester der Vocontier
hat zuerst Allmer gegeben im Bulletin de la SociM d’ archeologie et de
statistique de la Brdme X, 1876, S. 81 ff. Vgl. auch Kuhn, Entstehung
der Städte der Alten S. 438.
2 Mommsen, Schweizer Nachstudien im Hermes XVI, S. 486 (über die
zum römischen Bürgerrecht gelangten füderirten Gemeinden): ,Eine römi
sche Bürgergemeinde dieser Art . . behielt billig in ihrer inneren Ein
richtung den nationalen gallischen Zuschnitt“.
3 Nur eine einzige keltische Inschrift mit schlecht und oberflächlich ein-
gehauenen griechischen Buchstaben ist in dem ganzen Vocontier-Gebiete
gefunden worden (Herzog n. 445 = Allmer, Inscriptions de Vienne III,
n. 457). In dem benachbarten Gebiete von Apta sind neuerdings noch
vier keltische, ebenfalls griechisch geschriebene Inschriften zu Tage
Gallische Studien.
293
Kenntniss der politischen Verfassung der Gallier, iiher welche
Caesar selbst da, wo er von ihrer Religion und ihren Sitten in
grossen Umrissen ein Bild entwirft, fast gänzliches Schweigen
beobachtet und Zeugnisse anderer Schriftsteller kaum in Be
tracht, kommen, 1 sind wir um so mehr darauf hingewiesen,
die inschriftlichen Documente heranzuziehen und diejenigen
nationalen Züge auszuscheiden, welche unter der römischen
Tünche noch erkennbar hindurchschimmern.
Dass die Stellung der Vocontii zu Rom, wie die Massalias
und mehrerer gallischer Stämme diesseits und jenseits der
Alpen 2 auf Grund eines Foedus geregelt war, bezeugt Plinius,
der zweimal von der civitas oder gens foederata 3 der Vocontier
spricht. Ueber die näheren Bestimmungen desselben haben
wir keine Kunde; dass jedoch darin die nach Cicero in
einzelnen dieser Bündnisse befindliche Clausel, es solle keiner
der Föderirten in das römische Bürgerrecht aufgenommen
werden dürfen, J enthalten gewesen sei, ist wohl sicher zu
verneinen, wenn auch die Bürgerrechtsverleihung an den Gross
vater des Trogus vor dem Abschluss des Foedus erfolgt sein
dürfte. Ueberhaupt ist der Fortbestand einer solchen Bestim
mung in der Kaiserzeit für die zum römischen Reichsverbande
gehörigen Gemeinden schwer denkbar, vielmehr müssen, so weit
nicht an Stelle des Foedus das römische Bürgerrecht mit oder
ohne das ins honorum getreten ist, diese föderirten Gemeinden
getreten, vgl. Villefosse, Bulletin des antiquaires 1879, S. 128, und Mowat,
ebendas. 1880, S. 245; Allmer, Revue ipigraphique I, S. 333 u. 367.
1 Bemerkenswerth ist, was Strabo (IV, 1, 12 p. 186) von der Romani-
sirung der den Vocontiern benachbarten Cavares bemerkt: ou8s ßapßapou?
£ti ovta?, aXXa |i.Exax£tpivou? xo izkiov Et? xov xaW 'Pcopalcov tunov scai xrj
YAa>xx7) xat tot? ß(ot?, ttva? 81 xai trj TcoXttsfa.
2 Cicero, pro Balbo 14, 32: etenim quaedam foedera exstant, ut Cenoma-
norum, Insubvium, Helvetiorum, Japg dum, nonnullorum item, ex Gallia
barbarorum, quorum in foederibus exceptum est, ne quis eorum a nobis
civis recipiatnr. Ueber die föderirten Lingones, Remi, Haedui, Carnuteni
(Plinius, n. h. 4, 106—107) vgl. Mommsen im Hermes XVI, S. 486 mit
Anm. 1 und S. 478ff. über Aventicum.
3 Plinius, 7i. h. 3, 37 : Vocontiorum civitatis foederatae und n. h. 7,
78: equitem Romanum Iulium Viatorem e Vocontiorum gente foederata,
was Desjardins (Geographie II, S. 228) ganz unrichtig auf das Clientel-
verhältniss der angrenzenden kleineren Stämme bezieht.
4 Vgl. darüber Mommsen a. a. O. S. 447 ff.
294
Hirschfeld.
im Wesentlichen die Stellung der mit latinischem Recht aus
gestatteten Städte erhalten haben, 1 vor denen ihnen jedoch die
Existenz des Bündnisses mit Rom und unter Umständen
bestimmte darin zugesicherte Privilegien einen Vorrang sichern
mochten. Dem entspricht auch das Rechtsverhältniss der
Vocontier; römische Auxiliär truppen sind nach ihnen benannt/ 2
also ohne Zweifel ursprünglich aus ihnen recrutirt worden,
und wenn sich einzelne Vocontier in den Prätorianercohorten
und Legionen finden, 3 so können diese, ebenso wie die in
den Inschriften zuweilen mit der Tribus Voltinia versehenen
Vocontier, füglich entweder viritim das Bürgerrecht erhalten
haben, oder ihre Vorfahren durch Aemterbekleidung kraft
der Bestimmungen des klinischen Rechtes dazu gelangt sein.
Möglich ist freilich, dass im Laufe der Kaiserzeit auch hier
an Stelle des Foedus das römische Bürgerrecht getreten ist,
wie dasselbe bereits unter Augustus der zweiten Hauptstadt
des Landes: Lucus Augusti verliehen zu sein scheint. 4 Wie
lange sie das Recht der Münzprägung ausgeübt haben, 5 ist
1 Cicero, pro Balbo 24, 54: Latinis id est foederatis, vgl. Momrasen, Röm.
Miinzwesen S. 323.
2 Eine ala Aug(usta) Vocontio[r(um)]: C. J. L. VII, n. 1080; ein n(umerus
Vor(ontiorum): Ephem. epigr. IV p. 207 n. 698 (Huebner zweifelt an
der meines Erachtens richtigen Ergänzung), vgl. Trebell. Poll., vila Po-
stumi S. 11: Postumo tribunatum Vocontiorum dedi. — Vgl. die aus dem
heutigen Wallis ausgehobene ala Vallensium: Brambach, Inscr. Rhenan.
n. 1631 und die cohors I Helveliorum : Brambach, Index S. 386.
3 Ein Veteran der 7. Prätorianercohorte aus Vasio: C. J. L. VI n. 2623
und der 6. Cohorte in einer Inschrift vonVentavon im Vocontier-Gebiet:
XII n. 529 = Herzog n. 489. Ein Soldat der legio I Minervia in
einer Inschrift aus Dea Augusta: XII n. 1576 = Herzog n. 463.
- 1 Dies schliesst Mommsen (nach brieflicher Mittheilung) gewiss mit Recht
aus dem Umstande, dass zahlreiche Legionäre in Inschriften der ersten
Kaiserzeit (C. J. L. III n. 1653; Ephem. epigr. II n. 496; Brambach,
Inscr. Rhenan. n. 940, 1055, 1223, 1247; Mommsen, Inscr. Ilelvel. n. 251;
Renier, Revue des Societes savantes ser. II, 3, 1860, p. 42) Lucus Augusti
als ihre Heimat angeben; dass nicht die gleichnamige Stadt in Gallaecia
gemeint ist, beweist die Tribus Voltinia, da das spanische Lucus der
Galeria angehört (C. J. L. II p. 359). Dass Tacitus an der S. 296
Anm. 2 mitgetheilten Stelle die Stadt als municipium bezeichnet, würde
allerdings nicht entscheidend sein.
5 Ueber die Münzen mit der Aufschrift VOOC und die vielleicht nicht
hierher gehörigen mit ROW und VOLVN vgl. de La Saussaye, Numis-
matique de la Gaule Narbonnaise S. 132 ff.
Gallische Studien.
295
fraglich, sicherlich nicht über Augustus’ Zeit hinaus; dagegen
bezeugt Strabo, dass sie, ebenso wie Massalia und die Volcae
Arecomici, von der Gewalt des narbonensischen Proconsul
exiruirt gewesen seien. 1 Gewiss darf man nicht, wie das ge
meinhin geschieht, 2 darin ein allen latinischen Colonien auch
der späteren römischen Kaiserzeit zustehendes Recht erblicken.
Wie wäre denn überhaupt eine Verwaltung denkbar gewesen,
wenn z. B. in Gallia Narbonensis die zahlreichen Städte latini
schen Rechts der Ingerenz des Statthalters entzogen gewesen
wären, oder gar in Spanien, nachdem Vespasian das latinische
1 Strabo IV, 6, 4, p. 203: ’AXXo'ßptYE; pkv ouv xoct Afyus; u-b rot;
xdxxovxai xot; atpizvoupivoi; ei; xrjv Napßwvixiv, Oüozo'vxiot 8k, xaÖOTEp xou;
OOoXxa; E^aü.EV xou; jiEp't Nkpausov, xaxxovxai xaO’ aüxoü;.
2 So sagt Marquardt, Staatsverwaltung I 2 S. 52: ,Die neue (latinische)
Gemeinde bildet einen souveränen Staat . . ., ist keinem römischen
Magistrate unterworfen und besitzt das Münzrecht, dessen die Bürgercolo-
nien entbehren 1 , und beruft sich dafür auf Strabo, der IV, 1, 12 p. 187
von der latinischen Gemeinde Nemausus sagt: 8tä 8k xouxo o08’ 6A xof;
xpoxTccyp-aa: xwv ex ttj? 'Pt&pj; axpaxr)Y<ov laxt ~'o k’Ovo; xouxo. Die AVorte
ota 8k xouxo schliessen allerdings unmittelbar an die Bemerkung an:
sj(ouca; (so ist die handschriftliche Ueberlieferung, nicht k'^ouca) xal xo
xaXoüpEvov Aaxiov, oiaxe xou; d<jtco0£'vxa; c<Y 0 P av0 [üas xce! xapis/a; bi Nsp.aüau>
'Ptopalou; ünapyEiv, ab'er so wenig auch an der Tliatsache zu zweifeln
erlaubt ist, so rührt die Motivirung doch blos von dem mit dem römi
schen Staatsrecht nur oberflächlich vertrauten griechischen Schriftsteller
her. Ueber die Stellung der Colonie Nemausus wird an einem anderen Orte
zu sprechen sein; hier sei nur bemerkt, dass die Volcae Arecomici (von
dem Volk, nicht von der Colonie spricht Strabo hier, wie in der in vor.
Anm. angeführten Stelle) offenbar, wie sich aus der S. 309 Anm. 3 bespro
chenen Inschrift (XII n. 1028) und aus den Angaben des Plinius (III, 37) und
Strabo ergibt, ursprünglich ganz ähnlich den Vocontii organisirt gewesen
sind und daher vielleicht ebenfalls auf Grund eines Foedus eine privilegirte
Stellung eingenommen haben mögen, woraus sich auch die Ertlieilung
des Münzrechtes an Nemausus erklären würde; wenigstens von ihren
Nachbarn, den Volcae Tectosages, ist überliefert, dass sie das ihnen ge
währte Foedus durch ihre Haltung im Oimbernkriege verscherzt haben,
vgl. Dio Cassius, fragm. 90: ToXooav jxpoxEpov p.iv k'vojtovSov ouoav xof;
'Poopodoi;, axactatracav 8k JXpös xa; xtöv Kfjxßptov iXirtSa;, vgl. Herzog, G.
N. S. 52. Eine Generalisirung für sämmtliche latinische Provinzialge
meinden der Kaiserzeit aber aus dem 8iä xouxo des Strabo herzuleiten,
ist nicht gestattet, und sicherlich ist bereits in der ersten Kaiserzeit,
wohl schon durch Augustus, das Recht der Latini coloniarii wesentlich
beschränkt worden.
296
Hirschfeld.
Recht der ganzen Provinz verliehen hatte? Vielmehr wird man
hier ein specielles Privileg, das wohl ausser den föderirten Ge
meinden 1 nur wenigen latinischen Colonien und seit Augustus
überhaupt nicht mehr eingeräumt sein dürfte, zu erkennen
haben, und das möglicherweise auch den Vocontiern im Laufe
der späteren Zeit entzogen worden ist.
Werfen wir zunächst einen Blick auf die im Vocontier-
Lande gelegenen Städte, so werden wir von der Angabe des
Plinius (n. h. 3, 37) auszugehen haben: Vocontiorum civitatis
foederatae duo capita Vasio et Lucus Augusti, oppida vero igno-
bilia XVIIII sicut XXIII1 Nemausensibus adtributa. Ob das an
zweiter Stelle genannte Lucus Augusti seinen Namen von dem
Kaiser Augustus erhalten hat, oder oh der Ort schon in kelti
scher Zeit als ,heiliger Hain“ (wohl der in der Nähe verehrten
Göttin Andarta, über die sofort zu sprechen sein wird) be
nannt und sein römischer Name als lateinische Umgestaltung
des keltischen anzusehen ist, muss dahingestellt bleiben. Wahr
scheinlich wollte man neben der damals noch ganz kelti
schen Hauptstadt Vasio einen mehr römische Elemente enthal
tenden und an der grossen Strasse gelegenen Ort schaffen, dem
durch Verleihung des Bürgerrechtes künstlich eine gewisse Be
deutung gegeben werden sollte. Jedoch scheint dieser Zweck
nicht erreicht worden zu sein, denn ausser bei Plinius und
Tacitus, der bei Gelegenheit des Raubzuges des Fabius Valens
durch Gallien die Stadt erwähnt, 2 erscheint der Name nur noch
in den oben erwähnten Soldateninschriften der früheren Kaiser
zeit und später als Station der Strasse, die von Mediolanum
her über die cottischen Alpen durch das vocontische Gebiet
1 Das Recht der föderirten Gemeinden definirt Marquardt, Röm. Staatsver
waltung I 2 S. 45 (im Anschluss an Mommsen, Röm. Münzwesen, S. 322 ff.)
folgendermassen: ,Sie sind autonome Staaten; als solche haben sie das
Münzrecht, Befreiung vom Dienste in den Legionen gegen Stellung von
Hilfstruppen oder Schiffen und Matrosen, eigene städtische Verwaltung
und eigene Gerichtsbarkeit“.
2 Tacitus, hist. I, 66: lento deinde agmine per fines Allohrogum ac Vocontio
rum ductus exercilus, ipso, itinerum spatia et stativorum mutationes vendi-
lante duce, foedis gmctionihus adversus possessores agrorum et magistratus
civitatum, adeo minaciter, ut Luco (municipium id Vocontiorum estj faces
admoverit, donec pecunia mitigaretur.
Gallische Studien.
297
an die Rhone führt, 1 und zwar lässt die Bezeichnung mansio in
dem Jerusalemer Itinerar, wie das Fehlen des Ortes in der
Notitia Galliarum keinen Zweifel darüber, dass Lucus Augusti in
der späteren Kaiserzeit aus der Reihe der Städte verschwunden
und zu einer einfachen Wegstation herabgesunken ist. Auch
die auffallend geringe Zahl der dort gefundenen Inschriften 2
und der gänzliche Mangel antiker Ruinen 3 in dem kleinen Ort
Luc-en-Diois, der noch den alten Namen bewahrt hat, sprechen
für die kurze Zeit der Bltithe von Lucus Augusti.
Nur wenige Meilen von Luc entfernt, in gebirgiger Ge
gend liegt auf dem rechten Ufer der Drdme am Fusse eines
Hügels das Städtchen Die, das alte Dea Augusta, das ohne
Zweifel der keltischen Sitte gemäss sich oberhalb der heutigen
Stadt an dem Hügel Ungezogen hat. 4 Der Name erscheint
weder bei Plinius, noch bei irgend einem älteren Schriftsteller:
dagegen finden wir ihn in den Itinerarien 5 als Station der
obenerwähnten Strasse von Italien nach Gallien, zwölf Miglien
von Lucus entfernt, und da in der Notitia Galliarum die civitas
Deensium 6 unter den civitates der provincia Viennensis vertreten
ist, so muss sie, wahrscheinlich nach dem Niedergang von
1 Itiner. Anton, p. 357: Luco; itiner. Hierosol. p. 554: mansio Luco.
2 Es sind nur sieben, die jüngste (XII, 1692 = Allmer, Bull, de la Drdme
1873, S. 257) allerdings noch aus dem Jalire 514.
3 Dass dieselben sich in einem See, der im Jahre 1442 einen Kilometer von
Luc entfernt sich durch einen Bergsturz gebildet hat, befinden und noch
sichtbar seien, bezeichnet der genaueste Kenner dieser Gegend, Long,
in der oben angeführten Abhandlung S. 409 als eine Fabel: ,M. WalcJce-
naer et plusieurs auteurs placent V ancien Lucus dans ce lac. Sal-
vaing de Boissieu et Chorier croyaient voir dans ses eaux les raines de
cette ville. . . . Ces pretendues ruines dans le lac de Luc appartenaient ä
des restes d’habitations mirales qui avaient ete englouties. 1
4 Long a. a. O. S. 374: f Une partie de Vancienne ville Stait bdtie sur le
plateau compris dans Venceinte de ses remparts: depuis longtemps cet em-
placement est cultive. Die s’&tendait sur le penckant de la colline ou se
trouve cette partie liabitee appelee Chastel (Castellum), et se developpait
dans la plaine. 1
5 Itiner. Anton, p. 357: Dea Bocontiorum; itiner. Hierosol. p. 554: civitas
Dea Vocontiorum; tabul. Peuting.: ad Deam Bocontiorum.
6 Notit. Gail. XI, 7; der Bischof von Dea erscheint seit dem Jahre 517
oft in den Concilienacten des sechsten Jahrhunderts. — Als tco'Xi? Jra
bezeichnet die Stadt fälschlich Stephan. Byzant. s. v. Afa.
298
Hirschfeld.
Lucus Augusti, Stadtrecht erhalten haben. 1 Aber beredter
als diese mageren Notizen spricht für die Bliithe und verhält-
nissmässige Bedeutung der alten Stadt die Fülle von Inschriften,
die hier und in der nächsten Umgebung gefunden oder aus
den im frühen Mittelalter aufgeführten Wällen 2 zum Vorschein
gekommen sind. Allerdings hat Dea niemals eine politische
Rolle gespielt, aber es war sicherlich schon in keltischer Zeit
das religiöse Centrum des Vocontier-Gebietes und hat diese
Stellung bis in die späte Kaiserzeit bewahrt. Hier war die
Cultstätte der keltischen Göttin Andarta, 3 nach welcher der
Ort ohne Zweifel seinen Namen Dea Augusta (so wird auch
die Andarta regelmässig in den Inschriften genannt), oder
ursprünglich vielleicht ad Deam Augustam Vocontiorum 4 führt.
In späterer Zeit scheint der Cult der phrygischen Göttermutter 5
an die Stelle getreten zu sein, der hier noch in der Mitte des
dritten Jahrhunderts der Kaiserzeit unter Assistenz der Priester
1 In einer Inschrift von Aries (XII n. 690 = Henzen n. 5223) führt sie
sogar den Titel colfonia), vielleicht aber nur durch ein Versehen des
Concipienten der Inschrift, da dieser Titel ihr weder in den sonstigen
Inschriften beigelegt wird, noch derselbe überhaupt zu dem Verfas
sungsschema der Vocontier passt.
2 Vgl. Artaud, Vogage ä Die, bei Millin, Annales encyclopidiques 1818, 1,
S. 180; Long a. a. O. S. 393: ,La construction des remparts remonle plus
haut aux divastations des peuples du Nord, des Lombards et des Sarrasins.
... Oil retire souvent des remparts en ruines des inscriptions. 1 Florian
Vallentin, Decouverles archeologiques faites en Dauphine pendant l’annie
1879 (Grenoble 1880), p. 27 ff.: ,La plupart des monuments de Vepoque
romaine provenant de Die . . . ont ete extraits des remparts de cette ville,
ou Von n’a jamais rencontre de fragments du mögen äge. . . . Les rem
parts de Die subsistent encore en grande partie au nord-est de la ville;
le quartier s'appelle Chaslel. 1
3 Der Name ist nicht mit Sicherheit zu erklären, vgl. Zeuss, Gramm, cell.
2. Aufl., S. 859 und 867. Erklärungsversuche sind zusammengestellt bei
Florian Vallentin: Essai sur les divinites indigetes du Vocontium (Gre
noble 1877) S. 28 ff.
4 So heisst sie in der Peutinger’schen Tafel: ad Deam Bocontiorum, vgl.
XII n. 1529 =• Herzog n. 489: flam(inis) Aug(usti) et muner(is) publici
curat(oris) ad Deam Aug(ustam) Voc(ontiorum).
5 Dass Andarta, wie Einige angenommen haben (vgl. dagegen Vallentin
a. a. 0. S. 29 ff.), mit Cybele zu identificiren sei, soll damit natürlich
nicht behauptet werden.
Gallische Studien.
299
aus den umliegenden Städten Yalentia, Arausio, Alba Helvia 1
blutige Taurobolienopfer dargebracht wurden. — Neben dem
Göttercult hat nur der Kaisercult Einlass gefunden, von dem
die hier gefundenen Inschriften der Flamines, Flaminieae und
Seviri Augustales in denen nicht selten der Name der Stadt
dem Titel hinzugefügt wird, 3 zeugen, während Denkmäler von
Beamten in Dea gar nicht zu Tage getreten sind. 1 Im Verein mit
den religiösen Festen sind ferner selbstverständlich die von ihnen
unzertrennlichen Gladiatorenspiele und Thierhetzen gefeiert
worden, 5 und es ist für den exclusiven Festcharakter der Stadt
1 C. J. L. XII n. 1567 = Herzog n. 450 vom J. 245; andere Tauro-
bolieninschriften XII n. 1568—1569 = Herzog n. 451 — 452; in dem Garten
des Doctor Long (jetzt Lamorte-Felines), der gewissermassen das epigra
phische Museum von Die bildet, befindet sich ausserdem noch ein Tauro-
bolienaltar ohne Inschrift, aber mit dem Opfermesser und den anderen
üblichen Instrumenten. Ueber die in Die gefundenen Taurobolienaltäre
vgl. Delacroix, Statistique du departemenl de la Drdme S. 477. Beachtung
verdient, dass ein Viator Sabini filius ein Taurobolium in Lactora in
Aquitanien, dem Hauptsitz des Tauroboliencultus in Gallien, vollzieht
(Grut. 30, 3 = Memoires des antiquaires de France XIII, tab. 3 n. 12
p. 142; der Schrift nach gehört die von mir gesehene Inschrift wohl
noch dem ersten Jahrhundert an), der mit dem Viator Sabini f(ilius)
einer Sepulcralinschrift aus dem Vocontier-Gebiet (XII n. 1516 ='Herzog
n. 494) identisch sein dürfte. Vielleicht darf man demnach, die Identität
vorausgesetzt, die Vermuthung wagen, dass die religiösen Centren des
Tauroboliencultns in Gallien in enger Beziehung zu einander gestanden
haben.
2 Es möge hier genügen, auf die Zusammenstellung in C. J. L. XII zu
verweisen.
3 C. J. L. XII n. 690 (Herzog 460), n. 1371 (Allmer, Bull, de la Drbme
1876, p. 210), n. 1529 (Herzog 489), n. 1581 (Vallentin, Divin. indig.
S. 34 Anm. 1). Vgl. die Inschrift von Nimes bei Herzog n. 194.
J Dass ein Grabmonument von einem praetor und flamen hier seiner Gattin
errichtet ist (XII n. 1586 = Hei'zog n. 457), spricht natürlich nicht
dagegen.
5 C. J. L. XII n. 1529 (Herzog 489): muneris publici curat(or) ad Deam
Aug(ustam) Voc(ontiorum); n. 1590 (Herzog 468): coll(egium) venator(um)
Deemium qui ministerio arenario fungunt (vgl. Sueton, Nero c. 12:
confectores ferarum et varia harenae ministeria und C. J. L. VII n. 830:
venatores BarniesesJ-, XII n. 1596 (Long, p. 404): Inschrift eines secutor-
n. 1585 (Herzog n. 453) ein curator muneris gladiatori(i) Villiani, dem
der ordo Vocontior(um) ex consensu et postulatione populi ein Monument
in Dea setzt: ob praecipuam eins in edendis spectaculis liberalitatem.
300
Hirschfold.
bezeichnend, dass die spärlich in den Inschriften auftretenden
Gewerbetreibenden offenbar nur solche sind, die zur Zurüstung
der Opfer und für die Bedürfnisse der fremden Festbesucher
erforderlich waren: ein Fleischhändler, eine Salbenverkäuferin,
ein Geldwechsler, ein Schreiber. 1 Auch die öffentlichen Sclaven
der Vocontii, die nur an diesem Orte vertreten sind, werden
zur Dienstleistung bei den Opfern 2 und Festlichkeiten verwendet
worden sein ; so fehlen nur noch die Händler mit Heiligenbildern
und Reliquien, um die Analogie mit unseren modernen Wall
fahrtsorten vollständig zu machen.
Wie Dea das religiöse Centrum der Vocontier gebildet hat,
so ist Vasio, das Plinius an erster Stelle als Hauptort derselben
bezeichnet, offenbar der politische Mittelpunkt gewesen und
dauernd geblieben. Der Name vielleicht hergeleitet von dem
Flüsschen (heute V Ouveze), an dessen rechtem Ufer die alte
Stadt sich befand, 3 Während das heutige Vaison auf dem linken
Ufer der Ouveze an einem Hügel sich hinzieht, bezeugt gleich
den ähnlich auslautenden Städtenamen Arausio und Avennio
den keltischen Ursprung, und wahrscheinlich hat Vasio, begün
stigt durch seine Lage in fruchtbarer und lieblicher Gegend,
1 C. J. L. XII n. 1593 (ined.): macellarius; n. 1594 (Herzog 472): unguen-
taria; n. 1597 (Herzog 470): argentarius; n. 1592 (Herzog 471): libra-
rius (die im Text gegebene Uebersetzung des auch in anderen Bedeu
tungen gebrauchten Wortes liegt wohl am nächsten).
2 C. J. L. XII n. 1595 (Herzog 461): Voc(ontiorum) ser(vus); n. 1598
(Allmer, Bull, de la Brome 1871/72, p. 359): Voc(ontiorum) serüs (sic)
[victimajrius; die von mir gegebene Ergänzung (Allmer’s Vorschlag
arenarius ist nicht zulässig) scheint mir für den Charakter des Ortes
am angemessensten.
3 Vgl. Courtet, Dictionnaire du diparlement de Vaucluse (2. Aufl., Avignon
1876) S. 3415 s. v. Vaison: ,La partie sur la rive gauche est bätie en amphi-
thiätre sur les flaues d'une colline esearpie: c'est la nouvelle ville, qui
sera bientot la vieille ä son tour. Celle de la rive droite est bätie en plaine,
sur Vemplacement de Vancienne eite gallo-romaine. Ce quartier a conservi
le nom de la Villasse ou vieille ville 1 ; cf. Suaresius, Chorogr. dioeees. Vasio-
nens. v. 3 ff.: vastataque iterum a Gothis Arabisque supremum | Raymundus
princeps intulit exitium; \ atque ubi surgebat fanis ae turribus altis, | nunc
segetes crescunt, Villatiamque vocant. Ueber die Zerstörung der alten
Stadt durch Raymund V. Grafen von Toulouse vgl. Courtet, Revue
archiol. 8, 1851, S. 312 ff. Ursprünglich dürfte allerdings das keltische
Oppidum auf dem Hügel gelegen und erst in römischer Zeit in die
Ebene hinabgestiegen sein.
Gallische Studien.
301
schon lange vor der römischen Occupation den Vorort der
Vocontier gebildet, ähnlich wie Vienna als Metropole und Sitz
der vornehmen Allohroger bezeichnet wird. 1 Diese Stellung
der Stadt tritt äusserlich darin deutlich zu Tage, dass unter
dem Namen Vasicnses Vocontii nicht die Bewohner des städ
tischen Territorium, sondern die Bürger des ganzen Gebietes
der Vocontier bezeichnet werden, 2 ebenso wie der Name
Viennenses auch im officiellen Gebrauch in der Kaiserzeit voll
ständig an die Stelle der Allobroges getreten ist und die civitas
Viennensium das gesammte Gebiet von der Rhone bis zu den Alpen
und dem Genfersee in sich begreift. 3 Daher wird man, wie später
noch gezeigt werden soll, unter den Beamten der Vasienses Vo
contii Beamte des ganzen Gebietes zu verstehen haben, während
der Stadt Vasio, die den Beinamen lulia, ' vielleicht schon seit
Gaesar, geführt zu haben scheint, ein eigener Präfect, vergleichbar
1 Strabo IV, 1, 11 p. 186: ’AXXoßpiyeg ot piv aXXoi xa>p.7)8ov £üjcjiv, ot o’etci-
cpaviaxaxoi xrjv Oölevvav e/ovxec, xwpjv rpoxEpov ouaav, p.7)xpo7:oXtv 8’ op.to; xou
l'Ovoug XEyofjiv7]v xäxsaxEuaxaat 710X1V. Vgl. Kuhn, Entstehung der Städte
S. 193.
2 Vgl. was S. 308 über den praetor Vasiensium Vocontiorum lind S. 306
Anm. 5 über die Priester gesagt ist. Bemerkenswerth ist, dass diese
Bezeichnung sich bis jetzt nur in Inschriften von Vasio selbst ge
funden hat; es mögen daher streng genommen nur die in Vasio
ansässigen Gemeindebürger so bezeichnet und nur abusiv in den
Magistrats- und Priestertiteln der Name in weiterem Sinne verwendet
worden sein. Aehnlich, wenn auch nicht ganz identisch, ist die Stel
lung von Aventicum, vgl. Mommsen im Hermes XVI S. 480.
3 C. J. L. XII n. 113 (Allmer, Inscriptions de Vienne I n. 10) im Jahre 74
n. Chr.: Cn. Pinarius Cornel(ius) Clemens . . . inter Viennenses et Ceu-
tronas terminavit; ein duovir Viennensium in einer Lyoner Inschrift:
Allmer II n. 172. Vgl. über diesen Gebrauch Renier, Revue archeologique
16, 1859, S. 353 ff.*, Allmer II p. 110 ff.; Kuhn a. a. O. S. 193 und 439.
4 Nur unter dieser Voraussetzung scheint mir die in Vasio gefundene In
schrift, die der Schrift nach ins erste Jahrhundert der Kaiserzeit zu ge
hören scheint, C. J. L. XII n. 1357 (Herzog 433) zu erklären: Va-
siensfes) Voc(ontii) C. Sappio C. filio Volt(inia) Flavo praefect(o) hilien-
sium . . . qui HS |XI/| rei publicae Iuliensium quod ad HS |JOLOT|
ussuris perduceretur testamento reliquit, idem HS L ad porticum ante tlier-
mas marmoribus ornandam legayit. Denn weder wird man bei der res
publica Iuliensium mit Henzen (zu n. 6943) an Forum Iulii denken dürfen,
noch mit Herzog (zu n. 433), der übrigens sonst richtig die Iulienses
302
Hirschfeld.
den später zu besprechenden praefecti pagorum, vorgesetzt ist. 1
Dass die Stadt aber auch das Cognomen Augusta gehabt habe,
ist dagegen eine ebenso unrichtige Behauptung, 2 als dass sie
als die Einwohner von Vasio erklärt, die praefectura Julienaium als eine
praefectura cohortis Vocontiorum fassen, noch schliesslich mit ßenier (bei
Desjardins, Table de Peutinger S. 439) die Julienses für Bewohner eines
pagus oder vicus der Vocontier halten dürfen. Abgesehen von dem Fund
ort in der Hauptstadt selbst spricht dagegen die Höhe der geschenkten
Summen (1,200.000 Sesterzen, die durch Zinsen auf vier Millionen ge
bracht werden sollen) und die Bestimmung des Legates von 50.000 Se
sterzen, wonach bereits Thermen mit einem Porticus vorhanden waren,
was offenbar auf einen nicht ganz unbedeutenden Ort hinweist. Auf ähn
liche Benennungen, wie Regini Iulienses, hat bereits Herzog a. a O. hin
gewiesen; vgl. auch Detlefsen, Index zu Plinius S. 215 s. v. Iulienses und
die coloni Iulienses in der colonia Opsequens Iulia Pisana bei Wilmanns
n. 883.
1 Ausser dem praefectus Iuliensium findet sich ein allem Anschein nach
mit demselben identischer praefectus Vasiensium (über den praefectus
Vocontiorum vgl. S. 310 Anm. 2) in einer im Jahre 1860 zu Vasio im
alten Theater gefundenen Marmorinschrift, die sich jetzt in Avignon im
Musee Calvet befindet und meines Wissens nicht publicirt ist. Ich theile
sie nach meiner Copie mit (XII n. 1375):
FAB RßP R A E Fß
I ENS • 11 ■ ÄED-VOC
O S CÄ E NW- NARMORfe
O RN Ä R I • "E STÄMEN-IVSST
V E T V STATE ■ CONSVMPT-R'P-REST
Die Inschrift gehört der schönen Schrift nach spätestens dem zweiten
Jahrhundert an, und da es am Ende heisst: vetustate consumpt(um) r(es)
p(ublica) restfituif), so wird der erwähnte praefectus Vasiensium, nach
dessen testamentarischer Bestimmung das Proscaenium des Theaters mit
Marmor ausgeschmückt worden ist, wohl in die erste Kaiserzeit zu setzen
sein; dass daher diese Präfectur auch in späterer Zeit noch fortbestanden
hat, ist vorläufig nicht zu erweisen. Dass es sich hier um das (in der
Stadt) höchste Amt handelt, wird durch die Iteration desselben wahr
scheinlich; ob der aed(ilis) Vocontiorum) als Landesbeamter jedoch im
Range höher gestanden hat, ist nicht sicher, wenn auch die praefectura
fahrum in der Regel frühzeitig bekleidet zu werden pflegt und man daher
die Aemterfolge für eine aufsteigende zu halten geneigt sein möchte.
2 Dieselbe beruht nur auf der falschen Erklärung der Abkürzungen in der
Inschrift einer flam(inica) Iul(iae) Aug(ustae) (also der Livia vor der
Gallische Studien.
303
den Titel einer Colonie besessen habe ; vielmehr wird sie nur,
abgesehen von der allgemeinen Bezeichnung res publica, 1 in einer
allerdings nicht ganz unverdächtigen Inschrift 2 civitas Vas(iensium)
genannt. Unter den blühendsten Städten des narbonensischen
Gallien führt sie ein Schriftsteller der ersten Kaiserzeit 3 auf und
sie allein erwähnt im Vocontier-Gebiete der Geograph Ptolemaeus;
später erscheint sie nur bei Sidonius, in der Notitia Galliarum 4
und in den Concilacten; auch die zahlreichen in und bei der
Stadt gefundenen Inschriften bieten für die Stadtgeschichte kaum
einen Ertrag und die Seltenheit der in ihnen erwähnten Hand
werkergilden (fabri centonarii und opifices lapidarii) spricht
nicht für eine bedeutende Entwickelung der Industrie. Ohne
Zweifel ist Yasio, das entfernt von den grossen Strassen weder
politisch, noch commerciell eine Rolle spielen konnte, stets eine
von der römischen Cultur kaum berührte, ackerbautreibende
Landstadt geblieben.
Das Gebiet der Vocontier zerfiel nach gallisch-germani
scher 5 Sitte in eine Anzahl von Gauen (pagi), deren Namen
Apotheosirung durch Claudius) Vas(iensium) Voc(ontiorum), XII n. 1363 =
Henzen n. 5222) wo die Neueren, obgleich Henzeu bereits die richtige Er
klärung gegeben hat, lul(ia) Aug(usta) Vas(ione) Voc.(ontiorum) ergänzen.
1 C. J. L. XII n. 1282 (Herzog n. 439) und n. 1375 (ined.); über die res
publica Iuliensium s. oben S. 301 Anm. 4.
2 C. J. L. XII n. 1381 (Moreau de ViSrone Voconces p. 130).
3 Pomponius Mela II, 75.
4 Ptolemaeus II, 10, 7; Sidonius epp. V, 6 und VII, 4: Vasionense oppi-
dum; Notitia Galliarum XI, 10: civitas Vasiensium.
5 Vgl. die Zusammenstellung der pagi in Gallien aus Schriftstellern und
Inschriften hei Delocho Etudes sur la geographie historique de la Gaule
in Memoires de Vacad. des inscr. ser. II t. 4, 1860, S. 346 ff. und besonders
S. 373 ff. Longnon, Geographie de la Gaule au VE siede S. 24 ff. Waitz,
Deutsche Verfassungsgeschiclite, I 3 S.222 und die dort angeführten Schriften.
Baumstark,Urdeutsche Staatsalterthümer S. 330ff. Mommsen im Hermes 16
S. 450 ff. und S. 483 ff., dessen Worten (S. 450): ,wo sonst (ausser in den
helvetischen) in den gallischen Inschriften pagi begegnen, scheint das
Wort in dem eigentlich italischen, von jenem gallischen wesentlich ver
schiedenen Sinn gesetzt zu sein 1 , ich jedoch betreffs der pagi bei den
Vocontiern und Allobrogern nicht beipflichten kann. Wo der pagus, wie
hier, als eine unter eigenen Beamten stehende Unterabtheilung der Civitas
auftritt, entspricht er ohne Rücksicht auf seine Grosse durchaus dem Be
griffe des keltisch-germanischen Gaus, wie ihn Waitz a. a. O. Anm. 1 mit
Recht definirt: jede civitas hat die pagi als Unterabtheilungen; diese
304
Hirschfeld.
noch grossentheils erhalten sind. So nennt Plinius den pagus Verta-
comacorum,* vielleicht eines ursprünglich unabhängigen, später
zum Vocontier-Gebiet geschlagenen Stammes. Dieser, wie die
übrigen inschriftlich bezeugten pagi, 2 sind als grössere Unterab
theilungen und Verwaltungsbezirke der dvitas zu fassen, welche
von freigeborenen Präfecten 3 und von ihnen im Range unter
geordneten Aedilen 1 verwaltet werden, die in ihren Befugnissen
mögen an Grösse verschieden gewesen sein 4 (vgl. ebendas. S. 223 Anm. 1);
auch gibt Mommsen (a. a. 0. Anm. 1) selbst zu, dass der Unterschied mehr
quantitativ als qualitativ sei-, aber auch an Grösse hat vielleicht z. B. der
pagus Vertacomacorum den helvetischen nicht nachgestanden. — Heimats
bezeichnung nach pagus und vicus findet sich in Cemenelum an der Grenze
der Narbonensis: C. J. L. V n. 7923, vgl. add. p. 931 (darnach ist allem
Anschein nach gefälscht die Inschrift bei E. Blanc, Epigraphie des Alpes
Maritimes Ip. 94) und in Pannonien (C. J. L. VI n. 3297, vgl. Voigt, Drei
epigraphische Constitutionen S. 111), wofür in Moesien, Thracien, Syrien
regio und vicus eintritt (vgl. Marini, Arvali S. 476*, Archäol.-epigr. Mit
theilungen aus Oesterreich IV, S. 127). Ganz eigentlnimlich ist der Ge
brauch von pagus (für compaganif) in zwei britannischen Inschriften:
C. J. L. VII n. 1072: pagus Vellaus milit(ans) coh(orte) 11 Tung(rorum)
und n. 1073: pagus Condrustis mili[t(ans)] in coh(orte) II Tungrorum.
1 Plinius, n. h. IH, 124: orta Novaria ex Vertamacoris, Vocontiorum hodie-
que Pago, non (ut Cato existimat) Ligurum; der beste Codex Leidensis
(A) hat nach Detlefsen uertamocoris, der Riccardianus: uertacoinacoris;
ob Detlefsen im Text und Index mit Recht Vertamacoris schreibt, ist
mir zweifelhaft. Gegen die gewöhnliche Identification dieses pagus mit
dem heutigen Vercors im Norden des Vocontier-Landes erklärt sich
Longnon, Geographie S. 25 Anm. 4.
2 Ueberliefert sind folgende Namen: Aletanus, Bag., Bo. . . ., Deobensis,
Epotius, lunius (vgl. die folgenden Anmerkungen).
3 C. J. L. XII n. 1529 (Herzog n. 498): praef. pagi Epoti\ n. 1376 (Revue
arch&ol. n. s. 19, 1869, p. 301): praef. vigintivirorum pagi Deobensis;
n. 1307 (Longperier, Bull, arclieol. de VAth&naeum frangais I, p. 16,
unsicheren Fundortes, aber wahrscheinlich, wofür auch die Dedication
Matris, deren Cult hier sehr verbreitet war, spricht, aus dieser Gegend):
praefectus pagi Iuni; n. 1371 (Allmer, Bull, de la Drome 1876 p. 210):
praef. Bo . . . tior, wo schwerlich Bo[con]tior zu ergänzen ist; n. 1708
(ined., gefunden in Le Pegue): praef. pa[gi . . der Name ist verloren.
4 C. J. L. XII, n. 1377 (Herzog n. 447): aed(ilis) pag(i) Bag.; n. 1711 (Herzog
448): aedili pagi Aletani (vielleicht schon ausserhalb des Gebietes der
Vocontier); n. 1564 (Allmer, Bull, de la Drome 1873 p. 183): aed(ilis)
iter(um) ohne Zusatz, wahrscheinlich, da die Inschrift fern von den
städtischen Territorien gefunden ist, ebenfalls auf einen pagus oder viel
leicht vicus zu beziehen.
Gallische Studien.
305
durchaus dem römischen Vorbilde entsprochen, 1 aber allem
Anschein nach keine Collegen zur Seite gehabt haben. 2 Auch
bei den benachbarten Allobrogern hat sich diese nationale
Eintheilung des Landes erhalten, jedoch nur, was Beachtung
verdient, in dem östlichen gebirgigen Theile ihres Territoriums:
in Savoyen, 3 während dieselbe in dem der Colonie Vienna
näher gelegenen Gebiete schon frühzeitig geschwunden sein
dürfte. Die grösseren und kleineren Ortschaften (vici) derVocon-
tier, die Plinius unter den neunzehn oppida ignobilia versteht
und von denen nicht wenige sich mit grösserer oder geringerer
1 Vgl. die interessante Inschrift, von der ich einen guten Abklatsch der
freundlichen Intervention des HerrnTribunalrathes Accarias in Grenoble
verdanke, C. J. L. XII n. 1377 (Herzog n. 447): L. Veratius Rusticus aedfi-
lis) pag(i) Bag. leg. beneßciaria ex mul(tis) et aere fracto, d. h. eine
Widmung aus den Strafgeldern (multae = aes multaticium) und den als
nicht richtig befundenen und daher von den Aedilen kraft ihrer Amts
gewalt zerbrochenen Maassen und Gewichten (frangere ist der technische
Ausdruck dafür, vgl. die Beispiele bei Mommsen St. R. II 2 S. 489
Anm. 2). Ganz entsprechend dem aere fracto heisst es in anderen Aedilen-
inschriften bei Wilmanns n. 724: panarios fabricandos ex metr[etis et
ponderibjus iniquis . . . curaverunt, und n. 2113: ex iniquitatibus nien-
surarum et po7ider(um) . . . aed(iles) stateram aerea(m) et pondera decret(o)
decur(ionum) ponenda curaverunt. Die Ergänzung von leg. bleibt zweifel
haft; Mommsen (Annali delV Instituto 1854 S. 43 ff. und Stadtrechte von
Salpensa und Malaca S. 450 Anm. 175) erklärt legfata et) beneßciaria:
,ossia, come credo, i donai'j riposti net tempio sia per donazione testamen-
taiia } sia per altro beneßzio 1 ; mir scheint die Ergänzung leg(e) beneßciaria
vorzuziehen, worunter vielleicht (obschon der Ausdruck beneßciaria auf
fällig ist) eine allgemeine Vorschrift betreffs der Verwendung der für
öffentliche Wohlthaten bestimmten Gelder zu verstehen ist.
2 Sowohl die Präfecten, als die Aedilen treten in den bis jetzt bekannten In
schriften durchaus ohne Collegen auf, und besonders spricht die in der
vor. Anm. erörterte Stiftung aus öffentlichen Strafgeldern gegen die Col-
legialität, da man sonst, wie in anderen ähnlichen Inschriften, bei einem
solchen officiellen Act beide Aedilen vertreten zu sehen erwarten müsste.
3 Erhalten sind drei pagi, deren Namen jedoch in den Inschriften sämmtlich
abgekürzt sind, nebst ihren Präfecten: pagus Dia. (Allmer inscr. de
Vienne II n. 219, in Hauteville bei Rumilly gefunden), pagus Oct. (Allmer
II n. 221: Aoste auf der Grenze von Isere und Savoie), pagus Vater. (Allmer
II n. 220: St-Sigismond bei Albertville); die beiden letzteren Namen sind
wohl von den Gentilnamen Octavius und Valerius abgeleitet, der erste viel
leicht zu ergänzen Diafnensis). Dass auch hier die vici Unterabtheilungen
des pagus bilden, wird durch die zweite Inschrift bestätigt, in der der
praef(ectus) pagi Oct. den vican[i AuJgustani, d. h. den Bewohnern von
Sitzungsber. d. pkil.-liist. CI. CHI- Bd. I. Hft 20
306
Hirschfeld.
Wahrscheinlichkeit benennen und localisiren lassen, 1 haben
keine eigene oder doch nur untergeordnete Localbehörden-
gehabt.
Blicken wir nun auf die Verfassung des gesummten Ge
bietes der Voeontier, so ergibt sich sofort, dass dasselbe als
eine einzige civitas im gallischen Sinne fortbestanden hat und
verwaltet worden ist. Schon äusserlich tritt dies darin zu
Tage, dass abgesehen von den Militärinschriften die Bewohner
des Gebietes schlechthin als Voeontier bezeichnet werden; 3
deutlicher noch in der Existenz der oben erwähnten servi Vo-
contiorum, am schärfsten aber in der Thatsache, dass sowohl
der Gemeinderath, als auch die Beamten und Priester 1 durch
aus als der ganzen Civitas, nicht als einem bestimmten Orte
derselben zugehörig bezeichnet werden. 5 Angaben Uber die
Aoste ein Geschenk macht. — Der angebliche pagus Luminis (Allmer
III n. 775) ist allem Anscheine nach dem Namen des Fundortes Limony
(dep. de l’Ardkche) zu Liebe gefälscht.
1 Plinius, n. h. 3, 37 : oppida vero ignobilia XIX, sicut XXIV Nemausensi-
bus adtributa. Wahrscheinlich haben dazu gehört Segustero (Sisteron),
Mons Seleucus (Mont-Saleon), Alaunium (Aulun); andere sind nicht so
sicher zu localisiren, vgl. Vallentin, Bull, des Hautes-Alpes I S. 24 ff.
2 Dahin gehören wohl die vielleicht sacralen curatores in der im Vocontier-
Gebiete gefundenen Mars-Inschrift (XII n. 1566 = Long p. 371), wenn sie
nicht nur für diesen bestimmten Fall bestellt worden sind. — Ueber die
decem lecti in Aquae (Aix-en-Savoie), vergleichbar den in einigen Collegien
vorkommenden decemprimi, vgl. meine Restitution der Inschrift bei Allmer,
Revue epigr. du Midi I S. 351. Selbst die bedeutenden Orte Cularo und
Genava stehen bekanntlich, so lange sie vici von Vienna sind, d. h. bis
ins vierte Jahrhundert, unter viennensischen Beamten, nur ist in Genava,
wie auch in italischen Vici, die Aedilität als Vicanalamt nachweisbar:
Allmer II n. 225.
3 Justinus 43, 5, 11; Plinius, n. h. 7, 78 und 29, 54; C. J. L. V n. 7822;
Herzog n. 178; Allmer III n. 371.
1 Dies ist bereits von Long und Allmer hervorgehoben worden.
5 Dass als Functionsort der Priester der Name Dea Augusta zuweilen
hinzugefügt wird, kann nach unseren obigen Ausführungen nicht da
gegen geltend gemacht werden. Abgesehen davon führen die Götter-
wie die Kaiserpriester oder Priesterinnen entweder keinen Zusatz oder
werden sogar ausdrücklich als Priester der Vocontii oder Vasienses Vo-
contii bezeichnet, vgl. XII n. 1362 = Deloye, Ecole des chartes, sdr. II
vol. 4 p. 308: flaminic(a) Vas(iensium) Vocfontiorum); n. 1363 = Henzen
n.5222,s. S. 302 Anm. 2; n. 1366 = Herzog n. 435: flaminicfaJVocfontiorianJ;
n. 1567 = Herzog n. 450: sacerdfosj civitatis Voc(ontiorum). Nur der
Gallische Studien.
307
Competenz des ordo Vocontiorum, dessen Mitglieder in der
älteren Zeit den ehrenvolleren Namen Senator geführt zu haben
scheinen, 1 und über die Mitwirkung des Volkes bei der Gesetz
gebung und den Wahlen fehlen leider vollständig, 2 wahrschein
lich war jedoch die Vei'fassungsform, wie überhaupt in den
gallischen Civitates nach Abschaffung des Königsthums, eine
durchaus aristokratische. 3 Neben dem Gemeinderath oder rich
tiger wohl als engerer Executivausschuss desselben findet sich,
etwa vergleichbar den Fünfzehnmännern in Massalia und den
äezdxpu-oi in asiatischen Städten, 4 aber durchaus abweichend
von römisch - municipalen Verfassungsformen und daher wohl
sex(vir) Aug(ustalis) Vas. (XII n. 1370 = Herzog n. 438) hat vielleicht
zum Unterschied von den in Dea befindlichen Sexviri den Zusatz Vasione
geführt; doch ist die Richtigkeit der Copie dieser verlorenen Inschrift
nicht zweifellos.
1 In einer nur von Peiresc handschriftlich überlieferten Inschrift (XII
n. 1514) aus Manosque wird ein T. Viriatius Priscus sen. Voc. genannt,
was, die Richtigkeit der Copie vorausgesetzt, eine andere Deutung kaum
zulässt. Dazu kommt eine fragmentirte Inschrift von Die (XH n. 1591
= Long p. 467): LDDSV, die wohl l(oco) dfatoj d(ecreto) s(enatus)
V(ocontiorum) aufzulösen sein wird, und die analoge Formel in der In
schrift des coll(egium) Venator (um) Deensium (XII n. 1590 = Herzog
n. 468): [l(oco)] d(ato) ex d(ecreto) s(enatus) V(ocontiorum), denn die von
Henzen (n. 7209) vorgeschlagene und von Herzog angenommene Er
gänzung ex d(ecreto) s(oluto) v(oto) ist nicht zulässig. — Später tritt
dann der Titel decurio auf (Herzog n. 456 und wohl auch in einigen
nicht ganz sicher zu ergänzenden Fragmenten). — Senatus wird der
Rath der gallischen Civitates bekanntlich oft von Caesar genannt, vgl.
die mir während des Druckes durch die Freundlichkeit des Verfassers
zugegangene gründliche Abhandlung von Gustav Braumann: Die Prin-
cipes der Gallier und Germanen bei Caesar und Tacitus, Berlin 1883,
S. 17 und dazu Cicero, Catil. III, 5, 10 ff.; ebenso, um von italischen
Städten zu schweigen, in der civitas foederata Bocchoritanorum: C. J. L.
II n. 3695, vgl. ebendas, n. 1343. 1569 und C. J. L. X n. 10525.
2 Kaum angeführt zu werden verdient in dieser Hinsicht, dass der ordo
Vocontiorum in Dea ein Monument setzt ex consensu et postulatione po-
puli: XII n. 1585 = Herzog n. 453.
3 Caesar, b. G. VI, 13, 1: in omni Gallia eorum hominum, qui aliquo sunt
numero atque honore, genera sunt duo (vgl. §. 3: älter um est dmiidum,
alterum equitum); nam plebes paene servorum habetur loco, quae nihil
audet per se, nullo adhibetur consilio. Vgl. dagegen Braumann a. a. O.
S. 15 ff., dessen Ausführungen ich jedoch betreffs der Volkssouveränität
nicht beipflichten kann.
4 Marquardt, Staatsverwaltung 1 2 S. 214.
20*
308
Hirschfeld.
ebenso wie die undecemviri in Nemausus als national-keltische
Institution anzusprechen, ein Collegium von zwanzig Männern, 1 zu
deren Befugnissen gewiss nicht allein die Bestellung der prae-
fecti pagorum, 2 sondern wahrscheinlich die gesammte Executive
gehört hat und die, wie alle Oberbeamten der civitas Vo-
contiorum ihren Sitz in Vasio gehabt haben werden. Duovirn
oder Quattuorvirn, wie sie den römischen Colonien und Muni-
cipien eigen sind, fehlen hier durchaus; an ihrer Statt finden
sich Prätoren, mit und ohne den Zusatz Vasiensium oder Vasien-
sium Vocontiorum, 3 die bekanntlich auch sonst, abgesehen von
Italien, in verschiedenen Städten des narbonensischen Gallien 4
und vereinzelt auch in Spanien 5 in der ersten Kaiserzeit nach-
1 Ara nächsten stehen diesen Zwanzigmännern die undecimviri in Nemausus
(Herzog n. 109: IIII vir(um) et XI virfum) (vgl. auch die cirtensische
Inschrift C. J. L. VIII n. 7041: princeps et undecimprimus yentis Saboi-
dum), während die in einigen spanischen Städten vor Ertheilung des
latinischen Rechts auftretenden decemviri (C. J. L. II n. 1953 mit Anm.
und add. n. 5048: X vfir) maximus) andere Beamte wohl überhaupt
nicht neben sich gehabt haben. Dass die Zwanzigzahl bei den Vocontiern
in Zusammenhang mit den 19 oppida ignobilia nebst Vasio stehe, ist,
wenn auch der einundzwanzigste Ort Lucus Augusti vielleicht erst römi
schen Ursprunges sein dürfte, sicherlich nicht anzunehmen.
2 C. J. L. XII n. 1376 (Bertrand, Revue archeol. n. 19, 1869 p. 301: ge
funden bei Seguret in der Nähe von Vaison, jetzt im Museum von St-
Germain) : Valeri(i) Maximi . . . praef(ecti) vigintivirorum pagi Deobensis,
der demnach von den Zwanzigmännern bestellt sein muss. Dass der
Zusatz bei den Präfecten sonst fehlt, beweist nicht, dass diese Bestel
lung nur ausnahmsweise erfolgt ist.
3 C. J. L. XII n. 1369 (Herzog n. 432): pr(aetori) Vas(iensium), ob am
Schlüsse Vor(ontiorum) ausgefallen ist, bleibt fraglich, ebenso bei n. 1371
(Allmer, Bull, de la Dröme 1876 S. 210: pi(aetori) Vfax . . . ]. Ohne Zu
satz n. 1586 (Herzog n. 457, in Die gefunden) :praetor, flamen, vgl. n. 1584
(Allmer, Bull, de la Brome 1873 S.187 mit Ergänzung): [praet.Jor /[tarnen].
4 Vgl. Herzog, de praeioribus Galliue Narboiiensis municipalibus (Leipzig
1862) und Historia Galliae Narbonensi* S. 56 ff. und S. 213 ff.; Prätoren
sind nachweisbar in Narbo, Nemausus, Carcaso, Aquae Sextiae (Avennio
ist zu streichen, vgl. S. 309 Anm. 3), also mit Ausnahme von Narbo nur in
Städten latinischen Rechtes. Die praetores duoviri in Narbo und die
praet.ores quattnorviri in Nemausus bilden deutlich die Uebergangsstufe
von den Prätoren zu den gewöhnlichen Magistratsnamen. — Ueber die
Prätoren in Latium vgl. Henzen, Annali delV instituto 1859 S. 196 ff.;
Marquardt, Staatsverwaltung! 2 S. 148.
5 Bis jetzt nur sicher nachweisbar in dem oppidum foederatum Bocchorita-
norum: C. J. L. II n. 3695 vom Jahre 6 n. Chr.; wahrscheinlich sind aber
Gallische Studien.
309
weisbar sind. Gewiss ist der Grund für das häufige Auftreten
dieses Titels in Gallien nicht mit Herzog 1 darin zu suchen, dass
man die Institutionen der übrigen Städte nach dem Beispiel
von Narbo, wo Prätoren sich finden, gestaltet hat, sondern
vielleicht darin, dass praetor als der passendste Titel für den Nach
folger des obersten gallischen Beamten: des vergobretus, wie er
wenigstens bei den Aeduern heisst, 2 erscheinen musste. Dem
nach dürfte vielmehr umgekehrt der Titel praetor in Narbo,
wo er nur in Verbindung mit duovir erscheint, den obersten
Magistraten beigefügt sein, um sie den gallischen Municipal-
beamten zu assimiliren. Vollständig analog diesen Prätoren der
Vocontier ist der Prätor der in vielfacher Hinsicht den Vocon-
tiern nahestehenden Volcae Arecomici, 3 der wohl noch der
Zeit vor der Erhebung von Nemausus zur latinischen Colonie 4
auch in Celsa auf Münzen der Triumviralzeit pr(aetores) duoviri und
pr(aetores) quinqueniiales mit Lenormant, La monnaie dam Vantiquiti III
S. 227 ff. anzunehmen. Auch in Calagurris haben unter Augustus vielleicht
praetor es duoviri fungirt, vgl. die Münze C * MAR * M * VAL * PR * II VIR •
Eckhel, d. n. I p. 40 = Cohen viedailles imperiales I 2 p. 155 n. 677.
1 Herzog, de praetoribus p. 34: ,id tantum peculiare huic provinciae est,
ut quo tempore olibi praetorum vovien prope aholitum erat y eodem in Gal/ia
vovi instituti sint praetores. Qnod nnlla alia ex caussa factum esse "censeo
quam ex Narbovis Ma> tii exemplo*.
2 Caesar, b. G. I, 16, 5; ,Rechtswirker‘ übersetzt Mommsen, R. G. III 6
S. 235, vgl. Zeuss, Gramm, celt. 2. Aufl. S. 857: effioaxV
3 C. J. L. XII n. 1028 (Herzog n. 403): T. Carisius T (Ui) ffd.iu«) p> (netor)
Yolcar(um) dat. Die von Mommsen bei Herzog vorgeschlagene Ergänzung
Volc(avo) ar(avi) dat ist, wie bereits von Anderen hervorgehoben ist (vgl.
Garrucci, Bull. delV inslituto arclieol. 1860 S. 220, syl/oge inscr. Latin.
n. 2221), nicht zulässig, da zwischen VOLC und AR auf dem (auch von
mir gesehenen) Stein kein Punkt steht und derselbe auf dieser sehr sorg
fältig eingehauenen Inschrift nicht fehlen dürfte*, eher könnte man sonst,
was aber ebenfalls nicht zulässig erscheint, geneigt sein, nach Analogie
der Münzaufschriften VOLC AR (de la Saussaye, N nmismaUque de/a Gaule
Narbonnaise S. 149, vgl. Herzog, G. N. S. 53 Anm. 38) Votc(arum) Ar(e-
comicnrumj zu ergänzen.
4 Die Zeit der Verleihung des latinischen Rechtes an Nemausus ist
nicht sicher; Mommsen (Röm. Gesell. III 6 S. 553 und Röm. Münzwesen
S. 675) schreibt sie Caesar zu, jedoch ist sie vielleicht, worüber an
einem anderen Orte zu handeln sein wird, erst später vollzogen worden.
Nach der schönen und alten Schrift gehört die Inschrift von Avignon
(Facsimile bei Garrucci syllog. Taf. 2 n. 9), wozu das Fehlen des Cog-
nomen passt, wahrscheinlich noch der republikanischen Zeit an. — Auf
310
Hirschfeld.
angehören wird, und hier, wie hei den Vocontiern, möchte ich
annehmen, dass abweichend von dem in den Colonien und
Municipien sonst durchgeführten römischen Princip der Colle-
gialität nur ein Prätor an Stelle des einstigen Fürsten oder
Oberbeamten an die Spitze der civitas getreten sei. 1 Wie
lange diese Prätoren fortbestanden haben, ist, da die be
treffenden Inschriften sämmtlich der älteren Kaiserzeit ange
hören, nicht festzustellen, und möglicherweise sind später an
ihre Stelle praefecti Vocontiorum getreten, von denen uns ein
Beispiel in einer fragmentirten und verlorenen Inschrift. 2 er
halten ist. Aber wahrscheinlicher erscheint mir die Annahme,
dass beide Magistrate in der Weise nebeneinander fungirt haben,
dass den Präfecten als einer den Prätoren untergeordneten
nähere Beziehungen zwischen den Vocontiern und Nemausus deutet
übrigens die in Vaison gefundene keltische Inschrift: C€rOMAPOC|
OriAAO'N€OC | TOOTTIOrC I NAMATCATIC | 0QPOT BHAH | CAMICOCIN |
N6MHTON, nach Pictet’s Erklärung (Revue ctrcheol. n. s. 15, 1867 S. 385ff.):
Segomaros Villoneos (filius) magistratus Nemausensis effecit Belisamae
hocce fcvnum (über Minerva Belisama vgl. Orelli n. 1431). Die Inschrift
dürfte trotz der schlechten und oberflächlich eingehauenen Schrift doch
spätestens unter Augustus gesetzt worden sein.
1 Mit Sicherheit ist darüber freilich bei der geringen Zahl der Inschriften
nicht zu entscheiden, aber sowohl der Umstand, dass die Dedication in der
Inschrift von Avignon nur von einem Prätor vollzogen wird, als auch,
was S. 305 Anm. 2 über die Beamten der pagi bemerkt ist, und vor Allem
die von Caesar (b. G. VII, 32, 3) und von Strabo (IV, 4, 3 p. 197) betonte
Nichtcollegialität bei den Beamten der Gallier (vgl. Braumann a. a. 0.
S. 22) empfiehlt diese Annahme.— Die Angabe Caesar’s(5. G.VI, 23, 5): in
pace nullus est communis magistratus, sed prinnipes regionum atque pago-
rum inter suos ius dicunt controversiasque minuunt., wird man keineswegs
von den Germanen auf die in Cultur, wie staatlicher Entwicklung weit
höher stehenden Kelten übertragen dürfen, wenn auch Spuren grosser
Selbstständigkeit der pagi, z. B. in dem Auszug des pagus Tigurinus bei
den Helvetiern (Caesar, b. G. I, 12) hörvortreten und im Norden Galliens
der staatliche Verband ein sehr lockerer gewesen sein dürfte, vgl. Caesar,
b. G. IV, 22, 5 und dazu Braumann a. a. 0. S. 13.
2 C. J. L. XII n. 1578 (Herzog n. 474, gefunden in Luc; nach Angabe
älterer Abschreiber war die Schrift schön, also wohl aus guter Zeit): Felix
praef(ectus) Voc(ontiorum). Ob der oben (S. 302 Anm. 1) besprochene
praefectus Vasiensium mit dem praefectus Vocontiorum. identisch ist, lässt
sich aus dem bis jetzt vorliegenden Material nicht entscheiden. Die Prae-
fecten etwa als Stellvertreter der Praetoren (entsprechend den municipalen
praefecti pro duoviris oder quattuorviris) zu fassen, halte ich für unzulässig.
Gallische Studien.
311
Magistratur die Aufsicht über die Sicherheit des Landes ob
gelegen habe. In einer verlorenen Inschrift aus Le Rasteau
bei Vaison, die uns nur handschriftlich in einer Copie aus dem
Ende des sechzehnten Jahrhunderts überliefert ist, 1 kehrt der Titel
praefectus, aber in ausführlicherer Fassung wieder. Die Inschrift
ist folgendermassen überliefert:
D • M •
L • LAELI ■ F ORTVNATI
PRAEF • PRAESIDIO, ET
PR IVAT • VOC -FLA
MINI AVG-PONTI
FICI L•LAELIVS
OLYMPVS FILIO
P I 1 S S I M O
Wahrscheinlich stand in der dritten Zeile an Stelle des mit
Nachsetzung einer Art von Komma überlieferten PRAESIDIO, auf
dem Original eine von dem Abschreiber missverstandene Ligatur
PRAESIDIOL d. h. praesidiorfum), 1 ein singulärer, nur hier auf
tretender Titel, der aber eine passende Illustration in den das
benachbarte helvetische Gebiet betreffenden Worten des Tacitus
findet: rapuerant pecuniam viissam in Stipendium castelli, quod
olim Helvetii suis militibus ac stipendiis tuebantur. 3 Demnach hat
es solche castella oder praesidia auch im Gebiete der Vocontier
gegeben, und man wird in dem praefectus praesidiorum, wie
bereits Allmer richtig gesehen hat, den Commandanten der
Municipalmiliz zu erkennen haben, vergleichbar dem praefectus
1 C. J. L. XII n. 1368 (Allmer, Bull, de la Brome, 1876 S. 292).
2 Dass praefectus, wo es als militärischer Titel auftritt, in der Regel
den Genetiv bei sich führt, ist bekannt.
3 Tacitus histor. I, 67, vgl. Mommsen, Die Schweiz in römischer Zeit
S. 21: ,Bemerkenswerth ist es, dass noch zu Galba’s Zeit es den Helve-
v tiern gestattet war, im eigenen Lande von ihnen selbst organisirte^und
besoldete Truppen zu halten, was vermuthlich zusammenhängt mit der
grossen durch ihren Gau geführten Militärstrasse, deren Sicherung ihnen
obgelegen haben wird/ Das olim bei Tacitus soll übrigens nicht besagen,
dass zu seiner Zeit diese Sitte bereits abgekommen war, sondern ist in
der in der silbernen Latinität nicht seltenen Bedeutung (vgl. Hand, Tur-
sellin. IV, S. 370, 6; Heraeus zu Tacitus histor. I, 60) ,seit langer Zeit 4
zu fassen.
312
Hirschfeld.
arcendis latrociniis bei den Helvetiern, 1 dem magister hastife-
rorum in Vienna, 2 dem praefectus vigilum et armorum in
Nemausus 3 und anderen ausserhalb von Gallia Narbonensis
erscheinenden ähnlichen municipalen Commandanten.' Dement
sprechend möchte ich den zweiten Thei] des Titels ergänzen:
et privat(orum) und darunter die manus privata, d. li. die
Municipalmiliz der Vocontier verstehen.
Den Prätoren und Präfecten standen ohne Zweifel an Rang
die aediles Vocontiorum nach, 5 die nicht mit den in den einzelnen
pagi fungirenden Aedilen zu verwechseln sind. Fügt man zu den
genannten Beamten schliesslich noch einen Vasfiensium servus) ta-
bularius 6 hinzu, so ist, abgesehen von den oben besprochenen servi
Vocontiorum in Dea, der ganze Beamtenapparat der Vocontier, so
weit er uns bis jetzt bekannt ist, erschöpft: eine Organisation,
die, abgesehen von den Aedilen, durchaus unrömisch ist und allem
Anschein nach als Bild einer keltischen Civitas mit ihren pagi
und ihren theils für das Gesammtgebiet, theils für die einzelnen
Gauen bestellten Beamten wesentlich unverändert sich bis in
die Kaiserzeit erhalten hat. Sicherlich wird es im mittleren
und besonders in dem von römischer Cultur wenig berührten
nördlichen Gallien nicht an Beispielen einer ähnlichen Conser-
virung nationaler Verfassungsformen gefehlt haben, 7 aber leider
1 Mommsen, bixcr. Helvet. n. 119.
2 C. J. L. XII n. 1814 (Allmer II n. 211).
3 Vgl. Herzog 0. N. S. 223 ff.
4 Vgl. Jung, Die Militärverhältnisse der provinciae inermes in der Zeitschrift
für die österr. Gymnasien 25, 1874 S. 668ff.; Marquardt, Staatsverwal
tung II S. 520.
5 C. J. L. XII n. 1375 (ined.), n. 1514 (ined.), n. 1579 (Allmer. Bull, de la
Drome, 1876 S. 307). In der Inschrift n. 1371 (Allmer, a. a. O. S. 210)
ist wohl eher ein Aedil eines Pagus, als der Voc.ontii anzunehmen.
6 C. J. L. XII n. 1283 (Bertrand, Revue archdol. n. s. 19, 1869, S. 301).
— Der angebliche ab aer(ario) bei Long S. 305 = Herzog n. 462 ist
verlesen aus FRA ER.
7 Selbst der keltische Priestertitel gutuater ist noch in zwei Inschriften
von Le Puy-en-Velay und Mäcon erhalten: Desjardins, GeographieI S. 415
Anm. 2, vgl. II S. 511 Anm. 3: ,i7 serait possible qu’Hirtin s (b. G. VIII,
38, 3) eüt pris le türe sacerdotdl de ce personnage pour un nom propre l .
Dass bei Hirtius für das in den Ausgaben recipirte Gutruatuni vielmehr
Gutvatrum einzusetzen ist, erhellt schon aus der handschriftlichen
Ueberlieferung, vgl. Duebner (edit. 1867) zu der Stelle: ,Gutuatrum
hie A (das sind Paris. 5763, Vät.. 3864, Moysiacensis) praeter B {Bon-
Gallische Studien.
313
sind dort die Inschriften meist zu dünn gesäet, um aus ihnen
bei dem vollständigen Schweigen der literarischen Tradition
ein Bild der antiken Verhältnisse erschliessen zu können. Für
das Gebiet der Vocontier ist dagegen durch die zahlreichen
zum Vorschein getretenen Monumente eine solche Möglichkeit
geboten, wenn auch noch manche Fragen vorläufig unbeantwortet
bleiben müssen und vielleicht niemals ihre Lösung finden
werden. Aber schon allein die Thatsache, dass ein Theil der so
energisch romanisirten narbonensischen Provinz seinen national'
keltischen Zuschnitt so treu hat bewahren können, ist von
hohem geschichtlichen Interesse, nicht allein für die Erkennt-
niss der uns so wenig bekannten gallischen (und bis zu einem
gewissen Grade auch germanischen) Verfassungsformen, sondern
nicht minder zur richtigen Würdigung der römischen Coloni-
sationspolitik, die überall in ebenso geschickter als schonender
Weise den nationalen Eigenthümlichkeiten Rechnung zu tragen
und dieselben dem römischen Wesen allmälig und unmerklich
zu assirniliren verstanden hat.
Werfen wir zum Schluss einen Blick auf die im Vo
contier - Lande gefundenen Inschriften sacraler und privater
Natur, so treten uns auch hier noch mancherlei Anzeichen
der Erhaltung nationaler Eigenart entgegen. Allerdings ist
nur ein einziges keltisches Document, natürlich in griechischer
Schrift, zum Vorschein gekommen, während griechische In
schriften sich vereinzelt finden und die freilich meist kurzen
garsictnus primus), qui Gutruatrum 1 , während in demselben Capitel am
Ende, wo die Worte a Gutruato aber als offenbar interpolirt von den
neueren Herausgebern getilgt werden, allerdings die Handschriften Gutruato
haben. Bei Caesar 4. G. VII, 3, 1, ist in den besten Handschriften über
liefert: Carnut.es, Cot.uato et Concon(n)et.odumno ducibus, wo jetzt mit Un
recht für Coluato meist Gutruato eingesetzt wird, vgl.Nipperdey, Prolegomena
zu seiner Ausgabe S. 87 ff. und Glück, Keltische Namen S. 110; denn
wenn auch ohne Zweifel dieselbe Person gemeint ist, so hat doch
Caesar sicherlich den Namen, nicht die Würde des oder vielmehr der
Anführer angegeben, während Hirtius, der sich ausdrücklich auf Caesar
bezieht (,quorum in civitate superiore commentario Caesar exposu.it initium
belli esse ortunvielleicht überhaupt keinen Namen nennen, sondern
nur hervorheben wollte, dass der Rädelsführer die hohe priesterliche
Würde eines gutualer bekleidet habe. Es ist daher nicht nothwendig,
Hirtius eines Irrthums zu bezichtigen.
314
Hirsch fei d.
und inhaltleeren lateinischen in grossen Massen vertreten sind; 1
ein Beweis gegen die Fortdauer der Muttersprache im mündlichen
Verkehre ist aber, wie Hettner in seinem interessanten Auf
satz: ,Zur Cultur von Germanien und Gallia Belgica* 2 mit Recht
bemerkt, aus der geringen Anzahl keltischer Inschriften gewiss
nicht zu entnehmen. Dagegen haben sich keltische Namen hier
noch vielfach erhalten, 3 wie auch die durchgängige Hinzufügung
des Vaternamens, bisweilen seihst ohne den Zusatz filius, 4
1 Ueber die keltische Inschrift aus Vaison s. S. 309 Anm. 4; über die
keltischen Inschriften von Apta: S. 292 Anm. 3, Die von Becker und Pictet
für keltisch oder für aus keltischen und lateinischen Worten gemischt
gehaltene Inschrift aus Malaucene bei Vaison (sie ist rechts unvoll
ständig): SVBRON | SVMELI | VORETO | VIRIVSF (XII n. 1351 =
Deloye, Ecole des chartes s6r. II vol. 4 p. 326; besser bei Allmer, Bull,
de la Brome 1876 S. 208) ist gewiss römisch; wäre sie keltisch, würde
sie in griechischer Schrift eingehauen sein. — Griechische Inschriften
bei den Vocontiern: C. J. Gr. III n. 6780; Long S. 355; Deloye, Congres
archeol. 1855 S. 439 ff.; Allmer IV n. 2032. Die Zahl der in dem
Vocontier-Gebiete gefundenen lateinischen Inschriften beträgt etwa 450.
2 Westdeutsche Zeitschrift II, 1883 S. 7. Wenn Hettner übrigens S. 25
Anm. 2 dagegen polemisirt, dass ich in meinem Aufsatz über ,Lyon in
der Römerzeit‘ die Intensivität der Romanisirung in Gallien im Vergleich
zu Germanien zu hoch angeschlagen habe, so bemerke ich, dass ich,
wie aus dem Zusammenhänge hervorgeht, dabei nur den Süden Galliens
im Auge gehabt habe. Ueber den Gebrauch der keltischen Sprache in
Gallien während der Kaiserzeit vgl. Diefenbach, Origines Europaeae
S. 157 ff. und Budinszky: die Ausbreitung der lateinischen Sprache
(Berlin 1881) S. 114 ff.
3 So, um von einigen nicht mit Sicherheit als keltisch zu bezeichnenden
Namen abzusehen: Adcultus,Admcitius (wohl auch Adrumetus), Ambidavus,
Caresus, Daverius, Coddonus, Iovincatus (wohl auch das zweimal vor
kommende Ioventius), Licnus, Litugenus, Lutevus, Matto, Magiacus y
Mogetus, Vassatus (?), Vassedo, Vercatus. Frauennamen: Epato, Namuta,
Rituca.
4 C. J. L. XII n. 1310 (Vallentin, Bulletin 6pigrapliique I S. 187): Ingenua
Solimuti; n. 1348 (Proces verbaux de VAcad. du Gard, 1857/58 S. 32):
Sedatus Sacrini. — Eigenthümlich ist bei zwei Frauen (wohl Mutter
und Tochter) die Angabe des Namens der Mutter an Stelle des Vaters:
XII. n. 1433 (Allmer, Bull, de la Brome 1876 S. 305): Modesta Namutae
fil(ia) und n. 1435 (Millin IV S. 154): Namuta Minutae fil(ia); doch
finden sich ähnliche Beispiele auch bei den Volcae Arecomici, z. B. M6-
nard, Nimes VII S. 401: Casuniae Casunae f(iliae) Servatae, wo das Gen-
tile der Tochter aus dem Namen der Mutter gebildet ist, ähnlich wie in
Nordgallien oft das Gentile des Sohnes aus dem barbarischen Namen
Gallische Studien.
315
auf keltischen Gebrauch hinweist. Auch deuten manche Am
Zeichen darauf hin, dass man sich nicht ganz leicht und nicht
ohne Missverständnisse an die römische Art der Namengebung
gewöhnt hat: so der Gebrauch eines abgekürzten Pränomens,
das die Stelle des Namens überhaupt vertritt,' so die Benen
nung Pupus und Pupa, die in römischen Inschriften bekannt
lich nur kleinen Kindern eigen ist, hier aber auch für ältere
Personen sich mehrfach - verwendet findet. Bemerkenswerth ist
ferner der zwar auch in anderen Gegenden vorkommende, aber
bei den Vocontiern und in dem benachbarten Territorium von
Apta besonders häufige Gebrauch, die drei Namen des Dedi-
canten oder des Bestatteten nur mit den Initialen zu bezeichnen, 3
oder sogar auf den Grabsteinen den Namen des Todten gar
nicht zu erwähnen, sondern sich einzig und allein auf die An
gabe der Maasse des zu dem Grabmal gehörigen Terrains zu
beschränken.' Damit dürfte die ganz eigenthiimliche Form der
Grabsteine in dieser Gegend, besonders in und bei Vaison, Zu
sammenhängen, die mehr Terminalcippen, als Grabsteinen ähn
lich sehen 5 und offenbar nicht so sehr zu dem Zwecke errichtet
sind, das Andenken an den Verstorbenen zu erhalten, als viel
mehr als Grenzsteine und Doc.umente für den Umfang der area
des Vaters (vgl. Hettner, a. a. O. S. 7) abgeleitet wird. Ein Mann wird als
Sohn der Mutter bezeichnet z. B. in einer bei Alais (depart. du Gard) ge
fundenen Inschrift (Germer-Durand, Academie du Gard, 1868/69 S. 143):
Iullini Mariae ßli.
1 C. J. L. XII n. 1296 (Long S. 475): L(ucius) Ceioni f(ilius); n. 1314
(Deloye, Ecole des chartes y ser. II, t. 4, S. 316): Sex(tus) Marcelli
lib(ertus); n. 1322 (Deloye, ibid. S. 326): Marcus ausgeschrieben, ohne
Zusatz.
2 C. J. L. XII n. 1640 (Grut. 695, 3): Secundino Pupi filio; n. 1678
(Long S. 466): / VJerino Pupi f(ilio), Vera Pupi f(ilia)\ n. 1727 (Orelli
n. 2840): Pupa con[t]ubernalis.
3 So in dem Vocontier-Gebiete XII n. 1287 (ined.): M. I. F.; n. 1419
(ined.): Q. L. B.; n. 1445 (Long S. 447; das Pränomen ist zerstört):
S. S.; n. 1468 (Bertrand, Revue archeol. n. s. 19, 1869 S. 301): C. V. R.;
n. 1533 (Vallentin, Visite au musee de Gap S. 4): [C]n. H. S. Bei an
deren ist Pränomen und Gentile nur mit den Initialen bezeichnet, aber
das Cognomen ausgeschrieben.
4 C. J. L. XII n. 1476—1489.
5 Zwei sehr häufige Typen dieser Gattung sind nach einer Zeichnung
Alliner’s im 0. J. L. XII S, 162 in Holzschnitt mitgetheilt,
316
Hi r schfeld.
sepulcri zu dienen. 1 Die Maasse sind zwar nach römischer Weise
in Fussen ausgedrückt, aber doch hat sich noch auf einer in
Die gefundenen Inschrift das gallisch-hispanische Feldmaass:
der arepennis (daher der französische Name arpent) erhalten. 2
Auch die sacralen Inschriften zeugen von der zähen Con-
servirung des heimischen Cultes. Abgesehen von zahlreichen
Dedicationen an die von Caesar als gallische Nationalgötter
bezeichneten Mercurius, Jupiter, Mars (mit verschiedenen Bei
namen), Minerva 3 und an andere auch sonst überall wieder
kehrende Gottheiten, wie Diana, 4 die Lares, die Nymphae, Sil-
1 Vgl. auch C. J. L. XII, n. 1680 (Guirimand, Acad. Delphinale 1876
S. 126): solum sepul(cH) Sex(ti) Vervini Lepidi intra terminos long(um)
p(edes) LX laf(vm) p(edes) LX.
2 C. J. L. XII n. 1657 (Herzog n. 473): d(is) m(anibus) liberorinn ac coniu-
gibus (sic) Publici(i) Calisti et ipsius, consecratum cum besfsje vineae arep(en-
nis), ex cuius reditu omnih(us) annis prolibari volo ne minus XV vftni)
sefxtariis ?). H(ic) t(umulusf) h(eredem) n(on) s(equetur). Ueber die Be
zeichnung des actus oder semiiugerum in Baetica und Gallien durch
arepennis (oder arapennis) ygl. Hultsch, Griechische und römische Me
trologie, zweite Bearbeitung, 1882 S. 689 und S. 692, der jedoch diese
Inschrift nicht erwähnt.
3 Caesar b. G. VI, 17, 1 (vgl. auch die S. 309 Anm. 4 erwähnte keltische
Dedication an die Belisama). An den von Caesar ebenfalls unter den zumeist
verehrten Göttern genannten Apollo ist in diesem Gebiete nur eine In
schrift (XH n. 1276 = Allmer, Bull, de la Lhöme 1876 S. 204) gerichtet.
Dass übrigens die keltischen Namen dieser Hauptgötter in den Inschriften
von Gallien kaum nachweisbar sind (über den Altar der vavtae Parisiaci
vgl. Mowat bull, epigr. IS. 4 9 ff. und S. 111 ff.), ist gewiss nicht allein aus
der Schnelligkeit und Intensivität des Assimilationsprocesses zu erklären,
sondern vielmehr durch staatliche Einwirkung auf die Romanisirung des
nationalen Cultus herbeigeführt worden.
4 Auch Luna ist auf drei in und bei Vaison gefundenen Dedicationen ver
treten: XII n. 1292 (Vdrone, Vocovcps S. 129) und in den bisher unedirten
Inschriften n. 1293 und 1294. — Sol und Luna sind ohne Zweifel unter
den Ignes aetervi in einer Inschrift aus dem Ende des dritten Jahrhunderts
(XII n. 1551 = Herzog n. 564) zu verstehen (vgl. Jahn, Archäologische
Beiträge S. 89; Preller, Röm. Mythologie, 3. Auflage, S. 326), die fälsch
lich von Einigen auf die in der Nähe des Fundortes befindliche Fon
taine ardente bezogen wird. Eine interessante Parallele bietet, was Caesar
von den Germanen sagt (b. G. VI, 21, 2, anders Tacitus, German, c. 9):
deorum numero eos solos ducunt, quos cernunt et quorum aperte opibus
iuvantur: Solem et Vulcanum et Lunam, reliquos ne fama quidem acce-
perunt; der Cult der Luna ist demnach hier sicher nicht auf orienta
lischen Einfluss zurückzuführen, sondern als kelto-germanisch anzusehen.
Gallische Studien.
317
vanus, Volcanus, Victoria nebst den orientalischen Göttern Isis,
Magna Mater, Mithras und Belus, 1 treten Localgottheiten, wie
Vasio, Alaunius, Andarta, Dullovius 2 ünd die auch in anderen
Gegenden Galliens nachweisbaren Bormanus und Bormana,
die Fatae, die Matres und die Proxumae- 1 nicht selten in dieser
Gegend auf. Erst spät mag hier das siegreich vordringende
Christenthum die alten Götter vollständig verdrängt haben und
wenn auch bereits zu Constantins Zeit in den Acten des ersten
Arelatensischen Concils Vasio als Bischofssitz genannt wird, 4 so
sind doch christliche Inschriften wenigstens in dem von Vasio
and Dea entfernteren Gebiete der Vocontier nur ganz ver
einzelt zum Vorschein gekommen. —
In den vorstehenden Erörterungen ist der Versuch ge
macht worden, auf Grund der monumentalen, leider sehr zer
trümmerten Ueberlieferung ein Bild der beiden ,verbündeten
Gemeinden' der narbonensischen Provinz in der Römerzeit zu
geben, die beide ein eigenartiges Interesse in Anspruch zu
nehmen geeignet sind. Auf der einen Seite die glänzende
phokäische Meeresstadt, griechische Cultur im Westen ver
breitend, lange bevor Roms Name nach diesem Theile des
Erdkreises gedrungen war, und selbst nach ihrer politischen
Vernichtung ein bedeutsamer Träger hellenischer Bildung in
Gallien; auf der anderen Seite ein keltischer Stamm, der,
kaum in den Annalen der Geschichte genannt, fern und unbe-
1 C. I. L. XII n. 1277 = Renier, Melangen d’epigraphie S. 129 ff., der ge
wiss mit Unrecht in dem Dedicanten den Vater des Elagabal: Sextus
Varius Marcellus erkennen will.
2 Vgl. die Zusammenstellung bei Allmer, Bull, de la Brome 1876, S. SG ff.;
Florian Vallentin, Essai sur les divinites indightes du Voconlium (Grenoble
1877), der auch S. 13 einiger ,pierres druidiques 1 im Vocontier-Gebiete
Erwähnung timt:
3 Vgl. über diese besonders im Gebiete von Nemausus verehrten Göttinnen
SSguier mimoir. de l'acad. de Dijon I 1769 S. 442ff'.; Auris, mim. de
Vacad. du Gard 1869/70 S. 105 ff.; Ludovic Vallentin, Bull, de la Drdme,
1875 S. 315; Florian Vallentin, Le. culte des Matrae dans la eile des Vo-
conces (Paris 1880) S. 22 ff. — Ueber die Fata oder Fatae: Grimm,
Deutsche Mythologie I* S. 340.
4 Ob freilich das beigefigte Verzeichniss der nomina episcoporum cum
clericis suis authentisch ist, scheint mir zweifelhaft. Ueber S. Albinus,
der zur Zeit des Alamannen-Einfalles in Vasio, Bischof gewesen sein
soll, vgl. Gallia Christiana (ed. II) Bd. I S. 921.
Hirschfel d.
318
rührt von dem grossen Getriebe, sein nationales Gepräge unter
römischer Hülle mit merkwürdiger Zähigkeit bewahrt hat. Der
gewöhnliche Beschauer, dessen Blick nur durch blendende, auf
der Oberfläche liegende Erscheinungen gefesselt wird, geht
wohl theilnahmlos an solchen stillen Existenzen vorüber. Aber
gleichwie der Naturforscher mit Hilfe des Mikroskops die klein
sten, dem unbewaffneten Auge nicht erfassbaren Organismen
zu ergründen sich bestrebt, um aus ihrer Erkenntniss die sicht
baren Erscheinungen der Natur und ihre Gesetze zu erschliessen,
so wird auch der Historiker, der nicht daran ein Genüge findet,
die Berichte seiner antiken Vorgänger Uber Krieg und grosse
Staatsactionen in moderne Form zu kleiden, aus der Betrach
tung der unscheinbaren, aber unmittelbaren Zeugnisse der Ver
gangenheit den Weg zu den verborgenen Schachten zu finden
suchen, in denen sich der ernsten Forschung ein, wenn auch
nicht unversehrtes, so doch echtes und ungetrübtes Bild der
antiken Welt erschliesst. Eine Geschichte des römischen Kaiser
reiches hat in erster Linie die Romanisirung der antiken Welt
in allen ihren mannigfachen Abstufungen und Verschiedenheiten
zu verfolgen, den Spuren nationaler Sitte sorgsam nachzu
gehen und die Widerstandskraft derselben gegenüber dem
Eindringen fremder Bräuche und Institutionen zu prüfen. Viel
leicht nirgends ist diese Aufgabe so lohnend als in Gallien,
wo der Romanisirangsprocess erst begonnen hat, als das kel
tische Volk bereits eine lange Bahn durchmessen, möglicher
weise sogar bereits erreicht hatte, was ihm auf dem Gebiete des
Staatswesens zu leisten beschieden war. 1 Wohl treten in den
nördlicheren Gebieten Galliens die Ueberreste nationaler Eigenart
deutlicher zu Tage als in dem von römischer Cultur über-
flutheten Süden, der nach Plinius’ bekanntem Ausspruch nicht als
Provinz, sondern als ein Theil von Italien anzusehen sei. Aber
doch gilt dieses Woi’t in vollem Sinne nur von den bedeutenden
städtischen Centren, wie Aquae Sextiae, Arelate, Nemausus,
Narbo und den blühenden Städten längs dem Ufer der Rhone
bis nach Vienna hinauf: in die abseits der grossen Strasse
befindlichen Gegenden ist nur ein vielfach gebrochener und
abgeschwächter Strahl römischer Cultur gedrungen und in den
1 Vgl. Mommsen, Röm. Gesch. III 6 S. 241.
Gallische Studien.
319
stillen Thälern der Berge haben noch Jahrhunderte lang die
heimischen Götter und nationale Sitte eine sichere Zufluchts
stätte vor dem Römerthum, wie vor dem Christenthum ge
funden. Wer der ebenso schwierigen, als lohnenden Aufgabe,
eine Culturgeschichte des römischen Reiches zu schreiben ge
recht werden soll, wird vor Allem diesen Resten einer ver
schwundenen Welt seine Aufmerksamkeit zuwenden müssen:
als ein Beitrag zu einer in solchem Sinne unternommenen
Darstellung der Kaiserzeit wünscht die hier versuchte Schilde
rung der griechischen und keltischen Gemeinde auf römischem
Boden angesehen zu werden.
EXCU R S.
Die Verbreitung des latinischen Rechts im römischen
Reich.
In der vorstehenden Abhandlung habe ich mehrfach Ge
legenheit gehabt, dankbar der fruchtbaren und zu weiteren
Forschungen anregenden ,Schweizer Nachstudien' Mommsen’s
zu gedenken und an sie meine in vieler Beziehung verwandte
Untersuchung anzuknüpfen. Absichtlich habe ich dabei eine
wichtige Frage vorläufig bei Seite gelassen, der Mommsen eine
eingehende Betrachtung gewidmet hat: die Frage nach der
Rechtsqualität der helvetischen Colonie, die zugleich entschei
dend ist für die Rechtsqualität zahlreicher anderer Colonien
und für die Bestimmung der Grenzen des latinischen Rechtes.
Es erscheint mir umsomehr geboten, die von Mommsen vor
getragene neue und der früheren Anschauung entschieden
widerstreitende Theorie hier einer Prüfung zu unterziehen, als
ich selbst an einem anderen Orte mit dieser Frage mich be
schäftigt habe und dabei zu Resultaten gelangt bin, 1 die, wenn
Mommsen’s Ansicht sich als richtig erweisen würde, als unbe-
1 ,Zur Geschichte des latinischen Rechts“ in der Festschrift zur fünfzig
jährigen Gründungsfeier des Archäologischen Instituts in Rom. Wien 1879.
320
Hirschfeld.
dingt verfehlt bezeichnet werden müssten. Aber auch abgesehen
von diesem persönlichen Moment erheischt die Bedeutung der
Frage, der von Mommsen gebotenen Anregung zu einer er
neuten Prüfung derselben nachzukommen.
Aus dem Umstande, dass ein Helvetier, und zwar nach der
Ertheilung des Colonialrechtes an Aventicum, unter den equites
singuläres gedient hat, zieht Mommsen den Schluss, dass Aven
ticum wahrscheinlich nicht römisches, sondern nur latinisches
Colonialrecht erhalten habe, weil jene Truppe nachweislich nicht
aus römischen Bürgern, sondern aus Peregrinen oder nach
Mommsen’s Ansicht aus Latinern zusammengesetzt war. Daran
knüpft Mommsen (Hermes 16 S. 471) die allgemeine Consequenz.
,dass diejenige Gemeinde, welche Soldaten zu einem latinischen
Truppenkörper stellte, entweder peregrinisches oder latinisches,
also das römische Bürgerrecht nicht besessen hat 4 , und fügt
selbst hinzu: ,es ist dies allerdings ein Satz von der grössten
Tragweite und geeignet, die bisherige Anschauung dieser Ver
hältnisse in weitem Umfange zu modificiren, zunächst also
wohlbegründetes Bedenken zu erwecken“. — In der That, wäre
dieser Schluss richtig, so würden wir genöthigt sein, eine statt
liche Reihe von Städten — Mommsen (S- 472) zählt deren selbst
neunzehn auf — die wir gewohnt waren als Bürgercolonien
anzusehen, fortan als latinische zu betrachten; wir würden
ferner die Ausbreitung des latinischen Rechtes, von dem sich
Spuren bis jetzt nur in Sicilien, den Alpenländern, Gallien,
Spanien und Afrika, also in den wesentlich romanisirten Pro
vinzen nachweisen Hessen, 1 auf das ganze römische Reich,
den Orient nicht ausgeschlossen, erstrecken müssen. Gewiss
wird man ohne durchaus zwingende Gründe sich zu einer
solchen Annahme nicht entschliessen. Ob nun die von Mommsen
hervorgehobene Thatsache wirklich die Beweiskraft besitzt, die
er ihr beilegt, oder ob dieselbe nicht vielleicht in anderer Weise
erklärt werden kann, werden wir später erörtern; zunächst
dürfte es sich empfehlen zu prüfen, ob die von Mommsen selbst
angeführten Beispiele mit seiner Theorie sich in Einklang brin
gen und als Probe für die Richtigkeit oder Unrichtigkeit der
selben verwenden lassen.
1 Vgl. S. 15 der auf S. 319 Anrn. 1 eitirten Abhandlung.
Gallische Studien.
321
Mommsen nennt (S. 472) in erster Linie drei Colonien:
,ausdrücklich werden in den fraglichen Inschriften selbst als
Colonien bezeichnet Claudia Ara, die colonia Malvensis und
Sarmizegetusa in Dacien, ausserdem Apri, Beroea in Thra
kien, Brigetio, Caesarea in Mauretanien, Mursa, Palmyra, Sa-
varia, Scupi, Serdica, Sirmium, Siscia, Traiana, Traianopolis,
die Treverer, Virunum und schliesslich die colonia Helvetiorum“.
,Wenn unsere Ausführung richtig ist/ fügt er hinzu, ,wird allen
diesen Gemeinden das römische Bürgerrecht ab- und soweit
sie als Colonie erweislich sind, ihnen das Recht der latinischen
Colonie zugesprochen werden müssen . . . Wenn Plinius Siscia
Colonie nennt und die Inschriften Sarmizegetusa, warum soll
dabei nicht an eine Colonie latinischen Rechtes gedacht wer
den können?'
Was zunächst diese letzte Frage betrifft, so wird für die
Beantwortung derselben der Sprachgebrauch des Plinius ent
scheiden müssen. Wenn man nun die Fälle prüft, in denen
Plinius von coloniae spricht, so ergibt sich, dass Plinius die
sogenannten latinischen Colonien überall mit dem ihnen eigent
lich zukommenden Namen oppida Latina (3, 35 oppidum Lati
num Antipolis; 3, 77: oppida . . Latina Cinium et Tucim; 5, 29:
oppidum Latinum, uiium Uzalitanum) oder oppida Latinorum (3,
15 und 3, 23, wo oppida unmittelbar vorhergeht; 3, 20, wo
oppidum unmittelbar folgt; 3, 32; 5, 20) bezeichnet, 1 während
die Municipia oppida civium Romanorum. heissen, dagegen unter
coloniae, soweit wir überhaupt ihre Qualität kennen, nachweis
lich nur römische Biirgercolonieen von Plinius verstanden
werden. Es wird genügen, auf die in Jan’s Index s. v. coloniae.
zusammengestellten Fälle zu verweisen und hier nur einige mar-
cante Beispiele hervorzuheben. So werden in Gallia Narbonen-
sis («. h. 3, 36) die coloniae Arelate, Ba.eterrae, Arausio, Valen-
tia, Vienna gegenübergestellt den oppida Latina Aquae Sextiae,
Avennio u. a. m.; in Afrika (n. h. 5, 29) die sex coloniae (nämlich
1 Die gentes werden als Latinae condicionis (3, 91), oder Latini iuris (5,
133) oder als Latio donatae (3, 7 und 135; 5, 29) bezeichnet. Ueber
die Bezeichnung der spanischen Städte als oppida Latii antiqui oder
veteris oder Latio antiquilm donata vgl. Detlefsen in Commentat. Momm-
senian. S. 29 ff.
Sitzungsber. d. phil.-hist. CI. CIII. ßd. 1. Hft.
21
322
H irsclifeld.
civium Romanorum) den oppida civium Romanorum XV (d. h.
den Municipien) und den oppida Latina, stipendiaria, libera.
Dasselbe gilt für Spanien (n. h. 3, 7 und 18; 4, 117), und
ebenso heisst es bei Besprechung Mauretaniens von den Städten,
die unmittelbar vorher einfach als coloniae bezeichnet worden
sind (5, 12): quinque sunt (ut diximus) Romanae coloniae in
ea provinda. Allerdings hat Mommsen schon früher (C. J. L.
V S. 83) 1 betreffs Aquileia nachzuweisen versucht, dass Plimus,
der diese Stadt als colonia bezeichnet (n. li. 3, 126), darunter
eine latinische Colonie verstanden wissen wollte. Aber es spricht
kein Zeugniss dagegen, dass Aquileia zu Plinius’ Zeit, ja sogar
schon in der ersten Kaiserzeit römische Colonie gewesen sei.
Denn Yitruv, der es municipium nennt, hat etwa um das
Jahr 740 geschrieben und die Inschriften, die Mommsen als ein
zige sonstige Instanz (aus der Nichterwähnung der Erhebung zur
Colonie ist bei dem Stande unserer Tradition ein Schluss nicht
zulässig) gegen die Colonialqualität anführt, da in ihnen Aqni-
leia als municipium und die Bürger als municipes bezeichnet
werden, gehören der Schrift nach (n. 903: ,litteris optimis
n. 968: ,litteris magnis et antiquis 1 ) ebenfalls wohl kaum einer
späteren. Zeit an. Aus dem verstümmelten Fragment (C. J. L.
V add. n. 8267) endlich, in dem Mommsen [colonia S]epti[mia
Severa Clodia AJlbina, [Aquileia] zweifelnd ergänzt, ist, wenn
die Ergänzung auch das Richtige treffen sollte, für die Zeit
der Erhebung zur Colonie nichts zu entnehmen, da z. B. Iulia
oder Claudia oder Flavia vor Septimia ausgefallen sein könnte.
Demnach spricht auch dieses Beispiel nicht gegen den con-
stanten Gebrauch des Wortes colonia bei Plinius und schon
daher wird meines Erachtens auch Siscia, wie allen von Plinius
als coloniae bezeichneten Städten, der Charakter als römische
Colonie nicht abgesprochen werden können.
Wie steht es nun mit der Colonialqualität der von Momm
sen an erster Stelle genannten Städte Claudia Ara und Sarmi-
1 Vgl. jetzt Mommsen im Hermes 18, 1883, S. 195: ,es ist nicht unmög
lich die Inschriften (die Aquileia als municipium bezeichnen) vor die
flavische Epoche zu setzen; Plinius Ansetzung der Stadt als Colonie
kann also vertheidigt werden, wenn man die Ertheilung des Colonial
rechts etwa auf Vespasian zurückführt. Wahrscheinlicher aber fällt die
Gallische Studien.
323
zegetusa? 1 Von der ersteren, die unter dem Namen colonia
Agrippinensis (das heutige Cöln) allbekannt ist, sagt Tacitus
ausdrücklich, dass sie als Veteranen-, d. h. als römische Bürger-
colonie gegründet worden sei, vgl. annal. 12, 27: Agrippina. . .
inoppidum Ubiorum, in quo genita erat, veteranos coloniamque
deduci impetrat, cui nomen inditum e vocabulo ipsius; demnach
spricht dieses Beispiel auf das Entschiedenste gegen die Richtig
keit der Mommsen’schen Hypothese. Aber auch von Sarmize-
getusa kann man wenigstens mit grosser Wahrscheinlichkeit
behaupten, dass sie von Traianus nicht latinisches Recht erhalten
hat, sondern als Veteranencolonie mit römischem Bürgerrechte
gegründet worden ist. Schon aus militärisch-politischen Gründen
war es geboten, die Hauptstadt des eroberten barbarischen
Landes zu einer Militärcolonie zu machen, umsomehr als
die einheimischen Bewohner bekanntlich mit furchtbarer Härte
aus Dacien ausgetrieben wurden und das entvölkerte Land
mit neuen Colonisten, also neben den besonders aus dem Orient
dorthin verpflanzten Kaufleuten in erster Linie doch mit aus
gedienten Soldaten besiedelt werden musste. Dass aber über
haupt in der Kaiserzeit bei solchen Neugründungen in den
Provinzen, deren militärischer Charakter auch durch die be
kannte Gründungsinschrift von Sarmizegetusa 2 bezeugt wird,
jemals das latinische Recht anstatt des Bürgerrechtes verliehen
worden sei, ist nicht nur nicht nachweisbar, sondern auch an
und für sich höchst unwahrscheinlich. Dazu kommt, dass Sar
mizegetusa, ebenso wie die colonia Agrippinensis, zu Ulpian’s
Zeit bereits eine Colonie italischen Rechtes war, 3 also ohne
Zweifel bereits vorher römische Bürgercolonie gewesen ist. Die
Inschrift dagegen, auf deren alleiniges Zeugniss hin Mommsen
der Stadt die Qualität als römische Bürgercolonie absprechen
will, gehört unzweifelhaft dem dritten Jahrhundert, vielleicht
Umwandlung erst später, möglicher Weise erst unter Severus (vgl. C.
J. L. V. n. 8267) und hat Plinius die latinische Colonie Aquileia aus
Versehen seiner Liste eingereiht. 1
1 Ueber die Qualität der colonia Malvensis ist nichts Näheres bekannt.
2 C. J. L. III n. 1443.
3 Digg. 50, 15, 1 § 9 aus der Schrift de censibus, die unter Caracalla
abgefasst ist, vgl. Fitting, Ueber das Alter der Schriften römischer Ju
risten S. 37.
21*
324
Hi r sclifeld.
erst der Zeit des Severus Alexander an, 1 in der bereits Sar-
mizegetusa die höchste Bürgerqualität, das italische Recht er
halten hatte. — Heben wir nun aus den übrigen von Moramsen
aufgezählten Städten noch Caesarea in Mauretanien hervor, so
ergeben sich auch hier die schwersten Bedenken gegen Momm-
sen’s Ansicht. Denn aus den Worten des Plinius (n. h. 5, 20):
Cartenna colonia Augusti, legio secunda; item, colonia eiusdem
deducta cohorte praetoria Gunugu, promontorium Apollinis oppi-
dumque ibi celeberrimum Caesarea, antea vocitatum Iol, Iubae
regia, a divo Claudio coloniae iure donata, eiusdem iussv,
deductis veteranis Oppidum Novum geht deutlich hervor, dass
er unter coloniae iure donata nicht an Ertheilung des latini-
schen Rechtes gedacht hat, besonders wenn man damit die
unmittelbar folgenden Worte vergleicht: et Latio dato Tipasa,
itemque a Vespasiano imperatore eodem munere donatum Ico-
sium. Aber selbst abgesehen von diesem Zeugniss scheint es
mir undenkbar, dass die Hauptstadt der barbarischen Provinz
Mauretania bis in die späte Kaiserzeit nur latinisches Recht
gehabt haben sollte, während zahlreiche Colonien derselben
Provinz schon unter Augustus, Oppidum Novum durch Clau
dius, Sitifis durch Nerva römisches Bürgerrecht erhalten haben. 2
Vielmehr muss nach Constituirung der Provinz und Erhebung
von Caesarea zur Hauptstadt derselben ihr auch das in dieser
Stellung geradezu unumgänglich nothwendige römische Bürger
recht verliehen worden sein.
Wenn demnach Städte, die als Heimatsort von equites
singuläres (respective von Flottensoldaten seit Hadrian) ange
geben werden, einerseits als coloniae, d. h. als römische Bürger-
colonien von Plinius bezeichnet werden, andererseits entweder
sicher oder doch allem Anscheine nach, wie die eben be
sprochenen Städte, römische Bürgercolonien gewesen sind, so
geht daraus meines Erachtens hervor, dass die Heimatsangabe
sowohl bei diesem, wie bei anderen Truppencorps überhaupt
1 C. J. L. VI n. 3175; erwähnt werden die castra pviora, demnach müssen
damals bereits die castra nova Severiana gebaut gewesen sein, die viel
leicht erst von Severus Alexander herrühren, aber keineswegs älter als
Septimius Severus sind, vgl. Marquardt, Staatsverw. II S. 475 Anm. 1.
2 Vgl. Marquardt, Staatsverwaltung l 2 S. 487,
Gallische Studien.
325
nicht zur Bestimmung der städtischen Qualität verwendet wer
den kann. Aber auch die Art und Weise, wie diese Heimats
angaben auftreten, muss gegen derartige Schlüsse bedenklich
machen. Denn in den von Mommsen selbst für die equites singu
läres und die Flottensoldaten zusammengestellten Beispielen'
findet sich nur ganz ausnahmsweise in zwei Inschriften 2 der
Soldat als civis bezeichnet, während sonst der blosse Ablativ oder
Genetiv der Stadt (respective einmal das Adjectiv Palmyrenus),
nur hin und wieder mit dem Zusatz domo sich findet, in vielen
Fällen aber noch dazu natione mit folgendem Ländernamen
gefügt wird, zuweilen sogar natione oder natus direct dem Stadt
namen vorausgeschickt erscheint. 3 Daraus scheint mir hervorzu
gehen, dass es sich bei diesen Angaben nicht so sehr um einen
Nachweis der Heimatsberechtigung oder der rechtlichen Zuge
hörigkeit als Bürger zu der betreffenden Colonie gehandelt hat,
als um eine Herkunftsangabe, die zu einer etwaigen Iden
tification in den Grabschriften dieser fern von der Heimat ver
storbenen Soldaten erwünscht und ohne Zweifel auch, wie das
regelmässige Auftreten derselben erweist, gesetzlich vorge
schrieben war. Aber aus derartigen Angaben ist selbst in offi-
ciellen Documenten, wie den Militärdiplomen, keineswegs der
Schluss auf die Zugehörigkeit als Bürger der Heimatsstadt zu
ziehen: denn auf dem Diplom n. 34 aus dem Jahre 134 (C. J.
L. III p. 877) wird Stobi, das bereits Plinius (n. h. 4, 34) als
oppidum civium Romanorum bezeichnet, als Heimat eines Cohor-
tensoldaten, in zwei Diplomen (n. 53 und n. 56: C. J. L. III
p. 896 und 899) die römischen Bürgcrcolonien Misenum und
Ateste als Heimat von Flottensoldaten 4 bezeichnet.
1 Eine Untersuchung 1 der Heimatsangaben sämmtlicher Auxiliartruppen
wäre sehr nothwendig und jetzt nach Abschluss der hauptsächlich dafür
in Betracht kommenden Bände des Corpus (mit Ausnahme von Ger
manien) ohne Schwierigkeit zu bewerkstelligen.
2 C. J. L. VI n. 3196: nat(ione) Trax civis Berofejnsis und n. 3241: nation(e)
Pannon(io) civi Faustiano, vgl. auch n. 3300, wo die Herausgeber c(ivis)
Savari(ensi)s ergänzen, vielleicht aber C(landia) SavarifaJ zu lesen ist.
3 Vgl. für die equites singuläres C. J. L. VI n. 3311: nat. Cl(audia) Ara;
n. 3192: nat. Savarie; n. 3287 (vgl. n. 3291) [natijone Cl(audia) Savaria;
n. 3314: natus Ulpia Serdicae.
4 Dazu kommen zwei Inschriften, in denen Formiae und Nola als Heimath
von Flottensoldaten angegeben werden: Ferrero Cordinamento delle armate
326
Hirschfeld.
Die Erklärung dieser Thatsachen ist meines Erachtens darin
zu suchen, dass es einestheils in jeder Colonie zahlreiche Ein
wohner gab, die nicht als Vollbürger der Gemeinde angehörten,
die aber trotzdem mit gutem Recht als ihren Geburtsort diese
Stadt nennen durften, andererseits, wie Mommsen selbst (a. a. 0.
S. 475) hervorhebt, dass den Colonien in den Provinzen vielfach
Gemeinden peregrinisc.hen Rechtes attribuirt waren, die in
ähnlichem Verhältniss zu denselben gestanden haben werden, wie
die Carner und Cataler zu Tergeste, oder die Anauni Tulliasses
und Sinduni zu Tridentum. 1 Schwerlich wird man nun in diesen
Soldatengrabschriften Anstand genommen haben, an Stelle des
kleinen obscuren vicus, dessen barbarischer Name oft gewiss
selbst den die Inschrift setzenden Erben oder Commilitonen
unbekannt war, 2 die Hauptgemeinde, welcher derselbe attribuirt
war, einzusetzen, woraus sich dann auch bis zu einem gewissen
Grade der für Städtenamen unpassende Zusatz natione erklärt. 3
Wenn sich daher, um zu dem Ausgangspunkt der Mommsen-
schen Untersuchung zurückzukehren, ein eques singularis ganz
allgemein als natione Helvetms bezeichnet, so braucht derselbe kei
neswegs als Angehöriger der colonia Pia Flavia Constans Eme-
rita A Helvetiorum Foederata angesehen zu werden, da sicherlich
auch nach der Ertheilung der Colonialqualität an Aventicum,
den Vorort der Helvetier, einzelne helvetische, wahrscheinlich
Romane n. 48: Cn. Arrius Myro n(atione) Formianus und n. 85: P, Sextilio
Marcello nfatione) Itahis domu Nol(a). Dem von Mommsen a. a. O. S. 477
daraus gezogenen Schluss: vielleicht wird der Satz, dass für die Flotten-
eonscription die Latinitiit gefordert wird, dahin zu beschränken sein,
dass man seit Caracalla daneben einzelne römische Bürger zugelassen
hat 1 , möchte ich mich nicht anschliessen.
1 Vgl. Uber dieses Verhältniss Mommsen im Hermes 4 S. 112 ff.
2 Genaue derartige Angaben sind in diesen Inschriften nicht häufig, vgl.
jedoch z. B. C. J. L. VI n. 3297 und 3300.
3 Aehnliche Angaben finden sich in Gladiatoreninschriften, vgl. z. B. die
Inschrift eines retfiarius) in Nimes: nfatione) Viamteesis (das ist Viennen-
sis) bei Allmer reime epigraphique I S. 172; ähnlich C. J. L. VI, 2‘
n. 10184.
4 Schon dieser Beiname deutet auf eine Veteranencolonie; vgl. über die
colonia Avgusta Emerita in Lusitania: Huebner C. J. L. IT p. 52. Der
noch im zweiten Jahrhundert nachweisbare curator civium Romanorum
conventus Helvetici, auf dessen Vorkommen Mommsen Gewicht legt,
Gallische Studien.
327
der Colonie attribuirte Gebiete minderen Rechtes geblieben
sind. 1 Gewiss hat es solche Gemeinden auch in den tres Galliae
noch in späterer Zeit gegeben, 2 da ja auch das weit mehr
romanisirte Spanien erst durch Vespasian das latinische Recht
erhielt, und wenn, wie Mommsen (a. a 0. S. 470) betont, Gallier
und Spanier unter den equites singuläres und den Flottensoldaten
vollständig fehlen, so wird das ohne Zweifel auf einer kaiser
lichen Verfügung beruhen, nach der diese Provinzen als Aus
hebungsbezirke für diese Truppengattungen nicht dienen sollten.
Vielmehr werden die in diese Corps eingereihten Soldaten aus
schliesslich aus Gemeinden peregrinischen Rechtes ausgehoben
sein und in der Regel erst beim Eintritt in den Dienst, wofür
sowohl die häufigen Doppelnamen bei den Flottensoldaten (vgl.
Mommsen a. a. 0. S. 466 Anm. 2), als auch die zahlreichen
Kaisergentilicia bei den equites singuläres sprechen, römische Na
men an Stelle der barbarischen und in Verbindung damit eine
der latinischen ähnliche, wenn auch nicht identische Rechts
stellung erhalten haben. 3
Aus den Angaben der Herkunft dieser Soldaten, wenn
dieselben nicht ausdrücklich als Bürger der betreifenden Ge
meinden bezeichnet werden, einen Schluss auf die Colonial
qualität der Heimatsstädte zu ziehen, scheint mir demnach
scheint mir gegen diese Annahme nicht zu sprechen; denn die cives
Romani, wohl meist Italiker, die als Kaufleute in Helvetien sich auf
hielten, waren den Behörden der Colonie sicher nicht unterstellt, und
ganz entsprechend erscheint in dem benachbarten lugdunensischen Ge
biet der summus curator c(ivium) R(omanorum) provinc(iaeJ Lug(udunensis):
Wilmanns n. 2224.
1 Betreffs der benachbarten Rauraci hebt Mommsen selbst Hermes 16,
S. 482 Anm. 1 eine ähnliche Thatsache hervor.
2 Mommsen Hermes 16 S. 471 sagt: ,dass die drei Gallien bereits unter
Claudius das römische Bürgerrecht besassen, ist durch Tacitus sicher
bezeugt 4 ; aber Tacitus (annal. 11, 23) spricht nur von den primor es
Galliae, quae comata appellatur, foedera et civitatem Romanam pridem
assecuti.
3 Vgl. die Bemerkungen von Marini, Arvali S. 436 ft. und S. 477 zu Ari
stides p. 352 Dindorf und besonders zum Martyrium S. Tarraconis
(5. October): Tapayo«; rcapa twv yevv7)cravTa)v p.e xaXoup.at, £v o! tw arpa-
rsusaOat p.e Bfxxtop £xX7jOr)v, ferner vita Maximini c. 1 §5 ff. Vgl. Mommsen
a. a. O. S. 474 mit Anm. 1.
328 Hirschfeld. Gallische Studien.
nicht gestattet, und so glaube ich an der von mir früher 1 aus
gesprochenen Ansicht festhalten zu müssen, dass das latinische
Recht auf die ganz oder theilweise romanisirten Provinzen be
schränkt geblieben sei und weder in den rein militärischen Occu-
pationsgebieten am Rhein und in Britannien, noch in dem
griechisch redenden Orient Gemeinden latinischen Rechtes be
standen haben.
1 Zur Geschichte des Latinischen Rechts S. 15 ff.
V. SITZUNG VOM 14. FEBRUAR 1883.
Die gräflich von Chainbord’sche Güterverwaltung zu
Katzelsdorf übersendet zur Copiatur für die Weisthümer-Sainm-
lung ein Pantaiding von Leyding aus dem Jahre 1546.
Die corresp. Mitglieder Herr Professor Dr. Benndorf
und Herr Professor Dr. Hirschfeld in Wien übermitteln für die
akademische Bibliothek das zweite Heft des VI. Jahrganges der
,Archäologisch-epigraphischen Mittheilungen aus Oesterreich*.
Von Herrn Dr. Fr. Martin Mayer, k. k. Professor in Graz,
wird eine Abhandlung, betitelt: ,Der innerösterreichische Bauern
krieg des Jahres 1515 nach älteren und neuen Quellen 4 mit dem
Ersuchen des Herrn Verfassers um Veröffentlichung derselben
in dem Archiv vorgelegt.
Die Abhandlung wird der historischen Commission über
geben.
An Druckschriften wurden vor gelegt:
Ackerbau-Ministerium, k.k.: Statistisches Jahrbuch für 1881. III. Heft,
2. Lieferung. Wien, 1882; 8°.
Bern, Universität: Akademische Schriften pro 1881. 28 Stücke 8° und 4°.
Cen tral-Commission, k. k. statistische: Statistisches Jahrbuch für das
Jahr 1880. V. Heft. Wien, 1882; 8".
Genootschap, Bataafsch der proefondervindelijke Wijsbegeerte: Nieuwe
Verhandelingen; tweede reeks, deel III, 4"' e Stuk. Rotterdam, 1882; 8°.
Gesellschaft, deutsche morgenländische: Zeitschrift. XXXVI. Band, 3. und
4. Heft. Leipzig, 1882; 8".
— königl. sächsische der Wissenschaften zu Leipzig: Berichte. 1881. I. II.
Leipzig, 1882; 8°.
Sitzungsber. d. pliil.-hist. CI. CIII. Bd. II. Hft.
22
330
Gesellschaft, königl. sächsische der Wissenschaften zu Leipzig: Abhand
lungen des VIII. Bandes Nr. IV. Beiträge zur Kenntniss der melane-
sischen, mikronesischen und papuanischen Sprachen, ein erster Nach
trag zu Hans Conon’s von der Gabelentz Werke ,Die melanesischen
Sprachen 1 von Georg von der Gabelentz und Adolf Bernhard Meyer.
Leipzig, 1882; 8°.
Harz-Verein für Geschichte und Alterthumskunde: Zeitschrift. XV. Jahr
gang, 1882. Wernigerode, 1882; 8°. — Register über die ersten zwölf
Jahrgänge der Zeitschrift des Harz-Vereines für Geschichte und Alter
thumskunde (1868—1879). Wernigerode, 1882; 8°.
Instituut, het koninklijk voor de Taal-, Land- enVolkenkunde van Neder-
landsch-Indie: Bijdragen. IV. Volgreeks, VI. Deel. — 2 e Stuk. ’s Gra-
venhage, 1882; 8°.
Kriegs-Archiv k. k., Direction: Mittheilungen. Jahrgang 1882. I—IV.
Wien, 1882; 8°.
Mittheilungen aus der livländischen Geschichte. XIH. Band, 2. Heft
Riga, 1882; 8».
So ciete d’histoire et d’archeologie de Geneve: Memoires et Documents.
2 e Serie, Tome premier. Geneve, Paris, 1882; 8°.
Society, the Asiatic of Bengal: Journal. N. S. Vol. LI, Part I, Nos. III
und IV, 1882. Calcutta, 1882; 8 11 .
— the royal of New South Wales in 1881: being a brief Statistical and
descriptive account of the Colony up to the end of the year, extracted
ochiefly from fficial records, by Thomas Richards, Esquire. 2 d issue.
Sydney, 1882; 8°.
Verein, historischer für den Regierungsbezirk Marienwerder: Zeitschrift.
V. Heft, 1. und 2. Abtheilung. Marienwerder, 1881 —1882; 8 n .
VI. SITZUNG VOM 28. FEBRUAR 1883.
In der Gresammtsitzung der Akademie am 22. Februar
gedachte Se. Excellenz der Präsident des Verlustes, den die
Akademie durch den am 20. d. M. erfolgten Tod des w. M.
Eduard Freiherrn von Sacken erlitten hat, und die Anwesenden
gaben ihr Beileid durch Erheben von den Sitzen kund.
Das k. u. k. Ministerium des Aeussern Übermacht das von
dem k. italienischen Unterrichtsministerium der Akademie ge
widmete Exemplar der vierten Lieferung des IV. Bandes des
,Vocabolario degli Accademici della Cruscah
\
331
Das k. k. Reicks-Kriegsministerium übersendet die im
Drucke erschienene amtliche Zusammenstellung, betreffend ,die
Verluste der im Occupations-Gebiete und in Süd-Dalmatien
befindlichen Truppen im Jahre 1882b
Von Herrn Hofrath M. A. Ritter von Becker wird das
achte Heft seiner ,Topographie von Niederösterreich' für die
akademische Bibliothek eingeschickt.
Von dem w. M. Herrn Dr. Pfizmaier wird eine für die
Sitzungsberichte bestimmte Abhandlung: ,Untersuchungen über
Ainu-Gegenstände' vorgelegt.
Das w. M. Herr Hofrath Prof. Miklosich legt eine für
die Sitzungsberichte bestimmte Abhandlung vor unter dem
Titel: Uber Goethe’s ,Klaggesang von der edlen Frauen
des Asan Aga‘.
Die Kirchenväter Commission überreicht zur Aufnahme
in die Sitzungsberichte eine Abhandlung des Herrn Professor
Dr. Petschenig in Graz: ,Ueber die textkritischen Grund
lagen im zweiten Theile von Cassian’s Conlationesb
Das w. M. Herr Hofrath Zimmermann theilt mit, dass
das für das laufende Triennium constituirte Preisgericht der
Grillparzer-Stiftung an Stelle des verstorbenen Preisrichters
Hofrath Hettner in Dresden das c. M. Herrn Professor Dr. Wil
helm Scherer in Berlin cooptirt und dieser die Wahl an
genommen habe.
An Druckschriften wurden vorgelegt:
Aeademie royale des Sciences, des lettres et des beaux-arts de Belgique:
Bulletin. 51 e ann£e, 3° sirie, Tome IV, No. 12. Bruxelles, 1882; 8°.
— — Annuaire, 1883. 49“ annÄe. Bruxelles, 1883; kl. 8°.
Accad emia della Crusca: Vocabolario degli Accademici. Quinta impres-
sione. Vol. IV. Fascicolo IV ed ultimo. Firenze, 1882; Folio.
22*
332
Bureau, k. statistisch-topographisches: Württembergische Vierteljahrshefte
für Landesgeschichte. Jahrgang V, 1882. Hefte I — IV. Stuttgart,
1882; 4».
Gesellschaft, k. k. geographische in Wien: Mittheilungen. Band XXV
(N. F. XV), Nr. 10, 11 und 12. Wien, 1882; 8«.
— für Schleswig-Holstein-Lauenburgisclie Geschichte: Zeitschrift. XII. Band.
Kiel, 1882; 8°.
— kais. königl. mährisch-schlesische, zur Beförderung des Ackerbaues, der
Natur- und Landeskunde zu Brünn: Mittheilungen, 1882. LXII. Jahr
gang. Brünn; 4°.
Institute, the anthropological of Great-Britain and Ireland: The Journal.
Vol. XH, Nr. III. London, 1883; 8».
Ministerium cultus et publicae institutionis: Monumenta grapliica medii
aevi ex archivis et bibliothecis imperii Austriaci collecta. Fasciculus X.
Vindobonae, 1882; Folio.
Mittheilungen aus Justus Perthes’ geographischer Anstalt von Dr. A. Peter
mann. XXIX. Band, 1883. II und III. Gotha; 4°.
Society, the American geograpliical: Bulletin, 1882. Nr. 2. New-York; 8°.
— the royal Asiatic of Great Britain et Ireland: The Journal. N. S. Vol.
XIV, Part IV. October, 1882. London, 1882; 8». — N. S. Vol. XV.
Part I. January, 1883. London; 8°.
— the royal geographical: Proceedings and monthly record of Geography.
Vol. V, Nr. 2. February, 1883. London; 8°.
Tübingen, Universität: Akademische Schriften pro 1882. 36 Stücke,
4° und 8°.
Verein, historischer für Schwaben und Neuburg: Zeitschrift. IX. Jahrgang,
1. und 3. Heft. Augsburg, 1882; 8°.
—■ für Hamburgische Geschichte: Mittheilungen. V. Jahrgang. Hamburg,
1883; 8°. »
Wissenschaftlicher Club: Monatsblätter. IV. Jahrgang, Nr. 5. Wien,
1883; 4 n . — Jahresbericht 1882—1883. VH. Vereinsjahr. Wien, 1883; 8".
Pfizmaier. Untersuchungen über Ainu-Gegenstände.
333
Untersuchungen über Ainu-Gegenstände.
Von
Dr. A. Pfizmaier,
wirkl. Mitglied der kais. Akademie der Wissenschaften.
Die in dieser Abhandlung untersuchten Gegenstände be
ziehen sich vorerst auf Glaube und Sitten der Ainu, was auf
Grund der von M. M. Dobrotwörski zur Kenntniss gebrachten
Nachrichten aus Sachalin geschah. Das Vei-ständniss dieser sehr
werthvollen (posthumen) Nachrichten war indessen, besonders
in Rücksicht auf manche Lücken und bei den Eigenthümlich-
keiten des rassischen Textes, im Ganzen nur in Verbindung
mit Ei-läuterungen und fortwährenden Hinweisen auf die Ainu
sprache vollkommen möglich.
Gegenstand weiterer Untei-suchung ist ferner die von H. de
Chai’encey theilweise aus meinem Wörterbuche zusammenge
stellte Ainu-Flora, indem ich die in dieser Schrift vorkommen
den botanischen Namen, auch die japanischen und Ainunamen,
nach ihrer Richtigkeit prüfe und, wenn nöthig, verbessere.
Bemerkt werde noch, dass ich in dieser Abhandlung den
bisher gebrauchten Volksnamen Aino überall dui-ck das mehr
angemessene Ainu ersetzt habe. Ueber den Unterschied beider
Wörter wurde schon in meinen ,Erörterungen und Aufklärungen
über Aino' S. 48—49 (1068—1069) Einiges gesagt.
Glaube und Sitten.
,Die Sarüntara verehren den Sitöri, den Onnew, den
Kämporo. Sie ziehen den Bären und den Fuchs auf.'
Sai-xi ist ein Ainudorf an dem Flusse Sikari auf Jezo.
Sikai-i ist ein grosser Fluss im Innei-en von Jezo.
334
Pfizraaier.
Sariintara oder sarun-iitara ist soviel als sarü-un-iitara
,ein Mensch des Dorfes Saru'. Man sagt aufch sarun-kuru, d. i.
sarü-un-kuru ,ein Mensch von Sarii'. So heissen die Bewohner
der Ostseite von Jezo. Sie wohnten früher auf der Insel Siköch.
Sitdri, ein grosser Vogel mit langem Halse. Als der
schwarze Storch betrachtet. Derselbe verschlingt einen ganzen
kleinen Häring. Syn. no.
Onnew ,ein Adler'.
Kdmporo, eine schwarze Krähe mit etwas dünnem Schnabel.
,Die Cuwka-untara drücken den Hals des zu Tödtenden
(ymepmBüHeMaro) Urai kinihe(ani) A zusammen und ersticken
ihn mit diesem Werkzeuge. Die' Opfer sind ihre eigene Leute
und Fremde, vorzüglich jedoch Kranke und Feinde. 1
Vor Allem ist hier Uraiki nihe abzutheilen und dabei
richtig zu sagen: die Cuwka-untara drücken den Hals des zu
Tödtenden mit dem Urai-ki nihe zusammen.
Guwka-untaru, ein Bewohner des östlichen Theiles von
Jezo. Auch Cup- katä-iitare.
Uraiki nihe ani ,mit dem tödtenden Pfeifenstiele'. Der Name
des Werkzeuges uraiki nihe, dessen Abbildung nebenan steht,
ist aus uraiki ,tödten' und nihe ,Pfeifenstiel' zusammengesetzt.
,Zu dem Cohujeku betet man wie zu einem Gotte. Zu
dem Delphin Oköm betet man ebenfalls und wirft ihm zum
Opfer Seeflaggen für eine glückliche Schiffahrt hin.'
Cohujeku ,ein Meerschwein'.
Okom, ein kleines Cetaceum von schwarzer Farbe, ein
kleinflossiger Delphin.
Ind-u ,Baumopfer, eine Flagge'. Im Japanischen durch
nigi-te ,gefaltete Papierstücke als Opfer für die Götter' erklärt.
,Wenn der Teki-keuna bemerkt hat, dass der Ipöje den
kleinen Häring verzehrt, und nicht den Rogen, so geht er zu
dem Cohujeku und ei-zählt ihm davon. Der Cohujeku kommt
dann und tödtet desswegen den Ipöje.'
Das Wort teki-keuna wurde von mir nirgends aufgefunden.
Es scheint jedoch soviel, als das in meinem Wörterbuche ver-
zeichnete tekina ,der Name einer grossen Walfischart' zu sein.
Ipöje, ein magerer Walfisch, der mit dem kleinen Häring
ankommt und dessen Rogen er verzehrt. Er hat nach der
Erzählung der Ainu keine Zitzen.
Untersuchungen über Ainu-Gegenstände.
335
Ööhujeku, wie oben ,ein Meerschwein'.
,Ein Ainusarg (porö-ni) besteht: aus niedrig-liegenden
Seitenbretern (sokom ita), Haupt- und Fussbretern (etüwsu) und
Deckeln (inumbita). Er hat keinen Boden. Dieser wird durch
das Grab selbst gebildet/
Porö-ni ,Sarg‘ bedeutet wörtlich: grosses Holz. Auf ähn
liche Weise sagt man im Japanischen fitsu-gi und fito-ki ,Men
schenholz,' in der alten Sprache auch owo-gi ,grosses Holz'.
Sokom-ita, ein Wort theilweise ungewissen Ursprungs. Itd
,Bret' ist ein japanisches Wort. Sokom könnte als das japani
sche soko ,Boden' betrachtet werden, jedoch wurde die Zusam
mensetzung soko-ita von mir nicht verzeichnet.
Etüwsu dürfte von etüwso ,Seite, Wand"' nicht verschie
den sein.
Inumbita lässt sich nicht mit Gewissheit erklären lta ist
ita ,Bret'. Sonst sind von ähnlichem Laute inun ,beten' und
inwnbe ,Wärmofen, Herd'.
,Bei den Ainu geht die Seele nicht zugleich mit dem
Leibe in das Grab, sondern sie geht nach Pochna-Siri oder
Pochna-kotan durch eine Oeffnung im Walde, welche Iwasui
genannt wird. In Pochna-Siri ist es Sommer, wenn es bei uns
Winter ist, und umgekehrt. In Pochna-Siri lebt blos der Gott,
der Erschaffer, welcher Kotan-karape genannt wird/
Pöchna-siri (in meinem Wörterbuche boki-nä-Sin) ,die
untere Erde'.
Pöchna-kotän ,die untere Niederlassung'.
Iwä-sui ,eine Felsenhöhle'.
Kotän-karappe ,der Gründer einer Ansiedlung'.
Kamm-euÖakasno ,die Glaubenslehre'. Bis zu dem fünften
oder zehnten Lebensjahre beten die Ainukinder nicht. Aber
dann beginnen die alten Leute sie zu den verschiedenen Göttern
beten zu lehren.
Kamüi-icdkaSno ,die göttliche Lehre'. Von iödkasno ,lehren
oder lernen'.
Das japanische nigi-te 1 und das ind-u der Ainu, beides
,Handopfer', sind nach ihrer äusseren Gestalt zwei sehr ver-
1 Auch mit anderen verschiedenen Namen wie nusa, mi-nusa, fti, go-fei,
won-lei, fei-faka, te»gura, mi-te-gura benannt.
336
Pf i z m ai er.
schiedene Dinge. Der japanische Gegenstand waren ursprüng
lich Stücke fünffarbigen Tuches, ungewebter Baumwolle oder
Hanfes, welche man den Göttern zum Opfer brachte. Gegen
wärtig sind es gefaltete Papierstücke. Das Ainuwort inä-u,
wird von den Japanern (nigi-te) geschrieben. Ueber
das ind-u der Ainu’s gibt Dobrotwörski mehrfache Auf
klärung.
Die Inä-u als Opfer von Bäumen oder als Flagge be
trachtet, sind Stäbe und Stäbchen mit Hobelspänen. Man bringt
sie verschiedenen Göttern und bei verschiedenen Gelegenheiten
dar, z. B. bei Beginn einer Krankheit und bei Befreiung von
ihr. Die Inä-u unterscheiden sich je nach den Göttern, welchen
man sie zum Opfer bringt. So werden die Feuer-Inä-u (unSi-
ind-u) den Göttern des Feuers, die Berg-Inä-u (nuburi-ind-u)
den Göttern der Berge, die Haus-Inä-u (tife-ind-u) dem alten
Hausgotte dargebracht.
Iso-ind-u ,Bärenflagge* sind Stäbe, welche für den zum
Opfer herbeigeführten Bären bestimmt sind.
Tdkusa oder were-tdkusa ist eine Flagge der Zaubertrommel,
eine Flagge für die Götter der Schamanen. Die Bedeutung
dieser zwei Wörter ist ungewiss.
Die Theile der Flagge sind:
Epusis ,das Blumenauge* oder ind-u-scibä ,das Flaggen
haupt*. Dazu gehören etochko ,der Wirbel*, ina-u-sabarü ,das
Haupthaar der Flagge* und bisweilen ninkari ,die Ohrringe*. Die
letzteren sind Ringe aus angehobelten Bindfäden.
EpusiS steht für epui-sis ,Blumenauge*.
Etochko oder etbch ,das Ende*.
Ninkari ,ein Ring oder Ohrring*. Man sagt auch nihkar
korb und-u ,eine Flagge mit Ohrringen*.
Ferner treküf ,der Hals* und teki ,die Hände*.
Kotorb ,die Vorderseite des Rumpfes*.
Nusa-kotorhe, auch nusa-kotorb, nusa-kotorohe, nusa-kotorchi
und nusa-kotoro-ka, grosse Hobelspäne. Dieselben stellen die
Haare des Rumpfes dar.
Tdchpa ,Einschnitte*. Dieselben stellen das Aufschlitzen
des Bauches dar.
Kechpa-kechpa etwas kurze Anhobelungen (KOpOTeHBK'ie
3acrpyJKKH). Dieselben, von den Einschnitten (tdchpa) aufwärts
Untersuchungen über Ainu-Gegenstände.
337
und abwärts gehend, stellen die nach oben und unten abge
wendeten weichen Theile der vorderen Bauchwand dar.
Niiimpa oder niöisi ,der Stiel'. Derselbe ist die Hand
habe des Fusses (uepeHT) hohi).
Dobrotwörski glaubt, dass, nach diesen Theilen zu schlies-
sen, die Inä-u unzweifelhaft Ueberbleibsel der Sitte der Men
schenopfer seien.
Ungeachtet der Umständlichkeit der obigen Beschreibungen
kann man sich, solange eine Abbildung fehlt, von der Gestalt
der Inä-u keine richtige Vorstellung machen. Noch einige Auf
klärung, welche nachträglich gefunden wurde, folgt jedoch
weiter unten.
Das Ainulied, welche bei dem im Monate November, an
den drei ersten Tagen des Vollmondes stattfindenden Bärenfeste
von drei Mädchen gesungen wird, lautet:
Uwa-uwa-uwa-nu,
Uwa-uwa-nuwa-nu,
Uwa-uwa-urwa-nu,
Uwa-uwa-nurwa-nu.
Uwa-nuica-uiva-nu,
Uwa-urwa-uwa-nu,
TJwa-nurwa-uwa-nu,
TJwa-nuwa-nuwa-nu.
Nuwa-uwa-uwa-nu,
Urwa-uiva-uwa-nu,
Nurwa-uwa-uwa-nu,
Nuwa-uwa-urwa-nu.
u. s. f. ins Unendliche. Es konnte für diese Wörter nicht ein
bestimmter Sinn gefunden werden. Ein Ainu Namens Ciwokänke
bemerkte gegen Herrn Dobrotwörski, dieses Lied werde ma-
chnekü-chetsire ,Frauenspielen' genannt. Es seien nicht die
Lieder Jükara, Sinöchtä oder Chäuki.
Nachrichten von dem Bärenfeste:
Kamid-asinke ,das Herausführen des Gottes'. Kamid-omdntß
,das Fortschicken des Gottes'. Kamiti ,Gott' bezeichnet auch
ein geisterhaftes oder wildes Thier. Beide Wörter bedeuten
das Fest des Herausführens des Bären. Zu diesem Feste laden
die Ainu die Bewohner der benachbarten Dörfer, Verwandte
und Bekannte. Sie laden auch japanische und russische An
gestellte ein, in der Hoffnung, von ihnen sake (japanischen
Wein oder russischen Branntwein) und Geschenke zu erhalten.
338
Pfi zmaier.
Nüman-nijdto ,der Vorabend'. Diesen Tag, sowie die ganze
ihm vorangehende Nacht verbringt man im Reigentänze. Bei
diesem Tanze trennen sich die Reigen der Männer von den
Reigen der Frauen. Bei dem Tanze der Männer ist die un
gewöhnliche Kunst, die Laute des Bären, dessen Brummen und
Brüllen nachzuahmen, bemerkenswerth. Der Tanz der Frauen
lächert, selbst bei den Ainu durch starkes Zurückziehen der
Hintern (cM'hmHTt cmlimmt. OTinr t ineaHieM r b 3a,a,Hiiu>). An diesem
Tage trinkt man Sake, aber nicht viel.
Osiri lwtonu ukurän ,die schlaflose Nacht'. So heisst die
Nacht vor dem Feste. In dieser Nacht schläft man nicht, man
verbringt sie ganz mit Tanz und Tanzliedern in der Nähe des
Bärenkäfigs und nicht zu Hause, wie auch die vorhergegangene
Nacht. Sake trinkt man nur wenig, und selbst dieses thuen
nur die geehrtesten Gäste. Den Uebrigen gibt man keinen
Sake. Gegen Morgen hören Singen und Tanzen auf, und die
Ainu beginnen den Bären zu beweinen, indem sie vor ihm
kauern, niederknieen oder in gekrümmter Stellung mit dem
Angesicht auf der Erde liegen. Dabei fliessen bei ihnen häufig
eine Menge Thränen, und bei Männern gefrieren die Nasen
tropfen in Gestalt von Eiszapfen auf dem Barte. Man weint um
den Bären, welcher getödtet wird, aber nicht Uber Sünden.
Kaniüi-asin-to ,der Tag des Herausführens des Gottes'. An
diesem Tage wird der Bär herausgeführt. Am Morgen gegen
neun oder zehn Uhr legt man an den Bären eine doppelte
Schlinge, welche ihm den Bauch oder die Brust umfasst. Man
zieht fingerdicke Riemen aus Seelöwenhaut von zwei Seiten
des Käfigs zwischen einem oberen Balken der vier Wände und
einem der Balken, welche die Decke ersetzen, hindurch. So
dann springen zwei Ainu hinauf und beginnen die Decke
hinunter zu werfen. Sie sind kaum zu der letzten Reihe der
Deckenbalken gekommen, als der Bär wie ein Pfeil sich hinauf
wirft, die letzte Reihe selber hinunter wirft und aus dem Käfig
so schnell herausspringt, dass die auf dem Käfig Stehenden
kaum Zeit haben herabzuspringen und die Riemenhalter kaum
Zeit haben, ihn zurückzuhalten, indem sie die Riemen der
jenigen Seite, von welcher er sich entfernt, anziehen.
Ein schlauer Bär betrügt zuweilen dabei die Ainu. Wenn
er den Widerstand von der einen Seite bemerkt, wirft er sich,
Untersuchungen über Ainu-Gegenstände.
339
ehe man an der entgegengesetzten Seite noch Zeit hat, die
Riemen anzuziehen, plötzlich nach dieser Seite und es gelingt
ihm mitunter, irgend wen zu packen, zu heissen und zu kratzen.
Doch gelingt es, indem man ihn neckt, ihm einen Stock in
den Mund zu stecken, und während er diesen Stock erfasst
und ihn zu zernagen beginnt, bringt es einer von den Behen
deren dahin, den Bären beim Halse zu packen. In einem Augen
blicke fällt der ganze Haufe der Ainu über den Bären her,
erfasst ihn bei den Ohren, bei den Füssen u. s. w.
Hierauf legt man dem Bären einen aus der Sumpfpflanze
Orikön verfertigten Gürtel an. Dieses nennt man isb-ekuf-konte
,den Bärengürtel geben'. Dieser Gürtel wird mit dem rothen
Safte gewisser Früchte, z. B. der Beere Hu-turip oder Enönuka,
bunt gefärbt. Hernach schmückt man den Bären mit Ohr
ringen, welche aus Hobelspänen der Sandweide (susu-m) zu
sammengedreht sind. Man nennt dieses öibüinoch könte ,Ohr
ringe aus Hobelspänen geben'. Man führt den auf diese Weise
geschmückten Bären an Riemen zu dem Inä-u-cubo, einem
Halbkreise aus Flaggen (ind-u), welche zu Ehren des als Opfer
dargebrachten Bären, aber nicht zu Ehren des Berggottes,
verfertigt wurden. Man nennt sie deshalb isb-ind-u ,Bären
flaggen'. Andere Flaggen gibt es in diesem Halbkreise keine.
An den Flaggen hängt man ausserdem Sachen von Seide,
Gold- und Silberstoff, sowie mandschurische Säbel (caÖAH) aus
einander. Auf dem Gaukelwerke (®OKyc r f>) Inä-u-cubo wird an
demselben Tage des Festes ein nach oben gabelförmig zer-
theilter Baum ohne Aeste aufgestellt. Derselbe ist an den Gabeln
mit Hobelspänen geschmückt und wird Tükusi ,Pfahl' oder
Tükusi-unä-u ,Pfahlflagge' genannt. Das Führen des Bären zu
dem Halbkreise Inä-u-cubo 1 nennt man atil-ampa ,zu den Banden
bringen'. Hier bindet man den Bären an den Pfahl. Daher
heisst ttikusi-ocMä-muje ,an den Pfahl binden'.
Einer der Ainu, welcher gut mit dem Bogen zu schiessen
versteht, nimmt Bogen und Pfeil und tödtet gewöhnlich mit
einem einzigen Schüsse den Bären, der nur noch den ein
dringenden Pfeil zerbeissen kann. Alsdann nimmt Einer der
Aeltesten unter den Anwesenden, oder ein Schamane einen
1 Nach einer anderen Angabe zu dem Pflocke Tükusi,
»
340
Pf i zra ai er.
langen Stab. d. i. einen geschmückten Inä-u, Namens Joritako-
inä-u, welchen er über dem erschossenen Bären schwingt, wo
bei er halblaut ein Gebet murmelt. Man nennt dieses joritäku
,ein Gebet über dem getödteten Bären hersagen'.
Hierauf legen sich drei oder vier Ainu, nachdem sie sich
durch Betasten und Zupfen überzeugt, dass der Bär wirklich
gestorben, um ihn mit dem Gesichte zur Erde und beweinen
ihn zum letzten Male. Dann zieht man dem Bären das Fell
ab (man sagt isb trije ,dem Bären das Fell abziehen'), zertheilt
ihn in Stücke (man sagt isb trukümpa ,den Bären zertheilen')
mit dem Messer, nicht mit dem Beile, und trägt ihn zum
Kochen. Das abgetrennte Haupt bringt man dabei in das Haus
des Wirthes und legt es an der vorderen Seite (ruruwso) nieder-
Ruruwso ist die der Thüre gegenüberliegende Seite. Hernach
verzehrt man das Fleisch des Bären, trinkt den ganzen Tag
Sake und tanzt.
Der zweite Tag des Bärenfestes heisst ru§-kara-to ,Tag
des Herrichtens des Felles'. Von rui ,Fell‘, karä ,machen, in
Ordnung bringen' und to ,Tag‘. Man reinigt das Fell und
das Haupt des Bären. Auch diesen Tag verbringt man in
Trunkenheit.
Der dritte Tag des Bärenfestes heisst saba-makanke-to
,Tag des Ausspannens des Hauptes'. Von sabä ,Haupt' und
makdnke ,ausspannen'. Man sagt auch kei-makdnke-to ,Tag des
Ausspannens der Hirnschale', von kei ,Hirnschale'. An diesem
Tage trinkt man bis Mittag Sake und trägt um Mittag die
Hirnschale des Bären in den Wald in der Richtung der Berge. 1
Die Trunkenheit hat jetzt gänzlich ein Ende, weil, wie der
Ainu Ciwokänke bemerkte, kein Sake vorhanden ist.
Dieses Fest feiern auch die den Ainu benachbarten
Volksstämme, die Olök und die Amurischen Giläken. Die Olea
machen dabei auch von der Flagge (inä-u) Gebrauch. In Siska,
nahe der Mündung des Flusses Su findet sich eine eben
solche, sehr grosse Aufstellung von Flaggen (inä-u-si) wie bei
den Ainu. Dieselbe gehört den Olök, aber nicht den Ainu.
Inä-u-si bedeutet eine Sammlung oder Aufstellung von Inä-u.
1 Nach einer anderen Angabe trägt man sie nach dem Laufe des Flusses
hinauf.
Untersuchungen über Ainu-Gegenstände.
341
Die Giläken führen jährlich von Sachalin an den Amur Bären,
welche zu diesem Zwecke gefangen oder bei den im Bärenfang
geschickteren und kühneren Ainu gekauft wurden.
Der mit Dobrotwörski befreundete Ainu Ciwokänke gestand,
er selbst habe durch die Söja-üntara (Bewohner des nördlichen
Jezo) erfahren, dass die Cuwka-untara (Bewohner des östlichen
Theiles von Jezo) 1 , vor den Japanern es geheim (jpinufpdjie)
haltend, in den Wäldern an dem Ursprung der Flüsse noch
jetzt Menschen braten.
Ueber die Inä-u finden sich bei Dobrotwörski noch
mehrere Angaben. Es wird vorerst gesagt, dass, wie in den
Schriften der sibirischen Abtheilung der russisch-geographischen
Gesellschaft (Jahrgang 1864) zu sehen, gelehrte Reisende er
klären, das Opfer Inä-u bestehe in Stäbchen mit krausen An
hobelungen (na.ao'iKH et kvaphbhmh 3acTpy®KaMH). Wenn man
eine solche Benennung als Ausdruck für die Inä-u der Ainu
annehme, verstosse man stark gegen die Wahrheit. Die Inä-u
verfertige man sowohl aus Stäbchen als aus grossen Stäben,
aus langen Stangen und selbst aus ganzen Bäumen. Die Hobel
späne (cTppKKH) an ihnen seien gekrauste und ungekrauste.
Endlich brauchen die Inä-u gar keine Anhobelungen zu haben
und alle würden doch Inä-u genannt.
Ausserdem, wenn man alle Theile der Inä-u aufmerksam
betrachte, sehe man in ihnen eine Aehnlichkeit mit dem mensch
lichen Körper. Denn es gebe an den Inä-u ein Haupt, einen
Hals, Hände u. s. w. Desswegen seien die Hobelspäne, welche
das Haar an verschiedenen Körpertheilen vorstellen, bloss ein
Theil der Inä-u. Somit passe auf diese Baumopfer, höchst
wahrscheinlich Ueberbleibsel der Sitte der Menschenopfer,
keineswegs die Benennung: ',Stäbchen mit krausen Anko-
belungeid, während, wenn man bei vorläufiger Beschreibung
das Wort Inä-u gebrauche, man sich kurz, deutlich, und in
der Hauptsache richtig ausdrücken werde.
Die Ainu bringen alljährlich im Monate November dem
Berggotte ein Sühnopfer, indem sie den Bären tödten, den sie
für einen Sohn des Berggottes halten. Es wird noch bemerkt,
1 Von den ,Cuwka-untara* wurde oben gesagt, dass sie den Hals der
Menschen mit einem gewissen Werkzeuge zusammendrücken.
342
Pfizmaier.
dass man den aus dem Käfig befreiten Bären mit Blumen
gewinden bekränzt. Dobrotwörski heilte einen Ainu Namens
Sämbakus-ainu aus Näjero, welchem der Bär an dem Festtage
zur Zeit der Bekränzung mit Blumengewinden die Fingerspitze
abgebissen hatte.
Der Richtplatz, auf welchen man den Bären führt (ind-u-
cubu), wird, so heisst es, in halbkreisförmiger Gestalt aus
einer Menge Inä-u gebildet und mit reichen Teppichen, Schärpen,
Tüchern und Zobelfellen geschmückt. In der Mitte dieses Halb
kreises binde man den Bären an zwei mit einer Menge Inä-u
geschmückte und oben gabelförmig endende Pfähle 1 und
erschiesse ihn mit einem Bogen.
Das gebräuchlichste und häufigste Opfer bei den Ainu
sei ein mit krausen Hobelspänen geschmückter Stock von
verschiedener Grösse. Es sei der Inä-u. Die Grösse der Inä-u
schwanke zwischen zwei Werschök und anderthalb Klaftern.
Den verschiedenen Göttern bringe man verschieden herge
richtete Inä-u zum Opfer. Doch bei allen Inä-u treffe man
Theile des menschlichen Körpers. Als Dobrotwörski aufmerk
sam einen kopflosen Inä-u betrachtete, argwöhnte er, dass eine
solche Art, Inä-u zu bilden, ein Ueberbleibsel der Sitte der
Menschenopfer sei.
Die Gestalt eines See-Inä-u (atüi-ind-u), der zur Zeit der
Stürme in das Meer geworfen wird, desen ausgestreckte Arme
und zerhackter Bauch erinnerten stark an die biblische Er
zählung von dem ausgeworfenen Jonas. Die Ainu selbst, heisst
es, schämen sich, davon zu reden und versichern, dass unter
allen Ainustämmen nur die Cuwka-üntara in der alten Zeit
Menschenfresser (tinkaju) gewesen seien.
Von dem Halse der Inä-u (ind-u-trekilf) gehen nach oben
kurze Anhobelungen, welche zeigen, dass kein einziger Leib
,anfänglich' (nepBOHaqa.iLHO) sich der ,Aufdeckung' (cKpr.me)
unterwerfen konnte. Das Gesagte ist nicht gut verständlich.
Die Feuer-Inä-u (unci-ind-u) stellt man auf die vordere
Ecke des Herdes. Ihre Zahl beläuft sich bis auf zwölf. Die
alten trägt man zu der gewöhnlichen Zusammenlegung hinaus.
1 Nach der früheren Angabe ist es ein nach oben gabelförmig getheilter
Baum ohne Aeste, welcher Tülcusi ,Pfahl 1 oder Tukusi-unä-u ,Pfahl-Unä-u'
genannt wird.
Untersuchungen über Ainu-Gegenstände.
343
Indem man in dieser Abhandlung zu gottesdienstlichen
Gegenständen übergeht, möge vorerst über das Wort kamüi,
welches ursprünglich ,Gott' bedeutet, Einiges gesagt werden.
Herr Dobrotwörski kommt mit Recht zu dem Schlüsse, dass
der Gottesglaube der Ainu anfänglich in der Vergötterung
sinnlicher Gegenstände bestand, sagt aber, dass das Wort kamüi
von kamu ,Fleisch' und trui ,stark' abgeleitet werde und somit
,ein an Fleisch reiches Wesen' bedeute. Dass es höchst wahr
scheinlich einige Wirbelthiere gewesen, welche von den Ainu
vergöttert wurden, mag ebenfalls unbestritten bleiben.
Es ist indessen unzweifelhaft, dass das japanische Jcami
und das Ainu kamüi in der Bedeutung ,Gott' ein und dasselbe
Wort sind, dass jedoch beide Wörter, wo man sie auf Menschen
bezieht, nichts mit dem Sinne von ,Gott‘ gemein haben. Obgleich
sich eigentlich nicht nach weisen liesse, ob das fragliche Wort
japanischen oder Ainu-Ursprungs ist, steht es doch fest, dass
von dem japanischen Icavii ,oben‘ alle übrigen Bedeutungen
des Wortes stammen, zumal das Ainu-Wort für ,oben' nicht
kami oder ein ähnliches Wort, sondern lcäske, auch ri&ta ist.
Was die Japaner über die Ableitung sagen, ist grundlos, wider
sprechend und kindisch.
Als Ainu-Ausdrücke, in welchen kamüi nicht ,Gott‘ be
deutet, sondern das veränderte japanische kami,älteste Obrigkeit,
Statthalter' ist, mögen genannt werden mösiri-kamüi ,Statthalter
der Insel, König des Reiches' und die hinsichtlich des ersten
Theiles der Zusammensetzung noch immer unerklärbaren zwei
Wörter Tsmdjeri-kamüi ,Himmelssohn' und Tsidnhi-kamüi ,der
Heerführer von Japan, der Siogun'.
Die Zusammensetzungen, in welchen kamüi ursprünglich
,Gott' bedeutet, sind sehr zahlreich. Besonders bemerkens-
werth sind:
Porb-atüi-kamüi ,der grosse Meergott', der Seelöwe.
Pon-atüi-kamüi ,der kleine Meergott', der Seehund.
Ka.müi-tife ,das göttliche Haus', der Bärenkäfig.
Pon-lcamüi ,der kleine Gott', ,das Sommerjunge des Robben'.
Onnew-kamüi ,der Adlergott', ,das im Winter geborene
Junge des Robben'.
Cuw-kamüi ,der Sonnengott', ,das Junge des Robben,
welches im Herbste getödtet wird'. ■
344
Pfizmaier.
Jamä-kamüi ,der Waldgott', ein Thier des Waldes.
Die Götter der Ainu’s sind eine unzählige Menge und es
gibt deren für jedes Land und jeden Ort. So sagt man tan
mdsiri sikdSma kamui .die Schutzgötter dieser Insel', tan kotän
sikdsma kamui ,die Schutzgötter dieses Dorfes'. Es gibt gute
und böse Götter. Die vorzüglichsten guten Götter sind:
Cuw-kamui, die Lichtgötter.
Nüburi-kamüi, der Berggott.
Atiä-lcamiä, die Meergötter.
Unci-kamüi, die Feuergötter, die Götter des Herdes.
Ti.Se-Jcamüi, die Hausgötter.
Toi-kamüi, der Erdgott.
Tusü-kamüi, die Schamanengötter.
Kotän-karappe, der Gründer der Niederlassung.
Köiki-kamüi, die Jagdgötter.
Sikdsma-kamüi, die Schutzgötter.
Besonders die Schutzgötter sind unzählige, da jede Gegend,
jede Insel, jeder Hügel, jedes Dorf u. s. f. einen eigenen
Schutzgott hat.
Das Aeussere dieser Götter ist den Ainu’s unbekannt.
Bios der Herdgott kommt nächtlich aus der Asche in Gestalt
eines hübschen Knaben hervor und das Angesicht des Licht
gottes kann man in einer hellen Nacht an dem Monde sehen.
Der Mond der Lichter, oder der Mondgott lebt in dem Monde.
In jedem Neumond wird er geboren, wächst dann auf, wird
ein Knabe, ein Mann und stirbt am Ende der Abnahme des
Mondes als hochbetagter Greis. Unter allen Göttern hat blos
der Mondgott ein Weib und einen Hund bei sich, welche er
fing, als er in den Mond fortging.
Zu den bösen Göttern gehören:
Ojdsi, der Dämon.
Wen-ojasi, der böse Dämon. Auch icen-kamüi ,der böse
Gott' genannt.
Kdnna-kamüi, der Donnergott.
Der Berggott (nüburi-kamüi) wird für einen beinahe ebenso
grossen Gott wie der Gott der Lichter (cuw-kärnui) gehalten.
Man hält ihn auch für einen gleich grossen.
, Der Erdgott (toi-kamüi) wohnt in Pöchna-kotkn ,in der
Unterwelt', doch ist nicht bekannt, in welcher Unterwelt, ob in
Untersuchungen über Ainu-Gegenstände.
345
derjenigen der Menschen, oder in einer besonderen. Wenn
er auch nur den Finger bewegt, bersten die Felsen und die
ganze Insel zittert. Dabei zittern auch die Häuser. Dieser
Gott wird ein grosser Gott (poro-kamüi) genannt.
Einer der Meergötter überwacht die Seefischerei, deren
Erfolg einzig von ihm abhängt. Man bringt ihm die untere
Kinnlade des kleinen Lachses (Ciräi) zum Opfer. Atüi-kamüi
,Meergott' werden auch alle grossen Seethiere, die Seelöwen,
Robben, Walfische, Delphine, u. s. w. genannt.
Tusü-dinu oder tusü-Jcurü heisst ein Schamane. Von tusü
,die Schamanenkunst üben'.
Tusü-dinu kamüi, ein Schamanengott, der Gott der Scha
manen. Derselbe heisst auch kosümpu oder kosv/mbu.
Tusü-kamüi, die von den Schamanen herbeigerufenen Götter.
Von dem Dasein der Götter, ihrem Leben und ihren
wechselseitigen Beziehungen sagen die Ainu nicht ein Wort.
Nur die Schamanen behaupten kühn, dass sie Götter sehen, ihre
Stimme hören, und die Ainu glauben ihnen vollkommen.
Von einem Schamanen vorgerufen, erscheinen die Scha
manengötter und beginnen mit einem Geräusch ähnlich dem
jenigen, welches durch eine in der Luft geschwungene Gerte
hervorgebracht wird, zu fliegen. Dieses Geräusch ist ihre Sprache,
welche nur von den Schamanen verstanden wird. Hierauf macht
der Schamane dem Kranken das von den Göttern bezeichnete
Heilmittel, oder irgend Jemandem sein Schicksal, gewöhnlich
ein günstiges, bekannt.
Bei dem Schamanen Peputu war einst mit dem Schamanen
Chi-ichi ein Streit, bei welchem Peputu immer zwei Schamanen
götter sah, welche auf ihn mit Pfeilen schossen und von
welchen der eine traf. Der Pfeil fiel hierauf von selbst heraus
und er blieb am Leben.
Wenn ein Schamanengott auf Befehl eines Schamanen auf
einen Nichtschamanen schiesst, so kann ein anderer Schamane
den Pfeil herausziehen, sonst ist der Mensch auf der Stelle
todt. Die Pfeile der Schamanengötter verursachen keine Wun
den. Ausser solchen Pfeilen ziehen die Schamanen auch aus
den Eingeweiden der Kranken verschiedene Krankheiten heraus.
Tose heisst eine Rolle aus Hobelspänen des Ina-u. Der
Schamane Kochkö nahm eine solche Rolle Hobelspäne aus dem
Sit/,ungsboi\ d. phil.-liist. CI. CIII. Bd. II. Hft. 23
346
Pfizraaier.
Brustfleische des Ainu Tsiskajänke heraus und zeigte, dass
dieses ein Gift (süruku) sei. Indem er es herausnahm, liess
er keine Wunde zurück. Die Schamanengötter theilten Kochkö
mit, dass der Ainu Uiruke dieses Gift hineingelegt habe.
Die Verwandten begehrten desswegen von Uiruke das Blut
geld (adrnpe).
Von dem Schamanen Sirübusis aus Kusim-kotan wurde
erzählt, er habe ein todtes Mädchen zum Leben erweckt, nach
dem er ihr an dem Halse in einer Schale kalten Wassers ihre
Seele ausgegossen. Nach einer anderen Angabe habe er ihr
hinter dem Rücken ihre Seele in einer Schale kalten Wassers
ausgegossen. Das Mädchen habe anfänglich die Finger, dann
die Arme und die Füsse bewegt und sei zuletzt lebendig ge
worden. Dieser Schamaue läugnete vor Herrn Dobrotwörski
diese ihm zugeschriebene Erweckung eines todten Mädchens.
Die Seele sehen nur einige Schamanen. Sie sagen, dieselbe
sei von der Gestalt eines ganz kleinen Vogels, der in dem
Herzen lebt.
Namen von Schamanengöttern sind:
Chetsire-kamiii, der spielende Gott.
Nüburu-kamüi, der kunstverständige Gott.
Chetsire-kosümbu, der spielende Schamanengott.
Diese drei Namen bezeichnen Götter der Gaukelwerke.
Chetsire-ka/tnid karä dinu, der den spielenden Gott vor
stellende Ainu. So heisst der den Göttern der Gaukelwerke
gebietende Schamane.
Chetsire-tusü-dinu, der spielende Schamane. Dieses Wort
hat die Bedeutung des vorhergehenden.
Cimuje-kamiä-karä, die anbindenden Götter vorstellen, d. i-
Gaukelwerke aufführen. Cimuje ist so viel als muß, anbinden.
CMtsire-kamüi-kara, die spielenden Götter vorstellen. Hat
die Bedeutung des vorhergehenden Wortes.
Ein Mensch, der einen Schamanengott sieht, stirbt augen
blicklich. Sonst sind nur die Schritte dieser Götter hörbar.
Als Gaukelwerke der Schamanen wurden bekannt:
Der Schamane Cherökki-eku wurde gebunden und band
sich im Finstern los.
Der Schamane Peputu verwandelte Glasperlen aus der
Rinde der Sandweide (susü) in echte Glasperlen oder in Tabak.
Untersuchungen über Ainu-Gegenstände.
347
Der Schamane Peputu sog ferner Krankheiten aus den
Eingeweiden in Gestalt rothen Fleisches aus.
Die Götter gaben ihm Glaskorallen und Tabak. Er ver
theilte dieses unter die Anwesenden.
Er Hess auf sich mit Pfeilen schiessen. Die Götter
nahmen die Eisenspitzen (kcini) der Pfeile heraus, so dass ein
Pfeilschaft auf die Erde fiel. Pdputu hob einen der anwesenden
Ainu empor, und die Eisenspitze fiel diesem zwischen die
Füsse aus dem Gewände heraus.
Peputu Hess Feuer aus dem Munde heraus. Er zerschlägt
eine kupferne Pfeife mit einem Hammer, steckt sie in den
Mund und nimmt sie als eine ganze Pfeife heraus. Er zerbricht
eine Nadel, steckt sie in den Mund und nimmt sie als eine
ganze Nadel heraus.
Man bindet ihn, doch die Schamanengötter binden ihn los,
indem sie zu ihm bei einem erloschenen Feuer herabsteigen.
Er schöpft in einen leeren, mit keinem Boden versehenen
Zuber (sintoko) Wasser, welches alle Anwesenden trinken. Das
Wasser läuft aber nicht aus.
Die Ainu gedenken des Schutzgottes (sikdSma-kamüi) der
Niederlassung beim Trinken. Vor der ersten Schale Sake sagen
sie ein stüles Gebet her, indem sie über der Schale den Trink
stiel (ilcünü) fest halten. Hierauf fahren sie über der Schale
mit diesem kleinen Spatel zweimal in die Luft, bringen damit
einen Tropfen Sake zum Opfer für den Schutzgott der Nieder
lassung hin und wenden die Hand nach der Seite, unbekümmert,
ob das Tröpfchen in den Trinkstiel läuft oder nicht. Indem
sie endlich den Schnurrbart emporhalten, trinken sie die Schale
aus. Die letzten Tropfen jedoch wischt man mit dem Zeige
finger ab und beleckt diesen. Nachdem man zum Schlüsse den
kleinen Spatel auf die Schale gelegt, erhebt man diese zum
Zeichen der Dankbarkeit gegen den Wirth zur Stirn und gibt
sie dem Nächstfolgenden weiter.
IküniS ,Trinkstiel' ist ein kleiner Spatel, mit welchem man
den Schnurrbart zur Zeit des Trinkens emporhebt. Derselbe
hat oft Verzierungen von Einschnitten. Das Wort ist aus ikü
,trinken' und ni§ ,Stiel' zusammengesetzt.
In Bezug auf den erwähnten Gebrauch, den Zeigefinger
zu belecken, ist ikemiimpe ein Name des Zeigefingers. Das
23*
348
Pfizmaier.
Wort ist aus ikem ,lecken 4 und mümpe ,Finger 4 zusammenge
setzt. In demselben Sinne sagt man auch itanki-kembe ,der
Trinkschalenfinger 4 .
Den bösen Göttern bringt man keine Opfer dar. Dem
Donnergotte (kdnna-kamüi) desswegen nicht, weil er heftig
zankt (ulmiki-porh).
Kdnna-kamiii ,der Donnergott 4 bedeutet wörtlich: der obere
Gott. Von kdnna ,ober, oben befindlich 4 , welches mit dem bei
kamili angeführten japanischen karni übereinstimmt. Davon
kanna-kamui-fumi, die Stimme des oberen Gottes, der Donner,
für welches, wie angegeben wird, in der Wörtersammlung
Ptuskin’s die Verbindung rista-kamiri hummi gesetzt ist.
Ri£ta-kamüi ist jedoch der Himmelsgott, ein besonderer
Gott, nicht der Donnergott, obgleich ritta ebenfalls ,ober, oben
befindlich 4 bedeutet. Für rista wird auf Jezo dialectisch riki-ta
gesagt. Dasselbe bedeutet sowohl ,ober 4 als auch ,Himmel 4 ,
wie in meinem Wörterbuche zu sehen.
Zu den Opfern für die guten Götter gehört noch die
Sitte, häufig Stäbchen mit Vogelköpfen in die Wände einzu
fügen. Wenn man über einen Berg geht, wirft man dem
Berggotte einen Finger voll Tabak hin. Sonst werden Thiere
des Waldes dem Berggotte, Vogelköpfe dem Meergotte zum
Opfer gebracht.
Saninä-usi ist eine Häufung von Flaggen an dem Meerufer.
Man stellt sie an einem hohen und steilen Meerufer (kiseri)
und auf Sandbänken (mdsara) zum Opfer für den Meergott auf.
Das Wort stammt von dem einfachen ind-u-si ,eine Häufung von
Ina-u 4 . Das Vorgesetzte san ist von ungewisser Bedeutung.
Die Dämonen (ojdsi) sind die Urheber aller Krankheiten
und gehören zu den bösen Göttern. Da die bösen Götter von
den guten unabhängig sind, erdachten die Ainu verschiedene
Mittel, um sich vor Schaden zu bewahren.
Ein Dämon, der von Gestalt einem Ainu ähnlich ist, geht
in der Nacht um die Dörfer herum. In dem Dorfe, zu welchem
e'r gelangt, kommen dann allerlei schwere Krankheiten, vor
züglich Krankheiten der Brust, zum Vorschein. Die Ainu
nennen ihn auch den Hustengott (önke-kamüi). Das Nahen des
Ojäsi ist jedoch von einem eigenthümlichen Geräusch (ojdsi-
chum, Geräusch des Dämons) begleitet. Wenn die Ainu dieses
Untersuchungen über Ainu-Gegenstände.
349
hören, werfen sie sogleich in das Feuer einen Stein, der bei
den Insi-u des Herdes liegt, und der Ojäsi entflieht.
Der erwähnte Stein, den man als Mittel gegen die Dä
monen braucht, ist eine Steinkohle (driSi). Dieser Stein, der
von den Ainu von Aniwa nicht verwendet wird, führt bei den
übrigen Ainu den Namen unci-küsuri ,Feuerarznei'.
Der böse Dämon (wen-ojdsi), auch der böse Gott (wen-
kamxii) genannt, lenkt die Reisenden von dem Wege ab und
bewirkt, dass sie herumirren und vor Hunger sterben. Wenn
man die Stimme dieses bösen Dämons hört, welcher einen
Menschen beim Namen ruft und ihn von dem Wege abirren
macht, so muss man die beschwörenden Worte chanJca kemdte-
ech leuni-nu ki ,schrecke nicht in der Nacht'! Vorbringen, und
der böse Dämon entflieht.
Dieser Dämon macht den Menschen auf zweierlei Weise
wahnsinnig, indem er entweder in der Nacht auf dem Wege
ein Feuer anzündet, oder den Menschen von rückwärts berührt.
Ein Ainu, der in der Nacht auf dem Wege das Feuer des
bösen Dämons gesehen, schlitzt einem Hunde das Ohr auf und
bestreicht sich mit dem Blute das Gesicht. Das Feuer ver
schwindet hierauf. Dennoch läuft ein furchtsamer Ainu zu der
ersten besten Jurte in einem solchen Schrecken, dass er sich
oft auf der Erde wälzt und man ihn mit kaltem Wasser be-
giesst, oder selbst ihm am Arme einen Aderlass macht.
Wenn ein Ainu in der Nacht hinter sich auf dem Wege
das Geräusch der Schritte des bösen Dämons hört, nimmt er
von sich das untere Leinenzeug weg, entblösst seine zwei
Messer und geht gebückt und mit seinem Messerchen nach rück
wärts fahrend daher. Der böse Dämon entflieht, indem er sich
vor den Ainumessern fürchtet, vielleicht aber auch über dieses
Bild sich schämt.
Der Wahnsinn ist für die Ainu schrecklich, besonders
desswegen, weil sie diese Krankheit zu den unheilbaren und
schnell zum Tode führenden zählen. Die Wahnsinnigen leben
nicht in den Häusern und kommen, in dem Walde herumirrend,
schnell durch Selbstmord oder Hunger um.
Der Ainu Ciwokänke sah im Winter das Feuer des bösen
Dämons nahe dem Dorfe Ai, als es finster wurde, in Gestalt
einer grossen Leuchte. Als er das Ohr des Hundes aufschlitzte
350
P f i z in a i o r.
und vorbeifuhr, verschwand das Feuer des bösen Dämons,
doch darauf zeigte es sich wieder und war von vorn an ver
schiedenen Orten, dicht bis zu dem Flusse Otosan sichtbar.
Ein besonderer Gott bringt die Bilder in den Wolken, Thiere,
Berge u. s. w. hervor. Diese Bilder nennt man niSochtsi-karä. Von
nisochta ,an dem Himmel', welches so viel als nisoro-ochtä.
Citukänni ist eine Birke, nach welcher die alten Ainu
und Giläken mit Pfeilen schossen, indem sie die Pfeile zum
Opfer für die Götter in der Nähe der Häufungen der Flaggen
(ind-u-si) aufstellten. Eine solche Birke befand sich vor nicht
sehr langer Zeit unfern von dem Berge Sirütsis, einem Orte zum
Ueberwintern an der Ueberfahrt zwischen Küsunai und Mänuja.
Die Ainu glauben an die Unsterblichkeit der Seele und
nehmen an, dass nach dem Tode die Seelen nach Pächno-kotkn
gehen. Die Seele heisst tramäch oder tramdtsi. Das letztere Wort
ist bei den südlichen Ainu üblich. In Pächno-kotkn gemessen die
guten Menschen alle Freuden. Die bösen Menschen werden
zugleich mit den bösen Göttern gequält. Einige sind aufgehängt,
Andere stehen in heissem Wasser u. s. f.
Aus der Zahl der Thiere leben in Pächo-kotan nur Hunde.
Für den Bären hat man nach dem Tode einen Wohnsitz in
dem Walde (jamä-kotän, Niederlassung des Waldes), für die
Seehunde und die Seelöwen einen in dem Meere (atüi-kotän,
Niederlassung des Meeres) angewiesen. Die übrigen Thiere be
sitzen kein Leben nach dem Tode.
Wenn ein Ainu von einem Abwesenden Böses spricht, so
niest derjenige, von welchem man spricht, mit einem Schmerz
in der Nase. Wenn man aber Gutes spricht, so niest derselbe
ohne einen Schmerz in der Nase. Der mit einem Schmerz
Niesende sagt: chemata setä koSani-wen ,welcher Hund redet
übel nach?' Man sagt auch chemata setä wempesdni, oder chemata
setä esdm-pi, oder chemata setä sani-pisi ,welcher Hund redet
übel nach?'
Koöaru-iven, wempesdni, esdmpi und sani-pisi bedeuten
gleichmässig: übel nachreden. Wempesdni steht für wen-pesdni,
von wen ,schlecht'. In sani-pisi hat pisi allein die Bedeutung
,fragen'.
Etü-küm.a, sich bei der Nase nehmen. Wenn die Frauen
der Söja-üntara Jemanden grüssen, reiben sie sich die Hände,
Untersuchungen über Ainu-Gegenstände.
351
erheben sie zum Angesicht, und fahren mit der Hand zur
Oberlippe. Wenn die Söj a - untara und Sarüntara sich ver
wundern, rufen sie 0! und nehmen sich bei der Nasenspitze.
Die Sitte, sich bei der Nase zu nehmen (etü-kisma) wird
bei den Ainu von Sachalin selten beobachtet. Wenn sie sich
verwundern, rufen sie gewöhnlich nur 0! ho! sitamare ,Oho!
wunderbar'! oder sitomare-na ,wunderbar!'
Wie der Ainu Ciwokänke sagte, gibt es eine Art zu
grüssen, welche urankarabare genannt wird. Der Gruss besteht
darin, dass man sich, gerade wie bei der Danksagung (jai-
irdikere) einmal über den Bart streicht. Ausserhalb des Hauses
entbietet man ihn kauernd, da man sich nicht setzen kann.
Wörter, welche die Art des Grusses bezeichnen, sind noch
umurdipa und indnukarachte.
Urankarabare oder urdnkarapare ist dem Sinne nach zu
u-ran-kara-ba-re abzutheilen. Von rdmu ,Gemüth‘ und karä
,thun' mit den Endsylben ba re. U-ramu ist soviel als uko-ramu,
oder das in meinem Wörterbuche verzeichnete iramu ,kennen'.
Zu vergleichen hiermit urankara-kara ,sich nähern, sich ver
söhnen' und das ebenfalls bei mir verzeichnete i-ramu-kambare
,eine ängstliche, erschrockene Miene'.
Umurdipa ist u-mu-rai-pa abzutheilen. Dabei hat mu die
muthmassliche Bedeutung von mui ,binden, zusammenbinden'.
Indnukarachte ist i- nanu -karachte abzutheilen. Von nanu
,Angesicht', karä ,thun' und te ,Hand'. Dass indnukarachte in
japanischer Schreibung durch jangarapte ausgedrückt zu sein
scheint, ist in meiner Abhandlung ,Erörterungen und Auf
klärungen über Aino' (S. 1082) zu sehen.
Bei dem Grusse Umurdipa legen die Grüssenden alle vier
Hände wechselweise zusammen. Es kommt zuerst die Hand des
Einen, dann des Anderen, hierauf wieder die Hand des Einen,
dann des Anderen, und zwar so, dass die Daumen Beider
an den Enden einander berühren. Nachdem auf diese Weise
die Hände zusammengelegt, schüttelt man sie oberflächlich.
Wie der Ainu Ciwokänke sagte, ist der Gruss Uränkara-
bare soviel als der Gruss Indnukarachte. Bei dem Grusse
Urankarabare kauern die Ainu einander gegenüber, reiben sich
zweimal die Hände und erheben sie zum Angesicht, womit die
Sache ein Ende hat. Die Ainu stehen auf und füllen einander
352
Pfi zmai er.
die Pfeife an, ein Jeder eine fremde mit seinem eigenen Tabak.
Der kauernd entbotene Gruss Urankarabare findet dort statt,
wo kein Platz zum Sitzen ist, da die Ainu es für unschicklich
halten, stehend zu griissen.
Der Ainu ('iwokänke versicherte, dass der oben genannte
Gruss Umuräipa nur unter Verwandten gebräuchlich sei.
Kasä, das japanische kasa ,Schirm', ist ein Stroh- oder
Bambushut für Festtage. Derselbe hat breite, mit Fischbein
besetzte Krampen, deren vier Streifchen quer über die Ivrämpe
bis zu einem über dem Hute befindlichen kleinen Kreise, moräphu
genannt, gehen.
Möisima' kann als moi-zivia, von moi ,wenig' und dem
japanischen sima ,die Streifen eines Tuches“, betrachtet werden.
Es ist eine Art gemodelter Ueberärmel, welche von Männern
im Winter, besonders bei Schlittenfahrten und der Kälte wegen
getragen werden.
Opömpe ,weite Beinkleider, Kniestück“ kann von pompe
,kleine Sache“ abgeleitet sein. Dieses Kleidungsstück reicht
nur bis zu der Mitte der Hüften. Man unterscheidet po§-opnmpe
,Kniestück aus grober Leinwand' und setä-opömpe ,Kniestück
aus Hundsfell'.
Cimpai ,Hemd' ist ein bis zu den Knieen gehendes Kleid
ohne Unterfutter, mit einem Bande zum Zubinden an dem Halse.
Ekaje ist ein gemodelter Saum rings um die Aermel des
Kleides. Von ekäi ,rings umher'. Man sagt auch tusä-ekaje von
tusä ,Aermel'.
Kufke ist ein Ledergürtel, an welchem sich gegen siebzig
Schnallen und Ringe befinden. Die Ainu erhalten diesen Gürtel
von den Giläken.
Artus heisst der Rock der Ainu. Es gibt vier Arten
dieses, Rockes.
Karänni-artus ist ein Rock aus dem Baste des Baumes
kardnni oder kara-ni. Derselbe ist ein rother Rock.
Opiwni-drtu§ ist ein Rock aus dem Baste des Baumes
opiw oder opiw-ni. Derselbe ist ein gelber Rock.
Käcko-karä-ärtus ist ein bunter Rock mit einem Aufzug aus
Brennesseln und einem Einschlag aus dem Bast des Baumes Opiw.
Tetaräpe bedeutet ,weisses Kleid'. Von tetara ,weiss'.
Das Wort, in Mo-siwo-gusa nicht enthalten, hat in der Wörter-
Untersuchungen über Ainu-Gegenstände.
353
Sammlung Lapeyrouse die Schreibung tetarape und wird er
klärt: Sorte de cliemise d’etojfe grassiere, et orne d’un lisere de
nankin bleu au bas, ainsi qu’au collet. Durch ,weiss‘ würde
somit der ungefärbte Stoff bezeichnet werden.
Hdmpaki ist das japanische Fabaki, eine Art Strümpfe.
Man bedient sich deren auf Reisen, damit die Schienbeine von
Gräsern und Aesten nicht geritzt werden.
Möse-kabü ist Brennesselhaut. Die Ainu verfertigen aus
Brennesselhaut Zwirn des Aufzuges zum Weben von Doppel
matten und bunten Röcken, ferner Nähzwirn und ganze weisse
Röcke. Möse ,Brennessel' heisst japanisch ito-wo toru kusa ,die
Spinnpflanze'.
Chat ist ein Spinnrockenvoll Brennesseln oder Brennessel-
liaut. Ghai-ka ist Brennesselzwirn. Von ka, Zwirn. Brennessel
zwirn ersetzt bei den Ainu das Leingarn und die Seidenfäden.
Man zieht von der Brennessel die Haut an Ort und Stelle ab,
wenn die Brennessel noch steht.
Ckai-karä ,den Brennesselrocken bereiten 1 . Dieses bedeutet,
dass man der Brennessel die Haut abzieht.
Chai-kire ,den Brennesselrocken kratzen'. Dieses bedeutet,
dass man die Brennesselhaut mit dem Messer schabt.
Ghajüf-karä ist muthmasslich die Zusammenziehung von
chai-jiifke-karä ,den Brennesselrocken fest machen'. Es bedeutet,
dass man die geschabte Brennesselhaut anfeuchtet. Dieses ge
schieht im ganzen Monate September. Im Monate October
hängt man die Brennesselhaut auf Stangen und trocknet sie.
Onka, ein Wort unbekannten Ursprunges, bedeutet: See-
hundfell für Stiefel bearbeiten. Es wird hier die Seehundart
Poröch genannt. Man schabt das Haar mit dem Messer ab
und hängt das Fell auf Böden, wo es unter der Einwirkung
des Regens weiss und zur Anfertigung von Stiefeln tauglich wird.
Etü-korb-kirb, ,mit Nasen versehene Stiefel'. So heissen
Stiefel mit langen und dünnen, nach oben gekrümmten Spitzen.
Dieselben dienen zum häuslichen Gebrauche und für blinde
Greise, welche nicht weit vom Hause Weggehen und folglich
nicht anstossen können.
Onnäi-kita ci an mondSna, ciivente ,innerlich schwitzen und
schnell verderben' sagt man von den Ainustiefeln, bei welchen
dieses der Fall sein soll, wenn man sie in der Wärme anbehält.
354
Pfizraaier.
KönJco ,Schelle, Kinderklapper 1 stammt von dem japani
schen kon-gb ,Diamant'. Der Gegenstand wird statt der Schellen
bei Schlittenfahrten verwendet. Die Kinder tragen ihn häufig
an dem Gürtel.
Öchkeiv, ökke-u oder öchke-u, der Kragen. Öchkew-he oder
drtus ochkew-he, ist ein in den Kragen rückwärts eingenähter
Fleck. Derselbe hat die Gestalt einer Raute mit einer abge
stumpften Ecke. Ochkew-entem ist ein diesen eingenähten Fleck
umschliessendes schwarzes Zwirnband.
Die Ainu tragen an der rechten Hüfte zwei Messer. Die
selben heissen ceiki-makiri und sa-makiri.
Öeiki-maMri ist ein Messer zum Verfertigen der Inä-u, ein
Messer für die Hobelspäne.
Sa-makiri ist das zweite Messer, welches die Ainu tragen.
Die Bedeutung von sa ist ungewiss. Dieses Messer soll auch
porb-makiri ,grosses Messer' und indsaku heissen. Die ursprüng
liche Bedeutung des letzteren Wortes ist ebenfalls ungewiss.
Nebstdem tragen die Ainu an der rechten Hüfte den
Gegenstand Öchkita, ein Hörnchen zum Auflösen der Knoten.
Epirike ist ein Messer, welches die Frauen rückwärts an
dem Gürtel tragen.
Oköre-epirike ist das zweite kleinere Messer, welches die
Frauen an dem Gürtel tragen. Viele tragen es nicht. Der Ainu
Ciwokänkc verwarf dieses Wort und sagte, dass die Frauen
nur ein Messer, das oben genannte Epiriki tragen.
Das Messer Poro-makiri oder Inäsaku dient zur Bereitung
von Speisen. Das Messer Sa-makiri dient zur Zeichnung von
Mustern, auch zum Zerkrümeln, Zerschneiden u. s. w. Das
Messer Ceiki-makiri dient zur Zubereitung der Fische, zum
Schneiden der Hobelspäne der Inä-u und zu allen anderen
Arbeiten in Holz.
Mirb ist ein an der linken Hüfte ■ getragenes Täschchen
für Feuerschwamm, Feuerstein und Stahl. Es ist aus Seehund
fell verfertigt und besteht aus zwei Hälften, von denen die
eine in die andere sich hineinschiebt. Man sagt auch kdroma.
Sdciika sind Essstäbchen. Es gibt hölzerne und beinerne,
gefärbte und ungefärbte.
Ipe-ki-ku-ä ist ein Stock zum Ausgraben essbarer Wurzeln.
Von ipe ,essen' ki ,thun‘ und ku-ä ,Stock'.
Untersuchungen über Ainu-Gegenstände.
355
Mare oder mär! ist ein Werkzeug zum Fangen der Wal
fische oder der an den Ursprüngen der Flüsse befindlichen
Hausen. Es ist eine an einem Ende mit einem Widerhaken
versehene Stange. Man hakt damit den Fisch einfach an.
Mokomäi ist der Name einer essbaren Muschel. Um sie zu
erlangen, durchgräbt man den Meeresboden mit einer Hacke,
welche man nach der einen und der anderen Seite dreht,
wenn man die Muschel nicht erreicht. In der Wörtersammlung
Lapeyrouse findet sich: Mocomaie, grand came d’espece commune,
coquille bivalve.
Itsänoi oder iednoi ist der frühzeitige Buckellachs, der
weisse Buckellachs mit kurzer Schnauze. Das Wort ist die Ab
kürzung von itsän-hemoi oder itsän-emoi ,geschmackloser Buckel
lachs“'. Derselbe heisst auch homdporo. Es ist ein von den
Ursprüngen der Flüsse zurückkehrender, am Leibe mit Wunden
und rothen Streifen bedeckter Fisch mit grossem Kopfe und
grossen Zähnen.
Cöliujeku heisst das Meerschwein. Man sagt auch etdspe
köilci, chümpe köiki-dikiste ,die den Seelöwen fangende, die den
Walfisch fangende Pfeilspitze“. In dem sonst nirgends vor
kommenden Ausdrucke dikiste scheint kiste für keclito ,Spitze
der eisernen Pike“ zu stehen. Die Ainu nennen das Meer
schwein auch ainu-uneinu ,mit dem Ainu gleich“, weil die von
dem Meerschwein getödteten Walfische und Seelöwen den
Menschen zur Nahrung zu Theil werden.
Chümpe-lcemä ,Walfischfuss‘ heissen die Schweifflossen des
Walfisches. Man trocknet sie und bindet sie zu zweien zusammen.
Man siedet sie in der Suppe und hält sie für sehr schmackhaft.
Arakbi heisst ein Fisch, der für eine Art Stint gehalten
wird. Derselbe streicht in den Monaten Mai und November in
ungeheuren Mengen. Die Ainu fangen ihn mit Hamen.
Kerö oder arapph heisst eine essbare Muschel. Die Ainu
verzehren sie roh.
Nipäpo heisst eine Schüssel. Dieselbe dient zum Dar
reichen von nicht flüssiger Speise.
Von Pilzen (karüs) essen die Ainu bloss eine Art Erd
schwämme (agaricus piperatus).
Otdru oder otdruf heissen, die Hagebutten. Man trocknet sie
auf den Herden im Winter und isst sie zerrieben mit Fischrogen.
356
Pfiztnaier.
Cipoltu oder chure-kinä ,die rotlie Pflanze 1 ist der Name
einer essbaren Pflanze. Man isst sie getrocknet.
Charä ist das Mark der Pflanze Siturii-kinh. Ainu und
Japaner trocknen es im Winter und essen es mit Fisch. Nach
einer Angabe essen sie es in der Suppe. Das genannte Mark
wird öclikaju genannt.
Ajiis-kinä heisst eine andere essbare Pflanze. Man brät
sie am Feuer.
Toma-rä heisst eine Frühlingsblume mit zwiebelartiger
Wurzel. Die blaue Blume selbst heisst itöpentra. Ra bedeutet
das Mark, auch die Röhre oder der Stengel einer Pflanze und
wird dem Namen der Bllithe oder der Wurzel angehängt.
Torna heisst die essbare zwiebelartige Wurzel der oben
genannten Pflanze. Die Zwiebeln an dieser Wurzel sind von der
Grösse einer Haselnuss und gleich Perlen von Bernstein an ein
ander gereiht. Sie sind eine Lieblingsspeise der Ainu und werden
in gekochtem Zustande zugleich mit Fliinderrogen gegessen.
Kitb heisst der Waldknoblauch. Derselbe ist ebenfalls eine
Lieblingsspeise der Ainu. Er wird in trockenem und rohem
Zustande, gebraten und gekocht, gegessen und ist zugleich
ein Heilmittel gegen den Scorbut.
Mit dem Safte der Sandweide (susu-ni) bestreicht man
im Frühlinge frische Wunden. Die Heilung erfolgt schnell.
Ein Pulver aus dem Holze der Sandweide, genannt susu-ni-ko
,Pulver der Sandweide 1 , legt man im Winter auf Wunden.
lkema heisst die heilkräftige Wurzel einer gewissen Ge
birgspflanze. Sie ist ein vorzügliches Mittel gegen Verletzungen.
Otä-kinä ,Sandpflanze 1 oder otä-kinahe heisst eine der
Erbse ähnliche Pflanze. Die Ainu gebrauchen sie zu Umschlägen
auf Wunden.
Ramoköwpe heisst eine unter dem Magen der Fische be
findliche Drüse, welche man als Heilmittel bei Brustkrankheiten
verwendet. Sie dient zu Einreibungen.
lkisach-Seh .Pfriemenfisch 1 heisst ein kleiner achteckiger,
kegelförmiger Fisch mit einer mehr länglichen unteren Kinn
lade. Die aus ihm bereitete Suppe ist ein Heilmittel bei ste
chenden Brustschmerzen.
Irure oder ernf heisst eine dem Pferdeampfer ähnliche
essbare Pflanze. Man gebraucht sie bei Durchfall und als Speise.
Untersuchungen über Ainu-Gegenstände.
357
Icdrapu oder ic.drapo ist eine Pflanze mit vielfach zertheilten
Blättern gleich der Schafgarbe. Ihr Stengel hat einen Anflug
von unangenehmen Geruch und Geschmack. Sie wird von Ainu
und Japanern roh und getrocknet gegessen. Die Ainu essen
die Pflanze wider den Scorbut.
Mehiüm ist ein venöser Ausfluss bei Fischen. Derjenige
des kleinen Lachses (Siräi) dient zu Einreibungen der Brust
bei Brustkrankheiten. Die Sache ist dunkel und wird dabei an
die Milz gedacht. Es ist etwas gleich dem obigen RamoJcöwpe.
Nüchca ist eine aromatische Arzneipflanze. Ihre Blätter
sind auf einer Seite sammtartig und die Blüthen moderig. Sie
wächst an feuchten Orten. Die Ainu bereiten aus ihr einen
Absud, den sie gegen den Husten trinken.
Der Biss der Schlangen von Sachalin, von welchen die
Ainu selten, die Hunde jedoch häufig gebissen werden, läuft
glücklich auch ohne das Schlangenkraut (ojäw-kinä) ab.
Pard-Jcinä ist die Bärenklau, eine an morastigen Orten
wachsende Pflanze mit weissen üppigen Blumen, welche einen
kegelförmigen gelben Boden von der Länge eines Fingers be
sitzen. Von dieser Pflanze nähren sich fast ausschliesslich die
Bären, wenn es keine kleinen Häringe gibt. Sie ist ein Heil
mittel gegen Wunden. Man legt sie auch auf die Finger bei
Nagelgeschwüren.
Süruku ist der Eisenhut. Mit der zerweichten Wurzel
desselben bestreichen die Ainu ihre Pfeile, welche für sehr
giftig gehalten werden. Nicht selten vergiften die Ainu damit
aus Unkenntniss sich selbst. Bei Kopfschmerzen reibt man
mit der Wurzel des Eisenhutes den Leib ein.
Tardma-ni ist ein strauchartiges, inwendig rothes Nadel
holz. Man legt es (welchen Theil desselben?) in Umschlägen
auf die Brust bei Plusten.
Chura-wen-kinä ,die übelriechende Pflanze' oder chura-wen-
cipoku ,die übelriechende Pflanze Cipoku'. 1 Die Wurzel wird
von den Ainu als ein Mittel gegen den Husten gebraucht.
Cetoi ,weisser Thon', ein mit toi ,Erde' zusammengesetztes
Wort. Derselbe wird bei Brandwunden aufgelegt und dient
auch als Brechmittel.
1 Die Pflanze cipoku wurde oben verzeichnet.
358 Pfizraaier.
Toi-ukurüpe bezeichnet, wie Dobrotwörski angibt, vielleicht
den Regenwurm. Das Wort ist aus toi , Erd cd und ukurüpe
oder ikurüpe .Blutigel, Fadenwurm 1 zusammengesetzt. Wie der
Ainu Ciwokänke sagte, essen die Ainu diesen Wurm bei Augen -
krankheiten. Nach Anderen sei sein Geschmack angenehm.
Wen-kaviüi-kisara-pui ,die Ohröffnung des bösen Gottes“ ist
eine Art weicher Muscheln. Diese Muschel dient dem Einsiedler
krebse zum Wohnorte und ist einem Ohre ähnlich. Man gebraucht
sie bei allen Ohrenkrankheiten. Man giesst auf sie Wasser auf
und bestreicht mit diesem Wasser das Ohr, oder verbrennt sie
und bestreicht mit der in Wasser aufgelösten Asche das Ohr.
Otä-kuru ,Sand anlegend“ ist die Wurzel einer gewissen
Pflanze. Pinkarä-kinä ,die Pflanze der Verwundung“, aus piri
,Wunde“ und karä ,machen“ zusammengesetzt. Man legt beides
auf Wunden.
Ajüstonko ist ein kleiner Fluss- und Teichfisch von der
Länge eines Werschök. Die aus ihm gekochte Suppe ist ein
Mittel gegen Seitenstechen.
Mit dem Safte einer Pflanze, welche die Pflanze pinni-
lcinu ,die männliche Pflanze“ zu sein scheint, bestrich der Ainu
Müsochte die Augen bei Augenlider- und Bindehautentzündung.
Von Ikema, der Wurzel einer unbekannten Gebirgspflanze,
ist nachzutragen, dass diese Pflanze nur in dem südlichsten
Theile von Sachalin wächst. Sie sei im vollen Sinne des Wortes
die Panacee der Ainu, nach Art des chinesischen Ginseng oder
des russischen Zarenkrautes (der gelben Wolfswurz). Sie helfe
gegen alle Krankheiten, besonders diejenigen der Brust. Ausser
dem verwende man sie auf der Jagd zum Herbeiziehen der
Zobel, Fischottern und Bären. Man brauche sie bloss ein wenig
zu kauen, dann auszuspucken, und die Wirkung sei, dass kein
einziges Thier weggeht, so lange man es nicht tödtet.
Das oben genannte Wort cetibi wird auch ketbi ,Fetterde“
geschrieben. Es ist aus ke ,Fett, Oel, Salbe“ und toi ,Erde“ zu
sammengesetzt. Es ist weisser fetter Thon. Derselbe werde von
den Ainu zu Speise verwendet und diene, in Wasser umgerührt,
in grösseren Gaben als Brechmittel.
Bei trockener und weisser Zunge zur Zeit der Anfälle
von Wechselfieber legt man auf die Zunge Fett und reibt
dieses auf die Zunge mit einem Stäbchen ein.
Untersuchungen über Ainu-Gegenstände.
359
Sirdtte oder moeipiif bedeutet ,rauh, belegt 1 , von der Zunge
der Kranken gesagt.
Bei Nierenkrankheiten (kinöpi-arakä) essen die Ainu
Hundenieren.
Das oben genannte Schlangenkraut (ojäw-Jcinä) wird bei
Schlangenbiss in Umschlägen aufgelegt.
U-rdi-ne-kinä ist eine Arzneipflanze. Sie ist essbar, jedoch
isst man sie wenig. Man trinkt einen Absud von ihr bei Syphilis.
Bei Wunden legt man das geschabte Holz des rotben
Johannisbeerstrauches (dneka-ni) oder die zerstossene Rinde der
Sandweide (susu-ni) auf. Die Heilung erfolgt nach der Angabe
der Ainu schnell.
Aneka-ni ,der rothe Johannisbeerstrauch'.
Aneka-turepp oder aneka-ni-turep ,rothe Johannisbeeren'.
Entzündliche Geschwüre bestreut man mit dem Pulver
des löcherigen Kalksteines, welcher häufig an das Meerufer
nahe bei Kusunai ausgeworfen wird. Die regelmässig cylin-
drischen Löcher dieses Kalksteines, welche von der Tiefe
eines Fingers sind, werden von den Ainu den Blutigeln (uku-
nipe) zugeschrieben. Die entzündlichen Geschwüre heissen bei
ihnen ukurüpe-chuf ,Blutigelgeschwüre' und werden ebenfalls
dem Bisse der Blutigel zugeschrieben.
Soje-sumä ,der Stein in welchen man Löcher bohrt' ist
der löcherige Kalkstein. Von soje ,Löcher bohren' und surnä
,Stein'. Derselbe heisst auch ukurüpe-sumä ,der Blutigelstein'.
Ukurüpe-chuf ist aus ukurüpe ,Blutigel' und chuf oder
huf ,entzündliches Geschwür' zusammengesetzt.
Sikachka heisst ein Augenleder, welches man bei Augen
entzündungen trägt.
Si6-kamti ist ein bei Doppelsichtigkeit gebrauchtes Augen
leder für ein einziges Auge. Von si.s ,Auge‘ und kamü ,bedecken'.
Kdnlce-ni oder könkeh ist das Beinholz, ein Strauch mit
rothen Blüthen. Könkeh-ach ist der Bast des Beinholzes. Mit
ach ,Lindenbast, Bast' zusammengesetzt. Bei Kopfschmerzen
verbindet man sich das Haupt mit dem Baste dieses Strauches,
was durch könkeh-ach dni sabä muje ,mit Beinholzbast das Haupt
binden' ausgedrückt wird.
Kmc-kinä ,Gürtelpflanze 1 ist die giftige weisse Nieswurz.
Von küw oder huf ,Gürtel' und kinä ,Pflanze'. Man reibt
360
P f i z ra a i e r.
juckende Stellen des Körpers mit dem Safte dieser Pflanze
ein. Der Saft bringt starken Reiz an den juckenden Stellen
hervor. Gegen Jucken gebraucht man auch die Asche dieser
Pflanze mit Oel.
lnkara-kdni ,Sehmetall'' ist ein Spiegel. Derselbe ist zu
weilen einfach ein an einer Seite mit Russ bestrichenes und in
einen Rahmen hineingelegtes Glas.
Iranträiki ist der Name einer Pflanze mit gelben Blüthen.
Die Ainu bestreichen mit dem Safte dieser Pflanze die Fisch
gabel, wenn man den Fisch nicht fängt. Mit trdiki ,tüdten“
zusammengesetzt.
Tokösa ,Schachtelhalm“. Von dem japanischen to-kusa
,Schachtelhalm“. Die Ainu glätten mit dieser Pflanze ihre Holz
arbeiten.
Eccaro oder ecoro ist eine Winterfalle für Zobel. Kama
ist eine Frühlingsfalle. Man legt auf diese Falle einen kleinen
Häring.
Opispe ist soviel als wan-ka ,sechs Stricke“. Es sind
Stricke zum Zobelfange. Sne-apüpe ,ein Opispe“ sind sechs
solche Stricke. Tu-opiSpe ,zwei Opispe“ sind deren zwanzig.
Tdnku sind hundert solche Stricke. Im Winter stellt jeder
Zobelfänger einhundert bis zweihundert Stricke auf.
Durchsicht der Ainu-Flora.
Die von H. de Cliarencey verfasste Schrift Recherches sur
la Flore A'ino (Actes de la Societe philologique, Tome II. Janvier
1873) enthält, nach den botanischen Namen geordnet, eine
Zusammenstellung sämmtlicher aus den vorhandenen spärlichen
Quellen geschöpfter Ainunamen für Pflanzen. Diese Quellen sind:
1. Martin Gew. Vries, Reis naar de Eilanden ten N. en 0.
van Japan.
2. Pßzmaier, Vocabularium der Aino-Sprache.
3. Vocabulaire des liabitans de l’ile Tchoca in dem Werke
Voyage de La Perouse autour du monde (Paris 1797).
4. Dawydow, Wörtersammlung aus der Sprache der Aino’s.
Herausgegeben von A. I. von Krusenstern.
Von der letzteren, ursprünglich in russischer Sprache
verfassten Schrift gibt es nur eine sehr fehlerhafte deutsche
Untersuchungen über Ainu-Gegenstände.
361
Uebersetzung, welche von Klaproth in seiner Asia polyglotta
mit allen Fehlern wiedergegehen wurde.
Der in das oben erwähnte Reisewerk aufgenommene Ka
talog ist ein besonderer botanischer Katalog.
Hinsichtlich meines Voeabulariums sagt H. de Cliarencey:
La traduction en allemand, par Pfizmcüer, du manuel aino-japonais,
intituld: Mosiivo-Gousa, nous a fait connaitre les noms a'inos de
hon nombre de plantes non indiquees dam l’ouvrage liollandais.
Ce dernier se trouvait par lä meme ne plus repondre aux besoins
de la science actuelle.
Die in der AVörtersammlung Lapeyrouse vorkommenden
Ainunamen für Pflanzen sind indessen nicht mehr als sechs
an der Zahl.
Unter den in dem Verzeichnisse angeführten botanischen
Namen sollen ungefähr sechzig, sowohl was das Genus als die
Spedes betrifft, vollkommen gewiss sein. Bei vielen wird die
Spedes als ungewiss betrachtet, während bei anderen in ver
schiedenen Quellen verschiedene botanische Namen angegeben
werden. Unter den verzeichneten 304 Pflanzen erscheint bei
41 auch das Genus ungewiss.
Fast bei jedem Ainunamen ist das japanische Synonymum
in Parenthese gesetzt. Ich muss jedoch bemerken, dass diese
Synonyma, mit wenigen Ausnahmen, nicht von Vries oder einem
Anderen beigefligt, sondern meinem Vocabularium, wo ich sie
nach dem Mo-siwo-gusa gewöhnlich mit den Ainuwörtern
brachte, entlehnt sind. H. de Cliarencey bringt nur nach
Thunberg, von Siebold, Hoffmann und Schulz die wahren oder
muthmassliclien für japanische Pflanzen aufgestellten botanischen
Namen. In meinem Vocabularium erklärte ich sie durch
deutsche oder sonst allgemein gebräuchliche Namen.
In der nachfolgenden Durchsicht berichtige ich die in
dem Verzeichnisse entdeckten Irrthinner auf Grund eigener For
schungen sowie der sehr zuverlässigen Angaben Dobrotwörski’s,
wobei ich zugleich die in meinem Vocabularium enthaltenen
Ainunamen und japanischen Synonyma durch Vorsetzung der
Anfangsbuchstaben meines Namens kennbar mache. Letzteres
thue ich hauptsächlich in Rücksicht dessen, dass die hier be
sprochene Schrift vielleicht erst zwanzig Jahre nach Vollendung
meiner Arbeiten über Ainu zu Stande gekommen und auch
Sitzungsbcr. d. pbil.-hist. CI. CIII. Bd. II. Hft. 24:
362
P f i 7. m a i e r.
die Entzifferung und Lesung der japanischen Zeichen damals
nicht leicht einem Anderen möglich war.
Die zur Andeutung der benützten Quellen dienenden Ab
kürzungen bieten auf den ersten Blick nicht Klarheit genug.
Ich ersetze sie daher durch folgende:
Fries, d. i. Martin Gervais Vries statt M. V.
Pfism., d. i. Pfizmaier statt PF.
Daw., d. i. Daioydow statt KL. (Klaproth). Die Ursache
davon erhellt aus dem oben Angegebenen.
Per., d. i. La Perouse statt PR.
Sieb., d. i. v. Siebold statt SD.
Die mit Anführungszeichen versehenen Stellen sind, bis
auf die veränderten Abkürzungen und die Nennung meines
Vocabulariums als Quelle, der Wortlaut der einzelnen Nummern.
Ainu - Flora.
A.
1. ,(Vries.) Abies bifida. Sunk. Sieb. Syung, siehe A.
Yezoensis (Vries morni. Sieb, übersetzt durch Abiesy.
In meinem Vocabularium steht sijunku mit den japanischen
Synonymen kara-matsu und je-zo-matsu, welche ,chinesische
Fichte' und ,Fichte von Jezo 1 bedeuten, wofür ich jedoch ein
fach ,Fichte' setzte. Dobrotwörski hat dafür süku ,Tanne' und
süku-ni ,Tannenbaum' (e.iEj. Ni ,Baum'. ('morni) wird als
ein Baum mit dem Laub der Fichte und dem Stamm der
Pistazie beschrieben. Sunk und Syung scheint willkürliche Aus
sprache def Japaner zu sein.
2. ,(Sieb.) Abies homolepsis. Fup.,fupp (Pfizm. aisa, toto.
Vries. Yezo mats, siehe A. Yezoensis.)'
Die von mir aus dem Mosivo-gusa aufgenommenen Syn
onyma aiso und toto kommen als Namen von Bäumen in den
Wörterbüchern nicht vor. Ich erklärte daher einfach: der Name
eines Baumes.
3. ,(Sieb.) Abies leptolepis. Kui. Pfizm. Gui (Kara mats).
Vries und Pfizm., siehe Larix, Pinus larix/
Bei mir: Gui (jap. kara-matsu), ein Lärchenbaum. Bei
Dobrotwörski kui ,Lärchenbaum' (jiMCTBeHunu,aj.
Untersuchungen über Ainu-Gegenstände.
363
4. ,Abies Yezoensis. Vries. Fup., S. A. homolepsis. Sieb.
Sirobe‘.
Das angeführte Ainuwort sirobe kommt nirgends sonst vor.
5. ,(Vries.') Acer saccharinum. To beni, wörtl. lactis aquae
arbor. (Pfizm. ltaya. Vries. Kaide.)‘
Itaya hat in Mosivo-gusa die Schreibung yfijf Jg (ita-ja)
,Bretterhaus 1 . Es kommt als japanischer Name eines Baumes
sonst nicht vor. Kaide bedeutet ,Ahorn'.
6. ,(Vries) Acer. Spec. Buch ni. Vries Futsi ni; wörtl.
pharetrae arbor (Pfizm. Oho gasiva, s. Terebinthus indica).
Bei mir: Busi-ni (jap. woivo - gasiiva) ,eine Art Pistazien
baum'. Bus! oder pus , Koch erb Die Form futsi ni wurde nicht
aufgefunden.
7. ,(Vries) Aconitum Kamschatkaicum. Syosino churk.
Pfizm. Syonno churk; wörtl. sagittae venenum. (Udzu.f
Bei mir: Sijonno-sjuruku (jap. u-dzu), eine Art Eisenhut.
Syosino wurde nirgends gefunden. Churk ist sijuruku ,Eisenhut',
auch ,Gift'. Bei Dobr. süruku.
8. ,(Vries) Aconitum sinense. Seta churk-, wörtl. canis
venenum. (Pfizm. busi. Vries. Tori Kabuto). 1
Bei mir: Seta- sjuruku (jap. bu-si), Eisenhut. U-dzu, bu-si
und tori-kabuto sind japanische Synonyma.
9. ,(Vries) Aconitum tenuifolium. Pon churk-, wörtl. parvum
venenum. Pon-suruku ,kleiner Eisenhut'.
10. Adonis Sibirien. Kunau, Kumaubo. Vries Kumaube
(Pfizm. Fuk zyn so)‘.
Bei mir: Kuna-u und Kuma-ubo (beides jap. fuku-ziil-sb)
der Name einer Pflanze. Das japanische Wort wird jjjg 3p ppf
(fuku-ziü-sö) ,Pflanze des Segens und der Langjfihrigkeit' ge
schrieben.
11. ,Aesculus turbinata? Beroni (Tots, tots no ki. Vries
Nara? S. Quercus.) 1
Bei mir: Bero-ni (jap. totsi), der Name eines Baumes.
Der Baum ist jedoch ^ (totsi) ,Esche'. Richtig ist daher totsi
,Esche' und totsi-no ki ,Eschenbaum' zu lesen. Der Baum
(nara) soll Aehnliclikeit mit dem Eichbaum haben.
12. ,(Vries) Agaricus. Species ungewiss. Auf dem Baume
Larix leptost. Wachsende Esswaare. Vries: Eburiko. Klaproth:
Tdburiko. 1
24*
364
Pfizmai er.
Liess sich nicht erklären. Der Pilz wird sonst karili ge
nannt. Ipere-ko würde heissen: nährendes Mehl.
13. ,(Vries) Airoclytrum japonicum. Ikidara? (Sasa kusa).
S. Arundinaria.“
Bei mir: Ikidara (jap. sasa), junge (essbare) Bambus
blätter.“
14. ,(Vries) Alga. Species ungewiss. Ikke konfus Wörtl.
Fucus muscosus, dorsi fucus; von dem japanischen Konfil oder
KombxL, fucus (Wakame)“.
Ikke-u oder ikki ,das Rückgrat“. a % (kon-bu) ,See
gras, fucus (jap. Wort). Waka-me ; das Hornblatt“ (jap. Wort).
Das Ainuwort für ,Moos“ ist stntruS.
15. ,Allium cepe. Kina chu; Chu kina; wörtl. flava herba
(Nira). 1
Bei mir: Kina siju (jap. nira), eine Zwiebel. Von kina
,Pflanze“ und si-u ,gelb“. Daher: Pflanzengelb. Siju-kina kommt
bei mir nicht vor. Bei Dohr, findet sich: Si-u-kinä „eine für
Menschen giftige Pflanze“.
16. ,(Pries) Allium sativum. Ninnik (Fuksa).“
Nin-niku ,Knoblauch“ ist ein japanisches Wort. Fuksa nicht
zu erklären.
17. ,{Vries) Allium uliginosum. Heröni, S. Quercus {Nira).
F-iru (hiru) ,Knoblauch“, ein japanisches Wort, welches
gleich dem obigen nin-niku durch das Zeichen ausgedrückt
wird. Ihm entspricht das hier gesetzte Ainuwort heroni, in
welchem vielleicht ni ,Baum“ angehängt sein könnte. Auf
Quercus {nira, richtig nara) wird mit Unrecht hingewiesen, weil
das Wort von beroni (Nr. 11) verschieden ist.
18. Allium. Species ungewiss? {Daw. kido).
Bei Daw. kido ,Bärenknoblauch“. Bei Dohr. Jcitb ,Bären
knoblauch“ (nepeiima).
19., Allium Species ungewiss. Membiro, von dem jap. Mebir. 1
Bei mir: Membiro ,Knoblauch“. Von dem jap. me-biru.
20. ,(Vries) Ainus (genus). Kene (Fan no ki).‘
Bei mir: Kene (jap. fan-no ki), der Name eines Baumes.
Das jap. Synonynum wird ( ^ -f- -j=j- j fan-no-ki geschrieben
und ist die Erle (alnus japonica).
21. ,(Vries) Ainus incana. Nitats Kene; wörtl. cäpuli
arbor (Fan no ki).‘
Untersuchungen über Ainu-Gegenstände.
365
Bei mir: Nitakkene (jap. fan-no ki), der Name eines
Baumes. Also als gleichbedeutend mit kene ,Erle‘ bezeichnet.
Nitats wurde für sich allein oder in der Bedeutung ,Handhabe'
nicht gefunden. Doch steht bei mir nitsu ,Griff, Handhabe'.
22. ,(Vries) Ainus japonica. Yanyan kene; wörtl. levis
alnus (Fan no ki)/
Bei mir: Yayan-kene (jap. fan-no ki), der Name eines
Baumes. Also ebenfalls ,Erle'. Yaymi (jap. karusi), leicht von
Gewicht.
23. ,(Fries) Amelanchier? (Mispelbaum.) Imotsits. (Yama
nasi), S. Pyrus/
Bei mir: Imotsi-imotsi (jap. erklärt yama-nasi-no gotoku),
eine Art Holzbirnen.
24. ,(Vries) Anacyclus? Species ungewiss. Ota nesik;
wörtl. arenarum juglans.‘
Ota ,Sand'. Nesiko ,ein Wallnussbaum'.
25. ,Andromeda. (Azemi, V. Carduus). 1
Der Ainuname nicht angegeben. Bei mir u-ei-muni (jap.
azami) ,eine Distel'.
26. ,(Vries) Andropogon? Species ungewiss. Nino (Käse
gousaf.
Der Ainuname nicht zu ermitteln, ebensowenig das Syno-
nymum kase-gusa. Jedoch findet sich kasa-kusa als Name einer
Pflanze, welche auch suzu-kusa ,Schellenpflanze' genannt wird.
27. ,Anemone altaica. Ubeu (Toki)‘.
Bei mir: Ube-u (jap. t'o-ld), der Name einer Pflanze. Tb-ki
wird jg|| (tb-ki) geschrieben und ist der Name einer Pflanze,
welche auch jama-zeri ,wilde Petersilie' genannt wird.
28. ,(Fries) Anemone. Species ungewiss. Futaber a; wörtl.
operculae coclilear 1 .
Das Ainuwort richtiger putä-perä auszusprechen. Es kommt
jedoch als Pflanzenname sonst nicht vor.
29. ,(Fries) Anemone. Species ungewiss. Mokkarbe; wörtl.
tubae res.‘
Der Ainuname sonst nicht vorgekommen. In derp Index :
Mukkarbe. Was die Uebersetzung tubae res anbelangt, so findet
sich bei mir mukkuri (jap. kutsi-bi-wa), eine Art Maultrommel.
30. fLaperouse) Angelica? Species ungewiss. Pechkoutou,
Dialect von Krafto. S. Polygonum cuspidatum,'
366 Pfizmaier.
Bei Dobrotwörski: pechkutu ,wilder Sauerampfer 4 (KOHCKm
maBe.iL ). Die Pflanze sei mehr als mannshoch.
31. ,(Vries) Antkistiria japonica. Um s. Lollium (karkaya).‘
Bei mir: Umu (jap. inu-bi-je), der Lolch.
32. ,Apium palustre. Itchari-bo; wörtl. qui agit intils
(Yab sirami, Ko sycüc). (Vries) S. Aralia edulis 1 .
Bei mir: Itscha-ri-bo (jap. jabu-sirami, ko-ziaku), der
Name einer Pflanze, wilder Celeri oder Liebstöckel. Abgeleitet
von itscha-ri (jap. saru) ein Tragkorb. Von itscha, innerhalb.
Bei Dobrotwörski iSdri oder itcari, ein Sieb (pimeTO).
33. ,(Laperouse) Apium? Species ungewiss. Tsiboko. 1
Bei Laperouse: Tsiboko, ache ou celeri sauvage.
Bei Dobrotwörski Öipoku, eine essbare Pflanze (c7v;o6h:ui
TpaBa). Synonymum: chiire kinä ,die rothe Pflanze 4 .
34. ,(Vries) Apocynum venetum, Baslcuro muni; wörtl.
corvi planta 1 .
Baskuro-muni ,Rabenpflanze 4 ist bei mir nicht verzeichnet.
35. ,Aralia edulis. Itcliari kina; wörtl. herba quae intus
agit. (Vries) Itcharibo, S. Apium palustre (udo, ko zyak)‘.
Bei mir: Tsima-kina (jap. u-do), Liebstöckel.
36. ,(Vries) Aralia edulis (die Wurzel). Tsima kina (udo).
Vries S. Heracleum 1 .
Bei Dobrotwörski: Tsimdkina oder cimdkina, eine gewisse
essbare Pflanze. Wenn man aber viel von ihr isst, so erbricht
man sich.
37. ,(Vries) Aralia pentaphylla. Horokayosi (Ukogi) 1 .
In dem Index: Horokayusi. Bei mir nicht verzeichnet.
U-ko-gi, jap. der Name einer unbekannten Pflanze.
38. ,Aralia. Species ungewiss. Seva (Udo) 1 .
Bei mir: Sewa (jap. u-do), Liebstöckel.
Bei Dobrotwörski: Sewä-ni, ein hohler Baum (/ijiUHCTOe
/tcpcBo).
3fl. ,(Vries) Archemora? Species ungewiss. Ota kina;
wörtl. arenae herba 1 .
Ot,ß kinä, Sandpflanze.
Bei Dobrotwörski: Otä-kinä oder otä-kinahe, eine den Erbsen
ähnliche Pflanze. Sie wird zu Umschlägen auf Wunden gebraucht.
40. ,(Vries) Arisaema japonicum. Ura-ura. Vries. Rau-rau
(Ten nan syo)‘.
Untersuchungen über Ainu-Gegenstände.
367
Bei mir: Ura-ura (jap. ten-nan-sib), der Name einer Pflanze.
([ten-nan-sio), arum triphyllum, Drachenvurzel.
41. ,Artemisia (genus). Meya. Vries. S. Nelumbium 1 .
Bei mir: Meya (jap. yomogi), Beifuss.
,Species: Noya (Yomogi) 1 .
Bei Dobrotwörski: Kamurusä, eine Art Beifuss. Syn. nojä.
42. ,Artemisia capillaris. lletar noya. Wörtl. alba artemisia
(Kavara yomogi) 1 .
Bei mir: Retaru-noya (jap. kawara-yomogi), Wermuth.
43. ,Artemisia. Species ungewiss. Tsikorbe (Yomogi) ( .
Bei mir: Tsikuru-be (jap. yomogi), Beifuss.
44. ,(Vries) Artemisia. Species ungewiss. Kamoi noya.
Wörtl. domina artemisia (siro yomogi) 1 .
Kamoi-noja, Götterbeifuss. Siro-jomogi, weisser Beifuss,
weisser Wermuth.
45. ,(Vries) Arundinaria japonica. Korbe; wörtl. hominis
res (Take) 1 .
Korbe findet sieb als Pflanzenname nirgends verzeichnet.
Koru-be, Besitz, Eigenthum. Take, jap. Bambus.
46. Arundinaria japonica; die Blätter? Ikidara. Fries S.
Phyllostachys und Airoclytrum; Futtak, für ach (sasa)‘.
Bei mir: Rddara (jap. sasa), junge Bambusblätter. Futtaku
oder furasi (jap. sasa), junge Bambusblätter.
47. , Arundinaria japonica-, der Stengel? Top, topp (Take) 1 .
Bei mir: topp top (jap. take), das Bambusrohr.
48. ,(Vries) Arundo nifida. Chukki‘.
Bei Dobrotwörski: Sucliki, grosses ausgewachsenes Ried
gras (ocoica). Das kleine noch grüne heisst toköki oder ki.
49. ,Arundo. Species ungewiss Cliariki (Yosi)‘.
Bei mir: Schari-ki (jap. josi), Riedgras.
50. , Aster. Species ungewiss. Cliamono; wörtl. (Magnus)
sicut homo (No kik, No gik)‘.
Bei mir: Schamo-no, der Name einer der chinesischen
Sternblume (no-giku) ähnlichen Pflanze. No-giku, die wilde
Goldblume.
B.
51. ,(Vlies) Betula. Species ungewiss. Be'itats (Kaba)‘.
Bei mir: Bei-tats (jap. kaba), der Name eines Baumes.
368
Pfizraai er.
(Kaba) ist eine Art Kirschbaum, der nurBlüthen trägt.
52. ,(Vries) Betula. Species ungewiss. Ffizm. Si itatsn.
Vries. Si tatsu; wörtl. Magna arbor (Kaba) 1 .
Bei mir: Si-i-tatsu (jap. kaba). eine Birke.
Bei Dawydow: ,die Birke karimbanii 1 .
Bei mir: Karimba-ni (jap. sakura), ein Kirschbaum. Wörtl.
Doppelpfeilbaum. Von karimba (jap. kasane-ja), Doppelpfeil.
Im Japanischen wird das Ainuwort für ,Birke' durch
Wörter, welche ,Kirschbaum 1 bedeuten, erklärt. Si-i-tatm wörtl.
grosse Birke.
Bei Dobrotwörski: Sitdchni, die schwarze Birke (betula
daurica).
53. ,Betula. Species ungewiss. Tats, Tats ni (Kaba) 1 .
Bei mir: Tats und Tatsu-ni (jap. kaba), der Name eines
Baumes. Richtig tats ,Birke 1 , tats-ni ,Birkenbaum 1 .
Bei Dobrotwörski: Tdchni, die weisse Birke (öepesa 6'Kia.n).
Davon tdchni-wakka oder tachni-to-pe, Birkensaft.
54. ,Betula. Species ungewiss. Ats, Atsni (Vo fio). S.
Broussonetia 1 .
Bei mir: Atsu, ats (jap. ico-fib-lcawa), Birkenbast. Atsu-ni
(jap. wo-fib), eine Birke.
O-fib und sina wird in der gemeinen Sprache des nördlichen
Japan der Papierbaum (kadzi oder kbzo) genannt.
55. ,Betula. Species ungewiss. Ki erupp ne; Ki erupp-
neri (Asada) 1 .
Bei mir: Ki-erupp-ne und ki-erupp-ne-ri (jap. asada), der
Name eines Baumes.
56. ,Betula. Species ungewiss. Sei Ka.bara; Sei Kabarka
( Asada) 1 .
Bei mir: Schei-kabara und schei-kabaru-ka (jap. asada),
der Name eines Baumes.
57. ,Boletus igniarius. Species ungewiss. Esswaare von
einer Eichenart (Korma)‘.
Korma, in dem Index kurma, soll ein Ainuwort sein,
wurde jedoch nirgends aufgefunden. Es dürfte statt kappara
oder Jcarusi .Schwamm 1 gesetzt sein.
58. ,(Vries) Broussonetia? Species ungewiss. Ats ni, S.
Betula‘.
Das obige Atsu-ni, Birke.
Untersuchungen über Ainu-Gegenstände.
369
59. jBuergeria stellata. Maukuch ni (Ko btits; Gyok ran)
Pfizm. S. Magnolia; Wistaria japonica 1 .
Bei mir: Ma-ultusi-ni (jap. ko-busi, gioku-ran), der Name
einer Pflanze, eine Art Magnolia.
C.
60. ,(Vries) Cacalia delfinifolia. Ihän Zami (Momitsi
hagumaf.
Das Ainuwort ihän zami wurde nirgends aufgefunden. Mo-
midzi ,rothe Blätter'. Faguma, der Name einer Gebirgspflanze.
61. ,(Vries) Cacalia hastata? Komuliso
Das Ainuwort komuliso wurde nicht aufgefunden. Vielleicht
japanisch so viel als Jcbmuri-sd ,Mützenpflanze'.
62. ,(Vries) Calamagrostis? Species ungewiss. Muri (Mund
art von Krafto). S. Cerealia'.
Bei mir: Muri (jap. fama-bata-no mugi-no gotoku yone),
eine Art Reis, gleich dem Meeruferweizen (fama-bata-no mugi).
63. ,(Vries) Calendida officinalis. TJra yene Kina (Kin
sen Kioaf.
Bei Dobrotwörski: Urainekina, eine heilkräftige Pflanze.
Sie ist essbar, aber man isst sie wenig.
Kin-sen-kua (die Blume der goldenen Schale), Calendula
officinalis. Syn. o-guruma.
64. ,Campanula. Species ungewiss. Muke kach. (Vries)
Ki keo. Pfizm. Arino firagii
Bei mir: Muke-kasi (jap. ari-nofiragi, richtig dri-nofifuki),
eine blaue Glockenblume (campanula glauca). Syn. ki-kib.
65. ,(Vries) Camphora officinarum. Tstora or (Kosuno
ki) S. Pachyrrhiza 1 .
Das Ainuwort tsura or ist nirgends vorgekommen.
Kusu-no ki, jap. der Ivampherbaum.
66. ,Thunberg. Cannabis ma. Untcha Kina. S. Gramineai
Bei mir: Untscha-kina (jap. ma-komo),der Name einer ge
treideartigen Pflanze.
67. ,Cannabis sativa. Asakara, von dem jap. Asagara,
Hanfstengel, oder nach Hoffm. Pterostyrax Corymbosum (Asa)‘.
Bei mir : Asa-kara (jap. asa) Hanf. Von dem jap. asa
gara, Hanfstengel.
370
P f i z m a i e r.
68. ,Thunberg. Carduus acaidis. Wei Muni (Azami). S.
Andromeda'.
Bei mir: U-e-i-muni (jap. azami), eine Distel.
69. ,Carex caespitosa. Imakottuts (Suge)'.
Bei mir: Imakkotuts (jap. suge), eine Art Riedgras.
70. ,(Fries) Carex variegata. Firachne Kina (Suge)'.
Bei mir: Firasi-ne-kina (jap. suge), eine Art Riedgras.
71. ,Carex. Species ungewiss. Chariki (Yosi). S. Arundo'.
Bei mir: Schari-ki (jap. yosi), Riedgras.
72. ,(Vries) Carex. Species ungewiss. Irrap (Tsimo)‘.
Ein Ainuwort irrap konnte von mir nicht aufgefunden
werden. Einige Aehnlichkeit hat das hei Dobrotwörsld vor
kommende iriipe oder erüf, eine essbare, dem wilden Sauer
ampfer ähnliche Pflanze.
ft # (Tsi-mo) ist eine dem Calmus ähnliche Gebirgs
pflanze.
73. , Thunberg. Carthamus tinctorius. Kuttsi (Ni Kio; Ko
Kwa). S. Spiraea callosa 1 .
Bei mir: Kuttsi (jap. ko-kwa, ni-kib), der Name einer
Pflanze.
74. ,Castanea vesca. Yam (Kiri)‘.
Bei mir: Yam (jap. kuri), ein Kastanienbaum. Das obige
kiri ist unrichtig.
75. ,(Vries) Catalpa? Ayuch; Ni; wörtl. Sagittas possidens
arbor (ob formam fructuum). -Sind (Yama Kiri)'.
Bei mir Ajusi-ni (jap. jama-kiri), der Name eines Baumes.
Ajusi ist als Zusammenziehung von ai-usi ,zu dem Pfeile ge
hörend' zu betrachten.
Sine als Ainuwort für jama-kiri ,wilder Stinkbaum' (ster-
e.ulia) ist mir nicht vorgekommen.
76. ,Cercidiphyllum japonicum. Ran Ko (Katsura no ki)‘.
Bei mir: Ranko (jap. katsura-no ki), ein Zimmtbaum.
77. ,Cerealia, Oryza. Kami tats. Vries, S. Gentiana. Kenia
Koe.hne Kam, wörtl. Caro quae lenem facit sanguinem. S. Oryza.
Muri. Vries. S. Calamagrostis, Tsimo Komo Kippe'.
Bei mir: Kamitatsi, Reis, auch Getreide.
Bei mir: Kenia-koschine-kam (jap. kome), der Reis, das
Getreide. Wörtl.: das leichtfüssige Fleisch.
Bei mir; Muri, eine Art Reis.
Untersuchungen über Ainu-Gegenstände.
371
Bei mir: Tsimokumo-kippi, der Name einer Getreideart.
Kippi (jap. kibi), Roggen.
78. ,Chenopodium album, vel rubrum. Chiruch Kina
(Akasa)‘.
Äka-za, jap. Ghenopodivm album.
Chiruch Kina in Verbindung wurde von mir nicht auf
gefunden. Es könnte entweder für sirüi-kina ,Schimmelpflanze'
oder für sintus - kina ,Moospflanze' stehen.
Bei Dobrotwörski: Siriis, Schimmel, Kahm (ii.lhceHb).
Bei Dawydow: Das Moos schinrusch.
Bei Dobrotwörski: Sintuls (sintrui), das Moos (auf Bäumen
oder zum Bau der Häuser).
79. ,(Vries) Cicuta. Species ungewiss. Kamo'i tesinah
Das Ainuwort für Cicuta ist mir bisher nicht vorgekommen.
80. jCissus. Species ungewiss. Bungara, Bungari. Vries.
Fungara. (Vries. Tsuta. Pfizm. Tsuta mono)‘.
Bei mir: Bungari und Bungara (jap. tsuta-mono), das
Geschlecht der epheuartigen Pflanzen.
81. ,Cissus. Species ungewiss. Aha, iha. (Pfizm. Dem
Cissus Thunbergii nahestehende und der Erbse ähnliche Species'.
Bei mir: Aha und Iha, der Name einer epheuartigen, der
Erbse ähnlichen Pflanze (tsuta-mono-nite mame-no gotoku).
82. ,(Vries) Cochlaaria. Species ungewiss. Tsi, Kise seri.
S. Raphanus sativus 1 .
Bei mir: Tsi (jap. ivasabi), der Meerrettig. Kise-seri (jap.
wasabi), der Meerrettig.
83. ,(Vries) Convallaria majalis. Seta Kito (Kimikakesd)‘.
Seta-kito, wörtlich: Hundeknoblauch.
Bei Dobrotwörski: Kitb, Bärenknoblauch, Waldknoblauch
(hepeMnia).
Das jap. kimikakeso ist mir nicht vorgekommen.
84. , Thunberg. Convolvulus eclulis. S. Dioscorea 1 .
Das Ainuwort nicht angegeben. Dioscorea ist die lange
Kartoffel (naga-imo).
85. ,(Vries) Cornus albus. Ukanni, Tokor och ni?
(Midzgi) 1 .
Bei mir: UkJcanni und tokorosi-ni (jap. midzuki), der
Name eines Baumes.
86. ,(Vries) Cornus Canadensis. Kakka (Gazen, tats bano)‘,
372
Pfi zmai er.
Weder das Ainuwort, noch die japanischen Synonyma
wurden von mir aufgefunden.
87. ,(Fries) Corydalis. Species ungewiss. Torna (Vries.
Yezo yen go sak. Pfizm. Zen-bu) 1 .
Bei mir: Torna (jap. zen-bu), der Name einer Pflanze.
Yen-go-saku, caltha palustris?
Bei Dobrotwörski: Tomä, die essbare zwiebelartige Wurzel
der Pflanze tomarä (tomaträ). Die Lilienzwiebel (capana), in
welcher diese Wurzel besteht, ist aufgereihten Bernsteinperlen
ähnlich.
Tomarä {tomaträ), eine Frühlingsblume mit zwiebelartiger
Wurzel. Die blaue Blüthe allein heisst itöpentra.
88. ,(Vries) Corylus americana. Olioba (Hosi.-bami)‘.
Das Ainuwort und das japanische Synonymum sind nicht
mit Gewissheit zu bestimmen.
89. ,(Fries) Crinum mantimvm. lmaki bar. S. Lillium
callosum. ( Yama - Yuri) •.
Bei mir: lmald-baru (jap. fäma-yuri und fime-yuri), der
Name einer der Lilie ähnlichen Pflanze. Wörtlich: der ge
zähnte Mund.
90. ,Cryptomeria japonica. Rabuch ni (jap. Tsugi ki)‘.
Bei mir: Rabuschi-ni (jap. tsugi-ki), der Name eines Baumes.
91. ,Cympedium virescens. Imats matts (Yama ran. Var.
Fara ran)‘.
Der Ainuname nicht vorgekommen und nicht zu erklären.
In dem Index: Faru ran statt Fara ran.
92. ,(Vries) Cypripedium macranthon. Seta; noki; wörtl.
Canis colea 1 .
Das Wort bei mir nicht verzeichnet. Aus seta ,Hund‘
und noki ,Ei‘ zusammengesetzt.
D.
93. ,(Vries) Dioscorea opposita (die Wurzel). Kosa, tsyurip,
onkotsu-ibe (Naga-imo) 1 .
Bei mir: Kosa (jap. naga-imo) eine lange Art Yamwurzeln,
auch unter den Namen der unerklärten Pflanzen.
Bei mir: Tsi-urip (jap. naga-imo), eine lange Art Yam
wurzeln.
Untersuchungen über Ainu-Gegenstände.
373
E.
94. ,(Vries) Eleagnus? Species ungewiss. Syu simau
(Gumi)‘.
Der Aiuuname nicht vorgekommen. Ungewiss, oh siü-si-
ma-u, wörtl.: gelbe grosse Rose. Gu-mi (jap.) Oleaster.
95. (Fries). Eleusine coracana vel indica. Aira syayam,
Biyaba (Fiye). S. Polygonum fagopyrum.
Bei mir: Airasi-amamu (jap. fijü), Buchweizen. Mit arnamu
(jap. kome) ,Reis‘ zusammengesetzt.
Bei mir: Biya-ba (jap. fije) Buchweizen.
96. ,(Klapr.) Empetrum. Species ungewiss. Itchku müma
(kamtschadalische Mundart)''.
In dem Index: mumo statt müma. Bei Klapr. Empetrum,
Apenheere. Der Ainuname nicht zu erklären, wenn nicht etwa
durch die jap. Zusammensetzung: Idziku morno (Feigenpfirsich).
97. ,Equisetum. Species ungewiss. Tcliup-Tcliup. Vries.
Tchip-Tcliip. (To Kasa)
Bei mir: Tschup-tschup (jap. to-kusa), der Name einer
Pflanze, eine Art Equisetum.
98. ,(Vries) Eriantlius. Species ungewiss. Um. S. Anthistiria
Lollium (Kayat) 1 .
Bei mir: Umu (jap. inu-bi-je), der Lolch.
Kaya, langes Gras.
99. ,(Vries) Euphorbia latyris. Ikalcka (Kan sui). S.
Glycirrhiza 1 .
Bei mir: Ikakka, der Name einer dem Süssholze (ama-ki)
ähnlichen Pflanze mit rother Frucht.
Kan-zui (jap.) die süsse Pflanzenfrucht.
100. , T/iunb. Evonymus japonicus vel Earopaeus. Konke
ni (Mayumi) 1 .
Bei mir: Konke-ni (jap. mayumi), der Name eines Baumes.
Bei Dohrotwdrsld: Könkeni, das Geissblatt, Beinholz,
(huhio.IOCTl). Ein Strauch, dessen Holz zur Verfertigung von
Bogen dient.
Mayumi (jap.), der Spindelbaum.
101., Evonymus japonicus. Vries. Macha (Masaki) jap. Wort“.
Bei mir: Mascha (jap. masa-ki), der Name eines Baumes,
eine Art Ligustrum.
374
Pfizmaie r.
102. /Wies) Evonymus Sieboldianus. Ukepp; wörtl. Ligneae
cochlearis arbor (Mayumi) 1 .
Bei mir: Ukep-ni (jap. mayumi), der Name eines Baumes.
Mit ukep (jap. siaku-si) ,ein hölzerner Löffel' zusammengesetzt.
103. ,(Vries) Evonymus subtriflorus. Kachup ni; wörtl.
Cochlearis arbor (Mayumi) 1 .
Bei mir: KascMup-ni (jap. mayumi), der Name eines
Baumes. Mit kaschiup (jap. siaku-si) ,ein Löffel zum Wasser
schöpfen' zusammengesetzt.
104. ,Evonymus. Species ungewiss. Vries. Bunko; Pfizm.
Fungau (Vries). Mayumi; Pfizm. der Name eines dem jap.
Mayumi ähnlichen, jedoch grösseren Baumes. Es werden daraus
Ueberschuhe verfertigt'.
Die Form Bunko kommt bei mir nicht vor.
F.
105. ,Fagus pumila. Pira ni (Buna, Buna no ki)‘.
Bei mir: Pira-ni (jap. buna), der Name eines Baumes.
106. ,(Vries) Filix. Tolia, Tsep ma kina. S. Ptens'.
Bei mir: Toha (jap. warabi), der Name einer Art Farnkraut.
Bei mir: Tsep-ma-kina (jap. warabi), eine Art Farnkraut.
Mit tsep ,Fisch' zusammengesetzt.
107. jFimbristylis aestivalis (Amant). S. Gagea 1 .
Die Pflanze tsikapp toma, eine Frühlingspflanze mit zwie
belartiger Wurzel (jap. ama-ne).
108. ,(Vries) Fragraria indica. Bunki Jcama furepp
(Febi itsigo) 1 .
Bei mir : Bunki-ka-ma furepp (jap. febi-itsigo), eine Erd
beere oder Erdbeeren. Febi-itsigo, wörtl.: Schlangenerdbeere.
109. ,Fragraria vesca. Imart, furepp. Wörtl. Fructus den-
dibus utilis (Itsigo) 1 .
Bei mir: Ima-re-furepp (jap. itsigo), eine Erdbeere. Von
ima, Zahn. Wörtl.: die gezähnte Beere.
110. ,jFritillaria kamschaktaica. Arerakor, Har, Chirakor
(Kuro yuri). Vries. S. Sarana'.
Bei mir: Are-ra-koru (jap. kuro-yuri), der Name einer
lilienartigen Pflanze von schwarzer Farbe. Dieselbe Erklärung
haben bei mir haru und schira-koru.
Untersuchungen über Ainu-Gegenstände.
375
Kuro-yuri, jap. die schwarze Lilie.
111. ,(Vries) Fucus. Species ungewiss. Komfu, von dem
jap. KombiY.
Kon-bu, jap. essbares Seegras.
112. ,Fungus. Species ungewiss. Kappara (Take.) 1 .
Bei mir: Kappara (jap. take), ein Schwamm, ein Pilz.
113. ,Fungus. Species ungewiss. Karsi (Take) 1 .
Bei mir: Karusi (jap. take), ein Schwamm, ein Pilz.
114. ,(Vries) Fungus. Species ungewiss. Yuku karsi;
wörtl. Cervi agaricus (Mai take) 1 .
Yuku-karusi bei mir nicht verzeichnet. Mit yuku ,Hirsch“
zusammengesetzt.
Mai-take, jap. ,tanzender Pilz“ bei mir ebenfalls nicht
verzeichnet.
G.
115. ,(Vries) Gagea lutea. Tsikapp toma? (Amana, Amane)
S. Fimbristilis aestivalisk
Tsikapp-toma, wörtl. Vogelzwiebel. Bei mir nicht verzeichnet.
Ama-na, ama-ne (jap.), Name verschiedener Pflanzen.
116. ,(Vries) Gautiera yezoensis. Kotokoni 1 .
Kotokoni ist bei mir nicht verzeichnet.
Bei Dobrotwdrsld: Kötoko, ein Dreifuss (Taraffit). Japani
sches Wort.
Das zu Grunde liegende japanische Wort ist Jp
(go-toku) ,Dreifuss, dreifüssiger Kessel“. Hierzu das Ainuwort Ni
,Baum“ angehängt, bedeutete daher kötoko-ni wörtl. Dreifussbaum.
117. ,(Vries) Gentiana? Species ungewiss. Kamitats (Sasa
Hin do), S. Cerealia, Oryza 1 .
Bei mir: Kami-tatsi, Reis, auch Getreide.
Sasa-rin-db, jap. Enzian.
118. (Pfizm.) Glycirrhizaf Species ungewiss. Mit rothen
Früchten. Ikakka. S. Eupliorbia.
Bei mir: Ikakka, der Name einer dem Süssholze (ama-ki)
ähnlichen Pflanze, mit rother Frucht.
119. ,Gongronema. Species ungewiss. Penup; wörtl. ex aqua
nascens (Ikema, Vries. Urostelma) 1 .
Bei mir: Penup (jap. ikema), der Name einer Pflanze.
Mit pe ,Wasser“ und nu ,hervorbringen“ zusammengesetzt*
376
Pfizmai er.
lkema (jap.), Meclioacana (weisse Rhabarber).
120. ,Gossypium herbaceum, Deba, Chenkaki (Ki wata,
Wata no ki) 1 .
Bei mir: Deba (jap. ki-wata), eine Baumwollenpflanze,
gossypium herbaceum.
Schenkaki, ebenso erklärt.
121. ,(Vries) Graminea? Species ungewiss. Isyo; Pfizm.
Isyo kina; wörtl. usitata herba (Yama kusa)‘.
Bei mir: Isio-kina, der Name einer Pflanze, wörtl. die
gewöhnliche Pflanze.
Jama-gusa, jap. der Name einer Pflanze, wörtl. die Berg
pflanze.
122. ,(Vries) Graminea? Species ungewiss. Siki (Oni kaya)‘.
Bei mir: Schi-kina (jap. gama), eine Binse.
Oni-kaja, jap. die Dämonenbinse.
123. ,Graminea? Species ungewiss. Untscha; Pfizm.
Untscha kina (Makomo; Thunb. Cannabis ma)‘.
Bei mir: Untscha-kina (jap. ma-komo), der Name einer
getreideartigen Pflanze.
H.
124. ,(Klapr.) Helleborus. Species ungewiss. Tscliukup
(kamtschadalische Mundart)'.
Dobrotwörski verzeichnet: Suküp, weisse Niesswurz (heMC-
pnn,a).
125. ,(Vries) Heracleum? Species ungewiss. Tsima. S.
Aralia‘.
Bei mir: Tdma-kina (jap. u-do), Liebstöckel.
126. ,(Vries) Heradeum. Species ungewiss. Bit 1 .
Bit, als Ainuname für eine Pflanze nicht aufzufinden.
127. ,(Vries) Ilordeum vulgare. Pfizm. Menguro, (Vries).
Menkuro (Mugi)‘.
Bei mir: Menguro (jap. mugi), der Weizen.
128. ,(Vries) Hydrangea acuminata. Kilcin ni; wörtl.
fricans arbor. Pfizm. Eine der Rottlera japonica ähnliche Art
mit Frucht. S. Rottlera
Bei mir: Kikin-ni, der Name eines dem japan. Adzusa
ähnlichen Fruchtbaumes. Mit kiki (jap. mi-wo kaku) ,sicli kratzen'
zusammengesetzt.
Untersuchungen über Ainu-Gegenstände.
377
I.
129. ,(Vries) Ilex crispa. Yetb katoreni (Yama yadome) 1 .
Die Richtigkeit sowohl des Ainunamens als des japanischen
Namens nicht zu bestimmen.
130. ,(Vries) Ilex Integra. Lyamun, wahrscheinlich für
rya inuni, wörtl. planta procrastinatrix (motsi no ki)‘.
Das Ainuwort aus Rija (jap. tosi-wo suguru), ,die Jahre
zurücklegen“ und muni ,Pflanze“ zusammengesetzt.
Motsi-no ki, wörtl. Kuchenbaum.
131. ,Illicium. Species ungewiss, mit rothen Früchten.
Uttoba kina‘.
Bei mir: Uttoba-kina, der Name einer fruchttragenden
Pflanze, ähnlich dem japanischen sikimi.
Sikimi (jap.), Illicium anisatum?
132. , (yri.es) Imperata pedicellata. Nupkauch, wörtl. agros
possidens (Pfizm. Inu biye. S. Lollium. Vries. Tsi gaya)‘.
Bei mir: Nupka-usch (jap. inu-bi-je), der Lolch. Mit
nupka ,FekP zusammengesetzt.
Tsi-gaja, jap. Riedgras.
133. ,(Vries) Iris japonica. Bittoki; Chuve (Syaka) 1 .
Bei mir: Bittoki (jap. sialcu), der Name einer Pflanze.
Siu-u-e (jap. sialcu), der Name einer Pflanze.
134. ,(Vries) Iris Kaempferi. Sitau (Kaki tsubata) 1 .
Bei mir: ScMta-u (jap. kaki-tsubata), derName einer Pflanze.
Kaki-tsubata (jap.), Iris sibirica?
J.
135. ,Juglans nigra. Nechlco (Kurmi). — Die Frucht,
Enum, Enomi, Ninomi (Kurmi no mi)‘.
Bei mir: Nesiko (jap. kurumi), ein Wallnussbaum.
Bei mir: Ninumu (jap. kurumi-no mi), eine Wallnuss.
Auch ninomi, enumu, enumi, enomi.
136. ,Juncus effusus. Oplcekina; wörtl. liastae herba (01ioi)‘.
Oho-wi, jap. die grosse Binse.
137. ,Juncus. Species ungewiss. Pflzm. S. Typha‘.
Das Ainuwort ist schi-kina (jap. yama), eine Binse. Wörtl.
grosso Binse.
Sitzungsbor. d. pliil.-liist. CI. CIII. Bd. II. Hft.
25
378
P f i z m a i e r.
L.
138. ,(Vries) Lappa? Species ungewiss. Sik bechoro
(Yama kobö). S. Phytolacca octandra 1 .
Unter den Namen der Fische, aber nicht der Pflanzen,
wurde von mir gefunden: Schiki-be-schioro, der Name eines
dem jap. tsika ähnlichen Fisches.
Jama-go-bb (jap.), die Bergklette oder wilde Klette.
139. ,(Vries) Lappa edulis. Seta Korokoni (die Wurzel),
wörtl. canis nardosmia. S. Nardosmia (Kobö, die Pflanze)'.
Bei mir: Koru-ko-ni (jap. fugi), der Name einer Pflanze.
Vorgesetzt seta ,Hund‘.
Go-bb (jap.), die Klette.
140. ,(Vries) Larix europaea. Gui. S. Abies leptolepis,
Pinus densißora 1 .
Bei mir: Gui (jap. kara-matsu), ein Lärchenbaum.
141. ,(Vries) Laurinaea. Species ungewiss. Binni, wahr
scheinlich für Binne ni, wörtl. masculus arbor (Tamo no ki).
Thunb. übersetzt Tamo durch L,aurus indica‘.
Binne-ni wörtl. der männliche Baum. Tamo als Name
eines Baumes, ist ein Wort der gemeinen jap. Sprache und in
keinem Wörterbuche enthalten.
142. ,(Vries) Laurinaea. Species ungewiss. Tsikicha ni
(Adza tama)‘.
Bei mir: Tsikischa-ni (jap. aka-tamo), der Name eines
Baumes.
Aka-tamo (jap.), rothe Lorbeerpflanze. Adza tama ist ein
Druckfehler.
143. ,(Vries) Lespedeza. Species ungeAviss. Pfizm. Singepf.
(Vries) Sinkepf (fagi). Thunb. Lythrum salicana. S. Lythrumf.
Bei mir: Schingep (jap. fagi), der Name einer Pflanze.
Fagi (jap.), der Weiderich (Lythrum salicaria).
144. ,Pfizm. LPichen. Species ungewiss. Nip kapü, wörtl.:
arborum pellis. (Hat' Aehnlichkeit mit der Haut des Boletus
igniarius) 1 .
Bei mir: Nip kapü, eine dem Moose auf verfaulten Bäumen
ähnliche Pflanze, eine Flechtenart. Von nip ,Holz im Allgemeinen'
und kapü, Haut, Rinde.
145. JAgularia Kaempferi. O'inamats (Tsuva buld)‘.
Untersuchungen über Ainu-Gegenstände.
379
Bei mir: O-inamatsu (jap. tsuwa-buki), der Name einer
Pflanze. Tsuwa-buki (jap.) Ligularia, Aschenkraut? Bei Kämpfer
ist tsuwa-buki nicht zu finden.
146. ,(Vries) Ligustieum? Species ungewiss. Beta ubeu.
Wörtlich: canis anemone
Bei mir: Ube-u (jap. tb-ki), der Name einer Pflanze.
Gleichbedeutend mit jama-zeri, wilde Petersilie. Vorangesetzt
seta, Hund.
147. ,Ligustrum obtusifolium. Ni rui, wörtl.: lignum
crassum (Ima ki)‘.
Bei mir: Ni rui (jap. iwa-ki), der Name eines Baumes.
Iwa-ki, Felsenbaum.
Ni-rui, dick von Holz.
148. ,Lillium callosum. Ni yokai; lmaki bar, wörtlich:
bucca dentibus munita, S. Crinum maritimuni; Thure, turep, S.
Lillium pomponiacum. (Firne yuri, Bata yuri, Yama yuri)‘.
Bei mir: Niyokai (jap. fime-yuri), eine Lilie. Fime-yuri,
eine rothe Lilienart (lilium pomponium).
Bei mir: Ima-ki-baru (jap. fama-yuri, fime-yuri), der Name
einer der Lilie ähnlichen Pflanze. Wörth: der gezähnte Mund.
Fama-yuri, wörtl. die Meeruferlilie.
Ture wird hei mir nicht verzeichnet. Turep (jap. fime-yuri)
der Name einer Lilienart.
Bei Dobrotwörski: Turep, eine Beere (aro/ja). Davon
turbp-kem, Beerenblut (zum Färben gebrauchter Saft rother
Beeren).
Bata yuri d. i. fama-b ata-yuri ,Meeruferlilie' für fama-yuri
gesetzt.
149. ,(Vries) Lillium canadense. J.makiane, wörtl.: dens
minuta (Kuruma yurif.
Bei mir: Ima-ld-ane (jap. kuruma-yuri), der Name einer
der Lilie ähnlichen Pflanze. Wörth: dünnzähnig.
Kuruma-yuri (jap.), wörtl.: die Wagenlilie.
150. ,(Vri.es) Lillium partlieneion? (Firne yuri), S. Lillium
callosum‘.
Das Ainuwort ist turep, eine rothe Lilienart.
151. ,(Tliunb. oder Sieb.?) Lillium pomponiacum? Turep;
(Vries) Thurep. (Firne yuri, S. Lillium callosum; (Vries) Bata.
yurif.
380
Pfizmaier.
Turep (jap. fime-yuri), eine rothe Lilienart.
152. ,Lillium. Species ungewiss. Binnera. (Vri.es). S. 1AI-
lium canadense (Kuruma yuri)‘.
Kuruma-yuri (jap.), die Wagenlilie.
Binne-ra, wörtlich: männliches Mark, männliche Röhre.
Mit binne ,männlich“ und ra ,Mark“ zusammengesetzt.
Bei Dobrotwörski: Ra, das Mark (cxepateHb) einer Pflanze,
der Stengel oder die Röhre (ciBÖ-lfc) einer Pflanze. Dieses Wort
werde dem Namen der Blüthe oder der Wurzel hinzugefügt.
153. ,(Vries) Linaria. Species ungewiss. Yukkatomabak
(Yülcf, Cervus)“.
Das Ainuwort lässt sich mit keiner Gewissheit erklären.
Es mag aus yuku ,Hirsch“, ka ,Zwirn“, tomu ,Farbe“, bake ,Kopf“
zusammengesetzt sein.
154. ,Pflzm. Lollium temulentum? Um (Inu biye). Vries,
S. Anthistna, Erianthus 1 .
Bei mir: Urau (jap. inu-bi-je), der Lolch.
155. ,(Vries) Lonicera nigra. Tonkayu (Biybtambok)S.
Xylosteum“.
Sowohl das Ainuwort als das japanische Wort sind mir
nicht vorgekommen.
156. ,Luzula campestris. Vries. Riten muni, wörtlich:
nitida planta (.Suzumeno yuri)‘.
Bei mir: Riten-muni, der Name einer dem Riedgras (suge,
Binse) ähnlichen dünnen Pflanze. Mit riten ,rein, lauter, klar“
zusammengesetzt.
Suzume-no yum (jap.) wörtl.: die Lilie des Sperlings.
157. ,Thunb. Lythrum salicaria. S. Lespedeza.
Das Ainuwort ist singep ,der Weiderich“.
M.
158. ,Ma.gnolia acuminata? Buch ni, Euch ni, wörtl.:
pharetrae arbor. (Olio- gasiwa). Pfizm. S. Terebinthus indicat
(Vries) S. Acer‘.
Bei mir: Busi-ni (jap. woico-gasiwa), eine Art Pistazien
baum. Mit busi (jap. ja-bako) ,Köcher“ zusammengesetzt.
159. ,(Vries) Magnolia hypoleuca. lkayup ni, wörtl.:
pharetrae arbor. (Pfizm. Oho gasiwa, S. Terebinthus indica;
Vries. Ilbno ki)‘.
Untersuchungen über Ainu-Gegenstände.
381
Bei mir: Ikajup-ni (jap. wowo-gasiwa), ein grosser Croton-
baum. Mit ikajup (jap. ja-bako) ,Köcher' zusammengesetzt.
Fb-no ki ,der Baum des rohen Stoffes 1 (jap.), der Name
eines Baumes. Auch fowo-gasiwa ,der Pistazienbaum des rohen
Stoffes 1 genannt.
160. ,(Vries) Magnoliaca? Species ungewiss. Mau-kuch
ni (Ko buts, S. Buergeria stellata; Gfydk ran)‘.
Bei mir: Ma-ukusi-ni (jap. ko-busi, gioku-ran), der Name
einer Pflanze, einer Art Magnolia. Mit mn-ukusi (jap. toworu)
,durchdringen 1 zusammengesetzt.
161. ,(Vries) Microptelea parvißora oder parvifolia. Opcha
ni, Kine ni. (Nire; Sabita; Pfizrn., S. Ulmus)‘.
Bei mir: Opscha-ni(jap. nire, sabita), eine Ulme. Syn. ki-ne-ni.
162. jMillium? Species ungewiss. Eiten Amam; wörtlich:
nitida oryza (Mots ava) S. Panicum 1 .
Bei mir: Riten-amamu (jap. motsi-awa), der Name einer
Art Hirse.
Amamu (jap. kome), Reiss, Getreide überhaupt.
163. ,(Vries) Morus indica. Techma (Kuva)‘.
Bei mir: Tesima-ni (jap. kuwa), ein Maulbeerbaum. Mit
tesima (jap. kandziki.) ,Stelzschuh 1 zusammengesetzt.
164. ,(Vries) Mulgedium? Species ungewiss. Vavahal
(Mundart von Krafto) 1 .
Dieses Ainuwort ist offenbar fehlerhaft und lässt sich
nicht berichtigen.
165. ,(Vries) Muscus edulis. Species ungewiss. Ikke mal
ma'i (Koke no mi)‘.
Bei mir: Ikki-mai-mai (jap. koke-no mi), eine Moosbeere.
Wörtlich: Frucht des Mooses.
166. ,(Vries) Muscus. Species ungewiss. Furkama; Plizm.
Furkamai (Koke)'.
Bei mir: Furukamai, der Name einer ungenannten Pflanze.
167. ,Klapr. Muscus. Species ungewiss. Chinruch; kam-
tschadalische Mundart, Oclop 1 .
Bei Dawydov: Schinrusch, das Moos.
Bei Dobrotwörski: Sintui (sintruS) das Moos (auf Bäumen
oder zum Bau der Häuser).
168. ,(Vries) Myosotis apulaf ? Kayara kena. (Der Name
vielleicht jap.) 1 .
382
P f i z m a i e r.
Kawara-kena (jap.), der Name einer Pflanze (prenanthesf).
169. ,(Vnes) Myosotis. Species ungewiss. Kappara, wahr
scheinlich kavara, S. Fungus 1 .
Kappara (jap. talce), ein .Schwamm, ein Pilz.
Kawara erinnert an das obige Kawara-kena.
N.
170. ,(Vries) Nardosmia japonica. Maka yo; Korkoni;
Vries. S. Lappa edulis (Fugt; Fuki no tb)‘.
Bei mir: Maka-yo (jap.fuki-no to), der Name einer Pflanze.
Bei mir: Koru-ko-ni (jap. fugi), der Name einer Pflanze.
171. ,(Vries) Nelumbium. speciosum (die Wurzel). Meya.
S. Artemisia (Hatsits)‘.
Meya , Wasserlilie' scheint in dem Mo-siioo-gusa mit Noya
Beifuss' verwechselt worden zu sein, wozu das einander ähnliche
Kata-kana von me und no Anlass gab.
Hatsisu (jap.), Wasserlilie.
Bei Dobrotwbrsld ist Nojä ein Synonymum von kamurusä
(kamutrusä), eine Art Beifuss ( t iepiio6iJ.li>H]iKl>).
172. ,Nicotiana tabaccum. Tambako, von dem jap. Tabako‘.
Bei Dobrotwbrsld: Tdmbaku, Tabak.
173. ,(Vries) Nyphar japonicum. Kabato (Kava bone; ko
hone) 1 .
Bei mir: Kabato (jap. kaiva-bone), der Name einer Wasser
pflanze.
Kawa-bone ( jap.), die Seeblume (nymphaea lutea). Syn. k'o-
boni, kawa-na-gusa.
O.
174. , (Vries) Orchis. Species ungewiss. Likonkamui kina;
wörtlich: domini cervi herba‘.
Zu lesen: Ri-kon-kamui-kina, die Pflanze des verständigen
Gottes.
Bei mir: Kikon kamoi, der Name eines einer Hirschkuh
ähnlichen Thieres von der Grösse eines Hundes. Offenbar das
jap. m « (ri-kon) ,verständig' zu Grunde liegend.
175. ,Oryza sativa. Amam, Fu amam, Bunma, Numi-
Numippe, Kema kochni Kam, S. Gentiana. (Kome)‘.
Bei mir: Amamu (jap. körne), Reiss, auch Getreide über
haupt. Syn. Amama, Fu-amamu, Bunma, Numi-numippe.
Untersuchungen über Ainu-Gegenstände.
383
Bei mir: Rema-koschine-kam (jap. kome), Reiss, auch Ge
treide. Wörtlich: das leichtftissige Fleisch.
176. , Oryza. Species ungewiss. Muri (Fama batano mugino
gotoku yone)‘.
Bei mir: Muri, der Name einer dem Uferweizen (fama-
bata-no mugi) ähnlichen Reissart.
P.
177. ,( Vries) Pachyrrhizus Thunbergianus. O-ikara (Kudz
kadzura; Pfizm. übersetzt auch Filasse). S. Camphora 1 .
Bei mir: O-ikara (jap. kadzura), Flachs. Kudzu oder
kudzu-kadzura (jap.), Flachs.
In dom Mo-siwo-gusa wurde die jap. Erklärung unrichtig
gelesen. Es soll offenbar kusu ,Kampherbaum' heissen.
178. jPanicum italicvm vel milliaceum. Riten amam, wört
lich : furcae piscatoriae oryza; Mudjiro; Muri Hunne, wörtlich:
nitida oryza; Tsipske (Atva; [Vries] Ribi). S. Cerealia, Oryza 1 .
Bei mir: Ki-te-na-amamu (jap. aiva), Hirse. Wurde die Zu
sammensetzung mit ki-te (der Körper, eigentlich die Rinne des
zum Fischfänge bestimmten gabelförmigen Holzes) angenommen.
Bei Dobrotwörski: Rite, eine eiserne Lanze mit eisernen
Spitzen und einem Riemen. An diesen Gegenstand wird ein
Aufsatz, eine lange Lanze (tunä) gebunden. Man fängt damit
Seehunde und Seelöwen.
Bei mir: Mudschiro (jap. awa), Hirse. Syn. Muri-kunne,
sipusi-ke.
Ribi (jap.), Roggen.
179. ,(Vries) Peucedanum japonicum. Rentaporo (Bofü)‘.
Bei mir: Renta-poro, der Name einer dem jap. bd-fü, der
,Ufermalve' ähnlichen Pflanze.
180. ,(Vries) Peucedanumf Species ungewiss. Uraibauch
(Bo rü ni nite)‘.
Bei mir: U-rai-ba-usi, der Name einer Pflanze, ähnlich
dem jap. bo-fu, der ,Ufermalve'.
181. ,(Vries) Phaseolus mungo. Atski, von dem jap.
Anthuki.
Bei mir: Antuki (jap. ko-mame), Bohnen. Von dem jap.
adzuki, Bohnen. Verwechslung des Ainuwortes mit dem jap.
Worte.
384
P f i z m a i e r.
182. ,(Vries) Phyllostachys? Species ungewiss. Sasa (Iki
tara). S. Arundinaria japonica, deren Blätter“.
Bei mir: Ikidara (jap. sasa), junge Bambusblätter. Ver
wechslung des Ainuwortes mit dem jap. Worte.
183. ,Pliytolacca octandra. Setakorokoni, wörtlich: canis
nardosmia (Yama (jo hu). S. Lappa 1 .
Koru-ko-ni (jap. fuki), nardosmia japonica.
184. ,Pinus densiflora. Kui (Aza mats). S. Abies leptolepis‘.
Bei mir: Gut (jap. kara-matsu), ein Lärchenbaum.
Aka-matsu (jap.), die rothe Fichte.
185. ,Pinus larix. S. Larix europaea. (Vries) Pinus parvi-
flora vel pauciflora. Ine kere ni, Tsikapp fupp, wörtlich: avis
abies (Go yo no mats) 1 .
Bei mir: Ine-kere-ni (jap. yo-yö-no matsu), die fünf blätterige
Fichte. Syn. tsikapp-fupp, die Vogeltanne.
186. ,(Vries) Pisum sativum. Pasitkara (Yen db)‘.
Bei mir: Pasikutara, der Name einer der flachen Erbse
(yen-dö) ähnlichen Pflanze.
187. ,Pfizm. Pisum. Species ungewiss. Menachi yar (lbi,
No yen do)‘.
Bei mir: Menaschi-yaru (jap. ibi und no-yen-dö), wilde Erbsen.
188. ,(Vries) Plantago kamschatlcaica. Yerum kina (Yezo
6bako‘.
Yerumu-lcina, wörtlich : Rattenpflanze.
Ye-zo owo-bako, der grosse Wegerich von Jezo.
189. ,(Vries) Podocarpus maki. Tsik ni. Pfizm. übersetzt
durch ,Holz“ (Mi)‘.
Bei mir: Tsiku-ni, tsigu-ni, das Holz. Inwiefern dieses
ein Fehler ist, lässt sich augenblicklich nicht untersuchen.
190. ,(Vries) Polygonatum latifolium? Beben kina 1 .
Der Ainuname ist bei mir nicht verzeichnet.
191. ,(Vries) Polygonatum. Species ungewiss. Isui‘.
Der Ainuname ist bei mir nicht verzeichnet.
192. , Thunh. Polygonum barbatum? Kapa'i (Ai)‘.
Bei mir: Ka-pai (jap. ai), Indigo.
193. , Polygonum cuspidatum. Chikkut (Itadori); Pfizm.
übersetzt durch Polygonum sinense‘.
Bei mir: Schikkutu (jap. ita-dori), der Name einer Pflanze,
das Polygonum chinense.
ü
Untersuchungen über Ainu-Gegenstände. 385
194. ,Polygonum fagopyrum. Air ach amani; Tunach
amam, wörtlich: celer oryza. (biye, Biyaba [Vries]. S. Eleusine)‘.
Bei mir: Airasi-amamu (jap. fije), Buchweizen.
Tunaschi-amamu (jap.fije), Buchweizen. Wörtlich: früh
zeitiger Reiss.
Bija-ba (jap. fije), Buchweizen.
195.,Polygonummultiflorum. Pfizm. Hekutut; (Vries) Kokut h,
Ikokuth, S. Angelica; Sikkivä (Pfizm. Kwa tat; (Vries) Inu itadori) 1 .
Bei mir: Hekukutu (jap. lcwa-tai), der Name einer Pflanze.
lkokutu (jap. ita-dori), der Name einer Pflanze (poly-
gonum chinense).
Sikkutu (jap. ita-dori), Polygonum chinense.
196. ,Pfizm. Polygonum sinense. S. Polygonum cuspidatum < .
Das Ainuwort ist Schikkutu (jap. ita-dori).
197. ,Klapr. Populus alba. Syh nyh (kamtschadalische
Mundart). Wörtlich: magna arbor 1 .
Schi-ni, wörtlich: grosser Baum.
198. ,(Vries) Populus. Species ungewiss. Dero 1 .
Das Ainuwort dero hei mir nicht verzeichnet.
199. ,Porophyllum japonicum. Popkekina, wörtlich: cale-
faciens arbor (san-sitsu)‘.
Bei mir: Popke-kina (jap. san-sitsi), der Name einer
Pflanze. Mit popke ,warm, heiss' zusammengesetzt.
Die Pflanze san-sitsi heisst auch yama-urusi, wörtlich:
Bergpech.
200. ,(Vries) Potentilla. Kizi muziro‘.
In dem Index: Kizi musiro. Wird als Ainuwort von mir
nicht verzeichnet. Als japanisches Wort betrachtet, kann es
kizi-musiro ,Fasanenmatte' sein.
201. ,(Vries) Primula farinosa. Konzumui (Yuk rare so)‘.
Konzumui wird von mir unter den Ainuwörtern nicht ver
zeichnet. Als japanisches Wort betrachtet, könnte es für ko-
zumai ,kleiner Wohnort' stehen, ähnlich dem obigen kizi-musiro.
Das jap. Synonymum, welches bei mir fehlt, kann als
juki-icare-so ,die schneegetheilte Pflanze' betrachtet werden.
202. ,Prunus cerasus. Karimba ni, wörtlich: duplicis
sagittae arbor (.Zakra) l .
Bei mir: Karimba-ni (jap. sakura), ein Kirschbaum. Mit
karimba, (jap. kasane-ja) ,Doppelpfeil' zusammengesetzt.
i
386
P f i z m a i e r.
203. ,Prunus. Species ungewiss. Oma ukuch ni (Filci
zakrafl.
Bei mir: Oma-ukusi-ni (jap. fiki-zakura), der Name eines
Baumes.
Fiki-zakura, wörtlich: die Ziehkirsche.
204. ,Prunus. Species ungewiss. Opke ni, wörtlich: crepitüs
ventris arbor. (Fik zakra)‘.
Bei mir: Opke-ni (jap. fiki-zakura), der Name eines
Baumes.
205. ,Pteris aquilina. Tsepp ma kina; wörtlich: piscis herba.
Toha (warabi), eine essbare Art. S. Filix‘.
Bei mir: Toha (jap. warabi), der Name einer Art Farn
kraut. Syn. Tsep-ma-kina (jap. warabi).
206. ,Pfizm. Pterocarpus flavus. Tsikere beni (Ki fada).
S. Gossypium 1 .
Bei mir: Schikere-be-ni (jap. ki-fada), der Name eines
zum Färben gebrauchten Baumes, Pterocarpus flavus.
Davon Schikere-be-ni furepp (jap. ki-fada-no mi), die
Frucht (Beeren) des Pterocarpus flavus.
207. ,Pfizm. Pyrus. Species ungewiss. Imotsits ' (Yama
nasi)‘.
Bei mir: Imotsi-imotsi, eine Art Holzbirnen (jama-nasi).
208. ,Ptizm. Pyrus. Species ungewiss. (Vries) Iii‘.
Ri ist bei mir nicht verzeichnet. S. das Folgende.
209. ,Ptizm. Pyrus. Species ungewiss. Die wilde Art.
Seheta ri, wörtlich: canis pyrus 1 .
Bei mir: Scheta-ri (jap. jama-nasi), eine Holzbirne. Wört
lich: Hundsbirne, in der Voraussetzung, dass das obige Ri
wirklich das nur in Zusammensetzungen gebrauchte jap. ^
(ri) ,Birne' ist.
Q.
210. ,(Vries) Quercus dentata. Gom ni (Kasiva). Pfizm.
übersetzt durch Terebinthus indica 1 .
Bei mir: Gomu-ni (jap. kasiwa), ein Pistazienbaum.
211. ,(Vries) Quercus. Species ungewiss? Bero ni (Nara)‘.
Bei mir: Bero-ni (jap. totsi), der Name eines Baumes.
Totsi, eine Art Esche (aesculus).
Nara, nara-no ki, der Name einer Eichenart. S. Aesculus.
Untersuchungen über Ainu-Gegenstände.
387
E.
212. ,( Vries) Ranuncidus japonicus. Bui (Rin poke)‘.
Der Ainuname Bui ist bei mir nicht verzeichnet. Es findet
sieh nur hoho, der Name einer ungenannten Pflanze.
Rin-fo-ke (jap.) Ranunculus asiaticus?
213. yRaphanus sativus. Tsi (wasabi) Vries. S. Cochlearia‘.
Bei mir: Tsi (jap. wasabi), der Meerrettig.
214. jRaplianus. Species ungewiss. Rise seri, von dem jap.
Sari. Petroselinum (wasabi) Vries. S. Cochlearia 1 .
Bei mir: Rische-sehen (jap. wasabi), der Meerrettig. Von
dem jap. seri, Petersilie.
215. ,(Vries) Retinaspora ? S. ThuyaV
Das Ainuwort ist Syungu (schiunku).
Bei Dobrotwdrski: Sünku und smiku-ni, die Tanne, Roth-
tanne (e.li>).
216. ,(Vries) Rheum. Species ungewiss. Ch onaba
(Dai vö)‘.
In dem Index: Chunaba. Das Ainuwort ist bei mir nicht
verzeichnet. Es kann aus schiü oder schio ,gelb‘ und naba oder
namba ,langer Pfeffer“’ (auch Pilz?) zusammengesetzt sein,
217. ,(Vries) Rhododendron. Species ungewiss. Neta ndi
(Nino chaku naneje)‘.
Das Ainuwort ist bei mir nicht verzeichnet. Als jap. Syno-
nymum nur Siakunage ,rhododendron‘ bekannt. ,
218. ,(Vries) Rhus toxicodendron. Utchi muni; wörtlich:
paleae herba; Vries. Uttsi (Tsuta uruch) 1 .
Bei mir: Utuschi-muni, der Name einer ungenannten
Pflanze. Mit utuschi (jap. wara) ,Stroh, strohartige Pflanzen“
zusammengesetzt.
Bei Dawydow: Stroh wattes. Auf Jezo: wattesch.
Tsuta-urusi, wörtlich: ,Epheupech, Epheuflrnissb
219. ,(Vries) Rosa; rugosa. Mau (Hama nasi)‘.
Bei mir: Ma.-u (jap. fama-nasu), eine Hagerose.
Fama-nasu (jap.) rosa rugosa.
220. ,Rottiera, japonica. Iwakich ni (Adunsa, Ronko),
S. Hydrangea‘.
Bei mir: Iwakisi-ni (jap. adzusa, konkb), der Name eines
Baumes.
388
P f i z m a i e r.
221. , Pfizm. Rotfiera. Species ungewiss. Mit rothen
Früchten. Tsilcappo sota ni‘.
Bei mir: Tsikappo-schetanni, der Name eines Baumes, ähn
lich dem jap. Adzusa (Hartriegel) mit rother Frucht.
222. ,(Vries) Ruins palmatm ? haare furepp (Itsigo). S.
Fragaria vesca‘.
Bei mir: Ima-re-furepp (jap. itsigo), eine Erdbeere.
223. ,(Vries) Rumex crispus? Seta kamaro. Pfizm. Sita
kai maro (Kitsi gits)‘.
Bei mir: Schita-kama-ro, der Name einer unerklärten Pflanze.
Gisi-gisi (jap.), rumex crispus.
S.
224. ,(Vries) Sagittaria sagittaefolia. Tokaop (Omo daka)‘.
Bei mir: Toka-op (jap. omo-daka), der Name einer Pflanze,
Schlangen Wurzel.
225. ,Salix? Salix babylonica? Chuchu (Yanagi)‘.
Bei mir: Schiü-schiil (jap. janagi), ein Weidenbaum.
226. ,Salix babylonica (die Rinde). Mer o mal, Nika uma
(Yanagi kava)‘.
Bei mir: Meromai (jap. janagi-no kaiva), Weidenrinde.
Ein Wort der Mundart von Soja.
Bei mir: Nilca-miai (jap. janagi-gawa), Weidenrinde.
227. ,Salix. Species ungewiss. Toi chuchu; wörtlich: terrae
salix (Inokoro yanagi)‘.
Bei mir: Toi-schiü-schiü (jap. inolcoro-janagi), der Name
einer Art Weidenbäume. Mit toi ,Erde ( zusammengesetzt.
228.,( Vries) Salix. Species ungewiss. Toppikara (Ko y anagi) 1 .
Ko-janagi (jap.), der kleine Weidenbaum.
Das Ainuwort toppikara findet sieh bei mir unter den
Namen der Fische, was einer Untersuchung noch Vorbehalten
bleibt.
229. ,Sambucus ebuloides. Ochpara ni (Niwa t,oko)‘.
Bei mir: osipara-ni (jap. niwa-toko), ein Plollunderbaum
(sambucus nigra).
230. ,( Vries) Sarana kamschatkaiea. Anrakol, Har, Si-
rakor. S. Fritillaria 1 .
Bei mir: Are-ra-koru (jap. kuro-juri), der Name einer
lilienartigen Pflanze von schwarzer Farbe. Syn. Itaru, Schira-koru.
Untersuchungen über Ainu-Gegenstände.
389
Kuro-juri (jap.) wörtlich: die schwarze Lilie.
231. ,(Vries) Senecio. Species ungewiss. (Mundart von
Krafto): Poro ya, wörtlich: rnagnum rete‘.
Poro-ja ,das grosse Netz' ist ein Name für das Kreuz
kraut (senecio).
232. ,Sinapis japonica vel integrifolia. Turanup (Karasi)‘.
Bei mir: Taranup (jap. karasi), der Senf. Turanup ist
unrichtig.
233. ,(Viies) Sinapis Sinensis. Kurasuf, wahrscheinlich
für Turanup (Karasi). S. Sinapis japonica 1 .
Kurasuf ist offenbar nur ein durch den Gebrauch von
Katakanaschrift veranlasster Schreibfehler für taranup, nämlich
bei leicht zu verwechselnden Zeichen Setzung von (7 ~7 7\ s?
(kurasuf) statt f7 ~7 77 (taranup).
234. ,Smil.adne racemosa. Yuk sasa; wörtlich: cervi arun-
dinaria. (Vries) Smilacine. Species ungewiss. Fira yoma‘.
Die Richtigkeit der bei mir nicht vorkommenden Wörter
Yuk sasa und Fira yoma ist sehr zweifelhaft.
235. ,Soja hispida. Marne, jap. Wort'.
Bei mir: Marne (jap. mame), Bohnen oder Hülsenfrüchte
im Allgemeinen.
236. ,(Vries) Solanum c.aroliniense? Kata kina; wörtlich:
licina lierba. Pfizm. Kat am? ‘
Das Ainuwort kata-kina kommt bei mir nicht vor.
Bei mir: Kat amu, der Name einer ungenannten Pflanze.
Kina ist ein generischer Name für grössere oder strauch
artige Pflanzen.
Bei mir: Kata (jap. kata-je), auf, gegen. Von dem jap.
kata, Seite.
Bei Dobrotwörski: Kata, ein Spielball (mutt,).
Ebenda: Kata, ein Zwirnknäuel (imyfioK'r. hhtokb).
Bei mir: Kind (jap. toma), Dachstroh.
Bei Dobrotwörski: Kind, das unechte Bärenklau, Ilera-
cleum (Hymca).
237. ,(Vries und Pfizm.) Sophora japonica. (Hojfm., Sty-
phiolohium japonicum. Tokbeni, Tsikbeni. (Vries) Tsikbe
(Yen zyu)‘.
Bei mir: Tokube-ni (jap. yen-ziü), der Name eines Baumes,
sophora japonica.
390
P f i z in a i e r.
Ebenda: Tsikube-ni (jap. yen-ziil), sophora japonica.
238. ,Thunb. Spiraea callosa. Kuttsi (Nikio, Kokwa). S.
Carthamus 1 .
Bei mir: Kuttsi (jap. ko-kica, ni-kih), der Name einer
Pflanze.
239. jStyphonolobium japonicum. S. Sophora 1 .
Das Ainuwort ist tokube-ni und tsikube-ni.
T.
240. ,(Vries) Taraxacum dens leonis. Ine muni; wörtlich:
cpiadripartita herba (Tampb)‘.
Bei mir: Ine-muni (jap. tampo), Löwenzahn, eine Pflanze.
241. ,Pfizm. Taxus. Species ungewiss. Ipitap (Momi) 1 .
Bei mir: Ipitap (jap. momi), der Name eines Baumes,
eine Art Taxus. Aus der Mundart des Gebietes Schari.
Momi (jap.), Taxus baccata ?
242. ,(Vries) Taxus cuspidata. Tanna ni, Rar ma ni
(Kiu ra bok, Onko, Araraki) 1 .
Bei mir: Taruma-rd (jap. kia-va-boku, wonko), der Ca
lambac, eine Art Weihrauchbaum. Davon Taruma-ni-furepp
(jap. wonko-no mi), die Beeren des Calambac.
Ebenda: jRaru-ma-ni, verschiedene Aussprache des Wortes
Taru-ma-ni.
Kija-ra-boku (jap.), Aloeholz, Calambac.
Araragi (jap.), Taxus cuspidata.
Wonko, ein Wort der gemeinen jap. Sprache. In den
Wörterbüchern nicht enthalten.
243. ,Pfizm. Terebinthus indica. S. Magnolia 1 .
Das Ainuwort ist Busi-ni (jap. wowo-gasiwa), eine Art
Pistazienbaum.
244. ,(Vries) Tliermopsis fabacea. Konti kina (Sendoi
liagiy.
Das Ainuwort ist bei mir in dieser Form nicht verzeichnet
und gleich dem jap. Synonymum nicht mit Sicherheit zu er
klären. Das jap. liagi kann fagi (Weiderich, Lespedeza) sein.
245. ,Thunb. Tliuya dolabrata. Otach liebera (Ibuki)‘.
Bei mir: Otasikebera (jap. ibuki), der Name eines Baumes.
Ein Wort der Mundart von Schari.
Untersuchungen über Ainu-Gegenstände.
391
Ibuki (jap.), Juniperm communis. S. Biaku-sin.
246. ,(Vries) Thuya? retinospora? Syungu. S. Abies bifida
(Kara hiba)‘.
SiunJcu (jap. kara-mat.su, je-zo-m.atsu), ein Lärchenbaum,
die Jezofichte.
Fiba (jap.) Thujopsis dolabrata. Vorgesetzt: kara, chinesisch.
247. ,Tilla parviflora. Koberegep (Sina, Sinano ki)‘.
Bei mir: Kobe-re-gep (jap. sina), der Name eines Baumes.
Sina ist in der gemeinen Sprache des nördlichen Japan
der Papierbaum (kbzo). Das Wort fehlt in den Wörterbüchern.
248. ,Trapa incisa. Be Jeambe (Fits)‘.
Bei mir: Be-kanbe (jap. fisi), der Name einer Wasserpflanze.
Fisi (jap.), Stachelnuss (trapa natans, trapa inci.sa).
249. Trillium grandiforwm. Hero ara (Mikado so).
Hero ara als Ainu wort mir nicht bekannt. Mikado-sb, die
Mikadopflanze.
250. ,(Vries) Trollius asiaticus (Churk bui)‘.
Scliiuruku ,Grift, Eisenhut‘. Bui, hei mir nicht verzeichnet,
steht unter lianunculus japonicus. Der Name wörtlich: die
giftige Ranunkel.
251. ,(Vries) Typha angustifolia. Chi kina; wörtlich: magna
lierba (Gama). S. Juncus‘.
Bei mir: Schi-kina (jap. gama), eine Binse. Wörtlich: die
grosse Pflanze.
U.
252. ,Ulmus. Species ungewiss. Eine ni; Raclipa nich
kots (Nire, Sabita. S. Microptelea)‘.
Bei mir: ki-ne-ni (nire, sabita), eine Ulme.
Ebenda: Rascliiupa-nisi-kotsu (nire, sabita), eine Ulme.
253. ,(Vries) Umbellifera. Species ungewiss. Kamoi cliu
kina, wörtlich: dominus cepa. S. Allium cepa‘.
Bei mir: Scliiü-kina (jap. nira), eine Zwiebel. Wörtlich:
die gelbe Pflanze.
Kamoi-schiü-kina, wörtlich: die göttliche gelbe Pflanze.
254. ,(TJiunb. und Vries) Umbellifera. Species ungewiss.
Orapp (Kava vots gusa; Vries, Sen kyu)‘.
O-rapp (jap. kawa-wolsi-gusa), der Name einer Pflanze.
392
P f i z m a i e r.
Sen-Jdü (jap.), das Synonymum von kawa-iootsi-gusa.
255. ,(Vlies) TJrtica? Species ungewiss. Mosl, Utarpe?
(siro mavo)‘.
Statt Mosl zu lesen: Mose. Utarpe wurde nicht aufgefunden.
Bei mir: Mose (jap. ito-ico toru kusa), der Name einer
Pflanze. Ito-wo toru kusa, wörtlich: die Spinnpflanze.
Bei Dobrotwörsld: Mose, die Brennessel (Kpanmta). Die
Ainu verfertigen aus dieser Pflanze das Nesseltuch.
Davon: Möse-tsikapp (jap. teö), ein Schmetterling. Wört
lich: der Brennesselvogel. Ferner: Möse-kabü ,Brennesselhaut 1 .
Die zur Verfertigung von Zwirn gebrauchte dünne Haut der
Brennessel.
Siro-m.a-ivo (jap.), weisser Hanf.
V.
(256.) 257. ,(Vries) Vaccinium Chamissonis? Isu suka.
Dieses Ainuwort ist nicht zu ermitteln. Nr. 256 fehlt.
258. ,(Vries) Viola. Species ungewiss. Moto kina‘.
Moto kina wird bei mir nicht verzeichnet.
Bei Dobrotwörsld: Moto, ein Eingeborner, ein Einheimi
scher. Davon Motb-kotän, das Geburtsdorf, der Geburtsort.
Motb-kinä bedeutete daher wörtlich: die Heimatspflanze.
259. ,(Vlies) Vitis yezoensis. Hats bedeutet auch ,Wein
traube* (Yezo butby.
Bei mir: Ilats (jap. bu-db), eine Traube, Weintraube.
Bei Dawydow: Chaz, Johannisbeeren (cMOpOÄHBa).
Ye-zo-bu-db (jap.), die Weinrebe von Jezo.
X.
260. ,(Vries) Xylosteum. S. Lonicera 1 .
Das bei Lonicera gesetzte Ainuwort tonkayu ist mir nicht
vorgekommen.
W.
261. ,(Vries) Wistaria japonica. Kutsuts (Ko futs). S.
Buergeria stellata 1 .
Bei mir: Kuttsi (jap. ko-kwa, ni-kib), der Name einer
Pflanze.
Untersuchungen über Ainu-Gegenstände.
393
z.
262. ,Zanthoxylum piperitum. Kantskama ni (Kama fazi-
kami); Vries. San syo‘.
Bei mir: Kantsikama-ni (jap. jama-fazikami), wilder Pfeffer.
San-seo (jap.), Bergpfeffer.
Statt kamafazikami soll yama-fazikami gesetzt werden.
263. ,(Vries) Zanthoxylum? Species ungewiss. Obak, Si-
k er ehe (Ki vada, S. Gossypiuni).
Bei mir: Schikere-be-ni (jap. ki-fada), der Name eines
zum Färben gebrauchten Baumes, Pterocarpus flavus.
Obak ist das jap. wh-baku, das Koje von ki-fada (Ptero
carpus flavus'). Es ist kein Ainuwort.
Gossypium wird mit Unrecht angedeutet. Es ist Ver
wechslung von ki-fada ,gelbe Flügelfrucht' mit ki-wata ,Baum-
wollpflarize'.
Biimne von ungewisser Synonymik.
264. ,Apnini (AI. C.), der Name eines Fruchtbaumes‘.
Fehlt bei mir und anderswo. Unbekannt, welche Autorität
durch AI. C. bezeichnet werden soll.
Bei mir: Ap-ninifurepp, der Name einer Beere.
Ebenda: Ap-nini-sei, der Name einer Muschelart.
Ap (jap. tsuri-bari), ein Angelhaken.
265. ,Kaba tats (Yane kaba), S. Betula 1 .
Bei mir: Kaba-tats (jap. ja-ne-kaba), der Name eines
Baumes.
Ja-ne-kaba (jap.), Kirschbaum der Dachwurzel. Durch
kaba ,Kirschbaum' werden von den Japanern die Ainunamen
für ,Birke' (tats, tats-ni u. s. w.) wiedergegeben.
266. ,Tsipere kep (Kava Icurmi, Yas), S. Tilla 1 .
Bei mir: Tsibere-kep (jap. kaiva-kurumi und yasu), der
Name eines Baumes.
(kawa)-kurumi, wörtlich: der Bastwallnussbaum. Der
Name kommt, so wie yasu, anderswo nicht vor.
Bei Tilla parviflora: Kobereyep (Sina, Sinano ki).
Bei mir: Kobe-re-gepp (jap. sina), der Name eines Baumes.
Sina oder sina-no ki ist der volksthlimliche Name des
Papierbaumes.
Sitzungsber. d. pliil.-hist. CI. C1II. ßd. II. Hft.
26
394
Pfizmaier.
Ko-beregep ist mit bere-kep ,spalten* zusammengesetzt.
267. ,Tsikesirani (Kata sogi)‘.
Bei mir: Tsikesira-ni (jap. kata-so-gi), der Name eines
Baumes.
Der Ainuname nicht zu erklären. Kata-so-gi (jap.) ,feste
Abschneidung* bedeutet sonst nur die Dachspitze eines Tempels.
268. , Tsiri nii; wörtl. parva arbor 1 .
Bei mir: Tsiri-ni-i, ein Baum. Das Wort kommt unter
den unerklärten Namen vor. Es dürfte ,breiter Baum' bedeuten
und mit tsiri (jap. firoi) ,breit* zusammengesetzt sein.
269. ,Toke ayuch ni (Tarabu) 1 .
Bei mir: Toke-ajusi-ni (jap. tarabu), der Name eines Baumes.
Das japanische tarabu, ein Wort der gemeinen Sprache,
ist in den Wörterbüchern nicht enthalten.
Bei mir: Ajusi-ni (jap. jama-kin), der Name eines Baumes.
Die Bedeutung des vorangesetzten toke ist ungewiss. Jama-
kin, der wilde Stinkbaum (sterculia).
270. ,Uen ni; wörtl. mala arbor 1 .
Bei mir: u-en-ni-furepp, der Name einer ungenannten
Beere. Wörtlich: die Beere des bösen Baumes. U-en-ni ,böser
Baum' allein ist bei mir nicht verzeichnet.
271. ,Yai ni (Doro)‘.
Bei mir: Yai-ni (jap. doro), der Name eines Baumes.
Doro (jap.), ein Wort der gemeinen Sprache, fehlt in den
W Örterbüchern.
Bei Dobrotwörslu: Jdini, an das Ufer gespülte Baum
stämme (iuaBHHK'B). Syn. janni. Mit jan ,an das Ufer auswerfen'
und ni ,Baum‘ zusammengesetzt. Die Richtigkeit des zweiten
von Dobrotwörski angeführten Synonymums mönni kann nicht
dargethan werden.
Pflanzen von ungewisser Synonymik.
272. ,Akke betsi‘.
Bei mir: Aklce-be-tsi, der Name einer unerklärten Pflanze.
273. ,Atturi‘.
Bei mir: ,Atturi‘, der unerklärte Name einer Pflanze.
274. ,Bitt,oki, Syuve (Syaku) 1 .
Untersuchungen über Ainu-Gegenstände.
395
Bei mir: Bittold (jap. siaku), der Name einer Pflanze.
Ebenda: Schil-u-e (jap. siaku), der Name einer Pflanze.
Siaku als japanischer Pflanzenname ist ein Wort der ge
meinen Sprache und kommt in den Wörterbüchern nicht vor.
Beide Ainuwörter, das letztere fehlerhaft, sind bei Iris
japonica verzeichnet.
275. ,5oAo‘.
Bei mir: Bolio, der Name einer ungenannten Pflanze.
276. ,Eni, S. Honi‘.
Bei mir: Huni-u-eni-furepp, der Name einer ungenannten
Beere. Das Wort steht für honi-u-en-furepp, die Beere des
Bauchwehs.
277. ,Enumi tanne; wörtl. juglans extensa‘.
Bei mir: Enumi-tanne, der Name einer unerklärten Pflanze.
Aus enumi ,Wallnuss' und tanne ,lang* zusammengesetzt.
278. ,Futs koch par‘.
Bei mir: Futsu-hokusi-paru, der Name einer ungenannten
Pflanze.
Pani ,Mund*. Hierzu vielleicht hokusi, der Name eines
ungenannten Fisches.
279. ,Hara tets‘.
Bei mir: Hara-tetsu, der Name einer ungenannten Pflanze.
280. ,Honi, Eni? (M. C.)‘
Unbekannt, welche Autorität durch M. C. bezeichnet
werden soll. Offenbar ein einziges Wort, nämlich das Nr. 276
angeführte honi-u-eni-furepp, Beere des Bauchwehs.
281. ,Ibopke-repp‘.
Bei mir: I-bopke-repp, der Name einer ungenannten Pflanze.
Das Wort ist mit bopke (jap. atataka) ,warm* zusammen
gesetzt.
282. ,Itakira‘.
Bei mir: Italdra, der Name einer ungenannten Pflanze.
Bei Dobrotwörski: Kira, das Mark einer Pflanze (cTepiKHi.
TpaBii). Dieselbe Bedeutung hat charä. S. Hara tetsu (Nr. 279).
283. ,Itsitchar, Species mit rothen Früchten*.
Bei mir: Itsitscliaru (jap. erklärt mi-akaku), der Name
einer ungenannten Pflanze mit rother Frucht.
284. Jturap, eine der Erdbeere ähnliche Species mit an
den Wiu-zeln hervorkommenden Früchten*.
26*
Bei mir: Itu-rap, eine der Erdbeere ähnliche, bei der
Wurzel hervorkommende Beere.
Das Wort ist aus itu ,Nase' und rap ,Feder, Flügel' zu
sammengesetzt.
285. ,Kotan okoima (Nari firaf.
Bei mir: Kotan-o-koi-ma (jap. nari-ßra), der Name einer
Pflanze.
Das Wort ist aus kotcm ,Dorf' und okoima ,Harn lassen'
zusammengesetzt.
Das japanische nari-ßra ist als Pflanzenname ein Wort der
gemeinen Sprache und kommt in den Wörterbüchern nicht vor.
286. ,Mukut‘. In dem Index: Makut.
Bei mir: Makutu, der Name einer ungenannten Pflanze.
287. ,Moche (Itoro tor gousa)‘.
Möse (jap. ito-wo toru-gusa ,Spinnpflanze') ist die Brennessel
(S. Nr. 255).
288. ,Moch koribe (Totoki?)'.
Bei mir: Moscki-karu-ibe (jap. totoki), der Name einer
Pflanze.
Totoki ist eine an feuchten Orten wachsende Pflanze, welche
auch suna-gusa ,die Sandpflanze' genannt wird.
289. ,Muk‘.
Bei mir: Muku, der Name einer ungenannten Pflanze.
290. ,Nimaktottuk (Sasa fa kuri) 1 .
Bei mir: Nimakkotuku (jap. sasa-fa-kuri), der Name einer
Pflanze.
Das Ainuwort kann aus nimäki ,Zähne' oder nima ,Trog‘
und kötuku ,Dreifuss' zusammengesetzt sein.
Sasa-fa-kuri bedeutet: Kastanie mit jungen Bambusblättern.
291. , Onkots ibe‘.
Dieser Name ist bei Dioscorea opposita vorgekommen.
292. jOromukkut, Oromokkut, eine dem Blatte (feuille?)
des Porophyllum japonicum ähnliche Pflanze'.
Bei mir: Oromukkutu, der Name einer ungenannten Pflanze.
293. ,Päi‘.
Bei mir: Pai, der Name einer ungenannten Pflanze.
Bei Dawydow: Pai, dickes Schilfrohr.
294: ,Pukch (Ai bakama)‘.
Bei mir: Pukusa (jap. ai-bakama), der Name einer Pflanze.
Untersuchungen über Ainu-Gegenstände.
397
Ai-bakama (jap.), blaue Beinkleider. Ein Pflanzenname.
Ein Wort der gemeinen Sprache, welches in den Wörter
büchern fehlt.
295. ,Sinkutz‘.
Bei mir: Schinkuts, der Name einer unerklärten Pflanze.
296. ,Sinzits (Ne) 1 .
Bei mir: Schinzitsu (jap. ne), eine Wurzel.
297. ,Syorome (Zen mdi)‘.
Bei mir: Schioro-ma (jap. zen-mai), der Name einer Pflanze.
Zen-mai (jap.) ist eine Art Farnkraut. Dasselbe wird
auch inu-ivarabi ,Hundefarnkraut' genannt.
Bei Dobrotwdrski: Soröma, das wollige Farnkraut (nano-
pOTHHKT) nymncTHÜ). Davon soröma-wata, Farnkrautbaumwolle.
So heissen die Härchen dieses Farnkrautes, welche von den
Ainu als Zunder gebraucht werden.
Arten von Farnkraut sind noch toha und tsep-ma-kina.
S. Filix und Pteris aquilina.
298. ,Syuve, S. Bittoki. S. Iris japonica 1 .
Der Gegenstand wurde bei Nr. 274 berührt.
299. ,Tokina; wörtl. lactis herba (Firumo)‘.
Bei mir: To-kina (jap. firumo), der Name einer Pflanze.
To-kina kann ,Milchpflanze' oder ,Teichptlanze' bedeuten.
Das japanische Firumo ist ein Wort der gemeinen Sprache
und fehlt in den Wörterbüchern. Es kann aus firu ,Blutigel',
auch ,Knoblauch' und mo ,Hornblatt' zusammengesetzt sein.
300. , Toppits 1 .
Bei mir: Toppits, der Name einer Pflanze.
Die Pflanze unbestimmbar und der Ainunamc nicht mit
Sicherheit zu erklären.
301. , Tsiri muts‘.
Bei mir: Tsiri-mutsu, der Name einer ungenannten Pflanze
Das Ainuwort lässt sich nicht mit Gewissheit erklären.
Tsiri ,Vogel' auch ,breit'. Mutsu (jap. fusagu) ,verstopfen'.
302. Tsise no muni; wörtl. domüs planta 1 . Muss tsise-ne
muni geschrieben werden.
Bei mir: Tsise-ne-muni, der Name einer Pflanze. Wörtl.:
die Hauspflanze.
303. , Uttoha kina. Eine Pflanze, deren Frucht an die
jenige des Illicium religiosum erinnert'.
398
P f i z m a i e r.
Bei mir: Uttoba-kina, der Name einer fruchttragenden
Pflanze, ähnlich dem japanischen sikimi.
Die Pflanze wird mit dem Baume sikimi (Illicium), dessen
Früchte sehr giftig sein sollen, verglichen. Da Kinä nur eine
grössere Pflanze bezeichnet, dürfte die Setzung von Uttoba-kina
bei Illicium (Nr. 131) nicht begründet sein.
304. , Wakka kukuts‘.
Bei mir: Wakka-kukutsu, der Name einer ungenannten
Pflanze.
Mit icakka,Wasser' zusammengesetzt. Kukutsu ( )>
der zweite Theil des Wortes, wurde sonst nirgends aufgefunden.
Es scheint, dass es kutsu ,Gürtel' heissen müsse, wobei ku aus
Versehen doppelt gesetzt worden. Für kutsu ,Gürtel' wird auch
kuch, kuf und kutsi gesetzt. Das letztere ist nach Dobrotwörski
ein schlechtes Wort.
Nachtrag.
Als diese Abhandlung bis hierher geschrieben war, erhielt
ich von Herrn J. M. Dixon, Professor an dem kaiserlichen Col
legium der Ingenieure zu To-kiö, einige für mich sehr werth
volle Mittheilungen über Ainu-Gegenstände. Herr Dixon hatte
drei Sommer auf Jezo unter Ainu verbracht und daselbst eine
Anzahl Geräthschaften, welche er in der Monatschrift, The Chry
santhemum 1 abbilden liess, gesammelt. . Darunter befanden sich
auch drei Inäu, gewisse oft erwähnte Opfergaben, von denen
man sich, da Abbildungen fehlten, bisher keine ganz richtige
Vorstellung machen konnte.
Die abgebildeten Inäu sind Stangen, an welchen sich ein
buschiger oder verzierter, mit einer Art Krone versehener Kopf-
theil und ein entweder glatter oder verzierter Halstheil unter
scheiden lassen. Von dem Halstheile fallen sehr lange, bis zu
dem Fusstheile reichende Ringeln herab, welche wohl die in
der Beschreibung genannten Hobelspäne sind.
Diese drei Bildnisse sind:
Opitta-kamui, der allgemeine Gott.
Tschup-kamui, der Sonnengott.
Tombe-kamui, die Mondgöttin. Dieselbe habe einen ver
zierten Stamm, wodurch gezeigt werden solle, dass sie eine
Göttin sei. Bei den Ainu von Sachalin ist der Mondgott ein Mann.
Untersuchungen über Ainu-Gegenstände.
399
Das Wort ind-u hat auf Jezo die Aussprache inawo
oder inao.
Es gibt indessen, wie aus dieser Abhandlung zu ersehen,
sehr viele Arten der gewiss auch nach den Gegenden verschie
denen Ina-u, jedoch genügen, um sich einen Begriff von der
Sache machen zu können, die genannten drei Abbildungen.
Ein Ainu scheine, wie Herr Dixon sagt, einem Ind-u keine
besondere Heiligkeit beizumessen, denn er schnitze einen solchen
für einen Fremden bereitwillig aus einem frisch abgeschnittenen
und seiner Rinde beraubten Aste.
Die übrigen Gegenstände sind an sich und zum Theil
auch durch ihre Namen, deren Anführung zur Kenntniss der
sehr abweichenden Mundarten beiträgt, bemerkenswerth. Ich
verzeichne sie hier mit sprachlichen Erklärungen.
Die folgenden elf Gegenstände erwarb Herr Dixon von
den Tsuischikari, einem Ainustamme, welcher ganz vor Kurzem
aus Sachalin nach Jezo gekommen. Es sind vorerst drei Werk
zeuge, mit welchen die Frauen das einheimische Tuch aus der
Rinde (dem Baste) des Baumes ohio, einer Art Ulme, weben.
Ich bemerke hierzu, dass o-fio (o-kib) im Norden Nippons eine
öfters erwähnte Art des Papierbaumes ist. Es ist ein Wort der
gemeinen Sprache und in den Wörterbüchern nicht enthalten.
Nr. 1. , Pera oder der Stab (staff) 1 .
Bei Dobrotwörski: Peru, der Weberkamm (öepAo), ein
Bretchen zum Weben des Rockes (drtuS).
Nr. 2. ,Wosa oder Kamm (comb) 1 .
Bei mir: Osa, der Einschlag für den Faden der Webe.
Japanisches Wort.
Nr. 3. jAffunnit oder Weberschiffchen (shuttle) 1 .
Bei Dobrotwörski: Achliünnis, das Weberschiffchen (zum
Weben). Aus achhiln ,hineingehen* und nis ,Stiel' (uepeiiT.) zu
sammengesetzt.
Bei Dawydow: Afungini, das Weberschiffchen (ue.iHOK'ii
TKa.lMiOJi). Aus afungi, d. i. afunke ,hineingehen machen' und
nt ,Holz' zusammengesetzt.
Nr. 4. ,Kite, ein zum Seehundfang gebrauchter Wider
haken (barb) oder eine Harpune*.
Bei mir: Ki-te, der Körper des zum Fischfänge be
stimmten gabelförmigen Holzes.
400
P f i z m a i e r.
Bei Dobrotwörski: Rite, eine eiserne Pike mit Eisenspitzen
mul einem Riemen.
Nr. 5. , Yotep, ein Haken, um grosse Fisclie ans Land zu
ziehen*.
Bei Dobrotwörski: Jouma oder jöma, eine Pike. Yotep
wurde nirgends sonst aufgefunden.
Nr. 6, 7. ,Otski. Tragen, Speisetragen (trays) aus Sapporo.
Sie zeigen die Art der Auszierung, welche die Ainu lieben*.
Es sind viereckige Teller mit Rändern und einigen einfachen
Verzierungen.
Bei Dobrotwörski: Ochciki oder öciki, ein Präsentirteller
(nOAHOCT.) von japanischer Arbeit.
Nr. 8. ,SMkaribachoyene, eine Reissschüssel (rice-bowl)‘.
Sikdrimba-öoöine, rundes Gefäss. Aus sikdrimba ,rund*
und coöine ,Gefäss* zusammengesetzt.
Nr. 9. ,Chebechoyene, eine Fischschüssel (fish-bowl) 1 .
Cebe-Soöine, Fischschüssel. Aus cd) ,Fisch* und Üoöine be
fass* zusammengesetzt.
Die letzteren zwei Gegenstände schienen nur dem Ainu
stamme Tsuischikari eigen zu sein, wenigstens hätten die Ainu
von Jezo, denen man sie zeigte, sie nicht nennen gekonnt und
gesagt, dass sic solche Sachen in ihren Häusern nicht haben.
Nr. 10, 11. ,Kasüp oder Löffel (spoonsj*.
Bei Dobrotwörski: Ka&ü, auch kasüio oder kaüüch, ein
grosser flacher Löffel, um etwas damit aus dem Kessel zu
nehmen. Pon-ka&ü, ein kleiner Löffel, ein Tischlüffel.
Es sei bemerkenswerth, dass die Ainu einen Stolz darein
setzen, ihre Geräthe, selbst diejenigen, welche aus mehreren
Thcilon bestehen, aus einem einzigen Stücke Holz zu schneiden.
In der Abbildung sind es gestielte Löffel.
Nr. 12. ,Tsikiribi, ein verzierter Ainurock (ovnamented
Aino coat)‘. Derselbe ist aus blauem, weissem und rothem
japanischen Baumwollenzeug, aber von Ainuhand verfertigt.
Das Wort tsikiribi findet sich sonst nirgends verzeichnet.
Es kann aus dem japanischen tsi-kiri ,Weberbaum* und dem
Ainuworte bi oder be ,Sache* zusammengesetzt sein.
Nr. 13. ,Maitare. Eine Schürze (apron)‘. Ein viereckiges,
etwas verziertes Stück Tuch mit zwei Bändern.
Maitare ist das japanische Wort maje-dare, Schürze.
Untersuch an gen über Ainu-Gegenstände.
401
Nr. 14. ,Hetomöye, der Kopfputz eines Mädchens'. Der
Gegenstand ist eine einfache niedrige und runde Kappe.
Das Wort hetomoye wird sonst nirgends verzeichnet, und
lässt sich darüber, selbst ob es Ainu oder japanisch ist, nichts
Bestimmtes vermuthen. Als japanisch betrachtet könnte es fe-
tomoje ,vorbeigehendes Blumenmuster Tomoje' sein.
Nr. 15. ,Hos, das Beinkleid (legging) eines Mannes'.
Ist in der Zeichnung ein kleines beinahe unförmiges Vier
eck mit kaum einigen Zierathen.
Bei Dobrotwörski: Clios, Stiefelschaft (To-ieimige). Plural
chösihi.
Nr. 16 a, 16 b, 16 c sind die oben besprochenen Inä-u
oder Ainubilder.
Nr. 17 ist eine doppelte Abbildung des von mir (S. 347)
angeführten Trinkstieles ikünis. Er wird hier ikonit genannt,
was Aussprache von Jezo sein wird.
Bei mir: Ilcu-basi. Aus iku ,trinken' und basi (jap. fasi)
,Essstab' zusammengesetzt.
Nr. 18. jMakiri, ein Messer (knife)‘.
Die Abbildung einer etwas gekrümmten kleinen Schwert
scheide.
Nr. 19. jKisheri, eine Tabakpfeife aus weissem Holze,
mit einer mit Blei besetzten Kugel (bowl). Die Frauen rauchen
sie beständig'.
Nr. 50. ,Mokuni, eine hölzerne Maultrommel'. Der Gegen
stand soll aus der Mandschurei (Santcm) stammen.
Bei mir: Mukkuri (jap. kutsi-bi-ioa), eine Art Maultrommel.
Zu vergleichen bei Nr. 29 der Ainu-Flora:
Anemone. Species unbekannt. Mokkarbe, wörtlich: tubae
res. In dem Index auch: Mukkarbe. Dieser Name wäre wirklich
aus mokkari oder mukkari ,Maultrommel' und be ,Sache' zu
sammengesetzt.
Ob mokuni vielleicht ein Druckfehler statt mokuri, lässt sich
nicht bestimmen. Das Wort ist bei Dobrotwörski nicht zu finden.
,Tokari, eine ftinfsaitige Laute'. Die Saiten sind an dem
schmalen Ende der Laute an ein Stück Lachshaut befestigt
und quer über zwei Stege gelegt.
Das Wort tokari, welches übrigens auf Jezo nicht un
bekannt zu sein scheint, wurde von mir nirgends sonst ge-
402
Pfi zmaier. 1
funden, auch nicht im Japanischen. Als japanisches Wort
betrachtet, könnte es togari ,scharf, gespitzt' bedeuten. Das
Werkzeug ist auch wirklich an dem unteren Ende, wo die
Lachshaut sich befindet, zugespitzt.
Nr. 21 a. ,Ku, ein Bogen'. Derselbe ist aus dem Holze
der farbigen Eibe (iro-maki).
Nr. 21 b. ,Ai, ein Pfeil'. Derselbe hat einen Widerhaken
von sogenanntem Santanmetall. Der Mann, der ihn verkaufte,
wollte damit drei Bären getödtet haben.
Später erhielt ich weitere Mittheilungen, deren ich hier
so viele, als der Kaum zulässt, der Reihe nach anführe und
mit einigen sprachlichen und anderen Bemerkungen begleite.
Tsuischikari ist ein Weiler in der Ebene von Sapporo
und etwa zwölf Miles östlich von dieser Stadt gelegen. Die
Bewohner, eingewanderte Ainu aus Sachalin, hatten vor unge
fähr acht Jahren über Einladung der japanischen Behörden ihre
Heimat verlassen. Die alten Leute sprechen mit Bedauern
von den Zeiten vor dem Jahre 1875. Sie sagen, die Flüsse
und Ufer von Sachalin hätten Ueberfluss an grösseren und
schöneren Fischen, als man in den Gewässern und in der Bucht
des Ischilcari finden könne.
Japan hatte von 1863 bis 1875 mit Russland über eine
Gränze auf Sachalin verhandelt und war endlich dahin gekom
men, seinen Antheil an dieser Insel gegen die nördlichen Ku
rilen zu vertauschen. Im Jahre 1875 bewilligte es einer Anzahl
seiner Ainu-Unterthanen in Sachalin, welche sich auf japani
schem Gebiete ansässig machen wollten, Ländereien an den
Ufern des Ischikari. Es kamen sieben- bis achthundert Ainu
und bauten ihre Strohhütten an dem Zusammenflüsse des Tojo-
hira und Ischikari, gegen zwölf Miles von der Mündung des
letzteren.
Der Name ihres Aeltesten (otena) ist Cikobiru. Derselbe
ist jetzt ein alter Mann und von Leid um die früheren Zeiten
erfüllt. Sein Haus sei beinahe ebenso einfach wie die übrigen
Hütten seines Stammes, nur etwas grösser. Eine Art Thorweg
(jap. tori-i ,Vogelsitz 1 ) sei das Einzige, wodurch es sich aus
zeichne.
Otena ist das japanische otöna ,Aeltester‘. Auf Sachalin
sagt man otöna. In Batchelor’s Vocabularium wird ott'ena gesetzt.
Untersuchungen über Ainu-Gegenstände.
403
Die Ainu von Tschuischikari sind hauptsächlich Fischer,
und ihre Nahrung besteht beinahe ausschliesslich aus Fischen,
Reiss und den zerstossenen Wurzeln der Lilie Kiü.
Der Pflanzennamc kiü wurde nur bei Langsdorff wieder
gefunden, wo kiü einfach ,Gras' bedeutet.
Rothwild befinde sich nicht in ihrer unmittelbaren Nähe,
und dieser Ainustamm verbrächte daher nicht, gleich den Ainu
von Saru, die Zeit mit der Jagd auf dasselbe. Dagegen jage
man mit Vorliebe den Bären, der in den nahen Bergen in
Menge vorhanden sei. Ein solcher Bär, beinahe von dem Aus
masse eines Ochsen, werde in dem Museum von Sapporo auf
bewahrt. Er sei wenige Jahre vorher erlegt worden, nachdem
er mehrere Menschen verzehrt und noch ehe er seine Ifetzte Beute,
ein Kind, ganz verdaut hatte. Die Ainu konnten oder wollten
Herrn Dixon nicht das in ihrer Sprache übliche Wort für
Feigling (coioard) nennen, indem sie sagten, dass es bei ihnen
kein solches Wort gebe. Es solle indessen ein diesen Sinn
bezeichnendes Wort in der Mundart von Saru geben.
In der That finden sich für ,feige' die drastischen Aus
drücke üSkui ose, üskui porb und vielleicht noch andere.
Ohne Zweifel seien diese Ainu ein furchtloses Geschlecht.
Sie gehen auf die Jagd mit einem nicht sehr mächtigen Bogen,
und wenn sie einmal einen Pfeil losgelassen, werden sie mit
dem Bären handgemein und gebrauchen ihr rohes Messer mit
Vortheil.
Einige derselben werden als Lastträger (coolies) bei der
neuen Eisenbahn nach Poronai verwendet. Einige Wenige
werden als Pferdeknechte oder zu einzelnen unbedeutenden
Arbeiten gemiethet. Doch die grosse Masse hängt vom Fisch
fang als ihrem Erwerbe ab.
Der am meisten von Fröhlichkeit wicderstrahlende Mann,
welchen Herr Dixon jemals gesehen, sei der Ainu gewesen,
der ihm bei seinem ersten Besuche in Tsuischikari als Cice
rone diente. Viele Männer seien sehr schön, mit hohen, gut
geformten Stirnen und offenen Gesichtern. Die Männer scheren
ferner ihre Augenbrauen und schneiden ihr Haar rücklings an
dem Nacken. Ihr Kopf scheint somit zurückgeworfen zu sein.
Sie wandeln mit stolzen und freien Schritten. Lange Bärte
seien die Regel, besonders unter den älteren Leuten, doch der
404
Pfizmaier.
Volksstamm sei im Durchschnitt nicht haariger als Menschen,
welche in der (europäischen) Heimat ein Leben im Freien
führen.
Die Frauen seien keineswegs ohne anziehende Eigen
schaften. Von Benehmen schüchtern und befangen, hätten sie
sehr angenehme klagende Stimmen und dunkle ausdrucksvolle
Augen. Unter den Kindern, besonders den Mädchen, finde man
Augen so hell und funkelnd, dass sie beinahe Licht auszu
senden scheinen.
Das Tättowiren des Mundes, welches bei Mädchen und
Frauen noch immer im Gebrauche ist, beginne mit dem sechsten
oder siebenten Lebensjahre, und zwar zuerst mit einem kleinen
Flecke, welcher an den Lippen angebracht wird und dann all-
mälig sich ausdehnt, bis das blaue Maalzeiclien völlig zu jedem
Ohre reicht. Zum Färben bediene man sich der Rinde des
Baumes haba, welcher entweder eine Art Bergbirke oder ein
Blüthenkirschbaum sei.
Unter haba ist wohl der japanische Baum haba ,wilder
Blüthenkirschbaum', auch als Uebersetzung des Ainunamens
tatsu ,Birke' gebraucht, zu verstehen. Zu vergleichen in dieser
Abhandlung bei der Ainu-Flora das Wort Betula.
Auf Sachalin geschieht das Färben der Lippen auf andere
Weise. Dobrotwörski sagt: Die Ainumädchen beginnen, von
dem zehnten Lebensjahre angefangen, sich die Lippen mit dem
öligen Russe der zum Aussieden des Fettes der Häringe die
nenden japanischen Kessel zu färben. Man macht zu diesem
Behufe zuerst Einschnitte in die Lippen. Die Lippen schmer
zen nach dem Einschmieren heftig und schwellen in dem Masse
an, dass das Ainumädchen oft nicht den Mund öffnen kann
und durch drei bis vier Tage genöthigt ist, sich ausschliesslich
mit flüssiger Speise vermittelst einer kleinen Röhre zu nähren.
Man färbt sich ein- bis viermal im Jahre, je jünger man ist,
desto öfter. Man färbt anfänglich nur die Mitte der Oberlippe
und geht dann stufenweise zu dem Anstrich der Lippen über.
Die alten Frauen färben sich nicht, doch von den alten
schwach angestrichenen Narben bekommen die Lippen eine
Bleifarbe.
Das Färben der Lippen bezeichnet man auf Sachalin durch
sinuje, ein Wort, welches aus nuje ,schreiben, malen', mit Vor-
Untersuchungen über Ainu-Gegenstände.
405
Setzung von si (d. i. sui) ,nochmals* gebildet ist. Sonst ist
kambe-nuje ,schreiben*, wörtl. ,auf Papier schreiben* allgemein
üblich.
Herr J. Batchelor, derzeit Missionär in Piratoru, bringt
eine etwas abweichende Schilderung. Er sagt: Die Ainufrauen
tättowiren sich den Mund, die Arme und mitunter die Stirne.
Man sagt, es sei ein sehr schmerzliches Verfahren, weswegen
man es stufenweise verrichten müsse. Es geschieht folgender-
massen: Ein Topf wird über ein Feuer aus Birkenrinde gestellt
und daselbst so lange gelassen, bis er tüchtig geschwärzt ist.
Die mit der Ausführung sich befassende Frau nehme dann ein
scharfes Messer und schneide Linien in den zu tättowirenden
Theil. Hierauf nehme sie von dem aus der Wunde fliessenden
Blute etwas auf ihren Finger, reibe es in die an dem Topfe
haftende Schwärze und verarbeite es dann gut an der geschnit
tenen Stelle. Das Mädchen sei so lebenslänglich gezeichnet.
Das Tättowiren beginne in der Kindheit und ende nach
nach der Heirat. Sowohl Oberlippe als Unterlippe würden zu
gleicher Zeit tättowirt.
Die japanischen Behörden hätten den Gebrauch verboten,
doch das Verbot werde von den Ainu gänzlich missachtet, indem
sie sagen: Unsere angestammte Mutter Okikurumi Tures Maci
wurde so tättowirt und befahl uns, den Gebrauch beizubehalten.
Ein Ainurock sei gleich dem japanischen Kimono, ausser
dass er viel kürzer ist und die Aermel eng gegen das Hand
gelenk zulaufen. Das einheimische, aus der Rinde einer Art
Ulme (oliio) verfertigte Tuch sei sehr stark und dauerhaft.
Seine Farbe wechsle zwischen blass und röthlichbraun. Der
Ainu sei jedoch immer bereit, prachtvolle Röcke aus Stückchen
fremden Tuches, welches ihm in die Hände kommt, zu verfer
tigen. Solche Röcke nenne man tskiribi (tsikiriM). 1
Der Gürtel der Männer (kut) sei oft von beträchtlicher
Länge, gegen zwei bis drei Zoll breit und häufig an den Enden
mit Glasperlen verziert, welche, wenn auch werthlos, sehr ge
schätzt zu sein scheinen. Eine Schürze (maitare) wird unter
dem Rocke (artrus) getragen und Schäfte (hos) aus Tuch be-
1 Von diesem Gegenstände wurde bereits bei der Erwähnung der Abbil
dungen (Nr. 12) gesprochen.
406
Pfizmaier.
decken die Waden. Schuhe aus Lachshaut und Handschuhe
aus demselben Stoffe, mit Pelz verbunden, trägt man im Winter.
Die Kleidung der Frauen sei nicht wesentlich von der
jenigen der Männer verschieden. Der mit Metallringen und
Münzen beschwerte Ledergürtel sei ein auffallender Schmuck.
Er diene als eine Art Geldbeutel, und der Arzt werde daraus
bezahlt, wenn er seine Rechnung schickt.
Der Kopfputz hetenoye (hetomoye?), der sich unter den
Abbildungen findet, ist wenig von der Mütze (senkaki) der
Männer verschieden. Die Wintermütze mit Lappen wird von
beiden Geschlechtern getragen und heisst hachka (haghka).
. Bei Dobrotwörski: Chdchka oder hachka, Mütze (manKa,
<i>ypajKKa).
Davon: Chdchka asihke, die Mütze abnehmen.
Chdchka korb, die Mütze aufsetzen, aufbehalten.
Chdchka nötekaris, die Ohrlappen der Mütze.
Chaclika ömjms, die Köpfchen an der Mütze (zur Ver
zierung).
Chdchka tebä, der Aufschlag, die Verbrämung an der
Mütze.
Der Bogen der Ainu wird aus dem Holze des Baumes
konke-ni ,Beinholz' oder iro-maki verfertigt. Vergiftung der
Pfeile mit Eisenhut wurde nicht beobachtet.
Emus heisst das Schwert. Makiri ist ein Messer. Es
wurde davon S. 354 gesprochen.
Der Seehund wird mit der Harpune leite gejagt. Sowohl
Männer als Frauen rauchen Tabak, die letzteren fortwährend.
Die Pfeifen (kiseri), ein einheimisches Product, werden aus
einem einzigen Stücke weissen Holzes geschnitten, der Kopf
wird mit weichem Metall überzogen.
Musikwerkzeuge scheinen ausschliesslich bei Frauen in
Gebrauch zu sein. Es giebt zwei Arten von Maultrommeln
(mbkuni), die eine von Holz, die andere von Santan-Metall.
Man bringe daraus sehr angenehme Töne hervor.
Was das Wort mokuni betrifft, so findet sich sonst nur
mokkuri (jap. kutsi-bi-wa) , eine Maultrommel. In Batchelor’s
Vocabularium: Mukku, a musical Instrument.
Tonkare oder Tokari, schon unter den Abbildungen er
wähnt, ist eine Laute von der Gestalt eines Schiffes, mit fünf
Untersuchungen über Ainu-Gegenstände.
407
Saiten und zwei Stegen. Das Spiel auf dieser Laute scheine
äusserst einfach zu sein. Ein Ainu sagte, dass man russische
Lieder dazu singe.
Die Hütten der Ainu bestehen aus einem Dache von
Strohmatten, welche einen rohen Bau von Holzklötzen über
decken. Sie haben gewöhnlich ein Vorhaus oder einen Eingang,
welcher gross genug ist, um daselbst Wassereimer und andere
Hausgeräthe hinstellen zu können. Das hier und dort von einem
Fenster (puyara) erleuchtete Innere hat einen gedielten Fuss-
boden und riecht von Bauch. In der Mitte befindet sich der
Herd, wo ein Holzfeuer brennt, dessen Rauch durch eine Dach
öffnung (ebenfalls puyara ,Fenster' genannt) hinausgeht. Ein
russiges altes Weib sieht man an dem Herde ihre Pfeife rauchen
und Alles, was vorgeht, überwachen.
In der fernen Ecke zur Linken seien die Familiengüter,
die gefirnissten Kästen (shindoko) und andere Erbstücke des
Hauses. Vor diesen befinde sich der Ehrenplatz für einen
Gast. Um den Herd herum seien einige wenige Inä-u (inawo)
in den Boden eingestochen.
Sintoko oder sintoku (jap. oke) ,Zuber' ist ein japanisches
gefirnisstes Fässchen, mit einem Deckel verdeckt und von Ge
stalt einem Korbe ähnlich, welches zur Aufbewahrung von
Reiss und anderen Gegenständen dient.
Kemä koru sintoko, eine Kufe mit Füssen.
Kemä o sintoko, ein Reisszuber, ein Zuber, an welchem man
Füsse angebracht hat. 0 ist die Abkürzung von omäre, ein-
gelien machen, einlegen.
Porb sintoku, ein grosser Zuber.
Amäm sintoku, ein Reiss- oder Brodzuber.
Sake karä sintoku, ein Zuber zur Weinbereitung.
Ein alter Ainu erzählte, vor langer Zeit habe sein Stamm
die Gewohnheit gehabt, auf Sachalin in unterirdischen Häusern,
welche toichisei hiessen, zu leben.
Toi-tise bedeutet: Erdhaus. Für tise oder tise ,Haus' sagt
man auch tsise, Sise, auf Jezo Sisei.
Im Frühlinge verlicss man diese Häuser und lebte über
der Erde, bis Frost und Schnee die Menschen wieder zwangen,
in diesen unterirdischen Wohnplätzen Schutz zu suchen. Diese
Wohnorte seien überdachte Gruben, keine Höhlen gewesen.
408
Pfizmaier.
Ueberbleibsel ähnlicher Gruben finde man noch immer in der
Nähe des neuen Museums zu Sapporo, doch wisse man nicht,
ob diese Gruben von den Ainu oder von einem früheren Volks -
stamme gegraben wurden.
Die Ainu hätten sehr wenig Töpferwaare im Gebrauche,
und dieses Wenige hätten sie von den Japanern bezogen.
Ihre einheimischen Geräthe seien von Holz und von der rohesten
Form. Löffel, Schöpflöffel, Fisch- und Reissschüsseln, Tragen,
eine grosse Mörserkeule und ein Mörser zum Zerstossen der
Lilienwurzeln seien fast Alles, was sie besitzen.
Ihre Vorrathshäuser (pu) seien mehrere Fuss über der
Erde auf Pfählen aufgeführte Schuppen. Unter dem Vorraths
hause liege ein Hundeschlitten (sliikeni) für den Winter bereit.
Derselbe sei sehr eng und von leichter Bauart. Die Ausläufer
seien mit Bein beschlagen.
Pu ist das japanische (fu) ,Vorrathshaush
Bei Dobrotwörski: SiJceni, ein Hundeschlitten (ohne Hunde),
ein Schlitten überhaupt. Das Wort ist aus sike ,Last‘ und ni
,Holz‘ zusammengesetzt.
Bärenkäfige (isochisei), gleich dem Vorrathshause (pu)
wenige Schuhe über dem Boden aufgeführt, baut man, um
darin junge Bären aufzuziehen, welche, wenn sie sehr jung
sind, von ihren Herrinnen, den Ainufrauen, gesäugt werden.
Die einheimischen Bären werden bei dem Bärenfeste im
September getödtet.
Isb-tise, wörtlich: Bärenhaus.
Isb ,Bär‘ sagt man hauptsächlich auf Sachalin für das
auf Jezo allgemein gebräuchliche hokujuku oder liokojuk. Zu
bemerken sind die Wörter:
Isb-kotän, das Bärendorf, der Aufenthaltsort der Bären
nach dem Tode.
Isb-kuf, Bärengürtel, der Gürtel, den man dem Bären an
dem ersten Tage des Bärenfestes anlegt.
Iso-öipe, ein länglicher enger Trog, aus welchem der Bär
gefüttert wird.
Ison-dinu. ein auf der Bärenjagd glücklicher Mensch.
Die Namen der Verwandtschaften stimmen mit anderen
Angaben nicht ganz überein.
Das Familienhaupt sei der Grossvater (aSa).
Untersuchungen über Ainu-Gegenstände.
409
Bei Dawydow: Atscha, Oheim In Mo-siwo-gusa
steht atsclia unter den Bedeutungen für ,Vater' (jap. tsitsi).
Der Sohn des Grossvaters (aSa) heisse acabo ; das Kind
des Greises 1 .
Bei Dobrotworski: Acaho oder dSapo, der Oheim [flfijpSL).
Ku-döabo, mein Oheim.
In Mo-siwo-gusa: Atscha-po (jap. rui), eine Verwandtschaft.
Der Enkel des Grossvaters (aca) heisse: ho ,Kind'.
Statt aSa sage man auch onna ,Vater'.
Oiina soll onne heissen. Onne (jap. tosi-joru), alt, bejahrt.
Die Grossmutter heisse sfutschi. Die Mutter heisse mm.
Futtschi (jap. so-ho), die Grossmutter. Sfutschi ist nicht
vorgekommen.
Unu ist gleichbedeutend mit liabo oder hahu, auch cliabu,
chapu ,Mutter'. Scheint auch den Wörtern unarabe, undrachpe,
unarpe, ünachpe ,Amme' zu Grunde zu liegen.
Ein Urgrossvater oder entfernterer Vorfahr heisse ekäs,
und sfutschi,Grossmutter' sei ein allgemeiner Name für ,Ahnfrau':
Ekasi (jap. so-bu), der Grossvater. Bei Dobrotworski:
Ekä§, der Grossvater. In Mo-siwo-gusa auch ikasi.
Der Grossvater und die Grossmutter von mütterlicher
Seite des Enkels (bo) würden von diesem und seinem Vater
beziehungsweise mit den Namen henki und unarabe benannt.
Henge (jap. fu-dai), die Abstammung von väterlicher Seite.
Unara-be (jap. uba), ein altes Weib, auch Grossmutter.
Bei den Ainu werde ebenso wie in Japan zwischen den
Benennungen für ältere und jüngere Geschwister ein Unter
schied gemacht. Der ältere Bruder heisse yubö, der jüngere
Bruder oder die jüngere Schwester heisse akhi. Die älteste
der jüngeren Schwestern heisse turesh.
■hihi oder jupi, älterer Bruder. Man sagt auch jiibu und
jüpu, ingleichen jtipi-lii. Als Adjectivum: der älteste.
Davon jupu-kamiii, der älteste Gott. Derselbe heisst auch
tüe jupi kamixi ,der älteste Hausgott' oder kamüi-pinnisam, wo
bei pinnisam von ungewisser Bedeutung.
Der jüngere Hausgott heisst unci-kamili ,Feuergott‘ und
tsiare-gutst.
Aki (jap. iroto) ist blos Jüngerer Bruder', nicht zugleich
Jüngere Schwester'.
Sitzungsber. d. phil.-hist. CI. CIII. Bd. II. Hft.
27
410
P f i z rha i e r.
Tures (tures, turis), jüngere Schwester. Japanisch imoto.
Früher, vor dem Verkehr mit Japanern, sei es auf Jezo
Sitte gewesen, dass der Sohn den Namen des Grossvaters führte.
Gegenwärtig pflegten Viele einen Namen, welcher nur eine
Sylbe des Namens des Vaters enthält, zu geben; z. B. Yaichi,
Yanosuke, Yataro. In dem angeführten Beispiele sei Yaichi ein
Japaner, welcher eine Ainufrau heiratete, gewesen. Sein Sohn
Yanosuke heiratete ebenfalls eine Ainufrau, und ihr Kind Ya
taro werde als ein achter Ainu auferzogen werden. Der Name
werde dem Kinde nach Vollendung des ersten Lebensjahres
gegeben.
Die oben genannten drei Namen sind sämmtlich japanisch.
Yaichi ist ^ —• (ja-itsi) oder jfc rfj (j^-itsi).
Yanosuke ist £ i» (ja-no suke).
Yataro ist ^ ± (ja-ta-rb).
Die Männer heiraten in der Regel mit zwanzig, die
Frauen gewöhnlich mit achtzehn Jahren. Geld werde von
keiner Seite gegeben oder genommen. Die Frau solle jedoch
ihre Kleidung, Schmuckgegenstände und die kleineren Haus-
geräthe, wie Fischschüsseln (chehechoyene) und Reissschüsseln
(schikaribachojene) mitbringen. Sie bringe auch einige wenige
Matten. Den mit Metallringen und Münzen verzierten Leder
gürtel (kut) erbe sie meistentheils von ihrer Mutter. Ausser
dem werde für sie ein neuer verfertigt.
Die Wörter Sebe-cojene und Sikariha-cojene sind bei den
Abbildungen (Nr. 8 und 9) erklärt worden. Sie sind bei dem
Ainustamm Tsuischikari gebräuchlich.
Wenn ein Mann stirbt, werde seine Witwe' gewöhnlich
das Weib eines seiner Brüder, oder es heirate sie, wenn keine
Brüder da sind, der nächste Verwandte. Vielweiberei gebe es
nicht, doch sei es nichts Ungewöhnliches, ein zweites oder so
genanntes kleines Weib (pon-maSi) zu haben. Es gebe in
Tsuischikari vierzehn oder fünfzehn solche kleine Frauen.
Zwischen der grossen Frau (poro-maSi) und der kleinen Frau
werde kaum ein Unterschied gemacht und scheine es, dass die
Kinder derselben keine andere Behandlung erfahren.
Die bei den Japanern übliche Annahme an Kindesstatt
sei früher wenig bekannt gewesen; jetzt sei sie allgemeiner und
Untersuchungen über Ainu-Gegenstiinde.
411
werde von der Regierung begünstigt, indem man die nördliche
Insel gut bevölkert sehen möchte, um eine Schutzwehr gegen
russische Uebergriffe zu haben.
Die Ainu, ein sehr gesundes Volk, hätten wenig von Krank
heiten zu leiden, obgleich bei ihrer Unreinlichkeit Viele von
einer Art Räude befallen werden, nach welcher das Haupt kahl
werde. Zu Zehrkrankheiten nicht geneigt, litten sie doch an
starker Bronchitis (tan), welche oft tödtlich verlaufe.
Tan ist das japanische (tan), Verstopfung der Brust.
Wassersucht (nitobakifup), woran ihre Trunkenbolde leiden,
und die genannte Bronchitis (tan) betrachte man als die schwersten
Krankheiten.
Netdpaki, der Leib, der Körper. Auch nidobaki, netobake
und nidobagi. Fup oder fupp, Geschwulst.
Minder gefährlich seien die Erkältungen (onkikara) und
die Fieber (nitobakaraka).
Onke, husten, der Husten. Hierzu k'arä, thun. Man sagt
auch ongi und ornki.
Davon onke arakä, die Krankheit des Hustens. Onke
kamili, der Hustengott.
Nitobakaraka ist netopaki arakä, der Leib krank. Man sagt
auch emuiki netdpaki arakä, der ganze Leib krank.
Beulen (fappe), welche Vorkommen, seien etwas lästig.
Fuppe ist aus fup ,Geschwulst* und pe ,Sache* zusammen
gesetzt.
Die Heilmittel seien hauptsächlich vegetabilische. Ab
kochungen zum inneren Gebrauche werden aus den einheimi
schen Gräsern fushkina und kamuikina bereitet.
Fushkina kann fusiko-lcina ,alte Pflanze* bedeuten.
Kamili-kinä, Götterpflanze.
Eine Art getrockneter Auster legt man in laues Wasser,
welches dann abgeseiht und getrunken wird. Die Austern
wuka und ashketa werden auf diese Weise gebraucht. Bei
Wassersucht trinkt man blos die Hälfte dieser Flüssigkeit, die
andere Hälfte wird in Form von Bähung angewendet.
Die Wörter wdka und asliketa wurden sonst nirgends
gefunden.
Es gibt einen kleinen Fisch, Namens ikisatscheppo. Der
selbe wird von den Ainu sehr als ein Mittel gegen Seiten-
27*
412
Pfizmaier. Untersuchungen über Ainu-Gegenstände.
stechen geschätzt. Er wird calcinirt und dann in Form eines
Teiges aufgelegt.
Bei Dobrotwörski: Ikisachöeb, ein achtflächiges kegelför
miges Fischchen. Aus ikisach ,Pfrieme, Bohrer' und Heb ,Fiscld
zusammengesetzt. In iJcisaicheppo Hinzufügung des Diminuti-
vums })o.
Die Ainu von Tsuischikari versichern, dass sie die Sprache
der Ainu von'Oschima nicht verstehen und umgekehrt aueh
von diesen nicht verstanden werden. Man glaube jedoch, dass
es nur einen geringen dialektischen Unterschied zwischen der
Sprache dieser zwei Volksstämme gebe. Er möge sich auf
einige gewöhnliche Wörter und auf die Aussprache beziehen.
Dem gegenüber lässt sich annehmen, dass allen Beobach
tungen zufolge die Mundarten der Ainusprache, besonders
wenn Sachalin in Betracht gezogen wird, bedeutend von ein
ander abweichen, und dass die Behauptung der Ainu von Tsui
schikari wahr ist. Uebrigens ist die Sprache von Jezo bisher
noch weit weniger bekannt als diejenige von Sachalin, welche
durch die Arbeiten Dobrotwörski’s beinahe vollständig zugäng
lich geworden.
Miklosich. Über Goetho's ,Klaggesang von der edlen Frauen des Asan Aga‘. 413
Über Goethe’s ,Klaggesang von der edlen Frauen
des Asan Aga‘.
Geschichte des Originaltextes und der Übersetzungen.
Von
Dr. Franz Miklosich,
wirkl. Mitgliedc der kaiserl. Akademie der Wissenschaften.
Einleitung.
Tn dem 1774 in Venedig gedruckten ,Viaggio in Dal-
mazia“ des Abate Alberto Fortis ist ein ,morlackisches‘ Lied
veröffentlicht: ,Zalostna pjesanca plemenite Asanaginice. 1 Es ist
ein wahres Volkslied, zwar nicht das ,erste serbische Volkslied“,
das Gutenbcrg’s Erfindung aus seiner weltvergessenen Heimat
in die weite Welt getragen, da früher schon von Andrija
Kacic Mioii6 (1690 bis 1760) in dem 1756 1 in Venedig er
schienenen , Razgovor ugodni naroda slovinskoga 1 einige wirk
liche Volkslieder aus der Heimat der Kroaten und Serben
durch den Druck bekannt gemacht worden sind, wenn auch
keines in unveränderter nationaler Fassung: dies gilt auch
von dem Liede vom Vojvoden Janko und von dem von Sekula.
Die Asanaginica wurde von keinem Geringeren als Goethe
deutsch übersetzt und in dieser Übertragung von Herder
1778 in seine Volksliedersammlung aufgenommen. Das Lied
steht nun in Goethe’s Werken und ist dadurch ein Theil der
Weltliteratur geworden.
Der Werth des Liedes , dessen eigenthümliche Ge
schichte und der der Kritik gar sehr bedürftige Text haben
1 Eine frühere Ausgabe soll in Ofen gedruckt worden sein. I. Kukuljovic,
Bibliografia hrvatslta. I. 62.
414
Miklosich.
mich bestimmt dasselbe zum Gegenstände einer Studie zu
machen: dieselbe handelt I. vom Originaltext, II. von den
Übersetzungen.
I. Gesclii eilte des Originaltextes.
Wir besitzen von der Asanaginica einen dreifachen Text:
1. den von Fortis bekannt gemachten, 2. den Vuk’schen und
3. den uns in einer Spalatiner Handschrift aus der Mitte des
vorigen Jahrhunderts erhaltenen.
1. Der Text von Fortis.
Der italienische Naturforscher Abate Alberto Fortis (1741 bis
1803) schöpfte seinen Text unzweifelhaft aus der angeführten
Spalatiner Handschrift: der slavischen Sprache unkundig, ver
dankte er die Übersetzung der Mittheilung halbgelehrter Ein-
gebornen.
Nicht ohne Interesse ist die Frage, wie der italienische
Naturforscher dazu kam, sich um slavische Lieder zu kümmern,
die Niemand der Beachtung werth hielt. Wohl gab es schon
vor Herder Männer, die den göttlichen Funken der Poesie auch
in den Schöpfungen des Volkes erkannten. Man wird jedoch
Fortis kaum Unrecht thun durch die Annahme, dass irgend
eine äussere Veranlassung ihn bestimmt hat, einer Poesie nach
zuforschen, die mit der italienischen seiner Zeit so wenig als
möglich gemein hat: die italienische Volkspoesie hat erst in un
serem Jahrhundert die Aufmerksamkeit der Forscher auf sich ge
zogen. Man hat in der Tliat diese äussere Veranlassung in der Be
kanntschaft mit Percy’s Relics of ancient english poetry zu finden
geglaubt. Sic ist jedoch wohl zunächst in Ossian zx\ suchen,
der dem Mineralogen Fortis durch den Verkehr seiner Mutter
mit Cesarotti nahegerückt wurde. Fortis selbst sagt I. 89: ,Io ho
messo in italiano parecchi canti eroici de’ Morlacchi, uno de’ quali,
che mi sernbra nel tempo medesimo ben condotto e interessante,
unirö a questa mia lunga diceria. Non pretenderei di farne con-
fronto colle poesie del celebre bardo scozzese, cui la nobilth, dell’
animo vostro (gemeint ist Giovanni Stuart, Conto di Bute) donö all’
Italia in piü completa forma, facendone ripubblicare la versione
Über Goetlie's ,Klaggesang von der edlen Frauen des Asan Aga‘.
415
del ch. abate Cesarotti: ma mi lusingo, ehe Ja finezza del vostro
gusto vi ritroverä un’ altra spezie di merito, ricordante la sem-
plicita de’ tempi Omerici e relativo ai costumi della nazione/
Fortis verdient für die Veröffentlichung des Liedes den
Dank aller Freunde der Volkspoesie und muss gegen die
hämische Kritik von Giovanni Lovrich in dessen ,Osservazioni
sopra diversi pezzi del Viaggio in Dalmazia del signor abate
A. Fortis, Venezia, 1776/ in wesentlichen Punkten, namentlich
in dem hier in Betracht kommenden Theile, in Schutz ge
nommen werden.
Xalostna pjesanza plemenite Asan-Aghinize.
Scto se bjeli u gorje zelenoj?
Äl-su snjezi, al-su labutove?
Da-su snjezi, vech-bi okopnuli;
labutove vech-bi poletjeli.
5 Ni-su snjezi, nit-su labutove;
nego sciator Aghie Asan-Aghe.
On boluje u ranami gliutimi.
Oblaziga mater i sestriza;
a gliubovza od stida ne mogla.
10 Kad li-mu-je ranam’ boglie bilo,
ter poruga vjernoi gliubi svojoj:
,Ne gekai-me u dvoru bjelomu,
,ni u dvoru, ni u rodu momu.‘
Kad kaduna rjeci razumjela,
15 josc-je jadna u toj misli stala.
Jeka stade kogna oko dvora:
i pobjexe Asan-Aghiniza,
da vrät lomi kule niz penxere.
Za gnom tergu dve ckiere djevoike:
20 ,Vrati-nam-se, mila majko nascia;
,ni-je ovo babo Asan-Ago,
,vech daixa Pmtorovich bexe.‘
I vrätise Asan-Aghiniza,
ter se vjescia bratu oko vrdta.
25 ,Da! moj brate, velike sramote!
,gdi-me saglie od petero dize!‘
416
Miklosicli.
Bexe mugi: ne govori nista,
vech se mäscia u xepe svione,
i vadi-gnoj ltgnigu oproschienja,
30 da uzimglie podpunno vjenganje,
da gre s’ gnime majci u zatraghe.
Kad kaduna kgnigu prougila,
dva-je sina u celo gliubila,
a due cliiere u rumena liza:
35 a s’ malahnim u besieje sinkom
odjeliti nikako ne mogla.
Vech-je brataz za ruke uzeo,
i jedva-je sinkom raztavio:
ter-je mechie k’ sebi na kogniza,
40 s’ gnome grede u dvoru bjelomu.
U rodu-je malo vrjeme stdla,
malo vrjeme, ne nedjegliu dana,
dobra kado, i od roda dobra,
dobru kadu prose sa svi strana;
45 da majvechie Imoski kadia.
Kaduna-se bratu svomu moli:
,Aj, talco te ne xelila, bratzo!
,ne moi mene davat za nikoga,
,da ne puza jadno serze moje
50 ,gledajucki sirotize svoje.‘
Ali bexe ne hajasce nista,
vech-gnu daje Imoskomu kadii.
Jose kaduna bratu-se mogliasce,
da gnoj pisee listak bjele kgnighe,
55 da-je saglie Imoskomu kadii.
,Djevoika te Ijepo pozdravgliasce,
,a u kgnizi Ijepo te mogliasce,
,kad pokupisc gospodu svatove,
,dugh podkliuvaz nosi na djevojlcu;
60 ,kada' bude aghi mimo dvora,
,neg-ne vidi sirotize svoje/
Kad kadii bjela kgniga doge,
gospoduje svate pokupio.
Svate huppi, grede po djevoiku.
65 Dobro svati dosli do djevoi.ke,
Über Goethe's .Klaggesang von der edlen Frauen des Asan Aga‘.
417
i zdravo-se povratili s’ gnome.
A kad bili aghi mimo dvora,
dve-je chierze s’ penxere gledaju,
a dva smci prid-gnu izliogiaju,
70 tere svojoi majgi govoriaju.
, Vrati-nam-se, mila majko nascia,
,da mi tebe uxinati damo.‘
Kad to gula Asan-Aghiniza,
stariscini svatov govorila:
75 ,Bogom brate, svatov stariscina,
,ustavi mi kogne uza dvora,
,da darujem sirotize moje. 1
Ustavise kogne uza dvora.
Svoju dizu Ijepo darovala:
80 svakom’ sinku nozve pozlachene,
svakoj chieri gohu da pogliane:
a malomu u besieje sinku,
gnemu saglie uboske hagline.
A to gleda junak Asan-Ago;
85 ter dozivglie do dva sina svoja:
,Hodte amo, sirotize moje,
,kad-se nechie milovati na vas
,mojka vascia, serza argiaskoga. 1
Kad to qida Asan-Aghiniza,
90 bjelim ligem u zemgliu udarila;
u püt-se-je s’ dusciom raztavila
od xalosti gledajuch sirota.
30. L’ originale: Afiinchc prenda con piena liberta coro-
nazione (da sposa novclla), dopo die sark ita con esso della
raadre ne’ vestigj.
36. Dovrebbe dire odjeliti se, separarsi; nia la misura
del verso decasillabo non lo permette, qnantnnque lo richieda
la buona sintassi.
45. Imoski, 1’ Emota dei bassi geografi greci ; lnogo forte,
tolto a’ Turchi nell’ ultima guerra.
47. L’originale: ,Deh! cosi non debba io desiderarti!' che
vale a dire ,cosi viva tu a lnngo, ond’ io non ti desideri dopo
d’ averti perdutoh
418
M i k 1 o s i c h.
72. Uxinati non signilica propriamente ,cenare‘, ma ,far
merenda', il che mi sarebbe stato difficile da esprimere non
ignobilmente.
92. La mancanza di caratteri adattati mi ba costretto a
usare della lettera z nostra, in luogo della slavonica, ch’ equi-
vale al £ greco; lo banno perb fatto molti altri prima di me
senza scrupolo, nel cbe mi e sembrato di doverli seguire a
preferenza di quell i, cbe usano della lettera s alta. Non ho
raddoppiato lettere, per uniformarmi all’ ortografia de’ mano-
scritti slavonici piü anticbi.
2. Der Vuk’selie Text.
Der Yuk’sche Text beruht auf dem von Fortis, von dem
er sich durch eine nicht geringe Anzahl von grossentheils
unberechtigten Änderungen unterscheidet. Vuk, der bei
seinen Reisen in Dalmatien von diesem Liede beim Volke keine
Spur auffinden konnte, hat den Text von Fortis serbisirt.
Dass das Lied den Serben von jeher als ein Volkslied bekannt
gewesen sei, ist eine grundlose Behauptung.
Hasanaginica.
Sta se b’jeli u gori zelenoj?
Al’ je snijeg, al’ su labudovi?
Da je snijeg, vec bi okopnio,
labudovi vec bi poletjeli.
5 Nit’ je snijeg, nit’ su labudovi,
nego Satoi' age Hasan-age.
On boluje od ljutijeh rana.
Oblazi ga mati i sestrica,
a ljubovca od stida ne inogla.
10 Kad li mu je ranam’ bolje bilo,
on poruci vjernoj ljubi svojoj:
,Ne cekaj me u dvoru b’jelomu,
,ni u dvoru, ni u rodu momu.‘
Kad kaduna r’jeöi razumjela,
15 jos je jadna u toj misli stala,
Über Goethe's .Klaggesang von der edlen Frauen des Asan Aga 1 .
jeka stade konja oko dvora;
tad pohjeze Hasanaginica,
da vrat lorni kule niz pendSere;
za njom t.rSe dv’je cere djevojke:
20 , Vrati nam se, mila majko nasa!
,Nije ovo babo Hasan-aga,
,ve6 daidza Pintorovic beze. 1
I vrati se Hasanaginica,
ter se vjesa bratu oko vrata:
25 ,Da moj brate, velike sramote!
,gdje me Salje od petero djece!‘
Beze muci, nista ne govori,
vec se maSa u dzepe svione,
i vadi joj knjigu oproscenja,
30 da uzimlje potpuno vjenSanje,
da gre s njime majci u natrage.
Kad kaduna knjigu proubila,
dva je sina u Selo ljubila,
a dv’je cere u rumena lica,
35 a s malahnim u beHci sinkom
od’jelit’ se nikako ne mogla,
vec je bratac za ruke uzeo,
i jedva je s’ sinkom rastavio,
ter je mece k sebi na konjica,
40 s njome grede dvoru bijelomu.
U rodu je malo vrjeme stala,
malo vr’jeme, ni nedjelju dana,
dobra kada i od roda dobra,
dobru kadu prose sa svih strana,
45 a najvihe Imoski kadija.
Kaduna se bratu svomu moli:
,Aj talco te ne zelila, braco!
,nemoj mene davat’ ni za koga,
,da ne puca jadno srce moje
50 ,gledajuci sirotice svoje.‘
Ali beze nista ne hajase,
vec nju daje Imoskom kadiji.
Jos kaduna bratu se moljase,
da napiSe listak bjele knjige,
420
Miklosich.
55 da je salje Imoskom leadiji:
,Djevojka te l’jepo pozdravljase,
,a u knjizi l’jepo te moljase:
,Kad pokupis gospodu svatove,
,i kad podjes njenom b’jelu dvoru,
fiO jdug pokrivaS nosi na djevojku,
,kada bude agi mimo dvora,
,da ne vidi sirotice svoje ‘
Kad kadiji b’jela knjiga dodje,
gospodu je svate pokupio,
65 svate kupi, grede po djevojku.
Dobro svati dosli do djevojke,
i zdravo se povratili s njome;
a kad bili agi mimo dvora,
dv’je je cerce s pendzera gledahu,
70 a dva sina pred nju izhodjahu,
tere svojoj majci govorahu:
,Svrati nam se, mila majko naSa!
,da mi tebe uzinati damo.‘
Kad to cula Hasanaginica,
75 starjesini svata govorila:
,Bogom brate, svata starjesina!
,ustavi mi konje uza dvora,
,da darujem sirotice moje/
Ustavise konje uza dvora.
80 Svoju djecu Vjepo darovala:
svakom sinu noze pozlacene,
svakoj cm cohu do poljane;
a malomu u beiici sinku,
njemu salje uboske lialjine.
85 A to gleda junak Hasan-aga,
pak dozivlje do dva; sina svoja:
,Hod’te amo, sirotice moje!
jcad se ne ce smilovati na vas
,majka vasa srca kamenoga/
90 Kad to cula Hasanaginica,
b’jelim licem u zemlju ud’rila,
uput se je s duSom rastavila,
od zalosti gledajuc sirote.
Über Goethe's ,Klaggesaug von der edlen Frauen des Asan Aga‘.
421
Noch viel einschneidender und noch weniger zu recht
fertigen sind Vuk’s Änderungen in der Pesnarica vom Jahre
1814. Vers 15: jo st stajaSe ic tugi velikoj26. ,gdi me tera od
petoro dece‘. 30. 31. ,da odlazi svojoj staroj majci, i da s’opet
moze preudati‘ usw.
3. Der Text der Spalatiner Handschrift.
Herrn Professor L. Zore in Ragusa verdanke ich die
Mittheilung einer aus dem vorigen Jahrhundert stammenden
Handschrift von sechs Octavblättern, auf welche der Text von
Fortis zurückzuführen ist. Diese Handschrift, die wahrscheinlich
im Gebiete von Spalato entstanden ist, die man daher füglich
die Spalatiner Handschrift nennen kann, bietet einen Text, an
dem der Conjecturalkritilcer seine Kunst zu üben keine Ver
anlassung hat. Uber diesen Text kann nicht hinausgegangen
werden: er ist für uns die letzterreichbare Form des Liedes, in
welchem wir allerdings einiges dunkel finden und es zu erklären
suchen werden. Daran, dass Fortis das Lied aus dem Munde
des Volkes aufgezeichnet habe, ist nicht zu denken: dies ist wohl
geraume Zeit vor seiner dalmatinischen Reise von einem Unge
nannten geschehen. Noch weniger statthaft wäre die Annahme, der
Spalatiner Text beruhe auf einer Übersetzung aus Fortis. Die
Handschrift ist Eigenthum des Herrn Dujam Sreeko Karaman.
Sto se bili u gori zelenoj?
al su snizi, al su labutovi?
da su snizi, vec bi okopnili,
labutovi vec bi potetili:
5 ni su snizi, nit su labutovi,
nego öator age Asan age.
On boluje u ranami ljutim;
oblazi ga majka i sestrica,,
a ljubovca od stida ne mogla.
10 Kad li mu je ranam bolje bilo,
ter poru£a virnoj ljubi svojoj:
,Ne öekaj me u dvoru bilomu,
,ni u dvoru, ni u rodu momu.‘
Kad kaduna rici razumila,
15 jos je jadna u toj misli stala,
jeka stade konja oko dvora,
i pobize Asanaginica,
da vrat lomi kule niz penzere;
za njom tr&u dvi cere divojke:
20 ,Vrati nam se, mila majko naka,
,ni je ovo babo Asan ago,
,vec daiza Pintorovic beze/
I vrati se Asanaginica,
ter se visa bratu oko vrata:
25 ,Da moj brato, velike sramote,
,di me Salje od petero dice.‘
Beze muH, ne govori niSta,
vec se masa u zepe svione,
i vadi njoj knjigu oproScenja,
30 da uzimlje podpuno vin&anje,
da gre s njime majci uza trage.
Kad kaduna knjigu prouöila,
dva je sinka u Selo ljubila,
a dvi cere srid rumena lica;
35 a s malaknim u beSici sinkom
odilit se nikako ne mogla,
vec je bratac za ruke uzeo,
i jedva je s sinkom rastavio,
ter je mece k sebi na konjica,
40 s njome grede k dvoru bijelomu.
U rodu je malo vrime stala,
malo vrime, ni nedilju dana,
dobra kado i od roda dobra,
dobru kadu prosu sa svi strana,
45 ja najvece imoski kadija.
Kaduna se bratu svomu moli:
,Aj tako te ne zelila, braco,
,ne moj mene davat za nikoga,
,da ne puca jadno srce moje,
50 ,gledajuci sirotice svoje.‘
Ali beze ne ajaSe niSta,
vec je daje imoskom kadiji.
Jos kaduna bratu se moljaüe,
da njoj pike listak bile knjige,
Über Goethe’s ,Klugges:ing von der edlen Frauen des Asan Aga*.
T£‘!) äi ('
.H-y .{q
55 da je Salje imoskom kadiji:
, Divojka te lipo pozdravlja.se,
,a u knjizi lipo se moljase,
,kad pokupiS gospodu svatove,
,dug podkluvak nosi na divojku;
00 ,kada bude agi mimo dvore,
,nek ne vidi sirotice svoje.‘
Kad kadiji bila knjiga dodje,
gospodu je svate pokupio,
svate kupi, grede po divojku,
55 äug podkluvak nosi na divojku.
Dobro svati dosli do divojke,
i zdravo se povratili s njome;
a kad bili agi mimo dvore,
dvi je cere s penzere gledaju,
70 a dva sina prid nju izodjaju,
tere svojoj majci govoraju:
,Vrati nam se, mila majko nasa,
,da mi tebi uzinati damo.‘
Kad to Sula Asanaginica,
75 stariSini svatov govorila:
,Bogom brate! svatov stariiina!
,ustavi mi konje uza dvore,
,da darujem sirotice moje. 1
Ustavise konje uza dvore,
80 svoju dicu lipo darovala,
svakom sinku nozve pozlacene,
svakoj ceri 6ohu do poljane,
a malenu u beSici sinku
njemu salje uboSku aljinu.
85 A to gleda junak Asan ago,
ter dozivlje do dva sinka svoja:
,Ote amo, sirotice moje!
,kad se nece smilovati na vas
,majka vaSa srca ardjaskoga/
90 Kad to cula Asanaginica,
bilim licem zemlji udarila,
u put se je dusom rast.avila
od zalosti gledajuc sirota.
424
Miklosicli.
Anhang.
Auf den folgenden Blättern erscheinen die in der Spala
tiner Handschrift enthaltenen drei Lieder abgedruckt, und
zwar in der Schreibung des Originals. Es geschieht dies,
damit der Leser die Richtigkeit meiner Transscription der Asana-
ginica beurtkeilen könne. Es bietet ferner der Text dieser
Lieder einige nicht uninteressante sprachliche Eigenthiimlich-
keiten. Schliesslich ist das erste der Lieder eine beachtens-
werthe Variante eines durch Vuk bekannt gemachten Liedes.
Vor allem ist zu bemerken, dass die Handschrift Kürzen
und Längen, wenn auch nicht alle, bezeichnet.
Die Kürze " und ' w r ird durch Verdopplung des folgenden
Consonanten ausgedrückt: alli. bratta. brattzu. brattia, bracchia.
kadda. mallo. padde. svatte. etto. jeccha sonus. nebbo. neggo.
sebbe. tebbe, tebbi. trecchi. vecchie, vecch. zette, zeppe. dizzu. inno.
knjiggu. milla. millos. pitti. sitti. svittom. viddi. griotta. morre
potest. onni. roddu (rodu). sramotta. toddor. togga. ovvo. budde.
culla. drugga. duggu. kuppi colligit. Abweichend ist kopitto
(kbpito).
Die Länge eines Vocals wird durch - bezeichnet, a) In
den Stämmen: bäbo. bräto. dräga. gräda. mläde. päsa. säma.
stäla (aus stojala■). vrät. bile. dite. llca. pir. pita. svlte lucent.
küs. püte. b) In der Declination und Conjugation. a) In der
Declination: sg. gen. f. dice. knjige. sramote. pl. gen. dänä.
divojäka. iljäda. prijateljä. sirötä. stränä. sväta. ustä. ljudi. Man
beachte svatöv und svatöva. Numeralia: dvä. dvl. tri. Prono
mina: ml. vl. näs. väs. njü. ovö. Zusammengesetzte Adjectiv-
forinen: zarkö. jadnö. milla. vi§e. tezke. drugü. rnili. pl. gen.
goleml. svl. jednakh sa svl stränä. ß) In der Conjugation: praes.
bili. moli. mucl. oblazl. veil. vidi. pucä. visä. kunü, kunnü: serb.
künü. crne. imäde. nece. Durch den Accent erkennt man gle-
däju III. 69 und izodjäju 70 als Imperfecta. Abweichungen:
göri III. 1. mäsa IH. 28. mä&i I. 188. 202. näs I. 46. vödi
ducit I. 213. divojkee I. 2 ist divojke.
Das partic. praet. act. II. lautet auf o und auf a aus:
napravia. nauiia. pasa (pash). polozia. posidnuja. privaria. udria.
zania (zanesh) usw.
Über Goetlie's ,Klaggesang von der edlen Frauen des Asan Aga‘.
425
Man beachte Formen wie besidkajo I. 199. posidnuja 81.
poznavajo 89. uztegnujo 110. 111. und izniSe I. 171. zanio 103.
zania 87.
Praefixe werden regelmässig von den Verben durch
getrennt: od-govara. Ebenso za-uknica usw.
Pisma 1.
Prosio-je sarblschi czar stipane
u Legenu divojchee Rosanche.
devet godin pod prstenom stala.
cadse svrsi deveta godina,
5 cgnign pisu legensca gospoda,
terje sagliu srblscom czar-stipanu:
,Da nas zette, srblschi czar-stipano,
,cuppi sväta, colicoti drago,
,alli ne-moj dvä tvoja necliiaca,
10 ,dvä necliiaca, dvä Voinoviclna:
,u vinu-su varle varavize,
,u junastvu varle inadxije,
,a brez crvi nechie pitti vina.‘
Cad-li czaru bila cgniga dogie,
15 sam govori, a sam od-govara:
,Daj-mi, boxe, uginit veseglia,
,pogubi-chiu dvä moja necliiaca,
,u Vugaju dvä Voinoviclna/
Cuppi svatte, znane i ne-znane,
20 al ne zove dvä svoja necliiaca.
Onni svojoj majci govorise:
,0 starke, milla majco nasa,
,ovvü, majco, bit mani nemore,
,da näs ujge ne-chie na, veseglie:
25 ,nicco-nas-je o-mrazio s-gnime.‘
A gnima-je govorila majca:
,Sinei moji, ludovat ne-mojte,
,da ne-chiete ujzu na veseglie:
,bi-Ui bila od boga griotta,
30 ,a od gliudi velica sramotta
A onni-su govorili majci:
Sitzungsber. d. phil.-hist. CI. CIII. Bd. II. Hft,
28
426
Mi kl o sich.
,Caco-chiemo mi ot-ichi, majco,
,ne-zove-nas na pir ni u svatte,
,a sto-bi-nam recao daixa,
35 ,da-smo dosli Ic-gnemu na veseglie
.za cms liba i za casu vina?
,jer ne-znanu nigdi mista ne-jma.‘
Jos-je sincorn majcg govorila:
, Vammi sind jesti srichia dobra,
40 ,vl imate bratta i trechiega,
,pri ovzam-je u Vugjaj planini.
,Svac-ga lifali, da-je dobar junak,
,za tri copja da u nebbo scage.‘
To-su sind majcu poslusali,
45 brattzu svomu pisu cgnigu tancu:
,Aj Millose, näs milii braine,
,ostav ovze, oddi dvoru svome,
,bile-smo-ti sagradili dvore.‘
Cad Millosu bila cgniga dogie,
50 Millos rujno vince izpiase
sarno trista svoizi gobana;
gobanoni-je svoim govorio:
, Vince pijte, i ovze pazite,
,a ja gredem bilu dvoru mome;
55 ,od bracchie-mi bila cgniga. dogie,
,da-su bile duore sagradili/
/ po-side dobra cogna svoga,
ter ot-igie bilu dvoru svome.
Ne-umide po-znavati dvore,
00 al prida-gne brattia iz-setase,
u bile-ga dvore u-vedose,
Millosu-su bracchia govorila:
,Aj Millosu, nasc milii brajene,
,nas daixa po-cupi svatove.
05 ,Oddi, brato, da sagliemo tebbe,
,tebbe ne-chie po-znati daixa,
,jer-te nicad ni vidio ni-je.‘
Millos bracchi svojoj od-govara:
,Ja-chiu ot-ich, milla bracchio moja.‘
70 Sedlaju-mu cogna po-tajnoga,
Über Goethe's ,Kinggesang von der edlen Frauen des Asan Aga‘.
sedlaju-ga sedlom srebrnime,
za-uzdaju uzdorn po-zlachienom •
pocroise svittom do copitta,
varhu toga rnrcorn medvidinom,
75 da-se dobra i ne-vidi cogna,
nec-se cognu pod-gnom occi crne;
a na-braza scherlet i cadifu,
na bedrizu chiordu o-covanu;
po-criju-ga duggom cabanizzom,
80 dvä arsina po-zemgli-se vuge.
Millos dobra cogna po-sidnuja,
po-cognu-je copje po-losia,
a u ruche od zlata buzdovan.
Millosa-su bracchia svitovala:
85 ,Cad budete croz Mragaj planinu,
,da-te nebbi sanac pri-varia,
,da-te nebbi dobar cogn za-nia,
,a pod onni czarev alaj-barjac,
,da-te nebbi czare po-znavajo.‘
90 Od-tole-se zdravo po-digose. ■
A cad bise croz Mragaj planine,
iz-agiose vischi calauzi,
mrclom nochzom bez jasna rniseza.
Veli taco czare gospodare:
95 ,Azna-dare, otvor aznu moju,
,ter izvadi dvä camena draga,
,jeda bismo püte u-pravili. 1
Scogilose rnlado azna-darge,
czarevu-je aznu o-tvorio,
100 dvä camena dräga izvadio,
po-gnim svati püte u-pravise.
Millosa-je sanac pri-vario,
biase-ga dobar cogn za-nio,
a pod onni czarev alaj-bariac.
105 Veli taco czare gospodare:
,Dobra cogna da losa junaca,
,ni-sam cogna vidio ovaca,
,vecli acco-sam u Voinovichia
To-je Millos croz sanac chiutio,
2S*
428
Mi k los ich.
110 golema.-je cogna uz-tegnujo,
colico-ga laco uz-tegnujo;
modar plamen iz ustä udrio.
Cognem doode dvi delie mlade:
,Prodaj cogna, bugarine jedan,
115 ,dacchiemoti dvä ducata za-gne.‘
Millos mugl, ne-govori nista,
vech-ji bije zlatnim buzdovanom,
colico-ji laco udarase,
udigl czarnoj zemgli sastavase.
. 120 Molemu-se dvi delie mlade:
,Ne-udaraj, milli gospodare,
,jer vidim.o, daje cogniz za-te.‘
Svi -su svatti sitti i piani,
alli ni-je Millos dite mlado,
125 vecchie igle po voj(s)ci czarevoj,
a ischiuchi ajgibase mlade:
,Daj-mi jisti, ajgibasa mladi.‘
Ggnemu veil czarev ajgibasa:
,Bis od-tolem, budalino jedna,
130 ,ni-je ovde tasa darvenoga,
,iz-sta-si-se jisti na-ugio,
,vech-su ovde sve srebarni saani,
jz-sta jidu svattovi gospoda ‘
To Millosu varlo xao bilo,
135 uz obraz-ga rucom udario,
colico-ga udario laco,
dvä cutgnamu poletise zuba
i dva vrutca crvi iz obraza.
Pita pitti Millos dlte mlado:
140 ,Daj-mi pitti, czarev ajgibasa. 1
Gnemu veli czarev ajgibasa:
,Bix od-tolem, budalino jedna,
,ni-je ovde vlasche bundurie,
,stono-si-se pitti na ugia,
145 ,vecch-je ovdu slatche malvasie,
.stonno piju svattovi gospoda ‘
To Millosu varlo xao bilo,
udara-ga s-zlatnim buzdovanom,
Über Goetlic's ,Klaggesang von der edlen Frauen des Asan Aga‘.
429
molimu-se czarev ajgibasa:
150 ,Ne-udaraj, milli gospodare,
,dacchiemo-ti pitti, sto-ti drago,
,i pro-minit vino svacojaco
Cad-su dosli Ica Legenu gradu,
iz-setala legensca delia:
155 ,Co-je ovdi srbl(s)chi czar-Stipane,
,ne-damo mu divojehe Rosanche,
,do-gim k-meni na mejdan iz-age.‘
Od dvanajest igliada svattöva
ne-nage-se golema delia,
160 vech-se scocci Millos dite mlädo,
gge-mu veil legensca delia:
,Bix o-tolem, budalino jedna,
,ne-plasi-mi dobra cogna moga
,s-tome tvojom duggom cabanizom‘
165 Millos dobra cogna na-pustio,
svoju, svitlu chiordu po-vadio,
za-taenieu glavu odsicao,
ter-je nosi czaru pod cadore:
,Etto, czare, glava za-tocnica.‘
170 Jos-gnim drugglii zacon postavise:
iznise-gnim na copju jabucu:
,Co-je ovdi srbl(s)chi czar-Stipane,
,ne-damomu divojehe Rosanche,
,doc u-strili na copju jabucu,
175 ,i pade mu u nidarza säma.‘
Od dvanajest igliäda svatova
ne-nagiese golema delia,
vech-se scoggi Millos dite mlado,
brzo svitlu strilu na-pravia,
180 i u-strili na copju jabucu,
i padde-mu u nidarza säma.
Jos gnim trecclii zacon postavise:
iz-vedu-gnim devet divojäca,
svi jednacht, u jednim aglinam,
185 ter govore legensca gospoda:
,Co je ovde srblsclii czar-Stipane,
,nech u-zimglie divojeu Rosancu;
430
Miklosich.
,al acco-se coje drugghe mäsi,
,nit-che ot-ich ni od-vest divojche. 1
190 Od dvcmajest igliäda svattova
ne-nage-se golema delia,
coji-bi-se tome do-mislio,
vecch-se scoggi Millos dite mlado,
s-sebbe baza duggu cabanizu,
195 vas-on sinu cao sunze xarcö,
ter prostire sarene azdije,
po-gnoj prosu spenzu i prstenche,
s-bedrizeje chiordu po-vadio,
divojcam-je mladim besidcajo:
200 ,Coja-je ovdi divojca Rosanca,
,nec u-zimglie spenzu i prstenche;
,al accose coja drugga mäsi,
,osta-che-joj na azdiji ruea.‘
Ponizno-se zemgli na-smiala,
205 pri-stupila, s-cuppi prstenove,
a osam-ji bigne ka Legenu,
a za gnima Millos dite mlado,
ter do-ziva svatte vitezove:
,Tu imäde golemi delia,
210 ,a coj-se ni-su o-xenili,
,sad-se ovde o-xenit morete
,na vesegliu czara gestitoga/
Ujnu vödi czaru pod gadore:
,Etto, czare, lipota divojca/
215 Czar-ga zove za divera mlada,
a on svome ujzu od-govara:
,Ni-sam togga gujo, ni viddio,
,da-je neckiac ujzu za divera;
,etto-ti ujna, a ne-tribovala-ti!
220 jer-bi boglie, da-je gliuba moja,
jere-sam-je junastvom do-bio.
,Vech oddimo bilu dvoru momu,
jesti onde Palasco vojvoda:
,cad-je sa-mnom bile ovze pasa,
225 ,daleccomi odmetnu camenom,
,pobogli-je on od mene junacd
Über Goetbe's ,Klaggesang von der edlen Frauen des Asan Aga‘.
431
Pisma 2.
Hfalia-se begh Filipovichu
u Glamoqu svoim priategliem:
,Sto-mi lifale Toddor Latinina,
jStogga lifale, da-je dobar junac!
5 ,lcadda-ga-sam ja junac udria
,na srid gräda Zadra bieloga,
,a uz obraz s-xenscom za-usnizom.‘
U Toddora dosta priategliä,
priategliä, vecchie pobratima,
10 ter Toddoru bilu cgniggu pisu:
,A ne-znas-li, Toddor Latinine,
,da se hfali beg Filippovichiu,
,da-je tebbe junac udaria
,na-srid Zadra grada bieloga,
15 ,a uz-obraz s-xenscom za-usnizom.‘
Cad Toddoru bila cgnigga dogie,
onnu stije, brxje druggü pise,
ter-je saglie beg-Filippovickiu:
,Qujo jesam, da-si-se lfalio,
•20 ,da-si junac udario mene,
,a uz obraz s-xenscom za-usnizom.
,Nec bog znade, vidio-te nisam,
,a cad velis, da-si dobar junac,
,za-zivam-te na junaschi mejdan,
25 ,qecachiu-te vise Zadra grada,
,a cod bila turna Mestrovichia. 1
Cad-li begu bila cgnigga dogie,
viddi, da-se na inno ne morre,
od-pravglia-se na junaschi mejdan.
30 Mlada begga zaclignala majea:
,A taco te ne-xelila, sinco,
,cojem vlaku padnes na conacu,
,ne-gini-mu nicacva zuluma,
,da ne-cunü vlasi siromasi,
35 ,jeda-bi-te pri-gecala majea. 1
A-li bexe i ne mari nista:
cojern vlaku padde na conaclie,
onim coglie ovce iz pod zvona
i biele ganze, cod ovaza,
40 i gliubi-im na oggi divojche,
a da vlasi bilim mummom svite.
Vrlo cunnü vlasi siromasi:
,Oddi tamo, begh Filippovichiu,
,ti mejdana toga ne do-bio,
45 ,nit-te tvoja prigecala majca!‘
Cadsu dosli k-turnu Mestrovichia,
juris gini beg-Filippovichiu,
ter do-zivglie Toddor Latinina:
,Drxi-me-se, Toddor Latinine,
50 ,a mojega zlatna buzdovana
,meggiu oggi u gelo junasco. 1
1 udara heg-Filippovichiu,
udarao Toddor Latinina,
al-mu ni-je tesche rane dao.
55 CJini juris Toddor Latinine,
ter do-zivglie beg-Filippovichia:
,Darxi-me-se, beg-Filippovichiu,
,a mojega zlatna buzdovana
,nixe päsa po vise svitgnaca
00 I u-dari Toddor Latinine,
u-dario beg-Filippovicliia
nixe päsa po vise svitgnaca.
Mrtav bexe k-cernoj zemgli padde,
dostixe-ga cletva siromasca.
Pisma 3. (Asanaginica.)
Sto-se bili u göri zelenojt
al-su snizi, al-su labutovi?
da-su snizi, vech-bi o-copnili,
labutovi vech-bi poletili:
5 ni-su snizi, nit-su labutovi,
neggo gator aglie Asan-aghe.
On boluje u ranami gliutim;
oblazl-ga majca i sestriza,
a gliubovza od stida ne-mogla.
Über Goethc's ,Klaggesang von der edlen Frauen des Asan Aga‘.
433
10 Cad-li-mu-je ranarn boglie bilo,
ter po-ruga virnoj gliubi svojoj:
,Ne gecaj-me u dvoru bilomu,
,ni u dvoru, ni u rodu momu.‘
Cad caduna rigi rasumila,
15 jos-je jadna u toj misli stäla,
jeccha stadde cogna occo dvora,
i pobixe Asan-aghiniza,
da vrät lomi erde niz penxere;
za gnom trgu dvi cliiere divojehe:
20 , Vrati-nam-se, millä majeo nasa,
,ni-je ovvo bäbo Asan-ago,
,vech daixa Pintorovich hexe. 1
i vratise Asan-agkiniza,
ter-se visä bratu, occo vräta:
25 ,Da moj bräto, veliche sramote,
,dime saglie od petero dize.‘
Bexe mugl, ne govori nista,
vech-se mäsa n xeppe svione,
i vadi-gnoj cgniggu oproschienja,
30 da uzimglie podpuno vincagne,
da gre s-gnime majei uza-traghe.
Cad caduna cgnigu pro-ugila,
dva-je sinca u gelo gliubila,
a dvi ebnere srid rumena liza;
35 a s-malacnim u besici sincom
od-dilitse nicaco ne-mogla,
vech-je brataz za rucke uzeo,
i jedva-je s-sincom rastavio,
ter-je mecchie bc-sebi na cogniza,
40 s-gnome grede Jc-dvoru bielomu.
U roddu-je malo vrime stäla,
mallo vrime, ni nedigliu dänä,
dobra cado i od roda dobra,
dobne cadu prosu sa svi stränä,
45 ja naj-vechie imoschi cadija.
Cadunase bratu svomu moli:
,Aj taco-te ne-xelila, brazo,
,ne-moj mene davat za-nicoga,
434
Miklosich.
,da ne-puzzä jadnö sarze moje,
50 ,gledajuchi sirotize svoje.'
Ali bexe na ajase nista,
vech-je daje imoscom cadij.
Jos caduna bratu-se moglicise,
da gnoj pise Hstac bile cgnighe,
55 da-je saglie imoscom cadij:
,Divojca-te lipo pozdravgliase,
,a u cgnizi lipo-se mogliase,
,cad po-cuppis gospodu svatove,
,dugli podcluvac nosi na divojcu;
60 ,cadda budde agglii mimo dvore,
,nec ne-vidi sirotice svoje. 1
Cad cadji bila cgniga dogie,
gospodu-je svatte po-cuppio,
svatte cuppi, grede po divojcu,
65 dug podcluvac nosi na divojcu.
Dobro svatti dosli do divojche,
i zdravo-se po-vratili s-gnome;
a cad bili agglii mimo dvore,
dvije chiere s-penxere gledäju,
70 a dvä sina prid gnü iz-ogiäju,
terre svojoj majci govoraju:
,Vrati-nam-se, milla majco nasa,
,da ml tebbi uxinati damo.‘
Cad to gulla Asan-aghiniza,
75 starisini svattöv govorila:
,Bogom bratte! svattöv starisina!
,ustavimi cogne uza dvore,
,da darujem sirotice moje. 1
Ustavise cogne uza dvore,
80 svoju dizzu lipo darovala,
svacom sincu nozve pozlachene,
svacoj chieri cohu do pogliane,
a mallenu u besici sincu
gnemu saglie uboscu aglinu.
85 A to gleda junac Asan-ago,
ter do-zivglie do dvä sinca svoja:
,Otte amo, sirotice moje,
Über Gocthe's .Klaggesang von der edlen Frauen des Asan Aga k .
435
,cadse nechie s-milovati na väs
majca vasa srza argiascoga. ‘
90 Cad to gula Asan-aghiniza,
bilim licem zemgli udarila,
u put-se-je dusom raz-stavila
od xalosti gledajuch sirötä.
Anmerkungen.
Pisma 1.
v
Lieder von ähnlichem Inhalte sind: Zenidba DuSanova,
Vuk 2. 132. Marjanovid 14. Kacic 119 usw. Milad. 73.
1. 6. srblski: vergl. srtblim, srbbli (snblb) Danicid, Rjec-
nik 3. 147.
2. Legen, d. i. Ledjen, sonst Ledjan. Der Rosanka ent
spricht bei Vuk 2. 132. Roksunda, bulg. bei Kacanovskij 237.
Roksana, bei Milad. 309. Rusanta.
11. u vinu su vrle varavice ist falsch; bei Vuk v. 44: u
picu su teske pijanice; bei Marjan. v. 92: nece vina da piju
rujnoga, dokle corde krvlju ne napoje. Kacid v. 14: u vinu ga
Icabgadzijom kazu.
12. u junastvu vrle inadzije; bei Vuk v. 45: au kavzi
ljute kavgadzije. inadüije, bei Vuk. inat Zank; inadzija Zänker:
türk, (jnadzg.
23. ovo, majko, bit mani ne more. Türk, mani ist Hinder
niss Zenker 802. 3, daher: ,dass wir nicht geladen sind, das
kann kein Hinderniss sein, dass wir dennoch hingehen'. Vuk’s
mani biti komu, Jemand neidisch sein, passt nicht.
29. li in bi li bilo ist mir nicht klar.
51. samo trista svojizi öobana ist wohl: er mit seinen
Hirten, zusammen dreihundert. Vergl. samdrugi, sanitreci.
59. ne umide steht fehlerhaft für ne unide non intravit.
konja potajnoga: sigurase dobre konje svoje, ] koji s’ bili do devet
godina \ u potaji u toplom podrumu, | a za koje nitko znao nije
Volkslied, (konj) nid vidja sunca nit’ mjeseca, van da Usu mlada
u podrumu Volkslied, konj, lcojino ti stoji u potaji Kacid 119.
73. pokroise ist wohl: bedeckten. Vergl. 79.
436
M i k 1 o s i c h.
76. nek se pod njom (pod medvidinom) oSi crne damit
unter der Bärenhaut des Rosses Augen dunkeln, wohl um zu
schrecken.
92. vischi d. i. visci, serb. vjcSti.
113. konjem doode zu Pferde kommen : doode ist zweisilbig
zu lesen.
114. hugarin wohl: Hirt.
115. dacemo ti dva dukata za nje: za nje für za nj. e ist
angefügt wie in tome 164. svome 216. aus svom, svomu, usw.
119. udilj bei Vuk ,semper 1 , bei Stulli ,subito'. Für sasta-
vaSe erwartet man sastavljase.
126. ajcibasa Hauptkoch: Vuk asci, türk. asci.
128. ggnemu für gnemu, njemu.
132. saani oder sani: wenn jenes, so ist säni zu lesen,
bei Vuk sän türk.
143. bundurie, Art Getränk: unbekannten Ursprungs.
145. ovdu ungewöhnlich.
161. gge-mu für gnemu, njemu.
167. zatacniku dem Gegner neben und fürVuk’s zatocnik von
zateci se. Bei zatacnik lässt sich an die Wurzel tzk denken, woher
aslov. tzkimz aequalis, bulg. tzk Paar und tekmena devojtja Kac.
129, serb. utakmice gegeneinander, nsl. tekmovati se aemulari.
175. u nidarca sama in ipsum sinum.
196. azdija langes Oberkleid. Nur im Liede gebräuchlich
Vuk. Das Wort ist türkisch, ich kann jedoch die türkische
Form nicht nach weisen.
199. besidkajo: ein besidkati ist den Wörterbüchern un
bekannt.
200. Zu lesen: ko ja j’ ovdi.
204. zemlji, zu Boden blickend.
210. Zu lesen: a koji se.
219. Vielleicht: eto t’ujna, ne tribovala ti, wodurch der
Vers wenigstens zehn Silben erhält.
223. Palasko scheint gelesen werden zu müssen; es steht
dem Balacko Vuk’s gegenüber.
Pisma 2.
41. mumom fehlt bei Vuk: türk, mum Kerze, Licht.
Über Goetlie's .Klaggosang von der edlen Frauen des Asan Aga 1 .
437
Pisma 3. (Asanaginica).
f. bedeutet Fortis; v. Vuk; h. die Handsehrift. Mit I. II. IH werden die
im Anhänge abgedruckten Lieder bezeichnet.
1. Sto f. h. Sta v.: nirgends ca.
2. al su snjezi f. al su snizi li. al’ je snijeg v.: v. wollte
den auch in 3. und 5. vorkommenden Plural von snig, snijeg
vermeiden und wurde dadurch zu einschneidenden Ände
rungen gedrängt. Zum Schutze des Plurals kann angeführt
werden it. nevi und fz. neiges in den Übersetzungen dieser
Stellen, lat. nives usw. Auch die slavischen Sprachen kennen
den Plur. von snegi,: cech. sn&hy jungm., pol. Sniegi Linde,oserb.
snehi Schneemassen Pfuhl, labutovi li. labutove f. labudovi v.
3. okopnuli f. okopnili h. okopnio v.
6. Sator h. Sator f. v. Das serb. kennt cador neben Sator
Marjan. 8. türk, eadyr. Sador I. 168. Age Asan-age: ebenso
aga Becir-aga, agi Becir-agi Volkslied, heg Ali-beg Juki6 494.
Einen ähnlichen Eingang bietet ein Lied in der Sammlung von
Juki6 350: Sta V proevili jutrom na uranku \ nasred Senja grada
bijeloga \ pred cemerli Iva novom kulorn? [ Da je vila, u gori bi
bila; \ da je zmija, u st’jenam bi bila. Vece evili mali Kadojica usw.
460. Ili grmi, il’ se zemlja trese? | iV se ore nie planine st’jene?]
il’ planine u debelo more? | il’ se vozi po krSu djem jaf \ Niti grmi,
nit’ se zemlja trese, \ nit’ se ore niz planine st jene, | nit’ planine
u debelo more, j nit’ se voze po krsu djemije: \ ve6 pucaju topi
na ostrogu. Bulg. hei Miladin 10 usw.
7. u ranami ljutim li. u ranami ljutimi f. od ljutijeli rana v.
Kroat. lautet der Plural loc. u ranali ljutili, serb. u ranama
ljutima, ljutim, der Plural instr. kroat. ranami ljutimi, serb.
ranama ljutima, ljutim. Im kroatischen Sprachgebiete wird von
der alten Regel häufig abgewichen, indem das serbische gegen
Westen vordringt; man liest: u jednim aljinam I. 184. grob mu
turskim glavam nakitio Marjan. 34. ujala je (zmiju) s bilima
rukami, zaklala je s nozim srebrnima. Volkslied. Selbst im Norden
hört man z bilimi nogami neben z bilimi rukama, ernima ocima,
belima rukama, junabkim rukama Hrvatske narodne pjesine II.
8. 36. Man beachte den Plural dat. vami I. 39. njim I. 170. 171.
182. Sobanoni svojim I. 52. sinkom I. 38. svojim prijateljem II. 2.
-«JUm4« M ^
SEI«!
438 Miklosich.
clivojkam I. 199. ovcam I. 41. ranarn III. 10; den Plural gen.
svatov, godin I. 3.
9. a ljubovca od stida ne mogla. Die Frau konnte die
Scheu vor männlicher Begegnung selbst in diesem Falle nicht
überwinden. Einem Mädchen wird in einem Volksliede nach
gerühmt: muske glave nigda ni vidila sie hat nie ein männlich
Haupt gesehen.
10. ranam h. ranarn’ f. v.
11. ter h. f. on v. poruca h. f. poruci v. PoruSati führt
Stulli aus einem glag. Brevier an: aslov. poracati.
15. Kroat. und ragus. für stajala. stäla III. 15. stala I. 3.
aus * stojala.
18. kule h. f. v. Man erwartet kuli: pojdi kuli na prozore.
i isli su Radulu na dvore. kroat. Volkslied. Vergl. 24. 60. 68.
penzere h. pendzere v. türk, pendzere. Mit penzera vergl. 69. s
penxere, bulg. pendzera-ta Milad. 398.
19. treu h. f. dialektisch für tree. Vergl. prosu 44. dvi cere
h. dv’je cere v. Ebenso 34. 68. Vergleichende Grammatik 2. 216.
21. ago h. d. aga v.
22. daiza h. I. 34. 64. daidza v. serb. daidza. Vergl.
türk. daj§, Onkel mütterlicher neben amudza Onkel väterlicher
Seits; für beides russ. djadja. Dass daiza, nicht daidza zu lesen
ist, ergibt sich aus hexe III. 22. 51. boxe I. 16. brxje II. 17.
dostixe II. 64. uxinati III. 73. xarco I. 195. xao I. 134. 147.
xelila II. 31. III. 47. oxenili I. 210. xeppe III. 28: serb. dzepe.
dz wird durch dx bezeichnet: inadxije I. 12.
26. di h. fl di f. gdje v.
27. ne govori nista h. f. Die gewöhnliche Wortfolge nista
ne govori v. nista ne divani Marjan. 90. niSta ne badira 130. 131.
Doch ne govori nista I. 116. i ne mari nista II. 36. ne ajase
nista III. 51. a on toga nista ne hajaSe. Volkslied.
29. oproschienja h., d. i. oproscenja neben vingagne 30,
d. i. uincane; oproschienja, vjencanje f.: n bezeichnet die Hand
schrift durch gn: kogna, gnoj, kgnigu, lcognica. Vergleichende
Grammatik 1. 407.
30. da uzimlje podpuno vincanje. Der Vers besagt nicht:
dass die Frau frei sei sich einem andern zu ergeben, zu ver
mählen, ,ond’ ella ricoronarsi pienamente possat, sondern, wie
Vuk richtig lehrt, dass die Frau jene Summe erhalte, welche
Über Goetlie's ,Klaggesang von der edlen Frauen des Asan Aga‘.
439
ihr nach türkischem Rechte vor dem Kadi für den Fall ver
sprochen wurde, dass sie verstossen würde. Diese Summe heisst
türk, nikjah parasg, etwa Hochzeitsgeld; gleichbedeutend damit
ist pers. käbin, die bei der Heirath der Frau vom Manne aus
gesetzte Geldsumme, die sie im Falle der Ehescheidung erhält
Zenker 731. 1. Das türk, nikjah ist als nice in das serb. einge
drungen. Der Sinn des Verses war offenbar den Freunden von
Fortis unbekannt.
31. gre III. 31. grade 40. 64. gredem I. 54. u zatrage f.
u natrage v. Die Handschrift bietet uza-trage, was mir das
Richtige scheint: uza trage kann durch Danici6, Sintaksa 550.
551. Vergleichende Grammatik 4. 402 gerechtfertigt werden.
Bei Marjan. 148. liest man uz natrage, 20. u natrage. zatrage
ist ein völlig unbekanntes Wort.
35. malahnim f. v., dies ist vielleicht trotz dem malacnim
der Handschrift richtig.
36. odjeliti f. od’jelit’ se v. odil'it se li.
37. sinJcom f. s’ sinkom v. h. Der Instr. kann hier ohne s
stehen: jerbo du te rastaviti glavom kroat. Volkslied, sinak findet
sich auch I. 27. 39. 44. sind, sinka HI. 33.
39. k sebi; nach v. wäre za-se richtiger.
40. u dvoru bjelomu f.: richtig k dvoru bijelomu h. ni
nedilju dana h.: nicht ein Mal eine Woche. Schon v. hat ne f.
durch ni ersetzt.
44. prosu Vergl. 19.
45. majvede f. najvise v. najvede h.
48. za nikoga f. h.: grammatisch richtig ni za koga.
51. ne hajase nista f. ne ajase nista h. Vergl. 27.
54. da njoj piSe k. da napise v.
56. divojka ist auffallend. Ebenso 64.
58. Nach 58. hat Vuk einen entbehrlichen Vers hinzu
gedichtet: i kad podjes njeriom b’jelu dvoru.
59. podkluvak: podcluvac h.: auslautendes c ist k: barjac
I. 88. 104. junac I. 226. II. 4. 5. 13. 20. III. 85: daneben
junak I. 42. listac HI. 54. sanac I. 86. 102. 109. ts wird durch
z bezeichnet: brataz III. 37. Es ist daher podkluvak zu lesen;
dafür podkliuvaz f. pokrivaS v., das im Wörterbuch durch
,Decke, Bettdecke, stragulum' erklärt wird. Das Wort ist un
bekannt; dass es etwa ,Schleier' bedeutet, ist unzweifelhaft.
440
M i kl os i ch.
Es mag dem türk. öad§r entsprechen in der Bedeutung ,ein den
ganzen Leib bedeckender Frauenschleier“ Zenker 339. 2.
61. nek ne vidi h. da ne vidi v. nek findet sieb so auch I.
76. 187. 201. II. 22. 68. se povratili sie traten die Rückreise an,
ne partir, nicht: ,glücklich kamen sie mit ihr vom Hause wieder“.
69—71. gledaju, izodjaju, govoraju h. gledahu, izhodjahu,
govorahu v.
73. tebi b. tebe f. v.
76. svatov b. f. svata v.
77. uza dvore b. uza dvora f. uza dvora mjesto uz dvor
da se ispuni still v. dvor im plur. ist bekanntlich sehr häufig:
ima u (im’ u) kuci dvore devetere. konje jasu, i dvorima idu
kroat. Volkslied. Vergl. I. 48. 56.
81. sinku h. f. sinu v. nozve b. f. noze v. Das sonst un
bekannte nozve ist coturni bei f., Halbstiefel bei dem Über
setzer von 1775, Stiefel bei Goethe, Lederstrümpfchen bei
Talvj. Vuk denkt an nazuve, wofür im Wörterbuch nazuvice,
verwirft jedoch diese Vermuthung, da türkische Herren der
gleichen nicht trügen. An nozve ist wohl nichts zu ändern,
obgleich wir das Wort nicht kennen. Es scheint mit m,z (nez),
woher auch nizati und nozi>, zusammen zu hangen und kann
,Messerscheide“ bedeuten.
83. malenu h. malomu f. v.
84. ubosku aglinu h., d. i. wohl ubosku aljinu. uboSlce
haljine v.; f. übersetzt: ,ma al picciolo bambin, che giacea in
culla, da poverello un giubbettin mandava;“ der Übersetzer von
1775 bietet: ,dem schickte sie ein Rücklein“; Goethe: ,gab sie
für die Zukunft auch ein Röckclien“; Talvj: ,sendete sie auch
ein seidnes Kleidchen.“ Uboski fehlt bei Vuk ; Stulli hat aus
Ranjina uboski als Adverb in der Bedeutung ,poveramente“.
uboScu kann nicht gelesen werden; auch würde durch Er
setzung des ubosku durch uboscu die Wortfolge sehr ungewöhn
lich werden. Der in der Handschrift stehende Vers ist zu
übersetzen: ,und dem kleinen Söhnchen in der Wiege, dem
sendet sie ein ärmliches Kleid.“ Also dem Theuersten die ge
ringste Gabe!
88. smilovati h. v. milovati f. Man vergleiche ne bi V
mi se mladoj smilovao neben na njeg se je smilovala Mare,
Volkslied.
Über Goetho’s ,Klaggesang von der edlen Frauen des Asan Aga*.
441
89. srcci ardjaskoga h. srea kamenoga v.: arrugginito cor
bei f. lässt rdjavoga vermuthen, dem jedoch die Handschrift
entgegenstclit. Der Übersetzer von 1775 hat ,Brust von Eisen',
Goethe dasselbe, Talvj ,von Stein ein Herz'. Der Handschrift
entspricht noch am besten orjatski, liorjatski, im Wörterbuch
nebulonum; orjat, orjatkinja Marjan. 11., bulg. horijatski, türk,
horijat, griech. yppidv^c.
91. zemlji udarila h. u zemlju udrila f. v.
93. od zalosfi gehört zu se je rastavila, allerdings gegen
die Regel, was vielleicht durch die grössere Pause nach zalosti
gerechtfertigt werden kann.
sirota f. sirütä h. sirote v. Vergl. 50. Der Genetiv ist hier
zu erklären nach Vergl. Grammatik 4. 492. Man beachte
a iscuci ajcibaSe vilade I. 126. den jungen Hauptkoch suchend.
■pro.no je divojke Rosanke I. 2. ter prostire Härene azdije I. 196.
er breitet aus das bunte Oberkleid, pa da vidis budimske kra-
Ijice Jukic 143.
Vuk hat in seinem Text dem altslovenischen r L statt des
kroatischen durchgängig den serbischen Reflex gegenüber ge
stellt, daher djece 26. djecu 79. pred 69. starjeSina 74. 75. für
dice, dicu, prid, starisina bei Fortis und in der Handschrift. Dass
die Volkslieder die Formen nicht streng festhalten, ist bekannt,
daher bijelomu III. 40. für bilonm. Ebenso bijeloga II. 6. 14.
bijeie II. 39. Diese Mengung der lautlichen Formen findet
sich auch sonst in kroatischen Volksliedern: ni idisti u bijele
dvore. ufati je za bijele ruke neben i od sobah i od bilih dvora.
In einem Liede aus der Umgebung von Spalato liest man
dijete neben dvi, prid, priko neben preko usw. Pamjatniki i
obrazey I—IV. 281. dvoru bijelomu neben obesite, svetlo, izgo-
rela und obisise, dvi, tilo, virovala, umrit usw. 195. krvavije
kljuna do oöiju, i krvavi nogu do koljena bei Vuk. Man ver
gleiche die interessanten Bemerkungen von L. Marjanovih II.
Rein kroatische Texte sind nicht sehr häufig. Auch die gram
matischen Formen wechseln ab: svatov 74. 75, wofür Vuk svata
setzt, neben konja 16.
29
Sitzungsbor. d. pliil.-liist. CI. CIII. Bd. II. Hft.
442
Mi klosich.
II. Geschichte der Übersetzungen.
1. Übersetzung von Fortis.
CANZONE DOLENTE
DELLA NOBILE
SPOSA D’AS AN AGA.
Che mai biancheggia la nel verde bosco?
Son nevi, o cigni? Se le fosser nevi,
Squagliate omai sarebbonsi; se cigni,
Mosso avrebbero il volo. Ah! non son bianche
5 Nevi, o cigni cola; sono le tende
D’ Asano, il duce. Egli e ferito, e duolsi
Acerbamente. A visitarlo andaro
La madre e la sorella. Anche la sposa
Sarebbev’ ita, ma rossor trattienla.
10 Quindi allorch’ ei delle ferite il duolo
Senti alleggiarsi, alla fedel mogliera
Cosi fece intimar: ,Non aspettarmi
,Nel mio bianco cortil; non nel cortile,
,Ne fra’ parenti mieid Nell’ udir queste
15 Dure parole pensierosa e mesta
L’ infelice rimase. Ella d’ intorno
Al maritale albergo il calpestio
Di cavalli ascolto; verso la torre
Disperata fuggio, per darsi morte,
20 Dalla finestra rovinando al basso.
Ma i di lei passi frettolose, ansanti
Le due figlie seguir: ,Deh! cara madre,
,Deh! non fuggir; dol genitore Asano
,Non e gia questo il calpestio; ne viene
25 ,11 tuo fratello, di Pintoro il figlio/
Addietro volse a questo dire i passi
D’Asan la sposa, e le braccia distese
Al collo del fratello. ,Ahi! fratcl mio,
,Yedi vergogna! e’ mi repudia, madre
30 ,Di cinque figliP II begh nulla risponde;
Ma dalla tasca di vermiglia seta
Über Goethe's ,Klaggesang von der edlen Frauen des Asan Aga‘.
443
Un foglio trae di libertade, ond’ ella
Ricoronarsi pienämente possa,
Dopo che avrii con lui fatto ritorno
35 Alla casa materna. Allor che vide
L’ afflitta donna il doloroso scritto,
De’ suoi due figliuolin’ baciö le fronti,
E delle due fanciulle i rosei volti:
Ma dal bambino, che giaceva in culla,
40 Staccar non si poteo. Seco la trasse
II severo fratello a viva forza;
Sul cavallo la pose, e fe ritorno
Con essa insieme alla magion paterna.
Breve tempo restovvi. Ancor passati
45 Sette giorni non erano, che intorno
Fu da ogni parte ricercata in moglie
La giovane gentil d’alto legnaggio;
E fra i nohili proci era distinto
L’ imoskese cadi. Prega piagnendo
50 Ella il fratel: ,Deh! non voler di nuovo
,Darmi in moglie ad alcun, te ne scongiuro
,Pella tua vita, o mio fratello amato;
,Onde dal petto il cor non mi si schianti
,Nel riveder gli abbandonati figli ! £
55 11 begh non bada alle sue voci; & fisso
Di darla in moglie al buon cadi d’ Imoski.
Allor di nuovo ella pregb: ,Deh! ahneno,
,(Poich& pur cosi vuoi) manda d’ Imoski
,A1 cadi uit bianco foglio. A te salute
oo ,Invia la giovinetta, e vuol pregarti
,Per via di questo scritto, che allor quando
,Verrai per essa co’ signori svati,
,Un lungo velo tu le rechi, ond’ ella
,Possa da capo appie tutta coprirsi,
65 ,Quando dinanzi alla magion d’Asano
,Passar d’uopo le fia, nfe vcder deggia
,1 cari figli abbandonati/ Appena
Giunse al cadi la lettera, ei raccolso
Tutti gli svati, e pella sposa andiede,
70 II lungo velo, cui chiedea, portando.
29*
444
Mi kl osich.
Felicemente giunsero gli svati
Sino alla casa della sposa; e insieme
Felicemente ne partir con essa.
Ma allor, che presso alla magion d’Asano
75 Furo arrivati, dal balcon mirorno
La madre lor le due fanciulle, e i figli
Usciro incontro a lei. ,Deh, cara madre,
,Tornane a noi; dentro alle nostre soglie
,A cenar vienned La dolente sposa
80 Del duce Asano, allor che i figli udio,
Yolsesi al primo degli svati: ,0 vecchio
,Fratello mio, deh ferminsi i cavalli
,Presso di questa casa, ond’ io dar possa
,Qualclie pegno d’amore agli orfanelli
85 ,Figli del gremho rniod Stettersi fermi
Dinanzi alla magion tutti i cavalli;
Ed ella porse alla diletta prole
I doni suoi, scesa di sella. Diede
Ai due fanciulli bei coturni, d’oro
90 Tutti intarsiati, e due panni alle figlie,
Onde dal capo ai pie furon coperte:
Ma al picciolo bambin, che giacea in culla,
Da poverello un giubbettin mandava.
Tutto in disparte il duce Ashn vedea;
95 E a se chiamö i figliuoli. ,A me tornate,
,Cari orfanelli miei, da che non sente
,Piii pietade di voi la crudel madre
,Di arrugginito cord Udillo; e cadde
L’ afflitta donna, col pallido volto
100 La terra pereuotendo; e a un punto istesso
Del petto uscille l’anima dolente,
Gli orfani figli suoi partir veggendo.
2. Übersetzung vom Jahre 1775.
Klaggesang von der edlen Braut des Asan Aga.
Was ist im grünen Wald dort jene Weisse?
Schnee? oder Schwäne? sei es Schnee: er müsste
geschmolzen endlich sein, und Schwäne wären
Über Goetlio's .Klaggesang von der edlen Frauen des Asan Aga‘. 445
davon geflogen. Weder Schnee noch Schwäne,
5 es sind die Zelten Asans, unsers Herzogs.
Verwundet ächzt er drinnen; ihn zu sehen
kömmt zu ihm seine Mutter, seine Schwester;
die Gattin säumt aus Scham zu ihm zu kommen.
Als er zuletzt die Pein an seinen Wunden
10 gelindert fühlte, liess er seiner treuen
Gemahlin künden: ,Harr’ auf mich nicht länger
,in meinem weissen Hofe, noch bei meinen
,Verwandten!‘ Als das harte Wort die treue
Gemahl vernommen, stand sie starr und schmerzvoll.
15 Schon hört sie um des Gatten Burg den Hufschlag
von Rossen schallen, springt verzweifelnd
den Thurm hinauf, und will vom Fenster stürzend
dem Tod sich geben. Aber ängstlich folgten
zwo zarte Töchter ihrer raschen Mutter,
20 und riefen weinend: ,Mutter, liebe Mutter!
,Ach, fliehe nicht! Es sind nicht unsers Vaters,
,nicht Asans Rosse; komm zurück, dein Bruder,
,der Erbe des Pintoro wartet deiner/
Die Gattin Asans kömmt zurück und windet
25 die Arme um den Hals von ihrem Bruder:
,0 Bruder, sieh die Schande deiner Schwester!
,Mich zu verstossen, mich, die arme Mutter
,von fünf Unglücklichen!' Er schweigt und ziehet
hervor von rother Seide aus der Tasche
30 den Freiheitsbrief, der ihr das Recht ertlieilet,
in ihrem mütterlichen Plause wieder
zurückgekehrt ein neues Ehebtindniss
zu knüpfen. Als die bange Fürstin sähe
das traur’ge Blatt, so küsste sie die Stirne
35 von ihren beiden Söhnlein und von ihren
zwo’n Töchterchen die zarten Rosenwangen;
ach. aber von dem Säugling in der Wiege
vermag die Arme nicht sich loszureissen.
Er reisst sie los, der unbarmherz’ge Bruder,
40 hebt sie zu sich aufs Ross, und kehret eilig
mit ihr zurück zur väterlichen Wohnung,
446
Miklosich.
Nach kurzer Zeit, es waren sieben Tage
noch nicht verflossen, als von allen Seiten,
schön und erhab’ner Herkunft, zur Gemahlin
45 das schöne Fräulein schon erkieset wurde.
Der edlen Freier war der angeseh’nste
der Cadi von Irnosky. Aber weinend
bat sie den Bruder: ,Ach! hei deinem Leben
,beschwör’ ich dich, du mein geliebter Bruder!
50 ,mich keinem andern mehr zur Frau zu gehen,
,damit das Wiedersehen meiner lieben
,verlass’nen Kinder mir das Herz nicht breche!'
Er achtet ihre Beden nichts, entschlossen
die Schwester dem Cadi zur Frau zu gehen.
55 Sie fleht aufs neu: ,Ach, hist du unerbittlich,
,so wollest dem Cadi zum mind’sten senden
,ein weisses Blatt: ,Dich grtisst die junge Wittib,
,und will durch dieses Blatt, wenn dich die Suaten
,zu ihr begleiten, einen langen Schleier
60 ,dich bitten ihr zu reichen, dass in diesen,
,wenn Asans Wohnung sie vorüber komme,
,vom Haupt zu’n Füssen sie sich hüllen könne,
,um ihre liehen, ach! verlass’nen Kinder
,nicht seh’n zu müssen! 1 Der Cadi beäugte
65 das Schreiben kaum, als er die Suaten sammelt,
und seiner schönen Braut entgegen eilet,
den langen Schleier, den sie heischte, tragend.
Zum Haus der jungen Fürstin kamen glücklich
die Suaten, und von ihrem Hause kehrten
70 mit ihr sie glücklich wieder: aber näher
als Asans Wohnung sie gekommen waren,
so sah’n vom Erker ihre liebe Mutter
die zarten Töchter und die jungen Söhne,
und eilten zu ihr: ,Liebe, liebe Mutter!
75 ,Komm wieder zu uns, komm in deiner Halle
,mit uns das Abcndbrod zu essen!' Seufzend,
als sie das Sprechen ihrer Kinder hörte,
wandt’ sich des Herzog Asans bange Gattin
zum ersten von den Suaten: ,0 mein alter
Über Gootho's .Klaggcsung von der odlen Frauen des Asan Aga‘.
447
80 ,geliebter Bruder, lass vor diesem Hause
,die Rosse harren, dass ich diesen Waisen,
,den Kindern meines Busens, noch ein Zeichen
,der Liebe geben kann! 1 Die Rosse harrten
an Asans traur’gem Haus, und abgestiegen
85 vom Ross gab sie den Kindern ihres Busens
Geschenke: gab mit Gold beblümte schöne
Halbstiefel beiden Söhnlein und den Töchtern
zwei Kleider, die vom Kopf zu Fuss sie deckten;
dem Säugling aber, welcher in der Wiege
90 noch hilflos lag, dem schickte sie ein Röcklein.
Der Vater, alles in der Ferne sehend,
rief seinen Kindern: ,Liebe Kleine, kehret
,zu mir zurück, der fükllos word’nen Mutter
,vcrschloss’ne Brust von Eisen weiss von keinem
95 ,Mitleiden mehr/ Die jammervolle Gattin
hört Asans Wort, und stürzt, mit blassem Antlitz
die Erde schlitternd, und die bange Seele
entfloh dem bangen Busen, als, die Arme!
sie ihre Kinder sah von ihr entfliehen.
Die Sitten der Morlacken aus dem Italienischen über
setzt. Mit Kupfer. Bern, bei der typographischen Gesellschaft
1775, Seite 90. Diintzer (Goethe’s Lyrische Gedichte I. 127)
citirt eine andere Ausgabe: Die Sitten der Morlacken. Auszug
aus dem Französischen (von Abbate Fortis). (Abbate Alberto
Fortis, Reise in Dalmatien. Aus dem Italienischen. Bern. 1776.
I. Seite 153).
Dass der Übersetzer nicht aus dem ,morlackischen‘ Original,
sondern aus dem Italienischen von Fortis übersetzt hat, zeigen
jene Stollen, die, ihm mit Fortis gemeinsam, im Original nicht
zu finden sind.
3. Französische Übersetzung.
Schon 1775 erschien in Bern ein Büchlein unter dem
Titel: ,Die Sitten der Morlacken', welches, mit Übergehung
der geographischen und naturhistorischen Partien, eine Über
setzung desjenigen Theiles des genannten italienischen Werkes
SBS^aSF
SfiffiS
448 Miklosich.
ist, welcher in sechzehn Paragraphen von den Sitten der Mor-
lacken handelt: ,De costumi de’ Morlacchi.' Seite 43 — 105.
Das Büchlein ,Die Sitten der Morlacken' erschien auch 1792
in Bern und in Lausanne unter verändertem Titel: ,Reise zu
den Morlacken. Von Albert Fortis.' Wir begegnen derselben
Übersetzung in der vollständigen Übertragung von Fortis’Werk:
,Abbate Alberto Fortis, Reise in Dalmatien. Bern, bei der
typographischen Gesellschaft. 1776.' Damit wird wohl Fortis,
Reise nach Dalmatien. Bern. 1792, identisch sein. Es ist mehr
als wahrscheinlich, dass der Übersetzer des Capitels von den
Sitten der Morlacken auch den Rest des Fortis’schen Werkes
übertragen hat. Das Rcisewerlc des italienischen Gelehrten
erschien auch in französischer Übersetzung 1778. in Bern:,Voyage
en Dalmatie par M. l’abbe Fortis.' Bern. 1778. In demselben
Jahre ward in London eine englische Übersetzung gedruckt.
A. Fortis, Lettres sur les Morlaques. Berne, s. a., kenne ich
nur aus den Bibliographien: das Buch enthält wahrscheinlich
aus Fortis nur die Partie über die Sitten der Morlacken: damit
stimmt der geringe Preis überein. Es ist unzweifelhaft identisch
mit dem Bern. 1788. chez la societe typographique erschienenen
Büchlein: Lettre de M. l’abbe Fortis a Mylord Comte de Bute
sur les moeurs et usages des Morlaques, appeles Montenegros.
Avec tigures. 85 Seiten. Man wird wohl kaum irren, wenn man
annimmt, dass beim Interesse, welches die Welt an den vorher
kaum je genannten Morlacken nahm, Rousseau’s Ideen von dem
Naturzustand der Völker im Spiele waren. Selbst der nüch
terne italienische Naturforscher sagt 67: ,L’innocenza e la
liberta naturale de’ secoli pastorali mantiensi ancora in Morlac-
chia, o almeno vene rimangono grandissimi vestigj ne’ luoghi
piii rimoti da’nostri stabilimenti' usw., und in der Vorrede zu
,den Sitten der Morlacken' liest man, ,dass dieselben der an-
gebornen Güte unserer Natur das Wort zu reden scheinen'.
In einer Oper: Les Morlaques. Opera en deux actes, musique
du baron de Lannoy (italienischer Text von Rossi). Gräz. 1817,
ziehen die ,Morlacken' zum letzten Male die Aufmerksamkeit
der Welt auf sich.
Über Gocthe's ,Klaggesang von der edlen Frauen des Asan Aga‘.
449
Chanson sur 1 a mort clc l’illustre e p o u s e
d ’ A s a n - A g a.
Quelle blancheur brille dans ces forets vertes? Sont ce
des neiges ou des cygnes? Les neiges seroient fondues aujour-
d’hui, et les cygnes se seroient envoles. Ce ne sont ni des neiges
ni des cygnes, mais les tentes du guerrier Asan-Aga. II y de-
meure blesse et se plaignant amerement. Sa mere et sa sceur
sont allfies le visiter: son fipouse seroit venue aussi, mais la
pudeur la retient.
Quand la douleur de ses blessures s’appaisa, il manda ii
sa femme fidele: ,No m’attends pas ni dans nia maison blanche,
ni dans ma cour, ni parmi mes parensd En recevant ces dures
paroles, cette malbeureuse reste triste et affligee. Dans la mai
son de son fipoux, eile entend les pas de chevaux, et dfises-
pfirfie eile court sur une tour pour bnir ses jours en se jetant
par les fenetres. Ses deux filles epouvantees suivent ses pas
incertains, on lui criant: ,Ah, obere mere, ab! ne fuis pas: ces
chevaux ne sont pas ceux de notre pere Asan; c’est ton fröre,
le Beg Pintorovich qui vient te voiF usw.
La triste veuve d’Asan, entendant le cris de ses enfans,
se tourne vers le premier Svati: ,Pour l’amour de Dien, eher
et venerable, arrcte los chevaux pres de cette maison, afin que
je donne ä ces orphelins quelque gage de ma tendresse/ Les
chevaux s’arretent devant la porte, eile descend et offre des
presens ii ses enfans: eile donne aux bis des brodequins d’or,
et de bcaux voiles aux filles. Au petit innoeent qui coucbe
dans le berceau, eile envoio une robe.
Asan voyant de loin cette scene, rappelle ses bis: ,Revenez
ii moi, mes enfans; laissez cette cruelle mfere, qui a un eoour
d’airain, et qui ne ressent plus pour vous aucune pitied
Entendant ses paroles, cette affligee veuve pälit et tombe
par terre. Son ame quitte son corps au moment qu’elle voit
partir ses enfans.
Aus: Voyage en Dalmatic par M. l’Abbe Fortis, traduit
de l’italien. Berne, cliez la societe typographiquo. 1778. I.
Seite 143-149.
450
Miklosich.
4. Goethe’s Übersetzung.
Die Übertragung Goethe’s ist so leicht zugänglich, dass
ein Abdruck derselben nicht nöthig ist.
Die öfters citirte Anmerkung zu diesem Liede lautet in
der Originalausgabe von Herder’s Volksliedern I. 1778, S. 330
wörtlich: ,S. Fortis Reise Th. 1. S. 150 oder die Sitten der
Morlachen, Bern 1775. S. 90. Die Übersetzung dieses edlen
Gesanges ist nicht von mir; ich hoffe in der Zukunft derselben
mehrere zu liefernd Die Angabe der Quelle fehlt in späteren
Ausgaben.
Es ist zweckmässig von dem Berichte des Dichters über
die Entstehung des Klaggesanges aus dem Jahre 1825 vor
läufig abzusehen.
Die erste Frage, die nach der Vorlage, ist dahin zu
beantworten, dass Goethe’s Übersetzung auf der oben abge
druckten Verdeutschung von 1775. beruht, die sich auch in
der Übersetzung der Fortis’schen Reise von 1776. findet. Die
Richtigkeit dieser Ansicht, die auch von Düntzer 1. 312. und
vom Freiherrn von Biedermann 2. 309 getheilt wird, ergibt
sich mit Sicherheit aus der Vergleichung beider Texte. Mit I.
bezeichne ich den Text von 1775, mit II. den von Goethe,
mit III. das Original; in der Verszählung folge ich dem letz
teren. 9. I. Die Gattin säumt aus Scham zu ihm zu kommen.
II. schamhaft säumt sein Weib zu ihm zu kommen. III. doch
die Gattin konnte nicht vor Scham, ma rossor trattienla Fortis.
10. I. als er zuletzt die Pein von seinen Wunden gelindert
fühlte. II. als nun seine Wunde linder wurde. III. als es nun
mit seinen Wunden besser wurde, allorch’ ei delle ferite il duolo
senti allegiarsi Fortis. 14. I. als das harte Wort die treue
Gemahl vernommen, stand sie starr und schmerzvoll. II. als
die Frau dies harte Wort vernommen, stand die Treue starr
und voller Schmerzen. III. als die Frau die Worte ver
nommen, stand die Arme noch da in dem Gedanken (an die
vernommene Botschaft), ncll’ udir queste dure parole Fortis.
19. I. aber ängstlich folgten zwo zarte Töchter. II. ängst
lich folgen ihr zwei liebe Töchter. III. ihr eilen nach zwei
Töchter. Fortis ,ansanti‘ wurde nach dem lateinischen anxius
als ,ansio‘, ,ängstlich‘ aufgefasst. 21. I. es sind nicht unsers
Über Goetho’s ,Klaggosang von der edlen Frauen des Asan Aga‘.
451
Vaters, nicht Asan’s Rosse. II. sind nicht unsers Vaters Asan
Rosse. III. es ist nicht der Vater Asan Aga. Del genitore
Asano non h questo il calpestio. 28. I. ziehet hervor von
rother Seide aus der Tasche den Freiheitsbrief. II. ziehet
aus der Tasche, eingehüllt in hochrothe Seide, den Brief der
Scheidung. III. sondern greift in die Tasche von Seide. Die
im Original fehlende ,hochrothe Seide-' müsste nach einem der
Erklärer, K. L. Kannegiesser 9 (Vorträge über eine Auswahl
von Goethe’s lyrischen Gedichten. Breslau 1835) ,auf eine
morlackische Sitte gehen', di vermiglia seta Fortis. 37. I. er
reisst sie los, der unbarmherz’ge Bruder. II. reisst sie los
der ungestüme Bruder. III. es ergreift sie der Bruder bei
den Händen, il severo fratello Fortis. 41. I. nach kurzer
Zeit. II. kurze Zeit war’s. III. bei den Ihren (u rodu) weilte
sie kurze Zeit, breve tempo restovvi Fortis. Nach 60. I. dass
in diesen (Schleier) vom Haupt zu’n Füssen sie sich hüllen
könne. II. dass ich mich vor Asan’s Haus verhülle. III. fehlt,
ond’ clla possa da capo appie tutta coprirsi Fortis. 65. fehlt
durch ein Versehen bei Fortis im Original; der Vers steht in
der Spalatiner Handschrift und bei Fortis in der Übersetzung.
65. I. den langen Schleier, den sie heischte, tragend. II. mit
den Schleier, den sie heischte, tragend. III. dug poclkluvctk
nosi na divojku, trägt den langen Schleier für die Braut.
Il lungo velo, cui chiedea, portando. 85. I. alles in der
Ferne sehend. II. dies beiseit sah Vater Asan Aga. III.
Und dies sieht der Held Asan Aga. tutto in disparte il duce
Asan vedea Fortis. 91. I. und stürzt, mit blassem Antlitz die
Erde schütternd. II. stürzt sie bleich, den Boden schiit-
ternd, nieder. III. stürzt sie mit bleichem Antlitz nieder. E
cadde, col pallido volto la terra pereuotendo Fortis. Goethe
gebraucht das etwas seltene ,scliüttenr, wie es scheint, nur
noch in ,Deutscher Parnass': ,schlittert er des Berges Wipfel 1 .
93. I. als sie ihre Kinder vor ihr fliehen sah. II. als sie ihre
Kinder von sich fliehen sah. III. als sie die Waisen sah. Gli
orfani figli suoi partir veggendo Fortis. Ich glaube nach
dem Gesagten nicht, dass die Übereinstimmung des Über
setzers von 1775 und Goethe’s auf Rechnung einer gemein
schaftlichen Vorlage zu setzen sei. Es könnten noch an
dere Stellen angeführt werden; doch dürfte das Beigebrachte
452
Miklosich.
vollkommen genügen. Nack dieser Darlegung kann von einer
französischen Vorlage Goetke’s nicht die Rede sein. Die
Gräfin Rosen'kerg, der man die französische Übersetzung zu
zuschreiben scheint, kann Niemand anderer sein als die Ver
fasserin des Buches ,Les Morlaques £ , (Italien) 1788: J. Wynne,
Comtesse des Ursins et Rosenberg. Abgesehen davon, dass
Goethe’s Übertragung im ersten Bande von Herder’s Volks
liedern aus dom Jahre 1778 steht, ist zu bemerken, dass das
Buch der Gräfin den Klaggesang gar nicht enthält.
Hat Goethe’n die Übersetzung von 1775 als Vorlage gedient,
dann kann der Klaggesang schon in diesem Jahre entstanden
sein. Für die Zeit nach 1775 könnte der Umstand angeführt
werden, dass Bernays’ ,Junger Goethe' das Stück nicht ent
hält, daher von demselben nach 1775 angesetzt wird. Goethe-
Jahrbuch 2. 131. Wenn Diintzer’s Vermuthung (Goethe’s Lyri
sche Gedichte, 1858), Goethe sei durch Herder auf den Stoff
und das Buch aufmerksam gemacht worden, richtig ist, dann
ist der Klaggesang erst in dem Spätherbst 1776 entstanden,
da Herder erst im October dieses Jahres nach Weimar kam.
Goethe-Jahrbuch 2. 132. Düntzer hat jedoch in der zweiten
Ausgabe des angeführten Werkes 1. 126. die recht ansprechende
Vermuthung geäussert, Goethe’n sei in der Schweiz 1775 (am
7. November war er in Weimar) die kleine in Bern in diesem
Jahre erschienene Schrift: ,Dic Sitten der Morlackcn 1 in die
Hände gekommen; es kann daher das von Eckermann und
Riemer angegebene Jahr 1775 stehen bleiben. In metrischer
Hinsicht ist das Gedieht vom 11. September 1776 ,Seefahrt' zu
vergleichen. Später wird von Goethe der serbische Trochäus
häufig angewandt: Liebesbedürfniss. Morgenklagen. Der Be
such. Der Becher. Nachtgedanken. Amor als Landschaftsmaler.
Was nun das Metrum des Klaggesangs anlangt, so wird
wohl zugegeben werden, dass der Rhythmus bei einer unbe
kannten Sprache nicht erkannt werden kann, dass es daher
nicht angeht anzunehmen, es könne der Übersetzer, ohne die
Sprache des Originals zu verstehen, sieh diesem nach dem
Gehör anschmiegen. Der Vers des serbischen Heldenliedes be
steht aus zehn Silben mit einem Rukcpunkt nach der vierten
und nach der zehnten Silbe, welche zehn Silben im Gesänge
fünf Trochäen bilden. Goethe’s Vers im Klaggesange ist der
Über Goethe's ,Klaggesang von der edlen Frauen des Asan Aga 1 .
453
angeführten Regel, abgesehen von clem Ruhepunkte nacli der
vierten Silbe, entsprechend, und man könnte meinen, die ser
bische Regel sei Goethe irgendwie bekannt geworden: diese
Meinung wäre unrichtig, da das metrische Gesetz des serbischen
Heldenliedes erst im Jahre 1824 von Vuk dargelegt, vor ihm
von Niemand auch nur geahnt worden ist, so einfach auch die
Sache für den Sprachkundigen ist. Die Behauptung, das Metrum
sei errathen worden, schliesst keine Lösung in sich. Auf den
der serbischen Sprache unkundigen Fortis, mit dem Herder in
brieflichem Verkehr gestanden zu haben scheint, da er erzählt,
er habe serbische Lieder aus einem ungedruckten Manuscript
desselben übertragen, worüber der Anhang 1. nachzusehen ist,
kann man sich nicht berufen. Unter diesen Umständen bleibt
nichts übrig als eine Hypothese aufzustellen, die der Prüfung
der Sachkundigen vorgelegt wird. Dass der Vers aus zehn
Silben besteht (decasillabo bei Fortis 1. 105), das zu sehen
erforderte keine Kenntniss der Sprache; wollte man nun die
Silbenzahl in der Nachdichtung bewahren, dann, so scheint es,
war es natürlich, dass man nicht zu dem fiinffüssigen Jambus,
sondern zu dem bequemeren Trochäus griff, bequemer, weil
eine Sprache, die die Wurzelsilbe, nicht das Suffix betont, den
trochäischen Versschluss begünstigt. Tonlose einsilbige Wörter
im Versanfango kann Goethe entbehren: 21. Sind nicht unsers
Vaters Asan Rosse. Vergl. 27. Auch das epische Metrum der
Serben beruht darauf, dass das Serbische die Endsilben nicht be
tont. Vergleichende Grammatik 1.406 : daraus schliesse ich, dass
der Trochäus des bulgarischen Epos serbischen Ursprungs ist
1. 376. Man könnte geneigt sein anzunehmen, der Trochäus
sei gewählt worden, weil der langsamere Gang des Trochäus
der epischen, bei den einzelnen Stadien der Handlung mit
Liebe verweilenden Darstellung angemessener sei. Auch Herder
wandte, wohl nach Goethe’s Beispiel, den sogenannten serbi
schen Trochäus in den drei von ihm übertragenen und unter
die Volkslieder aufgenommenen Dichtungen an:
1. Gesang vom Milos Cobflich und Vuko Brankowich:
Schön zu schauen sind die rgfhen Rosen | in dem weissen
Pallast des Lazaro.
2. Radoslaus: Kaum noch, dass am Himmel Morgcn-
röthe | und der Morgenstern am Himmel glänzte.
454
M iklosich.
3. Die schöne Dolmetscherin: Über Gravo hei der Bascha
Mustaj, | und rings um die hohe Mauer sanken usw.
Der serbische Trochäus wurde nach Goethe’s Vorgänge
auch von jener trefflichen Frau angewandt, der das serbische
Volkslied sein Bekanntwerden in der Welt verdankt. Dass
Goethe und Herder bei ihren Verdeutschungen serbischer
Lieder dem Vers jene Form gaben, die man als die dem Me
trum des Originals entsprechendste ansehen muss, beruht, wie
bemerkt, nicht auf einer Erkenntniss des serbischen Metrums,
das nur im Singen erkennbar wird, beim Lesen und Recitiren
nicht hervortritt. Gesungen wird l pbnese \ tri tövärä blägä,
recitirt hingegen i pönese | tri tövärä blägä, wobei natürlich
- betonte, u unbetonte Silben bezeichnet.
Nach einer anderen Hypothese könnte man den serbischen
Trochäus als Erweiterung des vierfüssigen Trochäus ansehen,
den Herder bei der Verdeutschung spanischer Romanzen an
wendet: die Erweiterung wäre durch den reicheren Inhalt des
serbischen Verses hervorgerufen.
Einer andern Ansicht, bei der jede Hypothese über
flüssig wird, huldigt Düntzer, der in seinem Werke: Goethe’s
lyrische Gedichte, zweite Auflage, 2. Seite 464, sich folgender-
massen ausspricht: ,Goethe bemerkt selbst, er habe den Klag
gesang ,mit Ahnung des Rhythmus und Beachtung des (bei
gefügten) Originals* 1 übertragen. Verstand er auch nicht die
serbische Sprache, in der das Gedicht geschrieben ist, so zeigte
ihm doch die Vergleichung der Übersetzung mit der Urschrift,
in welcher dasselbe Wort häufig wiederkehrt, welche Freiheiten
sich der Abbate Fortis bei seiner französischen 2 Übertragung,
von der Goethe eine deutsche Übersetzung vorlag, genommen
hatte, wie dieser vielfach den einfachen Ausdruck ungebührlich
ausgeschmückt, auch manche Übergänge und Erweiterungen
eingeschoben. Einiges dieser Art schaffte er wohl nach Ver
gleichung mit der Urschrift weg; hätte er diese sorgfältiger
angestellt, so würde er wohl leicht noch andere ausflickende
1 Goethe’s Worte lauten: ,Ich übertrug ihn (den Klaggesang) nach dem
beigefügten Französischen mit Ahnung des Rhythmus und Beachtung
der Wortstellung des Originals. 1
2 Richtig: ,italienischen 1 .
Über Goethc's ,Klaggesang von der edlen Frauen des Asan Aga‘.
455
Zusätze entdeckt haben: an anderen Stellen leitete den Dichter
sein natürlicher, den Volkston ahnender und sich lebendig
hinein versetzender Sinn. Das ursprüngliche Versmaass fünf-
füssiger Trochäen erkannte er richtig, während er in der deut
schen Übersetzung jambische Verse von 5 y. 2 Fuss fand. Hatte
der Übersetzer nicht Vers für Vers sich entsprechen lassen,
so folgte hier Goethe in richtiger Würdigung genau der Ur
schrift, wodurch er nur zu einzelnen Auslassungen veranlasst
ward; auch der kleinen durch den Vers geforderten Zusätze
sind wenige. Besonders glücklich ist die einfache Satzver
bindung und die bezeichnende Wortstellung'.
Wenn Goethe auch nicht das Gesetz von der Pause nach
der vierten Silbe beobachtete (29. 49. 54. 71. 90.), wie es auch
Talvj nicht gelingen wollte dasselbe durchzuführen, wenn sie
nicht wesentlichere Dinge opfern wollte, so finden wir doch
die viel wichtigere Regel von dem Ruhepunkte nach der
zehnten Silbe festgehalten. Dies ist jedoch nicht specifisch
serbisch, es wird vielmehr auch von deutschen Metrikern ge
fordert, dass bei längeren Versen das Ende des einen Verses
dem Sinne nach nicht gar zu eng mit dem Anfang des nächsten
■ verknüpft werde, dass nach jedem Verse eine Art Pause ein
trete, wodurch derselbe sich gewissermassen als ein Ganzes dar
stellt. Diesem Gesetze folgt Goethe in allen seinen Schöpfungen
Platen hat sich in seinen in serbischen Trochäen gedichteten
,Abassiden' von beiden Regeln emancipirt.
Wenn man Gocthe’s Nachdichtung mit seiner Vorlage ver
gleicht, so sieht man, wie er dem Geiste des Volksliedes ahnend
näher tritt und dessen Schönheiten in unvergleichlicher Weise
wiedergibt. Nur in der Übertragung Bern, 1775 vorhanden, wäre
das Lied wohl längst vergessen, während ihm in Goethe’s
Nachdichtung ein unvergängliches Dasein beschieden ist.
Goethe sagt über den Klaggesang 1825 in ,Kunst und
Alterthum' V. 2. 53: ,Schon sind es fünfzig Jahre, dass ich
den Klaggesang der edlen Frau Asan-Aga übersetzte, der sich
in des Abbate Fortis Reisen, auch von da in den morlackischcn
Notizen der Gräfin Rosenberg finden liess. Ich übertrug ihn
nach dem beigefügten Französischen mit Ahnung des Rhythmus
und Beachtung der Wortstellung des Originals.' Der Leser
wolle beurtheilen, wie viel sich von dem von Goethe nach
'sasssrew-sas
fi
n
r;
I
456 Mi kl os ich.
einem halben Jahrhundert gegebenen Berichte wird retten
lassen. Mit den angefochtenen fünfzig Jahren kann es, wie
schon angedeutet wurde, seine Richtigkeit haben, da Goethe’s
Aufzeichnung aus dem Jahre 1825 stammt und die der Nach
dichtung zu Grunde liegende Verdeutschung 1775 gedruckt wurde.
Ich gehe vom Jahre 1825 aus, da Goethe am 18. Jänner dieses
Jahres den in der Mitte des Jahres 1824 verfassten Entwurf
in mehr ausgearbeiteter Gestalt Eckermann vorlas. Freiherr von
Biedermann 2. 312.
5. Übersetzung von Talvj.
IJassan-Aga’s Gattin.
Was ist Weisses dort am grünen Bergwald?
Ist es Schnee wohl, oder sind es Schwäne?
Wär’ es Schnee, er wäre weggeschmolzen,
wären’s Schwäne, wären weggeflogen,
5 weder ist es Schnee, noch sind es Schwäne,
’s ist das Zelt des Aga Hassan-Aga,
wo er niederliegt an schlimmen Wunden;
ihn besucht die Mutter und die Schwester,
doch vor Scham vermag es nicht die Gattin,
io Als er nun genas von seiner Wunde,
da entbot er seiner treuen Gattin:
,Harre meiner nicht im weissen Hofe,
,nicht im Hofe und nicht bei den Meinen/
Als die edle Frau dies Wort vernommen,
15 blieb erstarrt sie stehn vor grossem Leide.
Als sie Rosscshufschlag hört am Hofe,
da entflieht des Hassan-Aga Gattin,
will sich aus des Thurmes Fenster stürzen;
folgen eilend ihr zwei liebe Töchter:
20 ,Kehr’ zu uns zurücke, liebe Mutter,
,nicht der Vater ist cs, Hassan-Aga,
,ist der Beg Pintorowitscli, der Oheim /
Und cs kehret Ilassan-Aga’s Gattin,
hängt sich jammernd um den Hals dem Bruder:
25 ,0 mein Bruder, o der grossen Schande!
,Von fünf Kindern will er mich vertreiben!'
Über Goethe’s ,Klaggesang von der edlen Frauen des Asan Aga 1 .
457
Schweigt der Beg und redet keine Silbe,
und er greift in seine seid’ne Tasche,
zieht daraus hervor den Brief der Scheidung,
30 dass sie frei zur greisen Mutter kehre,
einem Anderen sich zu vermählen.
Als die edle Frau den Brief durchlesen,
küsst sie auf die Stirn die beiden Söhne,
auf die rothen Wangen beide Töchter;
35 aber von dem Kleinsten in der Wiege,
nicht vermag sie’s, sich von ihm zu trennen.
Bei der Hand nimmt sie der Bruder endlich,
reisst sie mühsam los vom zarten Knaben,
lässt sie hinter sich das Ross besteigen,
40 reitet mit ihr nach dem weissen Hofe.
Kurze Zeit nur weilt sie bei den Ihren,
kurze Zeit, noch keiner Woche Tage,
ward die edle Frau von edlem Stamme,
ward die Frau begehrt von allen Seiten,
45 auch vom grossen Kadi von Imoschki.
Bittet sehr die edle Frau den Bruder:
,Icli beschwüre dich bei deinem Leben,
,wolle keinem Andern mich vermählen,
,dass mir nicht das Herz, das arme, breche,
50 ,wenn ich meine Waisen wiedersehe!'
Doch der Bruder achtet nicht ihr Flehen,
sagt sie zu dem Kadi von Imoschki.
Und noch einmal bat die Frau den Bruder,
dass ein weisses Briefblatt er beschreibe,
55 und es senden solle an den Kadi:
,Es begrüsst die junge Frau dich freundlich,
,bittet dich mit diesem Briefe schönstens,
,wenn du edle Hochzeitsleute ladest
,und nach ihrem weissen Hofe ziehest,
GO ,woll’ ihr einen langen Schleier bringen,
,dass sie drin ihr Angesicht verhülle,
,wenn sic vor des Aga Hof vorbeikommt,
,dass sie ihre Waisen nicht mehr schaue!'
Als das weisse Schreiben kam zum Kadi,
05 sammelte er edle Hochzeitsleute,
Sitzungsber. d. phil.-hist. CI. CIIl. Bd. II. Hft.
30
458
M i klosi ch.
zog mit ihnen, heim die Braut zu führen;
glücklich kamen sie zu ihrer Wohnung,
glücklich kehrten sie mit ihr zurücke.
Aber als sie vor des Aga Hofe
70 sah’n die beiden Töchter aus dem Fenster,
vor die Thüre traten beide Söhne,
und sie riefen an die liebe Mutter:
,Kehr’ zu uns zurücke, liebe Mutter,
,dass das Mittagsmahl wir mit dir theilen!'
75 Als dies hörte Hassan-Aga’s Gattin,
sprach zum Alt’sten sie des Hochzeitszuges:
,Ältester, o du in Gott mein Bruder!
,Lass’ die Rosse hier am Hofe halten,
,dass ich meine Waisen noch beschenke!'
80 Und die Rosse hielten vor dem Hofe,
schön beschenkte sie die lieben Kinder,
gab den Söhnen gold’ne Lederstrümpfchen,
gab den Töchtern ungeschnittnes Laken,
und dem kleinsten Knäblein in der Wiege
85 sendete sie auch ein seidnes Kleidchen.
Als der Held dies sähe, Hassan-Aga,
rief er zu sich seine beiden Söhne:
,Kommt zu mir, ihr meine armen Waisen,
,nicht Erbarmen wird sie mit euch fühlen,
90 ,denn von Stein ein Herz hat eui’e Mutter!'
Als dies Hassan-Aga’s Gattin hörte,
schlug zu Boden sie mit weissem Antlitz,
und urplötzlich riss sich los die Seele
bei dem Schmerzensanblick ihrer Waisen.
6. Andere Übersetzungen.
Die Übersetzung W. Gerhard’s, Herausgebers der ,Wila',
abgedruckt im ,Archiv für das Studium der neueren Sprachen
und Literaturen', XIII. Jahrgang, 23. Band, Seite 211, kann
nach Talvj nicht als ein Fortschritt bezeichnet werden.
Walter Scott’s Übersetzung der Goethe’schen Nachdichtung
ist verschollen: sie wurde in W. Scott’s Apology for tale of
wonder mit anderen Übersetzungen in zwölf Exemplaren ge-
Über Goethe's ,Klaggesang von der edlen Frauen des Asan Aga‘.
459
druckt. Goethe-Jahrbuch 3. 50. Auf diese Schrift bezieht sich
folgende Stelle in J. G. Lockhart’s Memoirs 1. 315: ,IIaving
again given a week to Liddisdale, Walter Scott spent a few
days at Rosebank, and was preparing to return to Edinburgh
for the winter, when James Ballantyne called on him one
morning, and begged him to supply a few paragraphs on some
legal question of the day for bis newspaper. Scott complied;
and carrying his article himself to the printing-office, took with
him also some of his recent pieces, designed to appear in
Lewis’s collection. With these, especially, as his Memorandum
says, the Morlachian fragment after Goethe. Ballantyne was
cliarmed, and he expressed his regret that Lewis’s book was
so long in appearing.' Die Stelle bezieht sich auf den Decem-
ber 1799.
In das Cechische wurde der Klaggesang übertragen von
S. R. Sloväk in Nejedly’s Hlasatel.
In das Magyarische endlich hat nach Goethe die Dichtung
Kazinczy übersetzt.
Andre, Hesperus 1821. XXX. Seite 31.
In A. N. Pypin’s und V. D. Spasowicz’s Geschichte der
slavischen Literaturen I. 270 wird von einer Übersetzung
Ch. Nodier’s geprochen, die nicht zu existiren scheint: in
seinen Werken ist sie nicht zu finden.
Anhang.
1. Über die ,morlackischen' Dichtungen in Herder’s
,Volksliedern'.
Herder’s ,Volkslieder' 1778, 1779, später ,Stimmen der
Völker', enthalten ausser dem ,Klaggesang' noch drei ,mor-
lackische' Dichtungen. Diese sind jedoch keine Volksdichtungen
im eigentlichen Sinne des Wortes, d. h. aus dem Volksmunde
aufgezeichnete Lieder, wie dies vom ,Klaggesang', nach meiner
Ansicht mit Recht, vorausgesetzt wird; es sind vielmehr
Lieder, welche von Andrija Kacic -Miosic über volkstümliche
Themen im Ton der Volkslieder gedichtet sind, der jedoch
nicht immer getroffen ist (man vergleiche ,Radoslaus'). I. ,Ein
Gesang von Milos Cobilich und Vuko Brankowich. Morlackisch.'
30*
460
Miklosioli.
I. Seite 130 der Originalausgabe steht bei Kacic in der Aus
gabe Venedig 1801.‘Seite 45: ,Pisma od Cibilichia i Vulca
Brankovichiad Lipe ti su rumene ruzice \ u bijelu dvoru Lazarovu, \
niJco nezna, koja biie lipSa, \ koja viSa, koja V rumenija usw. Die
Anmerkung Seite 321 lautet: ,Aus Fatis (Fortis) Osservazioni
sopra b isola di Cherso ed Osero. Venet. 1771. 4. nach seiner
italienischen Übersetzung daselbst p. 162/ II. ,Radoslaus. Eine
morlackische Geschichte/ II. Seite 161. Das Lied bietet Kaöi6:
jPisma od Eadoslava/ Jos zorica ni zabijelila |, ni danica po-
molila lica |, lastavica tica zapivala |, Radoslavu kralju pripivala.
usw. Über diese und die nachfolgende Dichtung sagt die An
merkung Seite 308: ,Beide Stücke sind aus einem ungedruckten
italiänischen Manuscripte des Abbt Fortis, des bekannten Ver
fassers der Osservaz. sopra Chesso (Cherso) ed Osera (Osero)
und der Reise nach Dalmatien. Die Anzeige dieser Quelle ist
nicht Dichtung, sondern Wahrheit/ III. ,Die schöne Dol
metscherin. Eine morlackische Geschichte/ II. Seite 167. Bei
Kaci6, Seite 120: ,Pisma od Sekule Jankova netjaka, divojke
dragomana i passe Mustaj bega.‘ Sinoc paSa pade na Graovo, |
pasalije okolo Graova, \ i ostale pasine delije | u Nikole Kneza od
Graova usw. Am Schlüsse bemerkt Kacic: , Ovo se piva od
nasega naroda, ko ce virovat, neka virnje, ko ne ce, neka miruje/
2. Über die Gräfin Rosenberg.
Die Gräfin Rosenberg spielt in der Geschichte Goethe’s
eine kleine Rolle: der Dichter selbst erwähnt 1825 ,morlackische'
Notizen von ihr, und die Stelle ist geeignet die Vermuthung
zu erregen, als ob die französische Übersetzung, die Goethe
als seine Vorlage bezeichnet, ihr zu danken wäre. Andere
halten die in Herder’s Volksliedern von 1778, 1779 als Quelle
des Klaggesangs erwähnten ,Sitten der Morlacken 1775“ für
ihr Werk. Goethe-Jahrbuch 2. 132. Diese Angaben sind un
richtig. Es gibt kein Werk, das man als ,morlackische' Notizen
der Gräfin Rosenberg bezeichnen könnte; es gibt ebenso wenig
eine französische Übersetzung des Klaggesangs von ihr; es
sind endlich ,die Sitten der Morlacken“ von 1775 etwas der
genannten Gräfin vollkommen Fremdes: ihr Name kommt in
Herder’s Volksliedern von 1778 nicht vor. Die litterarische
Über Goethe's ,Klaggesang von der edlen Frauen des Asan Aga 1 .
461
Thätigkeit der Gräfin Rosenberg fällt in die Jahre 1787 und
1788: Pibces morales et sentimentales. Londres 1787; Alticchiero.
Padoue (Beschreibung einer Villa bei Padua) 1787; Les Mor-
laques (En Italie) 1788. Dieses hier allein in Betracht kommende
ziemlich seltene (nach Ch. Nodier ist es extraordinairement rare)
Werk der Gräfin oder nach anderen de son ami ou sigisbe, le
Comte Benincasa, zerfällt, trotz fortlaufender Pagina, in zwei
Theile, indem Seite 183 als Anfang des Vol. II. bezeichnet wird.
Es ist Katharina II. gewidmet. Auf dem Widmungsblatt nennt
sich die Verfasserin J. (Justine, wofür der italienische Über
setzer Giustiniana hat) Wynne, Comtesse des Ursins et Rosen
berg. Das Buch wird von Nodier in den Melanges tires d’une
petitc bibliotheque, Paris 1829. Seite 187, als le tableau le
plus piquant et le plus vrai des moeurs les plus originales de
l’Europe gerühmt: Nodier meint, qu’il n’existe rien d’aussi
eomplet en aucune langue sur cette matiere. Les Morlaques,
bemerkt Nodier, ont des moeurs aussi tranchees, aussi singu-
licres, aussi pittoresques, si Fon peut s’exprimer ainsi, et cepen-
dant mille fois moins connues que celles des peuples sauvages
de la mer du sud.
Die morceaux de poesie esclavonne sind nach Nodier bien
choisis et le style de la traduction a quelque chose de la nai-
vete, du nerf et de la Couleur de Foriginal. Dieser aus zehn
Liedern bestehende Schatz slavischer Poesie sind die eigenen
Schöpfungen der Verfasserin, obgleich sie ausdrücklich ver
sichert: on n’a pas cru avoir besoin de recourir au romanes-
que et au merveilleux. Die Lieder sind für die Kenntniss der
nationalen Eigenthüralichkeiten und der Dichtung der Mor-
lacken von keinem hohem Werth als die Mystification von
Prosper Merimee in seiner Guzla ou choix de poesies lyriques
recueillies dans la Dalmatie, la Bosnie, la Croatie et l’Her-
zegowine. Pai-is 1827.
Während Merimee’s Dichtungen von Goethe, Kunst und
Alterthum VI. 2. 327, als ein geistreicher Scherz erkannt
wurden, wurde dessen Prosa von W. Gerhard in deutsche
Verse übertragen, ,eine Übertragung, die ihm bei seiner Ver
trautheit mit dem Periodenbau des serbischen Rhythmus leicht
gewesen seih Wenn Nodier die Meinung eines anderen Ge
lehrten, der in dem Werke der Gräfin nichts als une para-
462
Mi klosicli.
phrase un peu etendue d’un chapitre du Viaggio in Dalmazia
sieht, bekämpft, so bekämpft er ein vollkommen begründetes
Urtheil. Auf Rousseau’s Standpunkt stehend erinnert die Ver
fasserin in ihrer Beschreibung an die apyijxovei; AiOtox/js«;, deren
Land nach Herodot die grössten, schönsten und langlebendsten
Männer hervorbringt, was vom Lande der Morlacken nicht
unwahr ist. Das Buch hat einen italienischen Übersetzer ge
funden, dessen Werk 1798 unter dem Titel: Costumi dei Mor-
lacchi in Padua erschienen ist. Wenn man bedenkt, dass die
Morlaques zehn Jahre nach den Volksliedern Herder’s erschienen
sind und dass in denselben der Klaggesang nicht vorkommt,
so begreift man schwer, wie es geschehen konnte, dass der
Verfasserin jenes Buches in der Geschichte Goethe’scher Dich
tung eine Rolle zugewiesen wurde.
Das Buch ist für Ethnographie ebenso werthlos wie für
die Geschichte des Volksliedes.
3. Aus den Briefen von Talvj an B. Kopitar.
Talvj ist der Schriftstellername von Therese Albertine
Luise von Jacob. Am 26. Januar 1797 zu Halle a, S. geboren
starb Talvj am 13. April 1870 zu Hamburg. Sie vermählte
sich 1828 mit dem amerikanischen Professor der Theologie
und Palästinaforscher Edward Robinson, der ihr am 27. Januar
1863 durch den Tod entrissen wurde. Von 1830—1837 lebte
sie in Amerika, Anfangs zu Andover, dann zu Boston, die
Jahre 1837—1840 brachte sie in Deutschland, ,ihrer geistigen
Heimat', zu; 1840—1863 lebte sie in New York. Von da an
linden wir sie abwechselnd in Berlin, Italien, Strassburg, Karls
ruhe und Hamburg.
Dass an dieser Stelle, am Schluss einer einem ,morlacki-
scheiv Liede gewidmeten Abhandlung, Auszüge aus den Briefen
dieser hochbegabten und durch herrliche Charaktereigenschaften
hervorragenden Frau mitgetheilt werden, hat seinen Grund in
ihrem durch unermüdliche Arbeit bethätigten Interesse an der
serbischen Volksdichtung. Lange Jahre hindurch beruht fast
alle Kunde der gebildeten Welt von den serbischen Volks
liedern auf ihren im ganzen vortrefflichen Übertragungen.
Und wenn Kopitar’s genaue Bekanntschaft mit der Sprache
Über Goethc's ,Klaggesang von der edlen Frauen des Asan Aga 1 .
463
und den Sitten sowie der Geschichte des Serbenvolkes manches
Räthsel löste, wenn Jakob Grimm’s alle Zeiten und Räume
umfassender Blick uns die Bedeutung des serbischen Volks
gesanges in ihrem ganzen Umfange kennen lehrte, so muss
doch anerkannt werden, dass um die Bekanntmachung dieser
Lieder, nach dem berühmten Sammler derselben, Talvj das
grösste Verdienst für sich in Anspruch nehmen darf. Und
ich glaube nur eine Pflicht der Dankbarkeit gegen eine halb-,
wenn nicht ganz vergessene Frau zu erfüllen, indem ich diese
Auszüge veröffentliche, die so viele Beweise für den Ernst
bieten, mit dem sie ihrer Aufgabe gerecht zu werden bestrebt
war. Es ward jedoch meist nur das aufgenommen, was lite
rarisch von Interesse zu sein schien. Einzelne Stellen werden
auch zeigen, mit welcher Entschiedenheit Talvj an ihren Über
zeugungen festhielt: die Frau widerstand einer Autorität, vor
der sich so mancher Mann beugte.
Talvj erzählt von der ungewöhnlichen Theilnahme, die
die serbische Volkspoesie in den zwanziger und dreissiger
Jahren unseres Jahrhunderts im Norden von Deutschland er
regte: Talvj’s Werk ,genoss des Interesses und des Beifalls
der Edelsten und Ausgezeichnetsten der deutschen Nation'.
Diese Theilnahme werden heutzutage nur wenige begreifen.
Dem demokratischen Zeitalter gelten die Schöpfungen des
Volkes gar wenig: sie sind so naiv, gar nicht witzig und
piquant. Hat sich doch selbst Goethe, wie Eckermann (3. Oc-
tober 1828) mittheilt, von diesen Liedern, denen er früher
ein lebhaftes Interesse entgegen gebracht hatte, abgewandt,
sie abgethan und hinter sich liegen lassen: der durch seine
Leidenschaften und Schicksale verdüsterte Mensch bedürfe der
Klarheit nnd der Aufheiterung. Und wenn Grillparzer, 1. 155 ',
mit Volkspoesie und — Mittelhochdeutsch nichts zu machen weiss
und beides mit Wegspur und Lachen vergleicht — und meint,
der Pöbel erzeuge das Schöne nicht, noch gebe er dem Schönen
Gesetze, so muss man annehmen, er habe edle Volksdichtung
nicht kennen gelernt. Wenn er ferner Homer der Volksdicktung,
dem Volksepos entgegensetzt, so hat er, was Dichtern nicht
selten begegnet, übersehen, dass die hierin allein competente
1 Weniger ablehnend äussert sieh Grillparzer 9. 190.
464
Mi kl osich.
Alterthumsforschung in den bewunderten Gesängen Homcr’s
Volkslieder erkannt hat: nur der Volksgoist schafft durch in
seinem Banne stehende Sänger Werke, die als ,Kanon der
Naturwahrheit 1 gelten: jedes Volkslied ist von einem Individuum
ausgegangen. Wenn endlich Turgenev einen seiner Helden
sagen lässt, ohne (die von Volk zu Volk wandernde) Civilisa-
tion gebe es keine Poesie, so erinnert dieser Ausspruch an die
Behauptung, die Dichtkunst sei in Griechenland erfunden
worden ’, aus der folgen würde, die Poesie sei wie die Dampf
maschine von einem Volk zum andern gewandert. Die von
Niemand in Abrede gestellte Rohheit der Holden des russischen
Volksepos soll uns die Poesie desselben verleiden: dann wäre
die Verworfenheit mancher Gestalten Turgenev’s, z. B. des
Polozov und seines Weibes, ebenfalls geeignet uns seine Schö
pfungen ungeniessbar zu machen.
Wer die Volksdichtung hoch hält, wer in ihr die wahre,
die ursprüngliche Poesie, sowie in der Volkssprache die wahre
Sprache erblickt, wird sich in dem Cultus derselben durch die
Aussprüche selbst eines Goethe nicht beirren lassen — der wohl
feile Spott A. L. Schlözer’s und F. Ch. Nicolai’s ist längst
wirkungslos geworden — er wird mit der ausgezeichneten Frau,
deren Andenken die folgenden Blätter geweiht sind, fest halten
an Montaigne’s goldenen Worten: ,La poesie pöpulaire et pure-
ment naturelle a des nai'fvetes et gräces par oü eile se com-
pare a la principale beaute de la poesie parfaicte, selon l’art/
Halle, 1824. 23. Mai.
Ew. Wohlgeboren mögen gütigst die Freimüthigkeit ent
schuldigen, mit welcher eine Ihnen völlig Fremde den Versuch
macht eine Correspondenz anzuknüpfen, von welcher sie sich
wesentlichen Nutzen verspricht. Die Unmöglichkeit, hier in der
Nähe mir Käthes über die serbische Sprache und die uns durch
Herrn Vulc mitgetheilten Poesien erholen zu können, die Be
schränktheit der Hülfsmittel, das lebhafte Intereße, welches
1 Graeci apud se exortam poeticam auturaant, ut totis viribus aftirmat
Leontius; in quam credulitatem et ego paululum trahor, memor ali-
quando ab inclito praeceptore meo (Petrarca) audiisse penes priscos grae-
cos tale huic fuisse principium Boccaccio.
Über Goetlie’s ,Klaggesang von der edlen Frauen des Asan Aga‘.
465
mir der Gegenstand eingeflößt — alles fließ giebt mir den Muth
dazu, und die thätige Theilnabme, welche Ew. Hochwohlgeboren
dem Unternehmen des Herrn Yuk bewiesen, läßt mich hoffen,
daß Sie auch meinen Übersetzungen Ihre gütige Aufmerk
samkeit nicht ganz versagen werden. Habe ich auch den
rechten Ton getroffen? Man täuscht sich so leicht über eigne
Arbeit! Ihrem Brief an meinen Vater zufolge, sende ich bei
liegende Blätter an Sie, indem ich Sie ersuche, sie Herrn Vuk,
dem ich diese öffentliche Mittheilung mündlich versprochen habe,
baldmöglichst zuzustellen. Was die eingerückten poetischen Über
setzungen anbetrifft, so finde ich selbst jetzt manches beym
nochmaligen Bearbeiten zu Ändernde (jedoch nichts Wesent
liches). Die Sache scheint in Norddeutschland großes Aufsehen
zu machen, aber freilich ist die Originalsprache gänzlich unbe
kannt, und selbst berühmte slavische Sprachkenner vermögen,
wie vertraut sie immer mit dem grammatischen Theil der
Sprache seyen, mir nicht den mindesten Beistand zu geben,
wo es ihre Feinheiten gilt. Ich habe demnach, durch eine
geringe Ivenntniß des Rußischen und lebhafte Wißbegierde
unterstützt, die Sache ganz allein unternehmen miißen, und
ein ganzes Heft metrischer, treuer Übersetzungen sind bereits
in Goet.he’s Händen, der sich im hohen Grade für den Gegen
stand intereßirt. Er fordert mich wiederholt auf in meinen
Bemühungen fortzufahren, und sein Wunsch allein würde mir,
einer seiner wärmsten Verehrinnen, hinreichend seyn, wenn nicht
schon eigne Lust genugsam ermuthigte es mit so mannichfachen
Schwierigkeiten aufzunehmen. Ich bin jetzt mit dem epischen
Cyclus vom Königssohne Marko beschäftigt, aber ich sehe schon
aus der Ferne allerley Hindernisse mich drohend anblicken:
sprüchwörtliche Redensarten, Localitäten etc., über die mir
kein Loxicon, am wenigsten des Vukische, das mich unbarm
herzig oft im Stich läßt, Auskunft giebt; und nun — um
endlich zum Resultat dieses weitläuftigen Berichts zu kommen:
Herr Vuk ist allzufern, und wenn eine Correspondenz nach
Wien schon ihre Schwierigkeiten hat, -furcht’ ich, würde eine
nach Serbien von hier aus fast unmöglich seyn; darf ich daher,
hochwohlgeborner Herr! Sie Selbst um Auskunft bei bedenk
lichen Stellen ersuchen und Sie im Nothfall mit einem ganzen
Heer von Fragen überschütten?
466
Miklosich.
Halle, 1824. 10. August.
Nichts hätte mir erfreulicher sein können als Ew. Hoch
wohlgeboren gütiges Anerbieten, die letzte Durchsicht meines
Manuscriptes zu übernehmen. Ich hatte nicht den Muth Sie
darum zu ersuchen, da ich theils nicht wußte, ob Ihre Muße
es Ihnen verstattete, theils auch fürchten mußte, Ihnen mit der
Zumuthung eine — ziemlich flüchtige — Handschrift zu durch
lesen, beschwerlich zu fallen, wie sehr ich auch sonst von Ew.
Hochwohlgeboren Interesse für den Gegenstand überzeugt seyn
kann. Nur um Aufklärungen über Einzelnes, Notizen etc. wagte
ich zu bitten. Mit um so grösserem Eifer habe ich mich aber
nun dazugehalten, und ich würde schon in wenigen Wochen
im Stande seyn Ihnen ein Manuscript zu schicken, was hinreicht,
einen massigen Octavband zu füllen, wenn nicht Goethe mich
so eben brieflich ersucht, es ihm, vordem es nach Wien abgeht,
zu übersenden, damit er nach seinem Ausdrucke ,sick den
Werth der Gedichte noch tiefer einprägen, und unterdeßen
seine Gedanken darüber sammeln könne, um zuletzt sich im
Einklang mit mir gegen das Publicum zu erklären'. Seine, mir
natürlich höchst wichtige, Theilnahme verzögert demnach die
Sache um eine, wie ich hoffe, nur kurze Zeit.
Leider ist es mir trotz aller meiner Bemühungen unmög
lich gewesen das Stück des Hormayr’schen Archivs, welches
die serbischen Gedichte enthält, zu bekommen. Nicht genug
ist überhaupt die grosse literarische Spaltung zwischen Nord-
und Süddeutschland zu beklagen!
Was den Druck anbetrifft, so räth mir Goethe mich defl-
halb nach Wien zu wenden, wo er ein regeres Intereße für
die Sache voraussetzt, und da es mir daselbst ganz an Con-
nexionen mangelt, so nehme ich mir die Freiheit auch hier um
Ihre gütige Vermittlung zu bitten. Wären Sie so gütig, diesen
oder jenen soliden Buchhändler zu fragen, ob er geneigt
sey die Sache zu übernehmen, und mir dann die Erklärung
deßelben zu melden, so würde ich Sie gern mit den weitern
Verhandlungen verschonen. Die thätige Theilnahme, zu welcher
mir Goethe Hoffnung macht, wird auch bey einem Buchhändler
gewiss nicht ohne Gewicht seyn.
Ihre Anfrage wegen der griechischen Gedichte beantworte
ich zum Schluß mit Folgendem: Goethe schreibt mir darüber:
Über Goethe’s ,Klaggesang von der edlen Frauen des Asan Aga 1 .
467
Die griechischen Gedichte hat mir Herr von H[axthausen] im
Jahre 1816 in Wiesbaden zum Theil vorgelesen, wo ich ihn
dann zur Herausgabe sehr ermunterte und Theil zu nehmen
versprach. Da er mir in der Folge ganz aus dem Auge kam,
rief ich ihn auf (Kunst und Alterthum IV. Band, S. 168), worauf
er sich wieder hören ließ, und zwar in einem Briefe, in wel
chem er sich ganz als Herausgeber solcher Gedichte legitimirt
und qualifizirt; auch war die Rede davon, daß sie zu Michael
voriges Jahr bey Cotta herauskommen und der französischen
Ausgabe den Schritt abgewinnen sollten. Jedoch dieß geschah
nicht, und die Erklärung des Räthsels scheint mir in der
Unentschlossenheit des werthen Mannes zu liegen; ihm schwebt
zu vieles vor, er etc.
Halle, 1824. G. Oktober.
Der Umstand, daß mir noch vor sechs und einem halben
Monat die serbische Sprache völlig fremd war, die wenigen
Hiilfsmittel, deren ich mich zu ihrer Erlernung bedienen konnte
— alles dieß giebt mir ein Recht auf Ihre Nachsicht. Rußisch
habe ich immer nur nothdiirftig verstanden, und es in den sieben
Jahren, seitdem ich es nicht mehr sprechen gehört habe, vol
lends vergehen. Bey so geringen Kenntnissen würde ich eine
so schwierige Sache gewiß nie unternommen haben, in der
Hoffnung, daß schon ein Kundigerer sich damit befassen würde,
wenn nicht Goethe’s Dringen und Vertrauen, daß eine glückliche
Gabe der Auffassung fremder Individualität und Volksthümlich-
keit mich dazu berufe, mich dazu bestimmt hätte. Eben so
unzweifelhaft wird Ihnen vieles höchst unzulänglich wieder
gegeben, verfehlt ausgedrückt, viele eigenthümliche Schön
heiten werden Ihnen vernichtet erscheinen. Bey dem so total
verschiedenen Geist der beyden Sprachen mußte viel Einzelnes
geopfert werden. Es lag mir daran, die Verse deutschen Lesern
mundrecht, deutschen Lesern wohlklingend zu machen, darum
habe ich von Namen, Titeln etc. übersetzt, was sich nur
irgend übersetzen ließ. Ihre genaue Bedeutung habe ich in
Anmerkungen hinter dem Text angegeben: man kann sie lesen,
wenn man will. Der Eindruck des Ganzen bleibt dadurch
ungeschwächt; während Noten unter dem Text, wie sie zur
Erklärung durchaus nothwendig sind, wenn ich in ihrer eigensten
468
Miklosi ch.
Bedeutung unübertragbare Wörter beibehalte, einem beym Lesen
den Genuß durch die beständigen Unterbrechungen verkümmern
würden. Die fremdklingenden Laute würden den Fall der Verse
unvermeidlich hölzern, schwer, unfließend machen, und Sie
wissen, daß der grösste Theil, Selbst des gebildeten Publikums
wohllautende Verse für Poesie hält. Und wie beschränkt
auch diese Ansicht ist, darin hat es Recht, wenn es verlangt,
daß die deutschen Verse dem deutschen Ohre grade so vertraut
klingen sollen, wie die serbischen dem serbischen. Vossens
Übersetzungen, Ahlwardt’s Ossian etc. sind darum fast bloß in
den Händen der Gelehrten. Wir wollen von ihren Verdeutschun
gen den Eindruck empfangen, den Griechen, Lateiner, Eng
länder, Schotten von den Originalen empfiengen und noch er- *
halten; dafür laßen sie uns keinen Augenblick vergessen, daß
wir Übersetzungen lesen. Aus allzu grosser Treue gegen das
Einzelne werden sie dem Charakter des Ganzen untreu. —
Diesen Grundsatz wünsch’ ich fest zu halten. Sonst gebe ich
Ihnen dieß Manuscript ganz Preiß: streichen Sie, was Ihnen
ungehörig scheint, deuten Sie unbedenklich an, was
Ihnen mißfällt. Ich werde Ihnen für Ihren Tadel wahrhaft
erkenntlich seyn. — Weglassungen habe ich nur sehr wenig,
Zusätze gar nicht, Änderungen nur, wenn sie mir durchaus
nothwendig schienen. Ihrer Einsicht vertrau’ ich, daß Sie
diese Stellen von den mißverstandenen unterscheiden werden.
Durch die Enthaltsamkeit, mit welcher ich Goethe’s Aufforderung
,den Poeten die Köpfe zurechtzusetzen', ,alles hübsch in Fluß
zu bringen 1 — Folge geleistet, habe ich mir bei Ihnen gewiß
Lob verdient. Nicht?
Mit noch grösserem Zagen übergebe ich Ihnen die histo
rische Einleitung. Es ist der allererste historische Versuch, den
ich wage, und nicht einmal die kleinste Schularbeit vorange
gangen. Bey der gänzlichen Unwissenheit unseres Publikums
über serbische Geschichte schien mir eine solche Einführung
durchaus nothwendig. Wie gern hätte ich gesehen, wenn ein
andrer Sachkundigerer mich in dieser Arbeit unterstützt hätte:
aber wem hätte ich dieß ohne Unbescheidenheit zumuthen
können ? Ich verlasse mich darauf, daß Sie, der Sie Sich einmal
mir beyzustehen anheischig gemacht, auch diese Einleitung einer
Durchsicht würdigen werden. Aus den breiten Rändern, die ich
Über Goetlie’s ,Klaggesang von der edlen Frauen des Asan Aga‘.
469
überall gelassen, seben Sie, wie sein - ich zu Verbesserungen
geneigt bin. Ich habe mancherley darüber gelesen, und dann,
unter vielem Seufzen, diesen Abriss entworfen. — Was die
Anmerkungen anbetrifft, so erröthe ich, wie oft ich mich darin
gewißermaßen mit fremden Federn schmücken muß, als Lehrerin
auftrete in Sachen, die ich selbst eben erst gelernt. Sollten in
dem, was Sie ihnen gütigst hinzufügen wollen, vielleicht gelehrte
Anmerkungen, griechische Citate etc. Vorkommen, so erlauben
Sie mir wohl, sie von den meinen gesondert, mit dem Anfangs
buchstaben Ihres Namens, zu unterzeichnen? —
Zu einer Vorrede erklärt mir Goethe nicht Kenntniss genug
von der Sache zu haben: er schreibt aber eine weitläuftige,
motivirte Empfehlung, wahrscheinlich für sein Heft für Kunst
und Alterthum. Sonst interessirt er sich vor wie nach dafür.
Das Manuscript hat er mir mit einigen wenigen Bemerkungen
und einigen Beylagen zurückgeschickt, die ich hier anfüge.
Die bloß chronologische Anordnung, die ich, und zwar mit seiner
Beystimmung, gewählt, schlägt er mir vor, mit einer zwar viel
geistreichem, aber doch wohl weniger natürlichen zu vertau
schen. Was meinen Sie dazu? Er versichert zwar wiederholt,
mich nicht geniren zu wollen u. s. w. Indessen ich ehre und
liebe ihn so, daß ich ihm gern in Allem willfahren möchte.
Uberdem sehe ich jetzt ein, daß meine chronologische Ordnung
auch nicht ganz richtig ist.
Dem Herrn, welcher sich für mich mit der Übersetzung
bemüht, bitte ich meinen ergebensten Dank abzustatten. Für
meinen Zweck ist sie vollkommen gut. Ich will nun sehen,
wie ich damit fertig werde.
Halle, 1825. 6. Januar.
Für die Bcybehaltung der serbischen Wörter: lcum,
dever etc. bin ich durchaus nicht. Noten unter dem Text, die
doch schlechterdings zur Erklärung nothwendig wären, ver
derben immer den reinen Eindruck des Poetischen. Auch
Goethe ist hier ganz meiner Meinung, und wenn er selbst Swaten
beibehielt, so war dieß offenbar nur darum, weil er die Bedeu
tung nicht recht verstand; er würde sonst nicht Stari svat durch
Fürst der Svaten übersetzen, wobey er bloß das principe des
Fortis im Auge hatte. Ohne Zweifel hielt er die Suaten für
470
Miklosich.
einen Stamm, ein eigenes Geschlecht. — Wie Goethe sonst von
jener pünktlichen Genauigkeit entfernt ist, beweist wohl, daß
er in demselben Gedicht Beg, Dahia ohne alle Umstände ganz
weglässt.
Noch muß ich bemerken, daß Ew. Hochwohlgeboren mir
allzuwenig Übersetzungsfreiheit verstatten. Sollte mir nicht
die Veränderung eines Übergangs, einer Wendung erlaubt seyn?
— Ich denke wunder wie treu ich gewesen, wie genau ich mich
dem Original angeschmiegt — aber die vielen rothen Kreuzclien
und Strichelchen bey der leisesten Abweichung haben mich
erschreckt. Wenn ich z. B. sage:
Also war das Kriegsheer vorbereitet,
Als die Türken auf das Schlachtfeld fielen —
statt: kaum war das Heer vorbereitet, scheint es mir im Wesent
lichen dasselbe, da der Leser schon weiß, daß Kossowo das
Schlachtfeld ist; — kaum ist im Deutschen matt, und scheint
mir durch jenes also — als ersetzt.
In der hist. Einleitung verweisen Sie mich einigemal auf
Engel und Strittet-, aber grade diese Schriftsteller sind es, die
ich hauptsächlich benutzt habe. Namentlich sagt der Erste,
daß es die Awaren gewesen, welche von den Serbiern aus den
Ländern, welche sie jetzt inne haben, vertrieben worden seyn.
Für die Lieder, welche mir Herr W. zusendete, sage
ich ihm meinen besten Dank; einige davon habe ich aufge
nommen, andere (die Gelegenheitsgedichte) nur darum unüber-
setzt gelassen, weil mir es bedeutend schien, daß die deutsche
Lesewelt erst durch die Kenntniss des ihr verwandteren Ge-
müthslebens jener fremden Völkerschaften für die Beziehun
gen und Verhältnisse seines äussern Lebens Interesse gewänne,
und sie mir deßhalb für eine etwannige folgende Lieferung auf
zusparen. Was aber einen dritten Theil der übersandten Lieder
anbelangt, so wundere ich mich, muß ich gestehen, nicht wenig,
wie Herr W. oder irgend jemand auf den Gedanken kommen
kann, ein Frauenzimmer, und noch dazu ein noch ziemlich
junges, könne diese Produkte einer, wenn auch nicht unpoeti
schen, doch theils höchst frivolen, leichtfertigen, theils rohen
Laune in einer von ihr veranstalteten Sammlung aufnehmen
wollen. Wenn ich mich, um die Schönheit des Ganzen willen,
Über Goetho's ,Klaggesang von der edlen Frauen des Asan Aga‘.
471
entschloßen habe, einige grössere Gedichte mit zu übersetzen,
in denen manches, trotz aller Zartheit des Wiedergebens, unzart
blieb, so glaube ich schon den äussersten Schritt gethan zu
haben.
Noch habe ich einige Fragen auf dem Herzen, um deren
Beantwortung ich Sie angelegentlich bitte. Nemlich: wie geht
es zu, daß in der Behandlung der Liebe zwischen den grossen
und kleinen Gedichten ein so greller, schneidender Unterschied
ist, als gehörten sie gar nicht einem Volk an? In den Helden
gedichten die laueste, unzulänglichste, eigennützigste Neigung-,
in den kleinen Liedern wechselweise die zarteste und glühendste,
die geistigste, und sinnlich heftigste Empfindung? — Dichtet der
Sänger der Heldenlieder niemals Liebeslieder? Liegt es daran,
daß die Heldensänger Greise, die Dichter der andern Jünglinge
und Mädchen sind? — Die andre Frage hängt damit zusammen,
und Herr W. wird die vollständigste Antwort darauf geben
können: wie ist das Verkältniss der Frauen der Serben? — Aus
den Hochzeitceremonien, aus tausend andern Dingen geht hervor,
daß es demiithigend genug ist; doch scheint es mir nach Allem,
was ich in Pouqueville über die Lage der Albanierinnen, in For
tis, Townson und Andern über die der Moriakinnen [lese], wenn
ich diese mit den Liedern vergleiche, wo ich die Serbinnen sich
ziemlich frei bewegen sehe, mit ihren Männern zu Tische sitzen,
(z. B. die Zarin Militza) mit Stickereyen beschäftigt etc., als
wäre das Verhältniss bey weitem nicht in dem Grade herab
würdigend und empörend, wie das jener unglücklichen, ver
wahrlosten Frauen. Oder werden sie auch behandelt wie Last-
thiere? Müssen sie auch die schweren Hausarbeiten verrichten?
— Sehr verbinden würden Sie mich, wenn Sie beyde Fragen
umständlich beantworteten.
Leider ist es mir ganz unmöglich gewesen über die Sitten
der eigentlichen Serben und Bosnier etwas Genügendes zu lesen,
da kein Mensch mir ein brauchbares Buch darüber zu nennen
wusste. Uber die ihnen verwandten Völker, die dalmatinischen
Slaven etc. habe ich gelesen, was ich nur habe aufbringen
können; ferner auch das Sclavonien und Croatien von Herrn v.
Czaplowitz, ein Buch, das mich freilich wenig erbauen konnte.
Existirt nichts für mich zu meinen Anmerkungen Brauchbares
über Sitten, Gebräuche etc. der Serben?
472
Miklosich.
Ich muß diesem langen Brief noch einige Worte zufügen:
Goethe hat die kleinste Meinung von den bewussten Griechen
liedern. ,Schlagt ihn todt, schlagt ihn todt! Lorbcern her! Blut!
Blut'! — sagt er, ,das ist noch keine Poesie - '. — Ob er ge
recht ist, kann ich nicht beurtheilen, da ich die Sachen nicht
kenne. Gegen den Übersetzer aber war er es nicht. — Goethe
schenkt meiner Beschäftigung unausgesetzt den lebhaftesten
Antheil; zu einer Vorrede scheint er indeßen nicht mehr auf
gelegt zu seyn, und es widersteht meinem Gefühl durchaus deß-
wegen einen zweiten Schritt zu thun. Er scheint anfänglich
selbst die Idee gehabt zu haben, ich habe indeßen aus ge
wissen Gründen nie fest darauf gerechnet.
Halle, 1825. 2. Junius.
Wenn ich es länger als billig versäumte, Ew. Hochwohl
geboren auf Ihre beyden verbindlichen Schreiben zu antworten,
so geschah es, weil ich von Tag zu Tag hoffen durfte, bey-
folgendes Buch, das ich Ihnen zugleich übersenden wollte, be
endigt zu sehn. Von Neujahr bin ich aus Ursachen, die lieber
hier unerwähnt bleiben mögen, hingehalten bis jetzt. Sie werden
das Manuscript bedeutend verringert, statt des vielen Weg-
gelaßenen einiges Neue hinzugefügt finden. Nehmen Sie es
mit Güte und Nachsicht auf! Vieles Mangelhafte ist mir jetzt
schon deutlich; andres ahnde ich dunkel. Da Sie nicht wollten,
daß ich mich des Schildes Ihres gelehrten Namens bediente,
mich vor manchem zu erwartenden Angriff zu schützen; da
auch Herr Wuk es für besser hielt, wenn ich mich nicht auf
seine Autorität berief; so habe ich, wiewohl nur ungern, des
Antheils, den Sie beyde an der Correktheit des Werkes haben,
gar nicht erwähnt. Möge es denn allein sich seinen Weg bahnen!
Goethe’s Aufsatz wird Sie wahrscheinlich so wenig be
friedigt haben als mich. Er enthält auch durchaus nichts
Bedeutendes. Die wunderliche Ansicht von der Wila, die
durchaus mit der Eule Zusammenhängen soll, habe ich ihm
schon einmal mündlich auszureden gesucht: ich sehe, er ist
wieder darauf zurückgekommen. Die kurze Charakteristik,
die er von den kleinern Liedern giebt, ist nach den Nummern
meines Manuscriptes geordnet. Sie erscheinen gedruckt in
andrer, beßrer Folgenreihe.
Über Goethe's ,Kluggesang von der edlen Frauen des Asan Aga 1 .
473
Fast vollständig liegen in meinem Pulte Materialien zu
einem zweyten Bande vorräthig. Sie würden mich sehr ver
binden, wenn Sie mir mit der Zeit noch mehrere wörtliche
Übersetzungen zusendeten, wie Sie gütigst mich bis jetzt mit
einigen versehen haben.
Was Sie mir an Lectüre zur Benutzung vorschlugen, so
hatte ich Fortis schon mit Intereße gelesen, durch die Mor-
lacken der Gräfin Wynne llosenberg hatte ich mich ebenfalls
schon durchgearbeitet, sowie durch ein Paar andre nicht weniger
langweilige Bücher der Art. Da Alles, was darin über Sitten
etc. der Morlachen steht, aus Fortis genommen ist, so beach
tete ich den Roman gar nicht, und hielt mich ausschliesslich
an jenen. Vialla las ich später auf Ihre Empfehlung.
Halle, 1826. 10. Januar.
In Bezug auf Ihr letztes Schreiben Folgendes: Sie werfen
mir zu wenig Liebe für den Gegenstand vor — aber, daß ich
diese Liebe nicht zur Schau trage, nicht in Noten und An
merkungen durch Exclamationen und Fingerzeige auf die ein
zelnen Schönheiten des Textes aufmerksam mache, das kann
ich unmöglich für einen gültigen Gegenstand des Vorwurfs
halten. Nichts verkümmert mir bey verwandten Dingen den
Genuss mehr als dieß ewige Hervortreten der Persönlichkeit
des Herausgebers, Sammlers u. s. w. Mich dünkt, den gleich
gültigen Leser wird es nicht empfänglich machen; den ungünstigen
muss es zur Opposition aufregen. Es geht mir mit Kunstwerken
wie mit einer schönen Gegend: ich mag es nicht leiden, daß
einer neben mir steht und mich auf den Farbenschmelz, die
Beleuchtung etc. aufmerksam machen will, während die Sache
für sich redet, und mein Gefühl diese Sprache versteht.
Für die gütige Mittheilung Ihrer Anzeige in den Wiener
Jahrbüchern sage ich Ihnen meinen besten Dank. Leider ist
diese Zeitschrift beynah gar nicht hier in Norddeutschland zu
bekommen. Auch Hofrath W. Müller, der uns gestern von
Dessau besuchte, kannte den Aufsatz noch gar nicht: ich habe
das Heftchen, welches ich durch Ihre Güte erhielt, ihm auf
einige Wochen mitgegeben, da es ihm von besonderem Inter
esse seyn mußte.
Sitscungsbor. d. pliil.-liist. CI. CIII. Bd. II. Hft.
31
474
Mi klosi ch.
Die neugriechischen Lieder kenne ich nun auch gut
genug, und finde sie weit über meiner Erwartung. Goethe
hatte mir eine fast kleine Meinung von ihnen eingeflösst. Unter
den romantischen Liedern sind doch gar zu herrliche Sachen.
Ihre Verwandtschaft mit den serbischen hat mich auf das leb
hafteste frappirt, besonders einzelner Stücke!
Es freut mich übrigens Ihnen sagen zu können, daß
unsere Serbenlieder bey uns eine ungewöhnliche Theilnahme
erregen; in Berlin und Dresden weiß ich, sind sie in den
Kreisen der ausgezeichnetsten Männer mit ungetheiltem Beyfall
vorgelesen worden. Ich habe manche angenehme Erfahrung
darüber gemacht.
Halle, 1826. 21. Februar.
Alle Sünden wider die Sprache werde ich gewiß mit der
grössten Aufmerksamkeit gut zu machen suchen. Auf der
andern Seite aber nehmen Sie es oft genug viel zu streng mit
mir! Häufig muthen Sie mir offenbare Unmöglichkeiten zu! Es
giebt in unserer Sprache Worte genug, die auf keine Weise in
ein trochäisches Metrum zu bringen sind, und die daher um
gangen oder umschrieben werden müßen. Kann einem das
unselige Wort Brautführer, was gar nicht vermieden werden
kann, und doch nicht einmal den Sinn genügend ausdrückt,
nicht allein schon in Verzweiflung setzen? Was die Nach
ahmung der eingestreuten Reime anbelangt, so glaubte ich
darin das Mögliche getlian zu haben — dennoch quälen Sie
mich jedes Mal mit einer Bemerkung ,daß hier im Original
Reime stünden' — wenn mich einmal meine Sprache nöthigte
es zu unterlassen. Mache ich einmal, es zu erreichen, aus
einem Vers zweye, so geht mir das auch nicht ungerügt hin!
-—- Wirklich glaube ich in diesem zweyten Theile auch in der
Form um Vieles treuer als im ersten Theile gewesen zu seyn;
aber mich vor stolpernden Versen, vor Häufung abgebißner
Worte zu hüten, scheint mir ebenfalls wesentlich zur Treue der
Form, da das Original grade auch so ausgezeichnet in Hinsicht
des Wohllauts, der Musik der Sprache ist, ja oft genug deut
lich die Lust am melodischen Klange oder am Reim in den
kleinen Liedern den Gedanken herbeyführt. Haben wir doch
schon genug mit unserer härtern Sprache zu kämpfen! — Sie
Über Goetbe's ,Klaggesang von der edlen Frauen des Asan Aga‘.
475
wollen mir ferner Verwandtschaft für rod nicht passiren
lassen. Aber wer könnte in der Poesie von Familie reden
hören, ohne zu lächeln! — Für Knabe als junger Mensch vor
den reifem Mannesjahren habe ich so viel Autoritäten, als es
Dichter gieht. Bub ist provinziell, Bursche unschön. Erinnern
Sie sich nur Schiller’s:
An der Quelle saß der Knabe etc.
oder Goethe’s:
Und sag ihr bald, und sag ihr oft,
Was still der Knabe wünscht und hofft!
Der Junggesell und der Bach.
Oder ,des erstaunt erzürnten Knaben' in ,der Müllerin
Reue 1 . — Nein, nein, hier hab’ ich offenbar Recht! — Glauben
Sie aber nicht, daß ich Sie darum schon wieder mit einem
Briefe behellige, um Ihnen dieß zu beweisen. Ich habe Ihrer
Güte noch einige Fragen vorzulegen, die ich, eilig wie ich bey
meinem vorigen war, da ich meine Reise im Kopfe hatte, ver-
gass. — Was diejenigen Lieder anbelangt, wo Sie meinen, ich
hätte über der Delicatesse die pointe verloren, so mögen Sie
Recht haben, und ich will sie daher lieber ganz und gar weg
lassen, nemlich die Lieder, und hab’ es verschworen, mich
wieder mit dergleichen abzugeben.
Der beste Beweiss für meine Liebe zur bewußten Sache
ist wohl meine fleißige Beschäftigung damit selbst; zumal da
ich so geringe Hülfsmittel und so schwache Kenntnisse habe!
Was hätte mich wohl dazu bestimmen sollen, wenn ich ihren
Werth und Gehalt nicht lebhaft empfunden hätte? -— Auch'
sind Sie gänzlich im Irrthum, wenn Sie meinen, daß die ,alt-
adlichen Griechen“ hier den ,neuen“ Serben den Rang abgelaufen
hätten, in der Meinung. Mich dünkt, alle unsre Blätter sprechen
deutlich die Anerkennung aus, die sie gefunden. Schon daß
sie so schnell überall angezeigt worden, ist fast unerhört bey
dem schläfrig trägen Gange unserer allgemein seyn sollenden
Litteraturzeitungen. Welches Aufsehen sie in den Kreisen der
ausgezeichnetsten Männer Berlins gemacht, habe ich noch jetzt,
und zwar sehr zu meinem Gunsten erfahren. Es hat sich in
Berlin vor Kurzem eine Gesellschaft gebildet, welche fast aus
lauter vorzüglichen Köpfen besteht: Hitzig, Raupach, (W. Alexis)
Häring, Streckfuss, Stägemann, Houwald, Varnhagen, Fouque etc.
31*
476
Mi klosich.
In solchem Kreise wiederholt vorgelesen, zweifeln Sie nicht,
daß unsere Lieder eine enthusiastische Würdigung gefunden
haben! Kommen Sie nur einmal nach Berlin und zu uns und
überzeugen Sie Sich davon!
Halle, 1826. 13. Julius.
Weßely’s Hochzeitlieder sind in Leipzig immer noch nicht
aufzutreiben, was mich umso mehr wundert, da sie im Literari
schen Conversationsblatt (seit Anfang dieses Monats: Blätter
für literarische Unterhaltung umgetauft) bereits angezeigt sind.
Ich hätte wohl gewünscht, diejenigen, die Sie in der Einlei
tung finden, damit vergleichen zu können.
Denken Sie in Ihren nun nahenden Herbstferien nicht
etwa eine Reise zu machen? Es wäre doch schön, wenn Ihr
Weg Sie einmal zu uns führte! Halle ist eine halbe Tagereise
von Dessau, wo ja W. Müller Sie intereßirt, Leipzig nur ein
Paar Stunden, und Weimar auch nicht weit. Wollen Sie Goethe
noch sehen, so eilen Sie, wie ich höre, geht es mit ihm mit
starken Schritten bergab. Oder kennen Sie ihn vielleicht
schon von Karlsbad her?
Halle, 1826. 8. August.
Daß Sie meinen, Müller’s Herz verrathe sich in seiner
Recension, machte mich erst zu lachen, dann verdroß es mich,
weil ich daraus den bestimmten Schluß machen zu müßen
glaubte , Sie fänden sie unverdient günstig, und hegten
eine unvortheilhaftere Meinung von dem, was ich, freilich nur
mangelhaft, leistete. Aber antworten Sie mir, bitt’ ich, lieber
gar nicht auf diese Stelle: Sie könnten denken, ich wollte
Ihnen eine Galanterie abnötliigen, und doch will ich das gewiß
nicht! — Müller ist übrigens schon seit mehreren Jahren mit
einer Frau versehn, und zwar mit einer sehr reizenden,
schwarzäugigen, voller Feuer und Leben, die ihm allenfalls
eine Griechin von den Inseln repräsentiren kann. Mit:
Augen, schwarz und groß,
Eingetaucht in Milch! etc.
Sie ist Enkelin des bekannten Basedow. An ihrer Liebe
darf Müller ja nicht zweifeln! denn sie brach um seinetwillen
mit einem jungen, freilich fast weniger als unbedeutenden
Über Goethe's ,Klaggesang von der edlen Frauen des Asan Aga‘.
477
Menschen, mit dem sie sich, eh jener sich um sie bewarb,
zum Zeitvertreibe verlobt hatte. Müller selbst ist übrigens auch
persönlich nicht grade liebenswürdig zu nennen.
In diesen Tagen haben wir uns, und zwar in besondrer
Beziehung, sehr viel mit den serbischen Frauenliedern be
schäftigt. Mein Schwager (der Vater meines kleinen Pfleg
lings), ein sehr tüchtiger und ausgezeichneter Musiker [der
Componist Carl Löwe], war aus Stettin zum Besuch bey uns.
Schon lange hatte er den Wunsch geäußert einige aus dem
ersten Bande zu componiren, und nur durch manche Äußerlich
keiten sich stören lassen. Jetzt theilte ich ihm, als einzige zu
benutzende Grundlage, die Melodien mit, welche uns Hr.
Vuk in der ersten Auflage gegeben. Er ward im höchsten
Grade erbaut davon, fand sie höchst originell und eignete sich
den Gegenstand mehr und mehr an. Aber leider war es mir
ganz unmöglich einige der bezeichneten Lieder den mitgetheilten
Melodien anzupassen, Metrum und Takt wollte sich auf keine
Weise vereinigen lassen! Demohneracktet prüften wir alle
Frauenlieder sorgfältig, inwiefern sie musikalisch seyen, und
fanden einen ganzen Cyclus heraus. Mein Schwager ist be
sonders glücklich hinsichtlich der Charaktermusik. Eben
jetzt hat er die hebräischen Gesänge von Lord Byron com-
ponirt, und es ist als wehten uns aus dem Oriente selbst die
Töne zu, als wiederhallten die Wellen die Seufzer der unglück
lichen Israeliten, die ,an den Waßern Babylons' weinten! Von
einem Philologen und Grammaticus kann ich kaum erwarten,
daß er musikalisch seyn soll. Aber gewiß wird es Ihnen und
Vuk etwas Leichtes scyn mir noch mehrere serbische National-
melodien mitzutheilen. Sie würden mich sehr dadurch ver
binden, und ich kann Sie versichern, daß sie in keine beßern
Hände kommen können. Im Fall Sie meine Bitte gewähren,
ersuch’ ich den Aufschreibenden die Worte des Textes unter
die Noten zu setzen, daß wir uns ein wenig in die eigen-
thümliche Singweise der Serben finden lernen.
Halle, 1826. 4. November.
In Cassel machte ich J. Grimm’s persönliche Bekannt
schaft, und obwol er mir zuerst etwas herbe erschien, und er
mit solchem Eigensinn an seinen Ansichten festhält, daß er
478
Miklosicli.
sicherlich an meiner Auffassung der Serbenlioder mehr Ärgerniss
als Freude hat, so hoffe ich doch in ihm, während der drey
Tage Zusammenseyns, mir einen Freund erworben zu haben.
Goethen fand ich fast verjüngt, ungemein gütig und freundlich
— bis jetzt hatte er mir nur imponirt, zum ersten Mal flößte
er mir eine Art Zutrauen ein, und wäre ich nur noch einen
Tag geblieben, wäre ich vielleicht nach und nach dazu gelangt,
ohne Herzpochen mit dem großen Meister reden zu können.
Intereßant war es mir Grillparzer bey Goethe zu finden. Ich
schätze ihn so sehr, daß ich es ihm gern bezeigt hätte, aber
leider scheint seine Gegenwart in unserem Norden nur äusserst
flüchtig gewesen zu seyn. Mein Gespräch mit ihm ward durch
Kommende und Vorzustellende unterbrochen, und ich kann
kaum sagen, daß ich ihn kennen gelernt habe.
Es macht mir Freude Ihnen von dem Eindrücke zu reden,
den unsre Lieder in unsern Gegenden gemacht haben, und ich
versage es mir nicht Ihnen mitzutheilen, daß er nach der all
gemeinen Versicherung lebhafter und tiefer ist, als in neuerer
Zeit einer empfangen worden. Besonders haben junge kräftige
Männer sie mit wahren Enthusiasmus aufgenommen; ich kenne
einen, der sie halb auswendig und schön zu recitiren weiß.
Habe ich doch sogar erfahren, daß strenge Juristen, die sonst
die schöne Literatur ziemlich an den Nagel gehängt haben,
wie z. B. Savigny — sich innig mit ihnen befreundet haben
und sie wiederholt lesen. Von manchem hohen preussischen
Staatsbeamten, den ich ganz den Musen abgestorben wähnte,
habe ich schon Dank für ihre Mittheilung empfangen! Glauben
Sie mir aber, daß ich den geringen Antheil, welchen ich
daran habe, recht gut abzuwägen weiß und gewiß nicht über
schätze.
Halle, 1827. 28. Februar.
Während meiner Abwesenheit ist Herr S. Milutinowitsch
hier gewesen, was mir in jeder Hinsicht sehr leid timt, umso
mehr, da er gar keinen anderen Bekannten hier hat.
Ich weiß nicht, ob Sie von seinem — oder vielmehr von
W. Gerhard’s Unternehmen schon unterrichtet sind. — Mich
dünkt, ich darf voraussetzen, nein. Irr’ ich, so überschlagen
Sie diese Stelle. Milutinowitsch hat Gei’hard auf dessen drin-
Über Goethe’s ,Klaggesang von der edlen Frauen des Asan Aga 1 .
479
gendes Verlangen eine wörtliche Übersetzung sämmtlicher
von mir nicht übersetzten Lieder der Vuk’schen Samm
lung in die Feder diktirt. Gerhard hat sie bearbeitet und
wird sie auch nächstens herausgeben. Gerhard hat ein ange
nehmes lyrisches Talent, aber ich kann kaum glauben, daß er
den Grad der poetischen Urtheilskraft besitze, der dazu nöthig
wäre, hier das Gehörige zu finden. Ich habe ihn wenigstens
persönlich als einen gar zu schwachen, seichten und taktlosen
Menschen kennen lernen, als daß ich sie ihm Zutrauen könnte.
Doch will ich nicht in Voraus urtheilen, es ist wunderbar, was
manchmal ein glücklicher Instinkt thut! Aus Gerkard’s Liedern
spricht eine Fülle von Liebes- und Weinlaune, und daher zweifle
ich nicht, daß ihm alles, was in den serbischen Liedern Ana-
creontisches ist, sehr gelingen wird. Wenigstens wird er
etwas Hübsches geben — es kommt nur darauf an, ob er das
Nationelle zu respectiren weiß! — Ich bin begierig, was Sie
dazu sagen werden? — Gewiß ist’s, daß Gerhard recht von
Herzen bey der Sache ist; leider giebt er sich aber auch mit
gelehrten Dingen ab, wozu sich weder der Leinewandshändler
noch der Herzogi. sächs. hildburghäusische Legationsrath qua-
lificirt. Er will nemlich durchaus der Verwandtschaft der nor
dischen und serbischen Mythologie recht auf den Grund kommen.
Vergebens sag’ ich ihm mit der möglichsten Höflichkeit, daß er,
um in diesem Felde Entdeckungen zu machen, sich wohl vor Allem
mit dem Zusammenhang der slav. Völker und ihren verschiedenen
Götterlehren untereinander bekannt machen müße; daß wohl
eine Kenntniss mehrerer slav. Dialekte dazu gehöre, hier nicht
zu schnelle Schlüße zu machen, und alles, was sich dem Den
kenden von selbst darbietet: er hält sich mit unerschütterlicher
Gläubigkeit an ein Paar zufällige Namensähnlichkeiten, und
fühlt sich glücklich herausgefunden zu haben, z. B. daß Bogdan
ungefähr wie Wodan klinge, Radisclui wie Radegost etc.!!!
Der Ljutiza Bogdan soll auch durchaus ein übernatürliches
Wesen seyn und Marko’s Furcht vor ihm etwas von Gespenster
furcht an sich haben. — Ilierbey fällt mir ein, daß — ich
brauche wohl nicht hinzuzusetzen: sans comparaison ■— auch
Goethe sich mit dieser Furcht durchaus nicht versöhnen konnte:
Marko, sagte er, sey ein absoluter Held und dürfe nicht
fliehen. Und doch ist diese Gemüthsbewegung so gar nichts
480
Miklosich.
Neues, und so echt menschlich! Die stärksten Helden fliehen,
wenn der Stärkere ihnen begegnet — Diomed vor Hektor,
Helctor vor Achill —- wenn sie bloß Menschen sind und nicht
ausserdem noch Chevaliers etc.
Auch flieht ja Marko nicht wirklich, sondern eben eine
Idee, eine den Ideen ritterlicher Ehre so eng verwandte, die
des gegebenen Wortes hält ihn zurück.
Bey meiner Zurückkunft fand ich den zweyten Thcil der
Wiener Ausgabe, den Sie mir gütigst durch Schwetschke über
sandt. Ich danke bestens dafür, gestehe Ihnen aber, daß ich
die angehängten Melodien schon besaß, sie sehr merkwürdig,
aber nicht genügend fand, besonders aber mit dem Unterlegen
des Textes nicht recht fertig werden konnte. Giebt es die
Gelegenheit, so senden Sie mir, was Sie von serbischer Musik
finden können, ungern würde ich dadurch Ihnen irgend Mühe
machen.
Halle, 1828. 2. Februar.
Bowrings Werk ist nun allerdings längst in meinen Hän
den. Mich dünkt, es war Anfang Oktober, als ich es von
Heidelberg aus empfieng —- es war nach seiner Behauptung
das dritte Exemplar, das er an mich absendete: was aus den
beiden ersten geworden ist, weiß Gott! So mußt’ ich denn schon
die zwey Thaler Postgeld verschmerzen, die der galante Eng
länder mich dafür bezahlen ließ! Er schrieb mir, er habe vor
gehabt, mit seiner Reise nach Deutschland eine nach Serbien
zu verbinden, doch fürchte er, die Umstände, die man dem
Reisenden im Österreichischen mache, werden ihn daran hin
dern. Ich gestehe, nach seinen Briefen zu urtheilen, kann ich
einem meiner Freunde nicht unrecht geben, der ihn a literary
dandy nannte. Auch ist diese Sucht, im slavischen Gebiete
nicht allein, sondern überhaupt in der Fremde universell zu
seyn, bey seinen oberflächlichen Sprachkenntnissen wirklich
■ lächerlich. Ich bin so nachlässig gewesen ihm noch nicht zu
antworten. Und in der That, ich weiß nicht recht was. Daß
er mehr aus dem Deutschen übersetzte als aus dem Sei’bischen,
ist wohl ganz unzweifelhaft; auch gesteht er dieß in seinen
Briefen ganz unumwunden ein, und verschweigt es nur im Buche
wohlweislich. Ich finde, die Lieder lesen sich recht hübsch —
Über Goethc's ,Klaggesang von der edlen Frauen des Asan Aga‘.
481
übrigens mißfallen uns unsre Fehler erst recht, wenn Sie ein
Andrer nachahmt, und daran fehlt es nicht. Manche Stellen
z. B. wo er: oj snasice, rumena ruäice! was ich, um den
Reim nachzuahmen, übersetzte:
Brudersweibclien, süßes schönes Täubchen!
ganz treuherzig wiedergiebt:
Brothers wife! thou sweet and lovely dovelet!
machten mich wirklich zu lachen. Hier und an tausend andern
Stellen scheint er das Original gar nicht einmal angesehen zu
haben. Bowring wünscht eifrig, ich möchte sein Werk an-
zeigen, allein ich habe das Recensiren ein für allemal aufge
geben und darum auch über Schaffarick’s Buch, obwohl dieß
letztere von hohem Intereßo für mich war, geschwiegen. Ich
fürchte immer, ich könnte noch einmal Verdruß daran haben,
denn die Männer vergeben uns allenfalls, ein Paar Versehen zu
machen, allein die Kritik ist nun einmal ,unweiblich', ,mit den
Grazien unverträglich“ und weiß der Himmel was alles! wahr
scheinlich, weil dazu mehr klarer Verstand gehört als dunkles
Gefühl! — Theils weil ich von Natur etwas furchtsam bin und
vor dem Gedanken erschrecke, etwa hämische Antikritiken zu
erfahren, worin vielleicht gar mein Name öffentlich genannt
würde, theils aus andern Gründen beschränk’ ich mich auf die
Kritiken am Theetisch, und so gewinn’ ich, während niemand
verliert.
Übrigens muß ich hinzufügen, daß meine enge literarische
Laufbahn bis jetzt vollkommen dornenlos war. Das Einzige,
was mir vielleicht je in dieser Beziehung einigen Ärger gemacht
hat, ist ein Buch, welches ich vor Kurzem zugeschickt bekam,
ebenfalls Volkslieder der Serben betitelt, von P. v. Götze. Ohne
Zweifel ist es auch in Ihren Händen. Ich kann es nicht anders
als wie ein höchst unbescheidenes Plagiat betrachten. Ohne
meiner Übersetzung auch nur mit einer Sylbe zu erwähnen,
lautet die seine oft wörtlich eben so; mit sehr wenigen Aus
nahmen sind auch die nemlichen Stücke gewählt, und alle
historischen und literarischen Notizen sind mitgetheilt, als würde
dem Publicum etwas ganz Neues gesagt. Meine Sünde Dva se
draga vrlo milovala durch ,Herzlich liebten sich ein Knab’ und
482
Miklosich.
Mädchen' zu übersetzen, muß ihm besser gefallen haben als
mir, denn hier heißt es ebenfalls:
Knab’ und Mädchen liebten sich von Herzen.
Überhaupt habe ich mir keine Freiheit genommen, die er nicht
zehnfach überboten hätte, und ich müßte wirklich, da er schon
1819 übersetzt haben will, eine geheime Sympathie zwischen
uns fürchten, wenn ich nicht zum Glück wüßte, wie diese
wunderbare Sache mit natürlichen Sachen zusammenhieng. Ein
Freund, der auch ein genauer Bekannter von Götze ist, schrieb
mir schon vorlängst: ,Ihre Übersetzung hat mir Götze schon
vor einem halben Jahre abgeborgt, und trotz alles Mahnens
kann ich sie nicht wiederbekommen. Er versichert, daß Ihre
beyden Arbeiten bewunderungswürdig Zusammentreffen. 1 —
Der Freund versäumt nicht diese letzten Worte mit Unter
streichungen und Ausrufungen zu versehen, und deutet dadurch
genugsam an, was es von dieser bewunderungswürdigen Über
einstimmung denkt. Überhaupt ist doch das Unwesen in unserer
Literatur jetzt entsetzlich! Nicht leicht hat mich etwas mehr
empört als des erbärmlichen Herlosssohn Unverschämtheit gegen
Frl. Tieck. Wenn ein vollkommen unbescholtenes, gebildetes
Frauenzimmer, das noch dazu nie öffentlich aufgetreten ist,
wenigstens nie unter ihrem Namen, nicht einmahl mehr sicher
ist öffentlich angegriffen oder gar verhöhnt zu werden, welches
sollte es denn seyn? Schützt davor bey uns nur entschiedene
Unbedeutenheit? — Sie haben vielleicht von dem Machwerke:
,Löschpapier des Satans' gar keine Notiz genommen, allein hier
in Norddeutschland, wo man mit dem zwar allerdings einseitigen
und anmaßenden, aber immer geistreichen Treiben der Tieck-
schen Schule besser bekannt ist, verstanden wir leicht alle Be
ziehungen. Unter solchen Verhältnißen muß man W. Müller’s
und Hauffs Tod doppelt beklagen. Um beyde junge, so aus
gezeichnete Männer that es mir unbeschreiblich leid, besonders
um Müller.
S. 1. et a.
Vor einigen Monaten habe ich mit grossem Nutzen und
theilweise auch grossem Vernügen Schaffarick’s treffliches Buch
gelesen. Um indeßen des Verfassers Enthusiasmus für slavische
Über Goethe’s ,Klaggesang von der edlen Frauen des Asan Aga‘.
483
Völkerschaften, der in ihnen mehr Tugenden als eigentliche
Charakterzüge sehn lässt, und seine wunderliche Animosität
gegen die Deutschen nicht übel zu nehmen, muß man grade
so tolerant seyn, als wir Deutsche es sind. Wäre nicht seine
geharnischte Vorrede, ich würde mir ein Vergnügen daraus
machen, das Buch, insoweit ich es als Laihin kann, d. h. nicht
seinen wissenschaftlichen Werth, den ich nicht beurtheilen
kann, sondern seinen Geist in einem unsrer norddeutschen
Blätter zu würdigen und zu preisen. Aber wer behielte da
den Mutli?
Schreibt denn Ihr Grillparzer nicht wieder etwas? Ich
habe eine besondere Vorliebe für seine Produktionen, unsre
Recensenten mögen sagen was sie wollen. Er ist doch ein echter
Dichter! Ich lernte ihn vor dem Jahre bei Goethe flüchtig
kennen, und es war so etwas Elegisch-poetisches in seiner ganzen
Erscheinung! Ich weiß nicht ob er mich kannte — ich glaube
kaum, da Fr. v. Goethe mir ihn, mich aber nicht ihm vorstellte.
[Grillparzer spricht in seiner Selbstbiographie, Sämmtliche
Werke 10. 169. von seiner Begegnung mit Talvj: ,Gegen
Abend ging ich zu Goethe. Ich fand im Salon eine ziemlich
große Gesellschaft, die des noch nicht sichtbar gewordenen
Herrn Geheimeraths wartete. Da sich darunter — und das
waren eben die Gäste, die Goethe Mittags bei sich hatte —
ein Hofrath Jacob oder Jacobs mit seiner eben so jungen als
schönen und eben so schönen als gebildeten Tochter befand,
derselben, die sich später unter dem Namen Talvj einen lite
rarischen Ruf gemacht hat, so verlor sich bald meine Bangig
keit, und ich vergaß im Gespräche mit dem liebenswürdigen
Mädchen beinahe, daß ich bei Goethe ward Grillparzer spricht
noch einmahl, 173, von der liebenswürdigen Talvj'.]
Andover, 1832. 21. Februar.
Seitdem ich Europa verlaßen, ist es von den ungeheuer
sten Bewegungen erschüttert worden. Ihre Stadt ist auch von
der fürchterlichen Cholera heimgesucht worden: möchten Sie,
verehrter Freund! doch persönlich nichts davon gelitten haben.
Aber schon rings um sich Elend und Untergang zu sehen, ist
entsetzlich. Man wünscht mir von Deutschland aus Glück der
Gefahr entgangen zu seyn: ach! ich glaube wirklich, die Angst,
484
Miklosich.
sie in der Nähe zu wissen, kann nicht größer seyn, als die
seine Lieben in der Ferne dem schrecklichsten aller vorhan
denen Übel täglich ausgesetzt zu wissen! Für den Fall, daß
Sie meinen früheren Brief nicht erhalten haben sollten, wieder
hol' ich hier, daß wir 1830, Anfang May, uns in Bremen ein
schifften, nach einer langwierigen und beschwerlichen Reise
den 2. Juli New York erreichten, und die ersten Monate hier
damit zubrachten, Freunde und Verwandte meines Mannes
zu besuchen, was mir die günstigste Gelegenheit gab, die ver
schiedenen Verhältnisse und Sitten des Landes kennen zu
lernen und nach der Reihe großstädtische, kleinstädtische und
ländliche Lebensart der Amerikaner zu beobachten. Seit dem
1. November 1830 leben wir in Andover, einige Meilen von
Boston, eine nach amerikanischerWeise über eine breite Strecke
Landes hingestreute Ortschaft (town) mit einem theologischen
Seminarium, an welchem mein Mann Professor und Bibliothekar
ist. Er findet hier den Kreis des Wirkens, den er sich wünscht,
und vorzüglich Muße zu schriftstellerischen Arbeiten. Darunter
gehört die Herausgabe einer Viertel]ahrsschrift: Repository for
biblical literature, eine der wenigen hiesigen reinwissenschaft
lichen Publicationen. Denn daß die Amerikaner im Allge
meinen die Wissenschaft ziemlich cavalierement behandeln, ist
nur zu gewiß, und kann Ihnen nicht neu seyn. Besonders
aber die Kunst. Einer Wissenschaft kann man doch, sie
heiße wie sie wolle, einen gewißen praktischen Nutzen abge
winnen, aber die Kunst, die sich anmaßt, als solche, für sich
bestehen zu wollen, mehr zu seyn als Dienerin — das ist ein
Begriff, für den nicht leicht ein amerikanisches Gemüth empfäng
lich ist. Tieck’s Kernspruch,wann hat sich das Große und Schöne
je so tief erniedriget, um zu nützen', den ich manchmal in
scherzhafter Übertreibung anführe, hat hier schon manchem
recht guten Kopfe die Haare zu Berge getrieben.
Was mich selbst anbelangt, so könnte vielleicht in der
ganzen Welt kein Ort gefunden werden, wo ich weniger am
Platze wäre als Andover. Zwey große Intereßen bewegen die
Gesellschaft dieses Landes ausschließlich: das politische und
das religiöse. Letzteres ist’s, das hier allein herrscht, aber in
der engherzigsten, beschränkendsten, alles Schöne vernichten
den Form, das Princip der alten Covenanter und Puritaner,
Über Goethe's ,Klaggesang von der edlen Frauen des Asan Aga‘.
485
denen die harmloseste Freude sündhafte Lust am Weltlichen
ist, voller geistlichen Dünkel und Hochmuth. Oft ist mir’s, als
sähe ich mich in das siebzehnte Jahrhundert versetzt. Schon
in früher Jugend ist mein Sinn auf den Ernst des Lehens ge
richtet gewesen, und seit einer Reihe von Jahren hat Verlust
auf Verlust meinen Blick nach dem Jenseits gelenkt, wo ein
Wiederfinden des Verlornen unser harret, und auf den, der in
seiner Weisheit giebt und nimmt. So fiel mir den oft der
frivole Leichtsinn, mit welchem die meisten Menschen dahin
leben, ohne sich je ihres Zusammenhanges mit ihrem Schöpfer
recht klar bewußt zu werden, und in welchem ich mich selbst
häufig genug befangen sah, schwer auf das Herz, und wenn
ich bedachte, wie wenig, namentlich in protestantischen Län
dern, unsere Erziehung dafür sorgt, uns einen Verkehr mit
Gott zur Gewohnheit zu machen, und wie schwer äußere
Anregungen und Mahnungen dazu mit unseren Sitten und Ge
bräuchen in Einklang zu bringen sind, so schien mir Alles,
was dazu dienen könnte, unsere Verbindung mit dem Höchsten
zu unterhalten (die Sitte des häufigen Kirchengehens, Haus
andachten, Tischgebete etc.) fast eine Wohlthat. Allein wenn
ich nun hier sehe, wie das alles zum Mechanismus wird, und
mit welcher Geist tödtenden, am Buchstaben klebenden Sinnes
beschränktheit dieß in diesem Lande der Sekten getrieben
wird, dann sagt mir sowohl Gefühl als Einsicht auf das Deut
lichste, das könne nicht das Wahre seyn. — Ich will übrigens
damit nicht sagen, daß neben diesem Formenwesen nicht auch
viel wahrhafter christlicher Sinn hier herrsche, ja zum Theil
von jenem genährt werde. Auf der andern Seite aber ist
nichts geeigneter die Opposition zu wecken. So starb neulich
ein reicher Mann in Philadelphia und setzte eine sehr große
Summe zur Gründung eines Erziehungs- und Waisenhauses
aus, mit der ausdrücklichen Bedingung, daß es nie einem
Geistlichen irgend einer Glaubensparthey vergönnt seyn sollte,
damit in dem geringsten Zusammenhang zu stehen, ja nie
einer das Haus oder den Bezirk des Hauses nur als Besuchen
der betreten dürfe!!! Aus Obigem werden Sie leicht schließen
können, daß mir die Gesellschaft hier nicht gefallen kann,
und so hab’ ich mich denn freiwillig ganz zurückgezogen, und
lebe ausschließlich für meine Kinder. Seit vorigem Herbst
486
Mi kl o sich.
lmb’ ich nemlich neben meinem allerliebsten, in Deutschland
geborenen, nun dritthalbjährigen Mädchen einen prächtigen
kleinen Jungen, voller Lust und Leben, Max mit Namen.
Diese beyden holdseligen Geschöpfe machen meine Welt aus!
Nebenbey hab’ ich viel Zeit zur Lektüre, die ich natürlich
jetzt besonders in Beziehung auf das Land einrichte, dem
Mann und Kinder angehören, und von dessen Beschaffenheit,
Geschichte, Ureinwohnern, Sprache, Literatur etc. ich mir gern
die genauste Kenntniss verschaffen möchte.
Nachrichten aus dem geliebten Vaterlande erhalte ich
regelmäßig jeden Monat von meinem theuren Bruder, und oft
noch dazwischen, aber er scheint auch fast der Einzige von
meinen Freunden zu seyn, der mich nicht vergessen hat. Und
wie erfreut und bewegt mich doch jedes gute Wort von dort
her! Wie herzlich werd’ ich mich Ihnen verbunden fühlen,
wenn Sie mir von Zeit zu Zeit ein Zeichen geben, daß dort, wohin
sich unaufhörlich Gedanken und Gefühle in wehmütiger Sehn
sucht richten, manchmal auch meiner freundlich gedacht wird!
Indem ich meinen Brief flüchtig überblicke, seh’ ich,
daß eine gewiße Unzufriedenheit daraus spricht, die ich jedoch <t
nicht mißverstanden wünschte. Ich bin nichts weniger als
eingenommen gegen das Land, in dem ich lebe. O es ist ein
glückliches Land! Die Amerikaner vereinigen die ernsthafte
Verständigkeit des Alters mit der frischen Tüchtigkeit der
Jugend, aber freilich nicht mit dem Feuer, mit der Anmuth,
der innern Poesie der Jugend.
,Die Grazien sind leider ausgeblieben 1 ,
als dieß Volk von den Göttern ausgestattet wurde mit der
Freiheit und dem rechten Sinn dafür und derjenigen Mäßi
gung , die das wahre Fundament eines dauernden Glückes
ist. Auch ist nichts ungerechter als die Amerikaner im All
gemeinen des Egoismus und eines engen selbstischen Krämer
geistes zu beschuldigen. Nirgends in der Welt herrscht mehr (
Bürgersinn, mehr Gemeingeist (freilich auch Partheygeist), mehr
Sinn für die Wahrheit, daß der Einzelne nur ein Glied des
Ganzen ist. Es ist erstaunlich, wie viel Großes und Vortreff
liches hier durch Gesellschaften geschieht! Aber Sie finden
hier auch societies für Alles, für Großes und Kleines! Und es
Über Goethe's ,Klaggesang von der edlon Frauen des Asan Aga*.
487
ist wieder, als könnte der Einzelne für sich gar nichts, am
allerwenigsten seine eigene Meinung haben. Es ist sichtlich,
daß in dem scharf ausgesprochenen National- und Socialsinn
die Individualität ganz verloren geht. Dieß ist das Land der
Freiheit, aber sicherlich nicht der Freiheit des Gedankens. Die
Meinung, die Sitte, die Mode herrschen mit eisernerem Scep-
ter als alle Despoten und Autokraten Europa’s zusammenge
nommen. Wie bey uns die Geniesucht herrscht, die Original
sucht!, so hier die Nachahmungssucht. Alles baut gleich, kleidet
sich gleich, beträgt sich gleich, und wenn man fragt warum?
— it is the custom. — Auch die Beschuldigung der Unfreund
lichkeit gegen Fremde scheint mir ganz ungerecht. Es herrscht
hier im Gegentheil ein gewißes allgemeines Wohlwollen, das
natürliche Resultat des eignen Wohlbefindens.
Auch hier ist bey dem harten Winter viel über Armuth
geklagt worden, aber die Leute nennen sich hier arm, wenn sie
nicht ihre Kuchen zum Tliee oder ihre Butter auf das Weißbrodt
haben. In den großen Städten giebt es freilich viel Elend, aber
fast nur unter den neuen Ankömmlingen aus Europa, die entweder
nicht arbeiten wollen, oder zu unbehülflich sind Arbeit aufzu
suchen. Daß die Amerikaner von dem Gesindel, das hierher kommt
sein Glück zu machen, nicht zum Besten denken, ist natürlich.
Nehmen Sie mein herzliches Lebewohl und erfüllen Sie
meine Bitte mir bald zu schreiben. Was macht Herr Vult
und hören Sie von Milutinowitsch ? Ist Grillparzer noch in
Wien? Ich sah ihn vor mehreren Jahren bey Goethe, wo er
einen sehr angenehmen Eindruck auf mich machte, nachdem
er mir schon lange als Dichter sehr werth gewesen.
Halle. 1837. 28. September.
Was sagen Sie zu Goethe’s Urtheil über Milutinowitsch’s
Epos [Serbianka. 1826.]? Vielleicht bekomme ich bey dieser
Gelegenheit auch Ihr eignes über dasselbe zu hören, warum ich
Sie, dünkt mich, schon einige Mal gebeten.
Dresden, 1838. 28. Juli.
Wie manche bekannte Gestalt hat sich mir seit meinem
Hierseyn wieder gezeigt. Besonders erfreute mich eines Tages
J. Grimm’s Besuch. Auch ergriff mich die unverkennbare Weh-
488
Mi klosich.
rnutli, mit der er von der Unterbrechung seiner gelehrten Thä-
tigkeit sprach. Er gieng nach Jena zum Besuch auf ein Paar
Wochen und dachte dann in Cassel sich niederzulassen und
zusammen mit seinem Bruder ein deutsches Wörterbuch aus
zuarbeiten. Leider soll der etymologische Theil nur Nebensache
seyn, da es besonders für das grosse Publicum bestimmt ist.
Berlin, 1839. 12. August.
Auch ich bin vorigen Winter recht fleißig gewesen' und
so habe ich bereits vor acht Tagen ein Manuscript an Brock
haus absenden können, und werde das Vergnügen haben Urnen
in ein Paar Monaten ein Werkchen zu überschicken mit dem
Titel: Versuch einer geschichtlichen Charakteristik der Volks
lieder germanischer Nationen u. s. w. Obwohl der Gedanke
des Buches, so viel ich weiß, ganz neu ist, und noch kein
ähnliches Werk existirt, so bilde ich mir doch keineswegs ein,
darin neue Entdeckungen und Forschungen an’s Licht zu
bringen. Im Gegentheil ist es nur meine Absicht gewesen, das
bereits Vorhandene, zerstreut umher Liegende, in einen Rahmen
zu fassen, und so dem, der weder Zeit noch Neigung hat, sich
eine vollständigere Kenntniss des Gegenstandes aus einer be
deutenden Anzahl von Büchern zusammen zu suchen, und doch
ihm einiges Intereße widmet, eine gedrängte Übersicht des
Ganzen zu geben. Auf ein großes Publikum kann ein solches
Buch wohl nie rechnen. Und doch wird es zum Theil darauf
ankommen, ob ich meinen Vorsatz ausführen und eine Fort
setzung anknüpfen werde, die die slavischen Volkslieder eben
so behandelt. Den Vorstudien dazu denk’ ich nächsten Winter
zu widmen.
Stettin. S. a. [Der Brief fallt in die Zeit von 1837 bis 1840.]
1 7. November.
Was den vierten Theil der Volkslieder [Vuk’s] anbelangt —-
um noch einmal darauf zurückzukommen — so ist er mir bei Aus
arbeitung eines englischen Werkchens über Volkspoesie, womit
ich eben beschäftigt war, und das, obwohl es anfänglich durch die
Geburt meines jetzt gerade vierzehnmonatlichen Knaben, dann
durch unsern Umzug nach Nfew York, dann durch unsre Reise
nach Europa unterbrochen worden, doch will’s Gott! noch
Über Gootlie’s ,Kluggesang von der edlen Frauen des Asan Aga‘.
489
einmal das Licht der Welt erblicken soll, von ganz beson
derem Nutzen gewesen. Denn was lebendige Volkspoesie ist
in ihrem Entstehen, Fortdauern und Wirken, kann man ja doch
nur in Serbien lernen. Die Aufschlüsse und Nachweisungen,
die er [Vuk] über die historische Entstehung seiner Sammlung
giebt, waren mir daher höchst bedeutend, und ich möchte
darüber noch eine ganze Reihe Fragen tliun.
Zusätze.
1. Zu den Anmerkungen zu Pisma 3. ist dasjenige hinzuzufügen,
was Professor A. Pavic gegen Vulc’s Änderungen einwendet Rad jugosla-
venske akademije XLVII. Seite 98.
2. Der Ausdruck ,serbischer Trochäus 1 rührt nicht etwa von mir her.
Man findet ihn unter Anderm in E. Kleinpaul’s Poetik I. 76. Die Bezeichnung
ist nicht ganz passend, da der s. g. serbische Trochäus von Goethe, wie mir
scheint, nicht aus dem Serbischen entlehnt wurde und da derselbe an die
Regeln des epischen Verses der Serben nicht gebunden ist. Die Übersetzer
vernachlässigen meist nicht nur den Einschnitt nach der vierten Silbe sondern
auch die syntaktische Selbständigkeit des Verses: nur einer beobachtet zwar
die erste Regel, lässt jedoch das Hinübergreifen des Gedankens in den fol
genden Vers häufig ein treten.
3. Saani Pisma 1. v. 132 ist türk, sahn, vulg. sahan, Schale, Schüssel
aus dem arab.
4. Über Talvj hat Fr. Löher einen lesenswerthen Nekrolog geschrieben,
der in der Allgemeinen Zeitung vom 9. und 10. Juni 1870 gedruckt ist.
Sitzungsber. d. pbil.-hist. CI. CIII. ßd. II. Hft.
32
490 Mi klosich. Über Goethe's ,Klaggesang von »1er edlen Frauen des Asan Aga*.
Inhalt.
Seite
Einleitung 413
I. Geschichte des Originaltextes 414
1. Der Text von Fortis —
2. Der Vuk’sehe Text 418
3. Der Text der Spalatiner Handschrift 421
Anhang. Pisraa 1 424
Pisma 2 431
Pisma 3. (Asanaginica) 432
Anmerkungen 435
II. Geschichte der Übersetzungen 442
1. Übersetzung von Fortis —
2. Deutsche Übersetzung vom Jahre 1775 444
3. Französische Übersetzung 447
4. Goethe’s Übersetzung 450
5. Übersetzung von Talvj 456
6. Andere Übersetzungen 458
Anhang. 1. Über die ,morlackischen‘ Dichtungen in Herder’s
,V olksliedern 1 459
2. Über die Gräfin Rosenberg 460
3. Aus den Briefen von Talvj an B. Kopitar .... 462
Petschenig. Textkr. Grundlagen im zweiten Th eile v. Cassians Conlationes. 491
Ueber die textkritiselien Grundlagen im zweiten
Th eile von Cassians Conlationes.
Von
Dr. Michael Petsehenig.
Unter den vielen Ausgaben Cassians gibt es nur zwei,
welche als kritische Recensionen gelten können. Die erste er
schien, besorgt von dem Niederländer Cuyckius, Professor in
Löwen, 1578 zu Antwerpen. Derselbe gründete den Text der
Institutionen auf fünf, den der Conlationes auf zwölf Hand
schriften, die er sämmtlich belgischen Klöstern entnahm. Aber
diese Codices waren offenbar meist jungen Ursprungs und viel
fach verderbt und interpolirt. In der That ist der Text dieser
Ausgabe für die angeführten Schriften ohne besonderen Werth.
Nur für die Bücher contra Nestorium hatte Cuyckius einen
vortrefflichen, jetzt verschollenen Codex ,Coloniensium Augu-
stinianorund zur Verfügung. Besser ist die zweite Revision,
welche auf Grund von acht vaticanischen Handschriften von
dem spanischen Priester Ciacconius veranstaltet wurde, aber
die Schrift gegen Nestorius, für welche die Vaticana keine Hand
schrift bot, nicht mit enthält. Sie erschien 1588 zu Rom.
Leider war der Benedictiner Alardus Gazaeus, der 1G16 eine
neue, mit theologischen Commentarien reich ausgestattete Aus
gabe erscheinen liess, ein so durchaus unkritischer Kopf, dass
er seinen Text fast ganz an den des Cuyckius anschloss und
von dem höheren Wcrtlie der editio Romana durchaus keine
Ahnung hatte. Da nun die neueren Drucke, wie der Leipziger
1733 und Mignes Patrologie, Bd. 49, ausschliesslich diese Aus
gabe wiedergeben, ist der Theologe wie der Philologe heute
noch auf einen Text angewiesen, der fast auf jeder Seite einige
Unrichtigkeiten enthält. Dass dem so sei, hatte schon A. Reiffer
scheid bei der Durchforschung der italienischen Handschriften
32*
492
Petschenig.
erkannt und gelegentlich 1 geäussert, dass die Ausgabe des
Gazaeus ,einer durchgreifenden Revision bedarf, die
den Text erheblich umgestalten wird*. Diese Aeusserung
trifft vor Allem für die Conlationes zu, jenes Werk Cassians,
welches im Mittelalter am meisten gelesen wurde 2 und dem
entsprechend auch die einschneidendsten Aenderungen und
Interpolationen im Texte erfahren hat. Im neunten Jahrhundert
bestanden bereits zwei wesentlich verschiedene Recensionen
neben einander, welche nicht blos in den bisher verglichenen
Handschriften deutlich sich ausprägen, sondern offenbar auch
in die Ausgaben übergegangen sind. So stimmt der Text der
editio Basileensis von 1485 im ersten Theile des Werkes (Conl.
I bis X) vollkommen mit dem Sangallensis 574 s. IX. Die
editio Rornana nähert sich dem Texte dieses Codex hie und da,
zeigt aber an den meisten Stellen starke Abweichungen. Der
Ausgabe des Cuyckius und Gazaeus hingegen lag offenbar eine
ganz andere Recension zu Grunde, für welche sich ein Vertreter
in dem Parisinus 13384 s. IX gefunden hat. Ganz ähnlich ist im
dritten Theile (Conl. XVIII bis XXIV) das Verhältnis zwischen
zweiMonacenses s.VIII und IX einerseits und dem Sangallensis 575
s. IX andrerseits. Die nächste Aufgabe des neuen Herausgebers
— und wahrlich keine leichte — wird nun die sein müssen, fest
zustellen, welche Fassung die echte, welche die überarbeitete ist.
Bekanntlich hat Cassian die XXIV Conlationes nicht auf
einmal, sondern in drei Abschnitten erscheinen lassen. Der
erste umfasst Conl. I bis X, der zweite XI bis XVII, der dritte
XVIII bis XXIV. Dem entsprechend pflegen auch alle älteren
Handschriften bis zum zehnten Jahrhundert nur einen dieser
Theile zu enthalten. Als Ausnahme ist mir bisher nur der
Parisinus N. A. L. 2170 s. IX bekannt. Es zerfallen daher die
überhaupt in Betracht kommenden Handschriften zu diesem
Werke naturgemäss in drei Gruppen, von denen jede im Laufe
der Jahrhunderte verschiedene Schicksale erlitten und in ihrem
Texte verschiedene Wandlungen durchgemacht hat. Daraus
folgt, dass jede Handschriftengruppe in Bezug auf die oben
bezeichnete Aufgabe für sich besonders untersucht werden muss,
1 BPI I, S. 125.
2 Noch jetzt sind mindestens 150 Handschriften erhalten.
Textkritische Grundlagen im zweiten Theile von Cassians Conlationes.
493
wobei allerdings in Fragen des Sprachgebrauches oder wo es
sich um den Wortlaut einer Bibelstelle handelt — manche finden
sich nämlich wiederholt und in verschiedenen Schriften citirt
— auch die anderen Partien sowie die Institutionen und die
Bücher contra Nestorium zu berücksichtigen sind. Ausserdem
erscheint es geboten, gleich von vorne herein festzustellen,
welche Bedeutung die Ausgaben, oder, wenn man will, die von
den Herausgebern benutzten Handschriften gegenüber den jetzt
zu Grunde gelegten beanspruchen können. Es ist dies um so
notliwendiger, da weder bei Cuyckius noch bei Ciacconius irgend
welche Andeutungen über das Alter, den Werth und die Classen-
verschiedenheit der von ihnen verglichenen Codices sich vorfinden.
Für die Kritik des zweiten Theiles der Conlationes sind
folgende Hülfsmittel benutzt worden:
2r = cod. Sessorianus LV s. B = cd. Basileensis 1485
VII-VIII C = ed. Cuyckii 1578
II = cod. Petropolitanus (aus R = ed. Romana 1588
Corbie) 0.1. 4 s. VII—VIII E = BCR
Y = cod. Sangallensis 576 s. IX
Die Handschriften zerfallen in zwei Classen. Die eine ist
durch Y, die andere durch IIY vertreten. Der Sangallensis stimmt
übrigens nicht selten gegen II mit dem Sessorianus und hat eine
Masse von Sonderlesarten, welche mit wenigen Ausnahmen
ganz werthlos sind. Er ist ausserdem noch stark interpolirt.
Fragen wir zuerst nach dem Verhältnisse, in welchem die
oben angeführten Handschriften zu den Ausgaben stehen, so
ist vor Allem zu constatiren, dass die letzteren an einigen
Stellen einen erweiterten Text bieten. Der Anfang des 9.
cap. der XVII. Conl. lautet nach den Handschriften: Quod
utrumque liquidisgime sancti apostoli Petri et Her'odis exempla
testantur. Ule enim quia discessit a definitione sententiae, quam
uelut sacramento finnauerat dicens: non mihi lauabis pedes in
aeternum, inmortale Christi consörtium promeretur, abscidendus
procul dubio ab Indus beatitudinis gratia, si in sermonis sui
obstinatione mansisset. Die Ausgaben hingegen lassen utrumque
weg, welches mit Bezug' auf den Schluss von cap. 8 gewiss
richtig ist, und lesen Iudae traditoris statt Herodis. Was sonst
494
Petsclienig.
noch geändert ist, übergehe ich. Der Zweck dieser Aenderung
wird klar, wenn wir das Folgende beachten. Während nämlich
die Manuscripte mit Bezug auf Herodis hinter mansisset fort
fahren hic uero fidem inconsulti retinens saerämenti cruentissimus
praecursoris domini exstitit interemptor u. s. w., folgt in den
Ausgaben eine lange Stelle über Judas und über die Parabel
von den zwei Söhnen, welche der Vater im Weinberge arbeiten
heisst (Matth. 21, 28 ff.), woran sich folgender Text schliesst:
neenon et Herodis cruentissimi reejis exemplum, qui fidem inconsulti
retinens sacramenti u. s. w., wie in den Manuscripten. Die Er
wägung des Gedankeninhaltes ergibt nun mit Sicherheit, dass
der Text der Ausgaben auf einer Interpolation beruht. Cassian
will, wie er am Schlüsse des achten Capitels sagt, durch Bei
spiele zeigen: quam multis etiam letaliter cesserit statuta con-
plesse, et e contrario quam multis eadem refuejisse conmodum fuerit,
ac salubre (so die Manuscripte). Das eine wird nun an dem
Beispiele des Petrus nachgewiesen, welcher gleichsam unter
einem Eide geäussert hatte ,Dü wirst mir in Ewigkeit die Füsse
nicht waschen“, aber diesen Entschluss sofort wieder aufgab
und hiermit der Gemeinschaft mit Christus theilhaftig wurde;
das andere an Iderodes, der seinen Schwur hielt, aber dadurch
der ewigen Verdammnis anheim fiel. Bei Judas trifft dies nun
nicht zu, da er ja nicht unter einem Eide oder Gelöbnisse
(sponsio) sich zum Verrath an Christus entschlossen hatte, noch
weniger aber bei den Söhnen der Parabel, wo es sich nicht
um Seligkeit und Verdammnis handelt, sondern nur gezeigt
werden soll, dass es besser sei, den anfänglichen Ungehorsam
durch Reue wieder gut zu machen, als Gehorsam zuzusagen
und die Zusage nicht zu halten. -— Hinter immersit pag. 1055-A 1
haben die Ausgaben wiederum folgendes längere Einschiebsel:
Primum etenim est, optima statnere: quod et si aliter cesserit,
sequens est in melius ea quae sunt statuta mutare, ordAnationibusque
nostris iam iacentibus, ut ita dixerim, manum dexteramque 2
porrigere. Ubi principia consilii non approbantur, prudentia est,
ut utili addita prouisione reparentur. Si claudicat ad prima
statuta dispositio, adhibeatur ad secunda correctio. Hier ist drei-
'■Da manche Capitel sehr lang sind, citire ich nach den Seitenzahlen und
Marginalbuchstaben des Migne’schen Druckes, Patrol. Lat. t. XLIX.
2 m. dexteram B, dexteram m. R.
Tpxtkritische Grundlagen im zweiten Theile von Cassians Conlationes.
495
mal dasselbe gesagt, was in den folgenden echten Schlussworten
des Capitels enthalten ist, und der sprachliche Ausdruck
derart, dass diese Worte unmöglich von Cassian herrühren
können. — Interpolirt ist ferner die zweite Hälfte des vier
zehnten Capitels pag. 1060 A von den Worten non enim ex
hac immutatione angefangen. — Pag. 930 A—B lesen -I[YI>
übereinstimmend: praeuenit ergo hominis uoluntatem, quia dicitur:
deus meus, misericordia eius praeueniet me, nur dass 11
voluntas, Y quia qui dicit liest. CR hingegen schieben ein uolun
tatem {misericordia domini de) qua dicitur. Aber das Subject zu
praeuenit lässt sich leicht aus dem folgenden deus meus und
deum remprantem (dominum E), wie auch aus der vorhergehenden
Erörterung, in welcher viel von der gratia dei die Bede ist,
ergänzen. — P. 933 A—B lesen die Ausgaben rursum quod
peccatum suum humiliatus agnoscit, propriae libertatis est opus,
die Manuscripte hingegen agnoscit, suum est, was mit Bezug
auf David ganz entsprechend ist.
Noch mehr springt der Unterschied zwischen den Aus
gaben und den Handschriften ins Auge, wenn wir einzelne
Lesarten in Betracht ziehen. Die Handschriften erweisen sich
hier als weitaus vortrefflicher und die Uebereinstimmung der
selben oder auch von -II sichert fast überall den echten Text.
Ich beschränke mich auf die Vorführung einiger markanten
Stellen. — Pag. 847 A haben CR in Scythica (Scithica R) eremo,
B in scyihiotica heremo, die Manuscripte in scitiotica lieremo. Die
Schreibung mit y ist sicher falsch. Bei Ptolemäus IV, 5 pag. 280
Wilb. lesen wir: TuviaT:«'. xat IIpoocStTat, g£Ö’ oh; r, SxiaOnw) /wpa,
r t q Oeau; f qo ~k c (60° 40', 30° 10')
y.a! ot Maomat • vx os in gsoYjgßpivÜTepa yep.emac Napiörcai z.ai ’Oaof-
xat. Vgl. pag. 262 sv t?) Sxiotöizfj yjopx SztaOi?. Die früheren Aus
gaben lasen, wie Wilberg anmerkt, vielleicht richtiger ly.'.O'.ay.rj
und -y.iöiay.f,. Bei Parthey, Vocabularium Coptico-Latinum et
Latino-Copticum pag. 544 sind die Formen /Scete, Scetis (Zy.vfcr„
-•/.•/jTt;), dann die Seithiaca regio angeführt. 2x.v)Tts, ovogst tgzou
erwähnt Suidas, und Sokrates meint Hist. Eccles. IV, 23, 12
mit Sw/rews epoe wohl dasselbe. In des Rufinus Hist, monach.
heisst der Ort Scithium. Wenn aber Hist. Eccles. II, 8 bei Migne
in Scyti steht und Rosweyd in den Vitae patrum Scythi, Scythim,
Scythiae u. s. w. drucken Hess, so beruht dies wohl auf dem-
496
Petsclienig.
selben Fehler, den die Herausgeber Cassians begingen. Zweifel
haft ist nur noch die Aspiration des t. Die späten griechischen
Schriftsteller scheinen sie nicht anzuerkennen. Unter den drei von
Parthey a. a. 0. pag. 544 angegebenen koptischen Formen ujhoht,
ujiht, «jioht haben zwei dieselbe zwischen den zwei I-Lauten,
keine beim Dental. Es bleibt also nur noch übrig, die Schreibung
der bisher bekannten Cassian-Handschriften zu Rathe zu ziehen.
Inst. V, 40 scitii Augustodunensis s. VII und Sangallensis s. IX
(von erster Hand), scithii Laudunensis s. IX. XI, 15 mtHi Sang,
und Laud. (Augustod. fehlt hier). Pracfatio zu Conl. I (pag. 479 A)
scxti a Paris, s. IX (es ist wahrscheinlich i verwischt), sd'ithii Sang,
s. IX. Conl. I, 1 im titulus scitij Paris., scythii Sang. Conl. I, 1 sciti
Paris., schithi* (i radirt) Sang. Conl. III, 1 scitii Paris., schitii Sang.
Conl. IV, 1 scitii Paris., schitHi Sang. Conl. VI, 1 scitii Paris, u.
Sang. Conl. X, 2 scitii Paris., schitHi Sang. Conl. XV, 3 schythioticae
2, scitioticae IIY. Conl. XVII, 30 scitioticae 2 (IIY fehlen). Conl.
XVIII, 15 scitliioticae Benedictoburanus s. VIII—IX, Frisin-
gensis s. IX, scitioticae Sang. s. IX. Conl. XVHI, 17 scitix Bened.,
scitiiFris., scittii Sang. m. 1. Conl. XX, 11 scitliioticae Bened., Fris.,
scitixxxoticae Sang. Conl. XXIV, 4 scithie Bened., scithii Fris.
(Sang, fehlt). Ebendort scixtliiotica Bened., scithiotica Fris. (Sang,
fehlt). Es überwiegt somit die Schreibung ohne h in den Hand
schriften ganz bedeutend. — Im ersten Capitel der XI. Con-
latio (pag. 847 B) lesen wir: ad oppidum Aegypti, cui Thennesus
nomen est, peruenimus. Dem entsprechend heisst es in der
Ueberschrift dieses Capitels in R clescriptio Thennesi oppidi,
aber 2IIY R lesen thenneseos oppidi. Bei Parthey pag. 491 ist
Thennesus, 0svvr ( aoc, ©svvjgoc, als Bischofsitz angeführt. Die kop
tischen Namen der Deltastadt sind (ebendort pag. 548) .\oomcc,
00.UHC1, «eueci, «eimeci, ©eminci. Darnach ist es wahrscheinlich,
dass neben Qi'irqäoq eine griechische Nebenform 0svvv)ai? bestand
und dass somit Thenneseos richtig ist. — Pag. 854 A ist die Rede
vom Empfange des verlornen Sohnes durch den Vater: Sed
ad istam humilis poenitentiae uocem in occursum eius pater pro-
siliens maiore quam, emissa fuerat pietate suscepit, eumque non
contentus minora concedere utroque gradu sine dilatione transcurso
pristinae filiorum restituit dignitati. So TBC. R übergehe ich,
da dort der Text ganz schlecht ist. 211 lassen ad weg, womit
die Stelle in Ordnung ist. In den Ausgaben beginnt ferner mit
Textkritische Grundlagen im zweiten Theilo von Cassians Conlationes. 497
den Worten Sed ad istam ganz ungehöriger Weise ein neues,
das achte Capitol, während die Handschriften den Text nicht
unterbrechen. Nach der Capitulatio, welche jeder Conlatio vor
ausgeht, 1 ist die Zusammenziehung von cap. 7 und 8 zu einem
Capitel durchaus nothwendig. Dafür muss aus demselben Grunde
das jetzige 10. Capitel nach den Manuscripten in zwei, nämlich
9 und 10, getheilt werden; letzteres beginnt pag. 860B mit
den Worten Cum ergo quis hunc. — Pag. 857 B Per hanc ita-
que caritatem quisquis u. s. w. 2IIY lesen quisque, und dieses
Pronomen findet sich auch sonst sehr häufig in allen Schriften
Cassians in dem Sinne von quisquis gebraucht. — Pag. 859 A
nisi se in bonos et malos, iustos et iniustos ad imitationem dei
placida semper sui cordis extenderit caritate. Nach den Manu
scripten ist zu lesen nisi si in bonos . . . placidam . . . extenderit
caritatem. — Pag. 860 A Impossibile namque est quemlibet sanc-
torum non in istis minutis . . . incurrere. Mit SY (II hat minutis,
aber s in Rasur) ist jedenfalls minutiis zu lesen. Conl. XXII, 3
pag. 1219 B überliefern die zwei Monacenses sordidarum cogi-
tationum minutiös, XXIII, 7 pag. 1257 A steht auch in den
Ausgaben minutiös multarum sordium. — in ist in - ausgelassen.
So vorzüglich auch diese Handschrift sonst ist, hier vermag
ich ihr aus dem Grunde nicht zu folgen, weil sich in nach den
Ausgaben wie nach der handschriftlichen Ueberlieferung an
unzähligen Stellen mit dem Ablativ verbunden findet, wo man
den Accusativ erwartet. So ist Conl. XXIII, 13 pag. 1269 A
nach den besten Manuscripten zu lesen peccati . . . lege in qua
iugiter nolentes incurrere coguntur. Conl. IV, 15 pag. 603 B—C
steht in den Ausgaben wie in den Manuscripten in ceteris gene-
ribus uitiorum . . . soleamus incurrere. — Pag. 885 B lesen die
Ausgaben dulcedinis uel pinguedinis (unguedinis YB), aber -II
bieten das viel gewähltere unguinis. — Pag. 890 A in Israel
autem, id est in eo qui uidet deum, siue ut quidam interpretantur
1 Die Capitelüberschriften rühren unzweifelhaft von Cassian selbst hör.
Ich begnüge mich, auf die Uebersclirift zu Conl. XVII, 3 zu verweisen,
welches Capitel Cassians Antwort auf die Frage des Germanus enthält.
Dieselbe lautet nach ZIDfÄR: Quid mihi ad hoc uisum sit. So konnte
sich nur der Verfasser der Schrift selbst ausdrücken. Cuyckius lässt in
völliger Verkennung des Ursprunges dieser Capitula drucken: Cassiani
Consilium et responsio ad interrogationem abbatis Germani.
498
Petschenig.
rectissimus dei est. So YE. Das richtige uidens deum steht in 211. —
Pag. 894 B lesen die Manuscripte und BR In bis igitwr Omnibus
quantum (quanto C) mens ad subtiliorem profecerit puritatem,
tanto sublimius intuebitur deum. quantum mens Hesse sich aller
dings aus quanto(m)mens leicht erklären, aber der Sprachgebrauch
Cassians beweist, dass ersteres richtig ist. Es findet sich quan
tum — tantuin zum Positiv gesetzt, aber auch Stellen wie Inst.
I, 12 (cap. 11 und 12 fehlt bei Migne!) tanturn namque feruen-
tior . . . quanto . . . deuotior Sang. s. IX, Inst. IV, 1 pag. 151 C
quantum numero populosius, tanto . .. districtius Sang, und Laud.
— Pag. 896 B paximaciis BC, paxamaciis R. Y hat paxmatiis, 211
das richtige paxamatiis. Es ist gac, cl.xupoq cipzoq bei Suidas,
nach lUcagoz benannt, der ein Werk IHapTUtr/.a schrieb, ■rcacjaij.dciov
bei Gralenos. — Pag. 910 C Satis congrue, quoniam Ierusalem
adulterae comparauerat a suo coniuge discedenti, amorem quoque
ac perseuerantiam benignitatis suae uiro qui a feminu deseritur
comparauit; so BC. R: qui feminam deserit; 2I1Y: qui feminam
deperit, was natürlich allein richtig sein kann. Für Ilierusalem
(so IIY) hat übrigens 2 fälschlich ifrl, was sich leicht aus
einem Misverständnisse des Compendiums Um erklärt. Die an
geführten Worte sind nämlich keinesfalls auf die unmittelbar
vorausgehende Bibelstelle, in der allerdings domus Israel steht,
zu beziehen, sondern auf den Anfang des Capitels sub figura
meretricis Hierusalem und auf die dort aus Osee citirte Stelle.
Wohl aber ist mit 2 adulteratae zu schreiben. Vgl. Vulg. Ezech.
23, 37 quia adulteratae sunt = öv. sgoi/övro. — Pag. 923 A Si
enim dixerimus nostrum esse bonae principium uoluntatis, quid
fuit in persecutore Paulo, quid in publicano Matthaeo, quorum
unus cruori ac suppliciis innocentum, alter uiolentiis ac rapinis
publicis incubans attrahitur ad salutem. quod fuit 211', quod in
2II'Y. Ich halte quod für richtig und erkläre quod principium,
ipsorum an dei, fuit in persecutore Paulo u. s. w. — Pag-
971 B lesen 2IIY übereinstimmend absorta statt absorpta. Da
diese Form in allen bisher bekannten Manuscripten sich über
all ausnahmslos findet, ist sie jedenfalls richtig. Auch Zange
meister liest im Orosius pag. 662, 4 nach allen Handschriften
Absorta est mors. — Pag. 974B beginnt cap. 9 in YBCR Ger
manus: Ad haec ego. In II fehlt der Name, in 2 ist nesthores
geschrieben, aber von erster Hand wieder getilgt. Selbstver-
Textkritisclie Grundlagen im zweiten Tlieile von Cassians Conlationes. 499
stündlich ist Germanus zu streichen und unter ego Cassian zu
verstehen, der mit Germanus als interlocutor abwechselt. —
Pap. 979 A lautet die Ueberschrift zu cap. 13 in BCR Responsio,
quo pacto memoriam eorum (nämlich saecidarium carminum)
possimus abluere. Nach XII muss es heissen memoriae fucum
(frugum Y) possimus a. — Pag. 1000 A Quid etiam abbatis
Abrahae gesta commemorem, qui r.d'.c (paisB), id est simplex pro
simplicitate morum et innocentia cognominatur. So die Ausgaben,
nur fehlen in R die Worte id est simplex. In XIIY steht richtig
AJI/VOYX. — Pag. 1022C: sol non occidat super iracundiam
uestram BCR. Auch Y liest uestram, in II ist es weggelassen;
X aber bietet tuam. Jedoch pag. 1031C hat in derselben Stelle
(Ephes. 4, 26) nur Y neben den Airsgaben uestram, XII lesen
tuam.. Das Citat findet sich ausserdem noch Inst. VIII, 8, wo neben
den Ausgaben auch Augustod., Land, und Sang, uestram lesen,
und pag. 528 A, wo die Manuscripte mit den Ausgaben gleich
falls in der Lesart uestram. übereinstimmen. Trotzdem ist an
zunehmen, dass Xll das Richtige bieten, da Cassian häufig theils
aus dem Gedächtnisse citirt, theils auch das Citat seiner Dar
stellungsform anpasst. So ist z. B. auch pag. 986 A mit X zu
lesen et panis frugum terrae tuae erit tibi uberrimus et
pinguis. Denn wenn auch tibi in OY nach dem Wortlaut der
Stelle Esai. 30, 23 fohlt, so ist es doch wahrscheinlich, dass es
Cassian selbst hinzufügte, mit Bezug auf die vorhergehenden
Worte pag. 985 B liabebis . . . non sterilem nec inertem, sed uiuidam
fructuosamque doctrinam, semenque salutaris uerbi, quod a te
fuerit audientium cördibus conmendatum, subsequens Spiritus sancti
imber largissimus fecundabit, ac secundum id quod proplieta pol-
licitus est dabitur pluuia semini tuo (Alles nach den Manu-
scripten). — Pag. 1023 B Nam quemadmodum carnales adhuc
et imbecüles fratres ob uilem terrenamque substantiam cito inimicus
ille (ille om. B) disiungit; so BCR. Nach den Manuscripten
ist zu schreiben inbecillos fratres cita inimicus bile disiungit. —
Pag. 1076 B—C. In der Ueberschrift des 24. Capitels liest B
pyamon, C Piamon, R Piammon. II hat piamon, XY piamun. Im
Capitel selbst haben XII 1 piamun, II 2 Y piamon. Aufzunehmen ist
die von der besten Ueberlieferung gebotene, echt koptische
Namensform Piamun, welche aus dem männlichen Artikel III
und dem Worte a.motvu = gloria, sublimis zusammengesetzt ist,
500
Petsckenig.
Dass die Griechen misbräuchlieh ’ä^jjuov statt IWoiv sagten,
bezeugt Plut. de Is. et Osir. cap. 9. Noch sei bemerkt, dass
die beiden vorzüglichen Münchener Handschriften s. VIII—IX,
die den dritten Theil der Conlationes enthalten, diesen dort
öfters vorkommenden Namen regelmässig richtig überliefern.
Bei dieser Gelegenheit mag auch die Schreibung des Namens
Pmuphius erledigt werden. Alle guten Manuscripte schreiben
Pinufius, was nach dem koptischen m -f- nou-qi, 1 pi-nufi i iyaQbc,
5 %pri<nbq richtig ist.
Wie wenig Verlass auf die Ausgaben ist, zeigt sich be
sonders auch in den Bibelcitaten. Wenn nicht die Heraus
geber selbst daran herumgeändert haben, müssen ihre Hand
schriften schon arg interpolirt gewesen sein. Auch hier will
ich mich auf einige Beispiele beschränken. Pag. 853B lesen
BCR nach der Vulg. Luc. 15, 17 quanti mercennarii in
domo patris mei abundant panibus, 2dlY lassen in domo
nach dem griechischen Text xicot [Roöioi xcü xcapiq p.ou mit Recht
weg. — Pag. 863B ist mit SII zu lesen beatus seruus ille,
quem cum uenerit dominus suus inueniet (suppst: inuenerit
E Vulg.) sic facientem. Pag. 866 C haben E und die Vulgata
in der Stelle Rom. 8, 15 spiritum adoptionis filiorum; SHT lassen
filiorum mit Recht weg, da das griechische uioOscda; schon durch
adoptionis wiedergegeben ist. — P. 879B lesen YE Vulg. in der
Stelle Ps. 29, 8 auertisti faciem tuani a me; 2 n lassen
a me nach der LXX axi'yzpi'bv.c, os xo irpöcüMtov cou weg. —
Pag. 884 B wird Prov. 19, 3 angeführt. E: insipientia uiri cor-
rumpit uias eins, deum autem causatur in corde suo. Nach den
Manuscripten muss uias suas und causatur corde suo geschrieben
werden (LXX r/j v.apoia auxou). — Pag. 887 A steht in E et nox
illuminatio mea in deliciis meis, in den Manuscripten ist mea mit
Recht weggelassen. LXX: xai vuS; mmc[ihq ev xp xputpvj p.ou. —
Pag. 935 A. E: numquid gratis colit lob deum? nonne tu ual-
lasti eum ac domum eins et uniuersam substantiam eius?
Nach 2IIY muss ac domum eius entfallen; ferner ist mit
2YR lob colit (’lioß creßsxai) umzustellen. Dass dieselbe Stelle
1 Parthey p. 112 führt nur non-qe. an. Nach einer gütigen Mittheilung
des Herrn Dr. Krall gehört diese Form dem oberägyptischen, iton-qi
dagegen dem unterägyptischen Dialect an.
Toxtkritischc Grundlagen im zweiten Tbeile von Cussians Gonlationes. 501
(Job 1, 9 -10) Conl. IV, 6 citirt wird nonne tu uallasti eum
ac domum eins uniuersamque substantiam eins, beweist
nur die Richtigkeit der schon früher aufgestellten Behauptung,
dass Cassian die Bibelstellen an verschiedenen Urten mit ver
schiedenem Wortlaut citirt. — Pag. 943B quid est facilius,
dicere: remittwntur tibi peccata, aut dicere: surge et
ambula (Matth. 9, 4—5). Neben E hat noch H remittuntur, ST
aber lesen dimittuntur, was schon dadurch sich als richtig er
weist, dass auf derselben Seite das aipisvat des Euangeliums
noch zweimal mit dimittere übersetzt erscheint. — Pag. 1026A.
TE Vulg.: si quod solacium caritatis, si qua uiscera mise-
rationis (Phil. 2, 1). Sil uiscera et miserationes — <ntXäqyya
v.od olv.upii.oi. Man beachte, dass Cassian die Worte d v.q v.ovm'tia
■üveugaioq auslässt.
Zu Conjectureu gibt die handschriftliche Ueberlieferung
nur an sehr wenigen' Stellen Anlass. Pag. 890C ist zu lesen:
quod autem per hoc ineuitabilem esse conmotionem carnis adseritis,
quod urina, cum uesicam iugi stillatione repleuerit, quieta su-
scitet membra: licet ueris sectatoribus pwritatis ad obtinendam
eam nihil praeiudicet ista conmotio, quam haec sola interdum et
tantum (tarnen codd. und E) per soporem necessitas excitarit,
sciendum tarnen est u. s. w. Vgl. pag. 898 A sed cum dormienti
tantum per sopitae mentis incuriam conmotio carnis obrepserit. —
Pag. 894 A schreibe ich illam caelestem infusionem laetitiae spi-
ritalis, qua deiectus animus inspirati gaudii alacritate sustollitur,
illos ignitos cordis excessus et tarn inejfabilia quam inaudita solacia
gaudiorum. 12 liest mit E insperati, 11 inspiti, Y inspirata. — illos
ignitos steht richtig in 2 für ad illos ignotos der Ausgaben. —
Pag. 905 A ist zu lesen nam cum intuens eum quidam tfucjto—
fvOpiov dixisset oggaia ^aioepacrrou, hoc est, oculi corruptoris pue-
rorum, et inruentes in eum discipuli inlatum magistro uellent
ultum ire conuicium. Die Manuscripte: inlatum magistro (magi-
strum II) uellent ultu ire (ulum II, ultuiri Y von zweiter Hand in
Rasur). — Pag. 973 Ä-B. YE: ut scilicet non solum a caeremoniis
idolorum, sed etiam ab omni superstitione gentilium et auguriorum
omniumque signorum et dierum ac temporum obseruatione discedat.
Y liest auguriorum atque omniumqui signorum, II aclq; x x x x om-
nium x. Dass in dieser Handschrift ursprünglich adque omnium
omniumque gestanden hat, dafür möchte ich einstehen. Zu
502
P e t s c h o n i g.
schreiben aber ist auguriorwm atque ominum omniumque si-
gnorum. — Pag. 1010 A. Paphnutius bat sieb beim Kochen die
Hand verbrannt und ist untröstlich darüber, dass das irdische
Feuer noch Gewalt über ihn habe. Wie werde es ihm erst
dem ewigen Feuer gegenüber ergeben: aut quemadmodum me
in illo metuendo examinis die per se transitwrvm Ule ignis inex-
stinguibilis et Inquisitor meritorum omnium non tenebit, cui nunc
extrinsecus hic temporalis ac paruulus non peperdt? So UTA. 2
aber liest die pertransiturus si ille. Nimmt man an, dass si
durch Dittographie zwischen s und i entstand, so ist die Stelle
in schönster Ordnung. Nicht Paphnutius wird das Feuer durch
schreiten, sondern dieses wird als Inquisitor meritorum omnium
ihn durchdringen. Man beachte auch, dass pertransiturus einen
angemessenen Gegensatz zu extrinsecus darbietet. — Pag 1036A-B
ist zu schreiben: siquidem dominus noster atque saluator ad
profundam nos instruens patientiae lenitatisque uirtutem, id est
non ut labiis eam tantummodo praeferamus, sed ut in intimis
animae nostrae adytis recondamus, istam nobis perfectionis euan-
gelicae formulam dedit dicens: si quis te percusserit in dex
ter a maxilla tua, praebe illi et alteram (subauditur sine
dubio ,dexleram,‘ quae alia dextera nisi (in) interioris hominis
ut ita dixerim facie non potest accipi), per lioc omnem penitus
iracundiae fomitem de profundis cupiens animae penetralibus ex-
tirpare, id est, ut si exterior dextera tua impetum ferientis ex-
cepevit, interior quoque homo per humilitatis adsensum dexteram
suam praebeat uerberandam, conpatiens exterioris hominis passioni
et qüodammodo succumbens atque subiciens suum corpus ferientis
iniuriae, ne exterioris hominis caede uel tacitus intra se moueatur
interior. Auf die Verkehrtheiten der Ausgaben im Wortlaut
wie in der Interpunction einzugehen, würde zu weit führen.
Was ich schrieb, steht in den Handschriften, nur dass ich in
vor interioris einfügte.
Schon oben wurde gesagt, dass die Handschriften in zwei
Classen zerfallen, deren eine durch 1, die andere durch UV
vertreten ist. Die Ausgaben stimmen fast durchwegs mit der
letzteren. Am meisten prägt sich der Classenunterschied in
der XVII. Conlatio aus, welche die Ueberschrift De defniendo
Toxtkritischo Grundlagen im /weiten Theile von Cassians Conlationes.
503
trägt. Cassian will in derselben nach weisen, dass man keine
vorschnellen Entschlüsse fassen, keine unbesonnenen Gelöbnisse
und Versprechungen machen solle (wofür die Ausdrücke pro-
missio, sponsio, definitio, statutum, sacramentum, iusiurandum ge
braucht werden). Habe man aber ein Versprechen gegeben,
das sich hinterher als schädlich oder gefährlich für das Seelen
heil herausstelle, so sei es besser, dasselbe nicht einzuhalten
(die Nichteinhaltung wird als mendacium bezeichnet). Diese
Ansicht wird durch Beispiele aus dem alten und neuen Testa
mente zu erhärten gesucht. Ich theile nun jene Stellen, an denen
der Classenunterschied markant hervortritt, in Uebersicht mit.
A. In der Capitulatio
V
cap. 10 Interrogativ nostra de metu praebiti
in coenobio Syriae sacramenti
„ 13 exigerit sacramentum
„ 17 Quod utiliter mendacio sancti usi
sint
„ 19 Quod licentia mendacii probabili-
ter a multis fuerit usurpata
„ 20 Quod utile plerumque mendacium
etiam apustoli esse censuerint
nr
praebitae
sponsionis
e. sponsionem
ueniabiliter
ueniabiliter
ueniabile
B. Im Texte
nr
pag. 1047 A de sacramenti Jide
„ 1049 A postponere sacramenta, ab-
rupta mendacii atque pe-
riurii
„ 1049 B iuris iurandi condicio
„ 1059A sacramenti uinculo
„ 1063 A sanctos ac probatissimos deo
uiros utiliter legimus usos
fuisse mendacio
„ 1065 A non mirum est has dispensa-
tiones in ueteri testamento
probabiliter usurpatas ac
de sponsionis f.
p. pactionem
atque veriurii
fehlt.
sponsionis c.
sponsionis u.
ueniabiliter
licentius
504
Petsclieni g.
2 nr
nonnumquam uiros sanctos laudabiliter uel
laudabiliter uel certe certe fehlt
ueniabiliter fuisse mentitos
pag. 1067 B tune demum id probabiliter ueniabiliter
diximus usurpatum
Der Unterschied der beiden Classen ist in die Augen
springend. 2 hat oft sacramentum, einmal ius iurandum, in 11 X
wird der Begriff ,Eid‘ ängstlich gemieden, dafür sponsio und
pactio gesetzt,, periurium weggelassen. Nach dem Texte von 2
haben sich die heiligen Männer der Lüge utiliter, laudabiliter
und probabiliter bedient, die Apostel selbst halten sie mitunter
für nützlich; in 111’ wird nur ueniabile und ueniabiliter, einmal
sogar licentius gebraucht. Es ist also eine der beiden Hand-
schriften-Familien systematisch interpolirt und zwar, wie sich
leicht erweisen lässt, die durch 11Y vertretene. Cassian’s An
sicht von der Gestattung der Lüge widerspricht nämlich der
Lehre Augustins und der Kirche, wie Ciacconius in seinen
Observationes in Cassianum kurz bemerkt, Cuyckius aber
pag. 253 ff. weitschweifig nachgewiesen hat. Letzterer zählt
noch pag. 260 acht sententiae perniciosae auf, die er in dieser
Conlatio gefunden hatte. Nun erwäge man, dass diesen Heraus
gebern der Text in der abschwächenden Recension von 11V
vorlag. Wie würden sie sich erst mit Gegenbeweisen bemüht
haben, wenn ihnen nur die weit entschiedenere und schärfere
Fassung von 2 bekannt gewesen wäre. Eine ähnliche Absicht,
wie sie diese beiden Theologen und Gazaeus in den Vorreden
zu ihren Ausgaben aussprechen, nämlich den Autor vor einer
entschiedenen Verurtlieilung und Versetzung unter die Hae-
retiker zu retten, indem seine Irrthümer theils in Anmerkungen
richtig gestellt, theils nicht auf seine, sondern auf Rechnung
seiner ägyptischen Anaclioreten gesetzt werden, scheint auch
demjenigen vorgeschwebt zu haben, der es, offenbar schon in
sehr früher Zeit, unternahm, die ursprüngliche, der katholischen
Lehre schnurstracks widersprechende Fassung zu mildern. Er
mochte auch wohl den Zweck verfolgen, die zahlreichen Leser
der Schriften Cassians vor einer Ansteckung durch haeretische
Lehrmeinungen zu bewahren. Denn die Institutiones und nament-
Textkritische Grundlagen im zweiten Theile von Cassians Conlationes.
505
lieh clie Conlationes bildeten in den Klöstern des Mittelalters
eine sehr beliebte, durch Benedict und Cassiodorius warm em
pfohlene Lecttire. So stelle ich mir also die Entstehung des Textes
von 1IY vor. Ich möchte noch darauf hinweisen, dass wohl die
Fassung in 11V aus der des Sessorianus hervorgehen, aber nicht
das Umgekehrte eintreten konnte. Denn welcher Haeretiker
würde sich die Mühe genommen haben, den Gegensatz der
Lehre Cassians zu der des Augustinus und der Kirche noch
durch Interpolation zu verschärfen? Ueberdies bietet die Con-
latio selbst an einigen Stellen positive Anhaltspunkte dafür,
dass IIT einen überarbeiteten Text bieten. Der Bearbeiter hat
nämlich seine Sache so oberflächlich gemacht, dass er einiges
übersah, was nur mit der Fassung von 2 in Einklang gebracht
werden kann. Das Wort sacramentum, welches sonst vom Ur
heber der Recension UV überall geändert wurde, ist pag. 1053 B
und 1054A stehen gelassen worden; vgl. oben S. 493 bis 494.
Wenn es dort von Petrus heisst quia discessit a definitione sententiae,
quam velut sacramento firmauerat dicens, und von Herodes
fidem inconmlti retinens sacramenti, so ist es doch offenbar,
dass Cassian den ,Eidbruch' unter Umständen eben so für
angemessen hält, wie den Bruch eines Gelöbnisses oder blossen
Versprechens. — Pag. 1079, wo Beispiele aus der heiligen
Schrift angeführt werden, heisst es von David cum iuris iu-
randi definitione decreuit ... et continuo intercedente Äbigail. . .
mauult transgressorpropositi iudicari quam sacramenti sui fidem
cum crudelitatis exsecutione seruare, ferner von Paulus Corintliiis
scribens reditum suum absoluta definitione promittit . . . sed
superueniente salubriore consilio nequaquam se id quod promiserat
exsecutum evidentissime confitetur . . . Denique cur maluerit de-
finitionem sui praeterire sermonis quam aduentu suo onerosam dis-
cvpulis inferre tristitiam, etiam cum sacramenti obtestatione de-
clarat. — Pag. 1084 A Nec illius praecepti utilitas est silenda,
quod etiam si instigante ira . . . sacramento nos aliquo uinxe-
rimus . . . comparanda est illa res quam statuimus huic ad quam
transire compellimur, citque ad eam est transeundum, quae . . .
iustior fuerit iudicata, rectius enim est nostrum nos praeterire
sermonem quam rei salubrioris subire iacturam. Darnach unter
liegt es keinem Zweifel, dass Cassian auch den Eid unter die
definitiones rechnet, deren Uebertretung unter Umständen noth-
Sitzungsbpr. d. pMl.-hist. CI. CIII. Bd. XI. Hft. 33
506
Petsclicnig.
wendig werde. Dass er aber diese Uebertretung (= mendadum)
nicht blos für ,entschuldbar/ sondern auch für nützlich und
löblich hält, dies bezeugen ganz unzweideutig einige von dem
Ueberarbeiter übersehene Stellen. Eine derselben wurde schon
oben S. 494 mitgetlieilt. Man vgl. ferner pag. 1062 B Itaque
taliter de mendacio sentiendum atque ita eo utendum est, quasi
natura ei insit ellebori: quod si imminente exitiali morbo siLmptum
fuerit, fit salubre. So beginnt das 17. Capitel, dessen Ueber-
schrift nach IJYi? lautet: Quod ueniabiliter mendacio sancti
tamquam elleboro usi sint. Dieser titulus gibt natürlich keinen
Sinn und steht im Widerspruch mit dem im Text Gesagten,
wenn man nicht mit 2 utiliter liest. — Pag. 1067 B—C et idcirco
dispensationes has (d. i. die alttestamentalischen Vorbilder) . . .
in tantum nos quoque . . . non possumus abdic.are, ut ne ipsos
quidem apostolos, ubi consideratio alicuius utilitatis exegit,
ab eis declinasse cernamus. — Pag. 1071 A führt Cassian, nach
dem er vorausgeschickt, dass Iacobus omnesque illius ecclesiae
primitiuae praecipui principes apostolum Paulum ad simulationis
figmenta descendere pro imbecillitate infirmantum cohortantur, fort:
non enim tantum apostolo Paulo lucrum ex hac eius fuerat distric-
tione collatum, quantum celeri eius exitio uniuersis gentibus detri-
mentum. Quod sine dubio uniuersae tune, euenisset ecclesiae, nisi
illum haec utilis ac salubris hypocrisis praedicationi euange-
licae reseruasset. — Pag. 1058 A Ideoque iustissimus iudex excu-
sabilem, immo laudabilem talis mendacii censuit praesum-
ptorem, quia sine eo ad benedictionem primitiuorum non poterat
peruenire. — Pag. 1059 B Ita igitur et in hac parte emendatio
dispositionis improuidae non spiritalis uoti est iudicanda
transgr essio. Quidquid enim pro caritate dei et pietatis amore
perficitur, . . . tametsi duris atque aduersis uideatur principiis
inchoari, non solum nulla reprehensione, sed etiam laude dignis-
simum est. — Pag. 1064B Ad quem finem etiam lacob patri-
archa respiciens hispidam fraterni corporis speciem obuolutione
pellium simulare non timuit et instiganti ad hoc mendacium
matri laudabiliter adquieuit. — Pag. 1078 A (es ist von
Josephs Verstellung gegenüber seinen Brüdern die Rede). Non
ergo tam'reprehensibile fuit metum fratribus incussisse mendacio,
quam sanctum atque laudabile occasione ficti periculi
inimicos ac uenditores suos sd salutarem poenitentiam compulisse.
Textkritisclie Grundlagen im /.weiten Theile von Cassians Conlationes.
507
Der Bearbeiter dieser Conlatio bat aber nicht nur inter-
polirt, sondern aucli eine ihm sehr anstössige Stelle ganz ge-
strichen. Ich theile dieselbe nach 2 einerseits lind HY anderer
seits vollständig mit; sie findet sich pag. 1063A.
2 DY
Ita namque etiam sanctos ac
probafissimos deo uiros utiliter
legimus usos fuisse mendacio, (ut
non solum nullum ex hoc peccati
crimen incurrerint, uerum etiam
summam sint iustitiam consecuti:
quibus si gloriam potuit corferre
fallada, quid eis e contrario nisi
condemnationem ueritas intulis-
setf) sicut Raab, cuius cum non
solum nulla uirtutum, sed etiam
inpudicitiae monumenta scriptura
conmemoret, pro solo 1 mendacio,
quo exploratores maluit occul-
tare quam prodere, admisceri
populo dei aeterna benedictione
promeruit.
Erwähnenswerth ist auch, dass der echte Wortlaut der
Stelle nur durch Zufall erhalten ist. Der Schreiber von 2 irrte
nämlich von dem ersten non solum auf das zweite ab, so dass
die Worte nullum . . . cuius cum non solum erst von dem
allerdings fast gleichzeitigen Corrector bemerkt und hinzugefügt
wurden.
2 hat sich somit als diejenige Handschrift erwiesen, welche
in einer wichtigen Partie allein den echten und unverfälschten
Text erhalten hat. Auch sonst ist nirgends ein Anlass vorhanden,
den Text derselben für absichtlich geändert und interpolirt zu
halten. Wohl aber lässt sich dies an den beiden andern auch
Ita namque etiam sanctos ac
probafissimos deo uiros uenia-
biliter legimus usos fuisse
mendacio, sicut Raab, cuius
cum non solum u. s. w.
tali mendacio
1 Vgl. Conl. VI, 3, p. 651A: Cuius (LazariJ cum nulla alia uirtutum me
nte scriptura commemoret, pro hoc solo quod egeslatem . . . tolerauit,
sinus Ahrahae possidere promeruit.
33*
508
Petschenig.
sonst nachweiseil. Ich will dies vorwiegend an 0 zeigen, da
es nicht der Mühe werth ist, den willkürlichen Aenderungen
in dem jüngeren und weitaus schlechteren Cod. T nachzugehen.
Pag. 866 C lesen FITE de hoc etiarn metu cum illam septiformem
Spiritus sancti gratiam proplieta describeret, quem in homine illo
dominico . . . descendisse non dubium est. 2 aber bietet illum
septiformem spiritum propheta describeret, was mit Rücksicht
auf das unmittelbar folgende Citat Esai. 11, 2—3 et requiescet,
super eum Spiritus dom.ini u. s. w. allein richtig ist. — Pag.
874B wird gesagt, die Liebe des Mönches zur Keuschheit müsse
so gross sein wie die höchste irdische Gewinnsucht, der höchste
Ehrgeiz, die höchste irdische Liebe. Anstatt qui intolerabili
pulchrcie mulieris amore raptatur liest nun n qui int. sanctae
caritatis amore raptatur. — Pag. 946B—C lesen die Ausgaben
non enim fidern ex intelleetu, sed intellectum ex fide meremur,
sicut scriptum est: nisi credideritis, non intelligetis, quia
quemadmodum et deus omnia operetur in nobis et totum libero
ascribatur arbitrio, cui dicitur: si uolueritis et audieritis me,
quae bona sunt terrae manducabitis, ad plenum liumano sensu
ac ratione non potest (ut arbitror) comprehendi. Zunächst sind
die Worte ut arbitror zu entfernen, da sie in keiner Hand
schrift stehen. Die Worte cui dicitur . . . manducabitis finden
sich nur in II, aber diese Handschrift liest cum für cui. R hat
vor cui ein Kreuz und hinter manducabitur eine eckige Klammer;
am Rande ist bemerkt: haec absunt. Somit stand der Passus auch
nicht in den vaticanischen Handschriften. Ich halte die Worte aus
folgenden Gründen für interpolirt. Im neunten Capitel der XIII.
Conlatio erörtert Cassian, dass es der menschlichen Vernunft
schwer werde zu begreifen, wie einerseits die göttliche Gnade
den Menschen, andrerseits der Mensch die Gnade aufsuche.
Unter den zahlreichen Stellen, die dort für diesen Widerspruch
zwischen gratia. dei und liberum, arbitrium. angeführt werden,
befindet sich auch die hier von II gebotene. Cassian sagt: cui
autem facile pateat, quomodo salutis summa nostro tribuatur
arbitrio, de quo dicitur: ,si uolueritis et audieritis me, quae
bona sunt terrae manducabitis', et quomodo ,non uolentis neque
currentis, sed miserentis sit dei' (Rom. 9, 16). Hier ist das Citat
ganz am Platze, während es an der oben angeführten Stelle
nur stört, da ihm hinter den Worten deus omnia operetur in
Textkritische Grundlagen im zweiten Thoile von Cassians Conlationes. 509
nobis kein Gegenstück gegenübersteht. Auch siebt man nicht
ein, weshalb Cassian gerade am Schlüsse seiner Erörterung, wo
es auf eine kurze, präcise Fassung des Resultates ankam,
ein schon am passenden Orte verwendetes Citat nochmals habe
anbringen wollen. — Pag. 1032 B lesen UTE quasi uero apud
deum uerba tantummodo et non praecipue uoluntas uocetur in
culpam, et opus solum peccati et non etiam uotum ac propositum
habeatur in crimine, aut hoc tantum quid (quod E) unusquisque
fecerit per loquelam (pro loquilla Jl') et non quid (quod EJ etiam
per taciturnitatem facere studuerit, in iudicio sit quaerendum.
aut hoc tantum quid unusquisque fecerit et non quid etiam
facere disposuerit, in iudicio sit q., welchen Text ich abgesehen
von seiner prägnanten Deutlichkeit auch deshalb für richtig
halte, weil Cassian hier ganz allgemein That und Vorsatz ein
ander gegenüberstellt. Die Beziehung auf dasjenige, wovon in
diesem Capitel speciell gesprochen wird, dass nämlich manche
Mönche ihre Mitbrüder durch ein provocirendes Schweigen zum
Zorne reizen und sich dabei für sündlos halten, weil sie ja
jedes iurgium vermeiden, ist schon durch die Worte uerba
tantummodo et non praecipue uoluntas uocetur in culpam hin
länglich hergestellt. IDT sind also interpolirt; ausserdem steht
in II anstatt culpam et seltsamer Weise perturbatione. Man ver
gleiche auch noch die Parallelstelle pag. 1064 A. — Pag. 1064B.
DTE: finis operis et ajfectus considerandus est perpetrantis, quo
potuerunt quidam, ut supra dictum est, etiam per mendacium
iustificari et alii per ueritatis assertionem peccatum perpetuae mortis
incurrere. X liest potest quis und alius. Die Interpolation in
IIT rührt von dem Ucberarbeiter dieser Conlatio her, welcher
das per mendacium iustificari und per ueritatis assertionem peccatum
incurrere auf das alte Testament beschränken wollte, was Cassian
selbst ganz ferne liegt. Vgl. die oben S. 506 citirte Stelle
pag. 1067 B—C. — Pag. 1073 A ist von des Paulus Predigt zu
Athen die Rede. IIXE lesen cumque de eorum superstitione ser-
monem fuisset orditus; Z lässt sermonem weg, gewiss mit Recht,
da auch Cicero ordiri de gebraucht.
Wie IIY gegenüber von X durch Einschiebsel entstellt er
scheinen, so sind sie auch dort, wo die Lesart unbedeutend
variirt, an Güte nicht entfernt dieser Handschrift gleichzu
stellen. Da hierin der Unterschied der beiden Classen ein weit-
510
Petsclieni g.
greifender ist, will ich eine möglichst grosse Zahl von Stellen
erledigen. Dadurch wird es auch möglich werden, hie und da
auf andere Partien der Conlationos und auf die Institutiones
hinüberzugreifen. — Pag. 843 B bietet 2 allein die Genetivform
Archebi, welche der alte Augustodunensis der Institutiones con-
sequent hat. — Pag. 850 B liest - allein oppida eminentionbus
tumulis collocata fugatis habitatoribus suis eluvies illa uelut in-
sulas fecit. ■— Pag. 851B hat 2 iuuentas, I IT iuuentus. Vgl. pag. 884 B
iuuentatis 241, pag. 939 A iuumtatis 241pag. 902 A iuuentatis 241.
— Pag. 854 B liest 2 genau nach dem griechischen Original
estote, inquit, uos perfecti (ececöe Ogsi; tsXsioi); I1TE schieben
et vor vos ein. — Pag. 856 C circumferens arbitram non solum
actuum sed etiam cogitationum suarum conscientiam illi potissimu/m
studere contendit, quem nec circumveniri nee falli nee subterfuqere
se posse cognoscit BCR. 11 liest contendit quam cireumueniri, Y
contendet quem nec, 2 allein richtig contendet quam (piiimlich
conscientiam) nec. — Pag. 857 B filius honorat patrem et
seruus dominum suuni timet, et si pater ego sum, ubi est
honor meus? et si dominus ego sum, ubi est timor meus?
(Malach. 1, 6). Unter den Manuscripten hat nur 2 timet; 11T
lassen es weg und auch in der Septuaginta fehlt der Begriff.
Aber pag. 866B lesen doch in demselben Citat 2DTE überein
stimmend timebit. Jedenfalls ist daher timet zu halten. —
Ebendort liest B: necesse est enim eum timere qui seruus est,
quia seruus sciens uoluntatem domini sui et non faciens digne
uapulabit plagis multis. C: quia sciens uoluntatem domini sui, si
non fecerit, digne. Nach den Manuscripten ist zunächst timere
eum umzustellen und dann mit 2 zu schreiben quia si sciens
uoluntatem domini sui fecerit digna plagis, uapulabit multis.
So auch R, nur hat diese Ausgabe qui statt si. 11Y hingegen
lesen sui non und in 11 fehlt si. — Pag. 860 A liest 2 in der
Bibelstelle Matth. 5, 16 genau nach dem Griechischen petet, et
dabit ei uitam, peccantibus non ad mortem. II hat dabitur
ei vita* und so liest auch T, allerdings von zweiter Hand. II 1
hat zwar peccantibus, aber II 2 Y peccanti. — Ebendort wird
I loh. 1, 8 citirt si dixerimus, quoniam peccatum non
habemus, ipsi nos seducimus. So IIYE; 2 liest decipimus.
Obwohl die beiden Monacenses Conl. XXIII, 21 auch seducimus
lesen, ist doch die Lesart von 2 offenbar der Vulgata gegen-
Textkritische Grundlagen im zweiton Theile von Cassians Conlationes. 511
über vorzuziehen. 1 decipimus liest man bei Cyprian I pag. 156, 9
und 375, 9, dann bei Ennodius pag. 323, 4. Ferner ist mit Z
quia statt quoniam zu schreiben, quia bat Cyprian an beiden
Stellen und die Monacenses Conl. XXIII, 21. — Pag. 861A.
IIYBC lesen implebitis legem Christi, ZE adimplebitis. Dieselbe
Stelle ist pag. 1038 A wieder citirt; dort lesen HY abermals im
plebitis, 2E aber adimplebitis. — Pag. 862 A ist mit ZY zu lesen
quomodo ergo imperfecta esse credenda sunt (est I1E), mit Bezug
auf den Anfang des 11. Capitels timorem dei et spem retributionis
aeternae imperfecta esse dixisti. — Pag. 865B (tit. zu cap. 13)
de timore qui de caritatis magnitudine generatur lässt II de vor
caritate weg, ebenso in der Ueberschrift zu cap. 5 pag. 875
vor incentiuorum■ aestibus generatur. Aber de hat in dieser Ver
bindung durchaus nichts Auffallendes. — Ebendort lesen IIYE
quisquis igitur in huius fuerit caritatis perfectione fundatus; Z
lässt in weg. Cassian gebraucht bei fundari weit häufiger den
blossen Ablativ als in. In diesem Theile der Conlationes steht
in nur einmal; pag. 960A ist nämlich nach XIIY zu lesen in
illa . . . professione fundati. Dagegen steht pag. 877 A mens
Imitate fundata, pag. 895 A qua uirtute fundatus, pag. 1019 A
parili uirtute fundatis. — Pag. 874 B tanta autem erga acquisi-
tionem castimoniae desiderio atque amore inflammetur, quanto quis
pecuniarum cupidissimus appetitor uel qui summa honorum ambi-
tione distenditur. Zunächst ist mit II flammetur zu lesen (flamme-
mur Z), dann auidissimus mit Z. Vgl. Conl. XVIII, 14 patientiae
uirtutem tanta auiditate sectata est; pag. 980 A ea cordi tuo illa
auiditate commendes, pag. 980 B tanto auidius audiet. Ferner
1 Cassian kennt clie Vulgata, welche er Conl. XXIII, 8 als emendatior
translatio bezeichnet, citirt aber gewöhnlich nicht nach derselben, son
dern nach anderen ,exemplaria‘. Vgl. Inst. XII, 31 secundum exemplaria,
quae Hebraicam exprimuni ueritatem (voraus geht ein nicht der Vulgata
entnommenes Citat). Inst. VIII, 20 licet a quibusdam hoc ipsum quod
dicituv sine causa ita interpretari sciam . . . melius tarnen est ita teuere,
ul et nouella exemplaria multa et antiqua omnia inueniuntur
esse per scripta. Daraus erklären sich die Verschiedenheiten im Wort
laute eines und desselben Citates. Zugleich rechtfertigt sich hierdurch
das Verfahren, an jeder Stelle in erster Linie die beste und älteste
Ueberlieferung zu berücksichtigen. Je jünger eine Handschrift ist, desto
mehr nähert sie sich der Vulgata, weil die Abschreiber im Laufe der
Zeit sich zahlreiche willkürliche Aenderungen erlaubten.
512
Petsc lienig.
schreibe ich mit ü uel si qui. Vgl. Salvian. ad Eccles. III, 22
si qui non penitus domu eliminantur et quibus non omnino
extorribus quasi aqua et igni interdicitur. — Pag. 876 A tune uer-
siculi illius ajfectum experientia docente concipiet, quem omnes . . .
concinimus, uirtutem uero eius non nisi pauci expertique percipiunt.
Z: percipiet. Wenn auch das folgende percipiunt einigermassen
stört (aber vgl. pag. 896 B comparauerit . . . comparauit), 1 so
erachte ich dies doch nicht für genügend, um von S abzugehen.
Vgl. pag. 894 B ut uim laetitiae huius inexpertns mente non ualet
percipere. Conl. XIX, 13 init. argumenta . . . lucide satis aperte-
que percepimus. Anders zu fassen ist pag. 925 B concepit Adam
post praeuaricationem quam non habuerat scientiam mali. —
Pag. 876 C omnem intuitum suum, omne Studium, omnem curam.
Z allein liest omnemque curam, was dem Gebrauche Cassians
entspricht. Vgl. 915 A petentibus tribuat, a quaerentibus inueniatur
aperiatque pulsantibus; pag. 924 B occurrit, dirigit atque con-
fortat; pag. 932 A adiuuat, protegit ac defendit. — Pag. 878 A
et scuta comburat igni. Z liest hier igne; pag. 893 B ist in der
selben Bibelstelle zwar zuerst igni geschrieben, aber dies von
erster Hand zu igne corrigirt. Ich gebe Z den Vorzug, weil
igni leicht aus der Vulgata eindringen konnte. — Pag- 884 A
lesen in der Stelle Hebr. 4, 12 I1TE compagum quoque ac me-
dullarum, Z hat et. Dasselbe Citat findet sich auch Conl. II, 4.
VII, 5. VH, 13. An der ersten Stelle haben die Ausgaben nebst
dem Sang, et, der Paris, ac, an der zweiten die Handschriften
und Ausgaben et, an der dritten ac. Demnach kann man hier
Z folgen. — Pag. 898C ist mit X abba Germanus zu schreiben,
(iabbas UT). Die beiden Formen wechseln. In dieser Partie
erscheint abba noch pag. 960C in Z, pag. 1001A (Vocativ) und
pag. 1012 A in SÜT, in der Ueberschrift von Conl. XVI, 1 und
pag. 1046 A in ZII. Koptisch a.n*v, senior, pater, &.n*.c antiquus,
uetus. — Pag. 899 A lesen IIE progressus cellula, T p. cella, Z
richtig p. cellam. Inst. II, 15 liest der Sangallensis allerdings cella
sua progredi, aber III, 4 cellulas progredi, IV, 10 cellam progredi; 2
1 Noch auffallender ist Conl. X, 10 p. 835D: tantaque me aentio sterili-
tatis huius ariditate constrictum, ut nullas omnino spiritalium sensuum gene-
rationes parturire me sentiam.
2 In diesen Constructionen stimmt der Laudunensis, aber nicht in den
Wortformen cella und cellula.
Textkritische Grundlagen ira zweiten Theiie von Cassians Conlationes. 513
vgl. auch egressi cellavi pag. 1045 A (so 2T; cellulam 11). —
Pag. 909 B lesen UTE in der Stelle Ezech. 33, 11 moriemini,
2 richtig morimini nach dem griechischen dbco6vifax.sT£. —
Pag. 916A wird Ezech. 11, 19f. citirt dabo eis cor nouum et
spiritum nouum tribuam in uisceribus eorum UTE. 2 und die
Vulgata lesen cor unum, die Septuaginta owcw au~c\q xap&'av etepav
xat t:v£up.a y.atvsv owsoj. Ich entscheide mich aus dem Grunde für
2, weil auch Conl. III, 18 der Paris, s. IX, welcher auch sonst
die Bibelcitate vortrefflich überliefert, von erster Hand unum
hat. — Pag. 921 A bieten die Ausgaben Solomon quoque ait:
inclinet corda nostra ad se (III Reg. 8, 58), HT Salomon
quoque: inclinet, inquit, dominus corda nostra ad se, 2
salamon quoque: inclinet dominus. Es ist also mit den Manu-
scripten dominus einzuschalten, welches zwar nicht in dem citir-
ten Verse steht, aber der Deutlichkeit wegen aus dem 57. Verse
herüber genommen ist. Dagegen ist inquit nach 2 zu tilgen.
Cassian lässt nämlich mitunter das ankündigende Verbum vor
einem Citate aus. Vgl. pag. 871B in Deuteronomio quoque: si
fuerit inter uos homo, wo die Ausgaben inquit hinter fuerit
haben; pag. 974 A de qua idem becitus apostolus: ego scio u. s. w.,
wo T hinter scio, die Ausgaben hinter ego ein inquit einschieben-
— Pag. 921 B liest 2 audimus in euangelio dominum conuo-
cantem, I1TE audiuimus. Das Praesens ist richtig, da in diesem
ganzen Capitel die Citate sonst nur mit diesem Tempus ein
geleitet werden. — Pag. 922 A apostolus liberum arbitrium nostrum
incitat dicens. Wie aus der Gegenüberstellung sed infirmitatem
eius Ioannes Baptista testatur cum ait erhellt, kann nur das
von 2 gebotene indicat richtig sein. — Pag. 924B ist die Stelle
Ps. 49, 15 so herzustellen inuoca me in die tribidationis et eripiam
te et glorificabis me. Nur 2 lässt tuae hinter tribidationis nach
der Septuaginta h vjp.epa 8a(4sü)i; weg. — Pag. 934 A liest 2 fu-
turae retributionis par, UTE haben retributioni. Der Genetiv bei
par steht auch noch Conl. XXIV, 8 a. E. uirtutis pares nach den
Münchener Handschriften und Instit. V, 12 purem uirtutis nach
dem Augustodunensis, Laudunensis und Sangallensis. — Pag. 935 A
liest 2 allein euictum, UTE uictum; vgl. pag. 956 A qui non euicerit
planiora. — Pag. 936 B bieten UTE non enim illam fidem quam
ei dominus inspirabat, sed illam quam uocatus semel atque illumi-
natus a domino per arbitrii libertatem poterat exhibere, experin
514
Petschenig.
uoluit diuina iustitia. 2 hingegen liest per libertatis arbitrium.
Allerdings steht sonst arbitrii libertas, doch halte ich die Les
art von 2 für möglich. So heisst es pag. 946 A ähnlich ut in
alterutram partem plenurn sit liberae uoluntatis arbitrium
lind pag. 946B beweist der Satz ut captiuitatem libertas addicta
non sentiat, dass libertas von Cassian auch in dem Sinne von
libera uoluntas gebraucht wird. Man vgl. noch Salvian. ad Eccles.
I, 50 uti enim seuentatis arbitrio iudex non potest, quando reus
iam non sustinet iudicari. — Pag. 943 B. 2: surge, tolle lectum
tuum, UT: surge et tolle. Das griechische iqepQelq apöv cou -ri]v
•xXtvv)v gibt keine Entscheidung. Da aber in der Schrift contra
Nestor. VII, 19 die beste Handschrift nebst den Ausgaben liest:
surge, inquit paralytico, tolle grabatum tuum, wird man sich für
2 zu entscheiden haben. — Pag. 944B liest 2 in der Stelle Rom.
II, 33 und 34 ininuestigabiles uiae eins, UYE inuestigabiles. Wenn
auch pag. 939 B alle Manuscripte inuestigabiles lesen und dies
auch bei Cypr. I, pag. 155, 18 (Hartei) steht, entscheide ich mich
doch für 2, da ininuestigabilis aus Tertullian citirt wird. Ebenso
lese ich pag. 955 B mit 2 spiritus namque dei odit fictum (Sap. 1,
4 und 5), obwohl 2IIY pag. 983 A effugiet bieten und die LXX
os'j'ixa; liest. — Pag. 957 A bietet 2 quidam erga institutionem
fratrum omnem studii sollicitudinem dediderunt, und dieses
Verbum ist entschieden gewählter als die Lesart von IIY dede-
runt. — Pag. 963 A wird Gal. 4, 22 und 23 citirt scriptum est
enim quia Abraham duos filios habuit, ununi de ancilla et alium
de libera. Statt alium, wie neben E auch Y liest, hat 11 unum
(eva). Aber in II stehen die Worte et unum de libera von
zweiter Hand über der Zeile, und der Corrector hat einfach das
unum der Vulgata genommen. 2 bietet alterum, sicher richtig. —
Pag. 965 A et mortui qui in Christo sunt resurgent prirni (I Thess.
4, 15). 2 liest richtig primo nach dem griechischen 7cpöTov. —
Pag. 965 B entscheide ich mich in der Stelle I Corinth, 15, 4
für die Lesart surrexit (ey/fyspTai) von 2Y: resurrexit lesen 1 IW —
Pag. 983 B geht inquit in 2YE dem Citate voran sed prius inquit:
beati immaculati in uia. Dass die Umstellung in II prius beati
inquit auf Willkür beruht, beweist Instit. V, 8 apostolus inquit: et
carnis cur am u. s.w. nach dem Augustodunensis, Laudunensis
und Sangallensis. — Pag. 986 B liest 2 sed dices forsitan, WYE
dicis. Ich entscheide mich für 2, da auch in der Schrift gegen
Textkritische Grundlagen im weiten Theile von Cassians Conlationes. 515
Nestorius die älteste Handschrift in dieser Wendung mehrmals
das Futurum bietet. — Pag. 1007 A lesen IUfi? daemonia ei
subiecta sint, S richtig subdita. Vgl. ConL XVIII, 7 seniorum
subduntur imperio (so die Monacenses, subiiciuntur E); ebendort
se coenobiorum praepositis subdiderunt; XVIII, 8 subdique se
niorum imperio; XIX, 1 se coenobio subdiderat; XXI, 21 ad rebel-
lionem subdita menibra compellere; XXII, 11 peccato subditus. —
Pag. 1012 A hur. usque abba Nesteros orationem de uera charis-
matum operatione consummans. iS liest rationem und dies halte
ich in dem Sinne von ,Lehre, Theorie' für richtig. Vgl. Conl.
XIX, 13 rationem. discemendarum aegritudinum, id est quo pacto
uitia quae celantur in nobis ualeant deprehendi, lucide satis aper-
teque percepimus,. Demnach dürfte auch Conl. V, 7 mit dem
Sangallensis und mit B zu lesen sein ut de efficientia cete-
rarum quoque passionum, quarum rationem (narrationem Paris.
GR) intercidere nos expositio gastrimargiae . . . compulit, . . ,
disseramus. — Pag. 1024 B liest iS vortrefflich cum me adhuc
adliaerere consorti aetas iunior hortaretur. 11 1 hat consortia,
H 2 r consortio fratrum. — Pag. 1029 B de quibus st alibi dicitur:
diligens suos qui erant in mundo, usque in finem di-
lexit eos. sed haec unius dilectio non erga reliquos teporem ca-
ritatis . . . expressit. Z allein liest hie, was in adverbialem
Sinne — hoc loco ganz entsprechend ist. Vgl. Conl. XXI, 5 hic
autem (d. i. in euangelio) pro excellentia et sublimitate manda-
torum dicitur: qui potest capere, capiat. — Pag. 1034 A liest
ü in der Bibelstelle Ps. 54, 13 et si is, qui oderat me, aduer-
sus me magna locutus fuisset nach der LXX eF sjj.s spsyaXo-
ppy)p,6yV)asv. IIT E haben mit der Vulgata super me. — Pag. 1039 A
ist nach 2 zu schreiben dum, consistit peccator aduersum me
(Ps. 38, 2). II 1 bietet consisterit, IPT E consisteret. Instit. IV,
41 lesen allerdings die Ausgaben und der Sangallensis mit der
Vulgata cum consisteret, aber der Laudunensis mit iS überein
stimmend dum consistit. Vergl. auch Conl. XVIII, 6 dum tem
pore persecutionis affinium suorum deuitat insidias. — Pag.
1042 A lesen UT E haec enim est natura (natura est E) irae,
ut dilata languescat et pereat, prolata uero magis magisque con-
flagret, iS aber dilatata. Dass nur letzteres richtig sein könne,
lehrt der ganze Tenor des Capitels. Ich begnüge mich, auf den
Anfang zu verweisen, wo es heisst: totam iram suam profert
516
retschenig.
inpius (so 211), sapiens autem dispensat per partes (d. h.
dilatat): id est . . . sapiens paulatim eam maturitate consilii . . .
extenuat et expellit . ... ab apostolo dicitur: date locum
irae . . . hoc est, non sint corda uestra . . . pusillanimitatis an-
gustiis coartata, sed dilatamini in cordibus uestris u. s. w.
— Pag. 1081 C praelegenda ac praeferenda esse meliora et ad
illam quae utilior diiudicata fuerit partem sine cunctatione aliqua
t.ranseundum. 2: iudicata. Dass das auch in Ulf stehende
diiudicata doch nicht nothwendig ist, beweist die Stelle pag.
928 A restat ergo ut et bona et ex homine fuisse credatur (cogi-
tatio regis Dauid). in quem modum etiam nostras quotidie cogi-
tationes possumus iudicare, wo man gleichfalls diiudicare erwartet.
Die Zahl der Stellen, an denen ED’ den besseren Text
bieten, ist unbeträchtlich. Pag. 850 A collapsis ferme Omnibus
uicis. 2 allein liest fere. In den Institutiones und den beiden
anderen Theilen der Conlationes notirte ich mir ferme an zehn,
hingegen fere an keiner Stelle. In unserer Partie steht XV, 10
ferme, XVII, 1 fere. Demnach ist höchst wahrscheinlich ferme
richtig. — Pag. 877 B liest 2 docet, IIYE edocet. Vgl. pag. 887 B
edoceri 2IIY, pag. 936 A docemur 2Y, edocemur II, pag. 873 B
edocet 211, docet Y, pag. 946 A edocemur 2ÜT, pag. 1042 B edo
cemur 2IIY. Ich ziehe überall das gewähltere Compositum vor,
welches auch im dritten Theile der Conlationes und sonst häufig
erscheint. — Pag. 890 B sicut non est in colluctatione continentiae,
sed in castitatis pace locus domini. 2: in castitate. Ich gebe 1IY
den Vorzug, da das vorausgehende in colluctatione continentiae
nothwendig den vollen Gegensatz in castitatis pace verlangt.
Man vgl. auch B init. et factus est, inquit, in pace locus eins,
id est non in conflictu certaminis et colluctatione uitiorum,
sed in castimoniae pace. — Pag. 937 A liest 2 quia times
dominum tuum, IIYE tu, was nach dem griechischen Text <poßfj
cu tov 0s'ov Gen. 22, 12 richtig ist. — Pag. 996 A. 2: quem cum
haereticus arte dialectica fuisset aggressus et Aristotelicas igno
rantem spinas uellet abducere. IIY ad Ar. ign. sp. u. adducere.
Da ein absoluter Gebrauch von abducere in dem Sinne ,in die
Irre führen“ kaum möglich ist, muss mit IIY ad gelesen werden.
Aber abducere ist zu halten, da darin der Begriff , seitwärts,
vom rechten Wege wegführen 1 enthalten ist. Vgl. Conl. XXIII,
15 a. E. quia se pro conditione fragilitatis humanae senserat cap-
Textkritische Grundlagen im zweiten Theile von Cassian Conlationes.
517
tiuatum, id est abductum ad sollicitudines curasque carnales. —
Pag. 1044 A haec de amicitia beatus Ioseph disseruit nosque ad
custodiendam sodalitatis perpetuam caritatem ardentius incitauit.
2 inuitamt, nicht richtig. Vgl. pag. 944 A ad maiorem incitare
(inuitare BC) flagrantiam; Conl. XVIII, 4 assequi disciplinam
et ad exercendam eam ardentius incitari.
Häufig bieten die beiden Handschriftenclassen nur eine
verschiedene Wortstellung. Da sich 2 als der weitaus
beste Codex erwiesen hat, ist seine Lesart überall zu halten,
so lange nicht zwingende Gründe gegen dieselbe sprechen.
Hier will ich nur jene Fälle behandeln, in denen 2 entschieden
falsches oder zweifelhaftes bietet. Pag. 929 A manet in homine
semper liberum arbitrium 2 B C. Dagegen II ß liberum semper.
arbitrium, Y liberum arbitrium semper. Da Prospers Citat in
der Schrift contra Collatorem mit liß stimmt und Cassian für
diese Verschränkung überall eine besondere Vorliebe zeigt,
halte ich die Stellung liberum semper arbitrium für richtig. Aus
dem gleichen Grunde ist pag. 935 A mit HY 77 und Prosper zu
schreiben sine eum suis mecum uiribus decertare (uiribus me-
cum 2) und pag. 970 A si ad ueram scripturarum uis scientiam
peruenire nach (scientiam uis 2(7, scripturarum scientiam
peruenire desideras R). ■— Pag. 930 A inde est quod etiam Co-
rinthiis scribens hortatur HTA. 2: inde est etiam quod. Vgl. pag.
937 B tale est et illud, quod = pag. 1040 B. Salvian. de gub.
in, 39 unde est Mud etiam quod. Ep. IX, 13 ex quo etiam
illud est quod. Ich sehe daher keinen Grund, von 2 abzugehen. —
Pag. 987 B (tit. zu cap. 18) lesen TlYA quibus de causis spiritalis
doctrina infructuosa sit, 2 doctrina spiritalis. In der Conlatio
selbst findet sich neunmal die Stellung spiritalis scientia, zehn
mal die umgekehrte scientia spiritalis. Demnach verharre ich
bei der Leseart von 2. — Pag. 988 B haben UTE in der Stelle
1 Tim. 2, 4 die Wortstellung qui omnes homines uult saluos fiem,
2 hingegen saluos uult, nicht richtig. Conl. IX, 20 lesen die
Handschriften und Ausgaben uult saluos und auch der grie
chische Text hat ÖeXsi cuOrpai.
Schliesslich mögen noch einige Stellen besprochen werden,
an denen 2 gegenüber von HY lückenhaft erscheint. Es ist
nämlich nicht überall, wo in 2 ein oder mehrere Wörter fehlen,
was häufig der Fall ist, gleich von vorne herein der Text
518
P e fc s c h c n i jy.
dieser Handschrift als falsch zu verwerfen. Im Gfegentheilc ist
die Entscheidung, oh 2 lückenhaft oder die andere Classe inter-
polirt ist, manchmal sehr schwierig, wenn nicht unmöglich.
Pag. 853 B fehlen in iS die Worte fac me sicut ununi de mercen-
nariis tuis. Ich halte dieselben nach dem ganzen Inhalt des
Capitels für nothwendig. Ihre Weglassung erklärt sich aus
dem Abirren von tuus auf tuis. Ebenso ist pag. 873 B die
Weglassung der Worte neque ebriosi in 211 nur auf die Nach
lässigkeit der Schreiber zurückzuführen. Cassian selbst hat sie
sicher nicht weggelassen, da unter C ebnetatem (so 2IIY, ebrie-
tates E) ausdrücklich gesetzt ist. Schwieriger zu beurtheilen
ist die Stelle pag. 909 A, wo in 2 der ganze Satz qni enim nt
peraat . . . fieri uelle pro omnibus fehlt. Obwohl der Sinn und
Zusammenhang durch die Weglassung desselben nicht alterirt
wird, wird man doch vorsichtshalber bei dem Texte von IDf
verharren müssen. — Pag- 930 A fehlen im Citate Act. 8,
22 bis 23 in 2 die Worte cor dis tui gewiss mit Unrecht. Auch
pag. 936 A ist es durchaus nothwendig, mit IIT zu schreiben
nullius enim laudis esset aut (so 2: ac UYE) meriti, si id in eo
Christus quod ipse donauerat praetulisset; (alioquin dixisset ,non
dedi tantam fidem in Israhel 1 ). — Pag. 945 A passen die von 2
ausgelassenen Worte ipso quoque domino . . . a cogitationibus
uestris mit dem Citat Esai. 55, 8 bis 9 trefflich zum ganzen
Tenor der Stelle. — Pag. 966Cf. lese ich mit 11Y obsemate
igitur in prirnis, et maxime tu, lohannes . . . ut indicas summum
ori tuo silentium (hie est enim primus disciplinae actualis ingressus:
omnis quippe labor hominis in ore ipsius), et ut omnium
seniorum instituta atque sententias intento corde et quasi muto
ore suscipias. Wenn man mit 2 die Worte omnis quippe . . .
ipsius et streichen wollte, müsste mit liic est enim, ein neuer
Satz begonnen werden. Dies halte ich aber für minder passend,
da die Worte primus disciplinae actualis ingressus augenscheinlich
auf das vorhergehende indicas summum ori tuo silentium sich
beziehen.
Als Resultat der Untersuchung ergibt sich: die Ausgaben
Cassian’s haben im Texte des zweiten Theiles der Conlationes
so gut wie keinen selbstständigen Werth. Unter den Hand
schriften ist die der Sessoriana weitaus die beste, jedoch ,die
ausreichende Basis für eine neue Recension zu bilden', wie
Textkritische Grundlagen im zweiten Theile von Cassian Conlationes. 519
Reifferscheid BPI I, pag. 125 meinte, ist sie nicht im Stande.
Denn die beiden anderen allerdings interpolirten Codices sind
doch wegen mancher Schreibfehler und Versehen, besonders
aber wegen der zahlreichen Lücken im Sessorianus von nicht
zu unterschätzendem Nutzen für die Herstellung des Textes.
VII. SITZUNG VOM 7. MÄRZ 1883.
Von dem w. M. Herrn Hofrath Ritter v. Miklosich wird
seine in zweiter Auflage erschienene Schrift: ,Subjectlose Sätze'
der Classe übergeben; ferner wird von Herrn Professor G. Wolf
in Wien das Buch: ,Historische Skizzen aus Oesterreich-Ungarn'
für die akademische Bibliothek übersendet.
Herr Prof. Dr. J. Loserth in Czernowitz theilt eine
mit einem kritischen und sachlichen Commentar versehene Ab
schrift eines Nekrologs des Olmützer Minoritenklosters mit, die
aus einer Handschrift der Olmützer Studienbibliothek genommen
wurde, und ersucht um deren Aufnahme in das Archiv für
österreichische Geschichte.
Die Mittheilung geht an die historische Commission.
Das w. M. Herr Prof. Th. Gomperz legt eine für die
Sitzungsberichte bestimmte Abhandlung: ,Herodoteische Stu
dien n' vor.
An Druckschriften wurden vorgelegt:
Annuario marittimo per l’anno 1883. XXXIII. Annata. Trieste, 1883; 8°.
De Ceuleneer, Adolphe: Les tetes aildes de Satyre, trouvÄes ä Angleur.
Bruxelles, 1882; 8 11 .
Gesellschaft, k. k. geographische in Wien: Mittheilungen. Band XXVI,
Nr. 1. Wien, 1883; 8°.
Heidelberg, Universität: Akademische Schriften pro 1882. 8 Stücke 8°.
Institut, R. G.-D. de Luxembourg: Publications de la section liistorique.
Annie 1883. XXXVI. (XIV). Luxembourg, 1883; 8".
Louvain, Universität: Annuaires. 1882 et 1883. 46° et 47° annee. Louvain,
1882-1883; 8».
Museum Kralovstvi ceskeho: Öasopis. 1882. Roi-nik LVI, svazek treti a Stvrty.
V Praze; 8°.
— Novoceska Bibliotheka. Öislo XXV. W Praze, 1883; 8°.
Society, the Asiatic of Bengal: Proceedings. Nr. XI. November, 1882. Cal-
cutta, 1882; 8°.
Verein für Erdkunde zu Halle a/S.: Mittheilungen. Halle a/S., 1882; 8°.
Gomperz. Herodoteisclie Studien II.
521
Herodoteisehe Studien II.
Von
Th. Gomperz,
wirkl. Mitgliede der kais. Akademie der Wissenschaften.
Ich befürchte keinen Widerspruch, zum Mindesten keine
Widerlegung, wenn ich behaupte, dass die Partikel 5>v I, 144,
19 in einer Weise gebraucht wird, für welche weder Herodot
noch irgend ein anderer Schriftsteller eine ausreichende Parallele
zu bieten vermag. Krüger’s Verweisung auf I, G9, 22 ist unzu
treffend, denn dort wird uv im consecutiven Sinne angewendet
(= apa): ,Ihr steht, wie wir vernehmen, an der Spitze von
Griechenland; Euch rufen wir somit an' u. s. w. Auch rück
sichtlich der Anmerkung Krüger’s zur letztgenannten Stelle
,wv nach der Parenthese wie ouv öfter; zu Xen. Anab. I, 5, 14'
thut eine Unterscheidung Noth. Den eigentlich epanaleptischen
Gebrauch der Partikel — und diesen hat doch wohl Krüger im
Auge, — d. h. die Plervorhebung eines durch Dazwischen
getretenes verdunkelten und darum wieder aufgenommenen Be
griffes oder einer aus vorher zerstreuten Einzel-Vorstellungen
gewonnenen Gesammt-Vorstellung, vermag ich auch nicht in
all den Stellen der Anabasis, auf welche Rehdantz (zu 1, 5, 14)
verweist, zu erkennen. An der letztgenannten Stelle ist die An
wendung von ouv durch den begründenden Zwischensatz, IV,
7, 2 durch den temporalen Vordersatz bedingt, VI, 6, 15
findet sich ouv bereits vor dem Zwischensatz und wird nach
demselben blos wiederholt; nur III, 1, 20: xa 8’ au xwv axpaxiu-
xwv cixoxe £vOu[;.oi|j.Y]v oxi — — xaüx’ ouv XoYi£6p,evo; gehört
streng hieher, und liier fehlt auch nicht das Moment, welches
für diese Redefigur unerlässlich ist', dass nämlich der (gele
gentlich durch ouv hervorgehobene) Begriff wieder aufge
nommen werde, d. h. also im Vorhergehenden entweder als
Sitzungsboi-. d. phil.-hist. CI. CIII. Bd. II. Hfl. 34
522
(romperz.
solcher oder in seine Bestandtheile aufgelöst bereits einmal
ausgesprochen sei. ' Von alle dem ist in unserem Falle keine
Rede; man schreibe und interpungire daher wie folgt: Die
Ionier der Zwölf-Städte halten an ihrem Nationalheiligthum
(dem Panionion) mit eifersüchtiger Ausschliesslichkeit fest, eßou-
Aeüuavxo 8e ai/roü [AExaBouvat |jt.r]Ba|j.ou;i aXÄotat ’ltüvwv (oüB’ ios.ifir l coa
31 ouBap.ot (j.£txc'/eTv cxt pw; ZpwpvaTot), y.axä TCp ol ex. ir\z itEvxaTtoXto?
vuv '/ßpr,c Awptse?, TipsTEpov Be £^a-o)aoc xrj? auxrj? xaüxr t c y.aAEop.EV^; -
oul.aaoovxai ywv saBeijaaOat xwv xxeptotxwv Aioptewv s? xo
Tptcw/.bv tpcv, akka y.at aoswv auxdiv xouc xxspi xo Ip'ov ävop.^oavxai;
ei;sxXi)t(jav xvj«; [j.Exsy^;. Die Partikel yoüv wird hier genau so an
gewendet wie z. B. bei Thukyd. VI, 59, 3, wo Hertlein (bei
Krüger) also erklärt: ,Dies — lässt sich wenigstens daraus
schliessen, dass* u. s. w. Die in y.axä ixsp ol — Atopies; liegende
allgemeine Behauptung wird durch das Folgende zugleich be
gründet und ermässigt (von einer ,Ermässigung der vorher
gehenden Behauptung* spricht Arnold Hug in einem gleichartigen
Falle, zu Plato, Sympos. 195 D). Herodot deutet mit kurzen
Worten das an, was er in ausführlicherer Darlegung etwa also aus
gedrückt hätte: Von einem gleichartigen Beschluss der Dorer
(EßouAsuoavxo) vermag ich freilich nichts zu melden; dennoch
vergleiche ich sie in diesem Betracht mit den Ioniern (xxxa ttsp),
weil ihre Handlungsweise eine derartige Gesinnung unzwei
deutig bekundet. (Man vergleiche ausserdem, was Bäumlein,
Griech. Partikeln 188—189, zusammenstellt, etwa auch Thukyd.
II, 65, 6; Plato, Sympos. 194E)
I, 155, 2—3: —|J.v;8e tcoXtv &pyjxir,v eqavacx^avjc ävap.apx-^xov
soüaav y.at xwv xpöxspov y.at xwv vuv scxeujxwv. Das allerdings un
gewöhnlich gebrauchte ecrxswxtov, welches man immer und immer
wieder in eveoxswxwv verändern will, wird meines Erachtens
genügend geschützt durch Sophokl. Trachin. 1271: xot Be vuv
Ecrxtiix’ —.
Ein Emblem lässt sich I, 169 mit Sicherheit erkennen,
weil es nicht nur eine überflüssige, sondern zugleich eine
1 Auf solche Fälle verweist jetzt mit bestem Fug die Anm. zu I, 69
in Krüger’s zweiter Ausgabe. Man vergleiche sie mit unserer Stelle
und der Unterschied kann Niemandem verborgen bleiben (es sind V, 99;
VI, 76); theils folgernd, theils einfach die Erzählung fortführend (= ctpa)
ist jedoch uv VII, 137, IX, 26 und 87.
Herodoteische Studien II.
523
falsche Erklärung des Gedankens unseres Geschichtschreibers
enthält. Von Phokäern sowohl als Teiern hatte er nicht gesagt,
dass sie sich in offener Feldschlacht mit dem persischen Er
oberer gemessen hatten. Ihre höhere Freiheitsliebe gab sich
dadurch kund, dass sie lieber die Heimat verliessen, ehe sie
das Joch der Fremdherrschaft zu tragen sich entschlossen. Man
lese also: Ouxoi p.sv vuv ’Iqjvwv piouvoi xyjv SouXooivrjv oux avs^o-
(j-svot E^eXtitov xa; Ttaxpi'Sa?' ol S’ deXXoi "luve? oia |xi/rfi |aev amy.ovxo
'Apxäyu [•/.ata xsp o! exXwiövxei;] y.al avSps? tyevovxo ayaSoi —, eoow-
Oevxe? Be xal aXovxs? ejaevov xaxa X“P’ r / v sxomoi xal xa emx«acr6|J.cva
STCEXeXsOV.
Nicht ganz so streng erweisbar, aber doch in hohem
Grade wahrscheinlich ist das folgende Emblem: I, 174, 6 ff:
xal oy; zoXXy) x £t P l epY a ?°f JI -s vwv xwv Kvtotwv, [xäXXov yap xt y.al
Oscoxepov epai’vovxo xtxpt!)oxsa0ai [ol spya^op.svot] xoü £1x0x0? xd xs aXXa
xoü aü)p.axo? —, snepwtov eg AsXcou? xxs. Wie überflüssig und
pedantisch scheint doch der von uns eingeklammerte Zusatz,
wie ungeschickt seine , das eng Zusammengehörige aus ein
ander reissende, Stellung, und wie viel leichter lässt sich ohne
denselben das zu sixe|jwcov zu denkende Subject (ol KvfScot) aus
dem Vorangehenden entnehmen! Die Nothwendigkeit von der
Gesammtheit der Knidier, welche das Orakel zu Delphi beschickt,
den mit der Durchstechung der Landenge beschäftigten Theil
derselben zu unterscheiden, trotzdem es soeben erst hiess: itoXXp
Xstpi £pyal(op.£Vü)v xwv KviSiwv — wem sonst mochte sie wohl
einleuchten als einem Schulmeister? Oder sagen wir lieber:
als dem Schulmeister, dem wir im Folgenden so oft begegnen
werden, sofort auch cap. 185 in den Worten: ir.oiee 31 a.\i.ociepa.
xaüxa, [xcv X£ xoxap.ov oxoXtov y.al xo opuyiAa ixav sXo?J, üg 0 xs 'Koxap.b?
ßpaSüxepo? elr, — xal ol ttXooi stoai 0x0X101 xxs. Wie geschmackvoll
ist dies doch ausgedrückt: (Nitokris) machte den Strom krumm,
damit die Schifffahrt krumm sei! Und wie sinngemäss: sie
machte das bpuyp.« ganz und gar zu einem Sumpf, als ob sie
es schon vorgefunden und nicht, wie soeben erzählt ward,
(öipuocs sXuxpov Xi|avy)), erst geschaffen hätte! Allein der entschei
dende Beweis für die Unechtheit des Zusatzes liegt in seiner
Unwahrheit. Denn von einem Sumpfe ist hier ganz imd gar
nicht die Rede, sondern von einem mit Wasser erfüllten Becken,
dessen Verwandlung in einen Morast mittelst der Zurück-
34*
■
524
Gomperz.
leitung der anfänglich in ihn gelenkten Wassermassen erst am
Schluss des nächsten Capitels erzählt wird! 1 — Derlei, man
möchte sagen proleptische Embleme werden uns noch mehr
fach begegnen. Doch verweilen wir zunächst noch im wasser
reichen Mesopotamien, welches gleich Aegypten nach allen
Seiten hin von Canälen durchschnitten war, von Canälen, aber
doch nicht in solche, wie der gegenwärtige Text uns glauben
machen will (193, 3—5): v; yäcp BaßuXüwi) -/tnpy; xäcra y.axa xsp r,
AiywuT; -/.axaxexp.v;xat [$<* Stwpu/yc], Vgl. II, 108 und 109: '/.<z-
xexap.ve Be xcüBe fetvexa xrjv ywpr,/ b ßaoiXsü? und xouxcov p.sv cr, etvsxa
y.axcxp. rjir, r t Alyuxxoc. 2 — Auch die Darstellung der Euphrat-
Schifffahrt leidet nocli an einem kleinen Tcxtesfehleix Von
dem daselbst bis heute gebräuchlichen ,auf Schläuchen schwim
menden Strauchgeflechte' i (Puchstein in Berlin. Sitzgsb. 1883, 41)
heisst es nämlich (194, 12): — oüxe Trpögv^v axoy.pivcvtsc oüxe xpwpvjv
tj'JVctYovxsc, <xXX’ aoxiooc xpoxov y.uy.Xoxepea xoir ( GavxEC y.ai -/.aXap.?]? xX^aotvxs?
xav xoxXoTov, oüxio axieuot y.axa xov xoxap.ov «pepeoOat, ipopxfiov xX^cavxs:;.
Die Ersetzung des überlieferten völlig müssigen xoüxo (der Vindob.
bat, um nichts besser, xcixcu;) durch das in solcher Verbindung
allein übliche oüxio bedarf keiner Rechtfertigung, wie denn
angesichts der fortwährenden Verwechslung von ouxop, oüxoi,
oüxio, xoüxo u. dgl. nur Sinn und Zusammenhang unsere Wahl
bestimmen können. So lese ich II, 28 fin. (diesmal mit SVR):
oüxo? (statt oüxio) |j.£V Br, 6 Ypapp.ax'.cxYjt; y.xs.; II, 156 in. (mit
Bekker): oüxoc (gleichfalls statt oüxio) p.ev vuv 6 vrjop xxs.;
III, 138 fin.: oüxot Bl xxpöixot ez. xvj? ’Aafa); ep xl)v 'EXXaoa äxiz.ovxo
flepcat, y.a: oüxio (statt ouxoi), Bia xotovoe xpypjv.a, xaxctaxoxoc eyevovxo;
1 Woher weiss übrigens Stein, dass diese ,grossen Strom- und Canalbauten 1
nur zu Zwecken der Flussregulirung und der Bodenbewässerung, nicht,
aber, wie Herodot behauptet, auch zu Befestigungszwecken dien
ten? Eines Besseren konnte ihn wohl Ritter’,s Erdkunde, West-Asien,
B. III, Abtli. 3 belehren. Wie gefährlich zum Mindesten dem Heer
Kaiser Julians nebst der medischen Mauer auch die Canäle, die Moräste
und die künstlichen Uebersehwemmungen wurden, ist bekannt genug.
Und gilt nicht von all’ diesen Wasserbauten dasselbe, was Ritter über
die von den Persern im unteren Euphratlauf angelegten Katarakte
oder Hemmungen bemerkt, dass sie ,zu Bewässerungszwecken, ebenso
wie zu denen der Vertlieidigung 1 dienten (a. a. O. S. 34)?
2 In jedem Betracht unwahrscheinlicher ist die Annahme Krüger’s (2. Auf!.),
dass nur e; vor Siwpu^a; eingeschoben sei.
Herodoteische Studien II.
525
VH, 170 tiii.: aiteOxvov xptoyjX'.ot oüxoi, aüxüv Be Tapavxtvuv oüy.
s-yjv äpiOp.oi;. (An dieser Stelle hat das überlieferte oüxu zum
Mindesten Anstoss erregt und allerlei Vorschläge erzeugt; vgl.
auch IV, 44 in.: oq zpoxo3s(Xou<; osuxspo; oüxo? xoxaguv rcdvxuv
TrapE/ETO", oder VIII, 45: eSvo? eävxe? ouxot Aupaov cwrö KoplvOou).
Ebenso wenig bezweifle ich, dass IX, 102, 27 zu schreiben ist:
Stucap.Evoi fäp xä •yEppa, oüxu (statt ouxoi) <pspop.£voi sjexegov äXss?
iq xoüc IlEpcac. Einige andere Fälle sollen später besprochen
werden. Für die Verwirrung, die in diesem Betracht in den
Handschriften herrscht, verweise ich noch (ohne jeden An
spruch auf Vollständigkeit) auf I, 170 fin., wo Schäfer, wie auf
VII, 154 in., wo Stein gebessert hat, gleichwie auf den kriti
schen Apparat Gaisfprd’s zu I, 2 g), I, 14 e), 111,62f), III, 136
in., IV, 44 h), IV, 86 k), VI, 83e), IX, 102*;.
I, 204, 13 hat die augenscheinlich fehlerhafte Ueber-
lieferung xou u>v Sr, tteoiou xcü p.syaXou oüz EXa/icrir,'; ;j,otpav p.Exr/ouo: ot
Maaca^Exai zu verschiedenen Herstellungsversuchen Anlass ge
geben, unter denen Stein’s frühere Aenderung: xoüxou Sr, uv xrsBiou
xou p.s'fdXou wohl der schlechteste, Herold’s (jetzt auch von Stein
angenommene) Schreibung: xou öv er, ireBiou xoüxou xou p.sYaXou
die beste, zum Mindesten eine völlig sprachgemässe ist. Doch
scheint man nicht beachtet zu haben, dass der Zusatz p.EYaXou
nicht nur ganz und gar entbehrlich, sondern nach dem unmittel
bar Vorangehenden kaum erträglich ist. AVer pflegt denn eine
Ebene ,unabsehbar' (rcXr,0o<; axstpov iq arcoij/tv) und sogleich
darauf nur einfach ,gross' zu nennen? Dieser Abschwächung
des Gedankens begegnen wir und erklären zugleich die Ent
stellung des Fehlers, wenn wir annehmen, Herodot habe ge
schrieben: xou uv or, t.sot'ou xoüxou oüx. sXay_:<rxY)v -/.xe., durch den
Ausfall eines TOY (in IOYTOYTOY) sei aus dem Pronomen der
Artikel geworden und dieser habe seinerseits wieder die Ein
schiebung des Adjectivs verursacht.
Zweites Buch.
Dort, wo Herodot die Meinung der Ionier, d. h. seines
Vorgängers Hekatäus, der Nil bilde die Grenze zwischen Asien
und Libyen, ad absurdum führen will, leidet der Text an einem
Gebrechen, in Betreff dessen ich immer von Neuem erstaune,
dass dasselbe nicht längst erkannt und geheilt worden ist.
526
Gomperz.
Der Schluss des Cap. 16 muss nämlich unweigerlich also lauten:
tj (nicht ob) ydp orj 6 NelXo? ye eoxi v.xxz xoüxov xbv \6yov b xr;v
’Affirjv oüpi^tov xrjq Atßüy;?' xou AsXxa 8e xoixou y.axa x'o ö^u ixeptppi)-
yvuxai b NetAo?, £>oxe ev xw p.£xa?u Amrjq xe y.ocl Aißuv;; -pvo'.x’ av.
,Denn es ist ja doch der Nil, der nach dieser Ansicht Asien
von Libyen scheidet; nun spaltet sich aber der Nil an der
Spitze des Delta, so dass dieses zwischen Asien und Libyen
mitten innen zu liegen käme/ (Lange gibt den sinnlosen Text
ebenso sinnlos wieder, Stein greift zu willkürlicher Umdeutung,
und Rawlinson, der allein klar zu sehen scheint, fasst den Satz
als Frage auf, wogegen jedoch die asseverirende Kraft der
Partikel-Verbindung oü yap Sr) entschiedene Einsprache erhebt.)
Die Schuld der Verderbniss möchte ich nicht dem Zufall bei
messen, sondern dem Vorwitz jenes antiken Correctors, dem
wir unablässig begegnen und der es sich hier beikommen liess,
die stillschweigend gezogene Conclusion des Historikers (,der
Nil bildet nicht die Grenze der zwei Erdtheile') in den Ober
satz der hypothetischen Beweisführung hinein zu emendiren. 1
H, 23: o 06 Ttspt xoö ’Qy.savoü kecy.p 6? xbv p.uOov dvsveoto«;
ci>y, iyv. ekeyyoy • ob ydp xiva evwys oiSa izoxajxbv ’Qxsavov eovxa,
"Op.Y]pov 8e -’rj xiva xöv (y) xwv xtva?) xpoxepov Ysvopivwv toiyjxIwv Soxiw
xb ouvop.a EÜpovxa ec, xrjv rcoirjaiv eoeverxaaOat. Das Verständniss dieser
hochwichtigen Sätze liegt freilich nicht mehr ganz so sehr im
Argen wie vor ein paar Jahrzehnten, da Krüger ekeyyoy zweifelnd
durch,Grund' (mit Lange) oder ,Beweiskraft' wiedergab und Stein
die Phrase ,oint ’eyju ekeyyyk mit ,bietet nicht Grund, Veranlassung
zur Widerlegung' übersetzte. Jetzt weiss zum mindesten auch
Stein aus Thukyd. III, 53 (er hätte auch Lysias XII, 31 anführen
können; von Babrius 81, 4 sehe ich lieber ab), dass der letzt
genannte Satz so viel heisst als ,ist nicht zu widerlegen', besser
,entzieht sich jeder Widerlegung'; doch macht weder seine
noch Rawlinson’s Uebertragung und Erklärung der Stelle (oder
soll ich sagen, der Mangel jeder Erklärung?) den Eindruck,
als ob die ganze Bedeutung derselben bereits ausgeschöpft
1 Das oet des vorangehenden Satzes (welches Stein jedenfalls mit Krüger
in ?osi verändern musste) fehlt in der ersten Handschriftenclasse und
dürfte somit auf Interpolation beruhen. Es hiess vielleicht: xfxapxov
yap 8r] acpEa? jtpo<jXöy(£ea0cu (yjs?)v) Atyüjcxou xb AfAxa, ei [xrjxE yE eoxi xfjs
’Affh); pjxE x% Atßvri;.
Herodoteische Studien II.
527
wäre. Sollte ich mithin auch Kennern nur das sagen, was sie
sich selbst schon gesagt haben, so lohnt es doch der Mühe,
dasselbe — so bündig als die Sache es nur irgend zulässt —
einmal auszusprechen. — Unter den verschiedenen Versuchen
die Nilschwelle zu erklären, behandelt Iierodot keinen mit so
wegwerfender Geringschätzung als jenen des Hekatäus. Er gilt
ihm als eine jener zwei Erklärungen, die er kaum einer Er
wähnung werth erachtet (oüB’ ä|tw |j.vv;ij0^vai si |rr, oaov cv;|j.Yjvai
ßoukqj.svo? (aouvcv), und zwar ,als die unverständigere von beiden,
wenn sie gleich wunderbarer klingen mag'. 1 Wenn er nun
hier von diesem Erklärungsversuche sagt: ,Jener aber, der den
Okeanos herbeizieht und so die Sache auf das Gebiet des Un
ergründlichen spielt, entzieht sich jeder Widerlegung' — will
er damit die Frage nach der Richtigkeit dieser Theorie für
eine unlösbare erklären und seinerseits nur ein bescheidenes
ettv/io äussern? Keineswegs; denn wie stimmte dazu die im
Vorigen ausgesprochene Missachtung und wie der herbe Spott
der unmittelbar folgenden Worte: ,Denn ich weiss ja gar nichts
von einem wirklichen Strome dieses Namens, sondern ich halte
ihn für eine Erfindung der Dichter'? Vielmehr kann er gar
nichts Anderes sagen wollen als dieses: eine Hypothese, die
sich so gänzlich aus dem Bereich des Wahrnehmbaren und
Sinnfälligen entfernt, dass sie der Widerlegung nicht einmal
eine Handhabe bietet, ist eben dadurch gerichtet. Sein ouy. ly v.
sAey/ov (welches wohl verdient hätte ein geflügeltes Wort zu
werden) ist ein unbedingtes Verdamniungsurtheil. Er verlangt
von einer Hypothese, damit sie der Beachtung werth, oder, reden
wir immerhin unsere Sprache, damit sie wissenschaftlich berech
tigt sei, dass sie im letzten Grunde erweisbar, dass ihr Object
(um mit Newton zu sprechen) eine vera causa sei. Er steht
1 Nur dies kann der Sinn der allgemein missverstandenen Worte sein:
avE7iiaT7][j.ov£<jT^p7j {J.EV — Xoyip o £ eit:e?v Ofoup-aattoT^pr). Letzteres ist gleich
einem axoüacu hl 0toup.aauoTip7), etwa wie Pindar Pytli. I, 50 von einem
-s'pa<; Oaup-aaiov TcpoatÖE'aOa', Qaup.a hl xai Tcapsovciov axouaat spricht. Die
Wirkung auf den nüchtern prüfenden Verstand und jene auf die Phan
tasie werden einander schroff gegenüber gestellt. Ein abschwächendes Xoyco
eitüeTv = dx; Xo'yip Eksfv ist nicht am Platze und der Gegensatz von piv
und wird von dieser, der gangbaren Auffassung ignorirt. Stein’s Er
klärung in der vierten Auflage seiner commentirten Ausgabe nähert sich
dieser Auffassung der Stelle, ohne jedoch mit ihr zusammenzufallen.
>
528
Gomperz.
diesmal auf rein positivem, wir hätten fast gesagt auf positi
vistischem Boden. Zu dem schneidenden Hohn, mit welchem
er hier die Flucht des wissenschaftlichen Erklärers in das
Wolkenreich des aaa'tic, oder a'SrjXov behandelt, passt gar wohl
die helle Lache, die er ein andermal gegenüber diesen und
ähnlichen Willkür-Erfindungen aufschlägt (Jch muss lachen,
wenn ich sehe, . . . wie sie den Okeanos rings um die Erde
fliessen lassen und diese kreisrund machen, als ob sie von der
Drechselbank käme/ IV, 36). Sein Standpunkt ist dies eine
Mal, wo die Rivalität mit seinem Vorgänger seinen Witz schärft,
der des streng wissenschaftlichen Forschers, den eine nicht
auszufüllende Kluft von dem Dichter, von dem Erfinder schein
barer und gefälliger Fictionen scheidet. 1 Wie hätte er vor
den (Konsequenzen seiner eigenen Denkart zurückgeschaudert,
wäre ihm der volle Umfang derselben zum Bewusstsein ge
kommen; wie schwer hätte er sich andererseits gekränkt gefühlt,
hätte er es ahnen können, dass ihn die Nachwelt nicht glimpf
licher behandeln würde, als er selbst hier seinen Vorläufer be
handelt: man denke an die offen oder verhüllt ausgesprochenen
Urtheile des Ktesias, des Thukydides, 2 des Aristoteles, des
1 In ähnlicher Weise verweist Hippokrates (de prisc. med. cap.20) die Lehren
des Empedoldes und Anderer über die Entstehung des Menschen u. dgl.
aus dem Reich der Naturwissenschaft in jenes — der schönen Künste
(f|aaov vop.(£io x?j ?7|Tpix5j xfyvr) apoajjxEiv 5) xrj ypatpizrj).
2 Geradezu tragisch — oder soll ich sagen wie die Sühnung einer tragi
schen Schuld? — berührt es mich, wenn ich bei diesem auf Herodot bezüg
liche Aeusserungen lese, wie sie das zwanzigste und einundzwanzigste
Capitel des ersten Buches enthalten: ouxcos aTaXakcopo; Tof; r.oXkois
xr[s dXrjOEia; za! Iixi ra EToipa |j.aXXov xpfoovxa'. (man denkt an
Baco’s ,ex iis quae praesto sunt!‘) und oute tö; aoirjTai uu.vfjzaat . . .
£7:1 r o [J. e ts o v zo a ij.ouvte; (vgl. unser Xdyco 8k elmTv Oaupaaito xf-
pz]!) . . . oUte d>? Xoyoypatpoi ijuvfOeaav £7c! xo TXpoaaywyo'xEpov
x^ etxpoauEt 5) aXqOfaxEpov, ovxa äve^XEyzxaü Thukydides ist eben
nicht minder darauf erpicht, dem Herodot etwas am Zeuge zu flicken, er
ist ebenso tadelsüchtig und — offen gesagt —• ebenso unbillig gegen
seinen Vorgänger wie dieser gegen Hekatäus. Daher die zahlreichen
malitiösen Anspielungen, auf deren Verständniss er übrigens nur dann
rechnen konnte, wenn das Werk des Vaters der Geschichte sich noch
in allen Händen befand — ein Sachverhalt, der mir von Kirehhoff (mit
aller Ehrerbietung vor dem hervorragenden Forscher sei es gesagt)
keineswegs nach Gebühr gewürdigt scheint (Abfassungszeit u. s. w. S. 9)
Herodoteischo Studien II.
529
Strabo oder Diodor! Doch dem sei wie ihm wolle; Herodot
ist schwerlich der erste und wahrlich nicht der letzte Denker,
der einen methodischen Grundsatz ausspricht, zu dessen rück
haltsloser Durchführung er noch keineswegs vorbereitet ist; auch
von ihm gilt Degerando’s tiefsinniges Wort, man gehe den
alten Philosophen gegenüber nie sicherer fehl ,qu’en leur pretant
les consequences de leurs principes ou les principes de leurs
consequences.‘ — Allein irren wir nicht, begehen wir nicht
einen groben Anachronismus, wenn wir unserem Historiker auch
nur als gelegentlichen Lichtblick eine Ansicht über die Berech
tigung wissenschaftlicher Hypothesen Zutrauen, die nahezu iden
tisch ist mit der Lehre eines Comte oder eines Mill: eine
Hypothese (die mehr sein will als eine vorläufige Hilfe unseres
Vorstellungsvermögens) muss in letzter Instanz der Verification
zugänglich sein ? Konnte er etwas von dem Unterschied ,leerer'
und müssiger Hypothesen, d. h. derartiger, die ihrer Natur nach
ewig unbeweisbar bleiben müssen, und solcher wissen, von denen
dies nicht gilt? Statt unser möge sein grosser Zeitgenosse
PI i p p o k r a t e s antworten, der diese Lehre nicht etwa nur
ahnungsweise und in rudimentärer Gestalt, sondern mit voller
Klarheit und in ihrem ganzen Umfange kannte und aussprach.
Dort nämlich, wo der Vater der Medicin gegen die natur-philo
sophischen Theorien seiner Zeit zir Felde zieht und es so bitter
beklagt, dass man sich ihrer auch in Betreff der Heilkunst
bediene, einer wirklichen und nicht blos einer Schein-Kunst,
deren erspriesslicher Betrieb für das Wohl und Wehe der Men
schen von so unaussprechlicher Bedeutung sei (agep: xe/vy)? eo6cr, c,
fj /peovxat xe irdvxe? sin xslut geyioxoiat y.xe.), an dieser hochwichtigen
Stelle des Buches ,von der alten Medicin' fährt er wie folgt fort
(I, 572 Littre — die geringen Abweichungen meines Textes
von demjenigen Littre’s und Ermerins’ bedürfen kaum einer
Rechtfertigung): Atb ob-/. v)i;!ouv eyMye x.eiVYj? ahri-jV ixcSeato? SeTaGat,
öcraep xä äepavea xe zat aixopeögeva' ixspi wv avayzyj, yjv xi? eTxi^etpsyj
Xeyetv, ütoOeci xpeecOat, oiov xrepl xwv gexetbpwv y; xwv uixb yr ( v • ä et
xi? Xeyot zat ytvüjoxot w? 4'^st, oüxs av aüxw xw Xeyovxi otixe
xowt äy.ououot SYjXa ä'l evq ei'xe äXYjösa eaxt e’t'xe \>:q • ou yäp eext
xtpo? oxi •/pr, eixaveveyzavxa etSevat xo aatpe?. Eine wunderbare,
von sonnenheller Geistesklarheit durchleuchtete Aeusserung,
deren Werth es wenig mindert, dass ihr Urheber ganz so wie
530
Gomperz.
sein intellectueller Zwillingsbruder Sokrates zeitweilige Erkennt
nissgrenzen mit ewigen verwechselt (indem er die pcxewpa für
aSyjAa schlechtweg hielt, während es doch nur Ttpb; viaipbv ä’SrjXa
waren!) und die bei Lichte besehen nur die Entfaltung eines
Keimes ist, welchen schon der unsterbliche Begründer aller
skeptischen Denkrichtungen, Xenophanes von Kolophon, ge
pflanzt hatte, indem er ausrief:
■/.o). to psv oOv oaips? oö Tt? dvf ( p yevex’ ouSe xtp saxat
eiSw? äp.91 0e<3v Ts y.al äaoa Azyw töSpt ixdvxwv •
£! yäp y.ai xa p-xAtcxa xu/oi xexsXeap.dvov eiitobv,
auxoc op.üx; ouy. oiBe, ooy.oc 0' sxrc «xai xexuxxai.
Man darf wahrscheinlich eine ganz directe Filiation der Ideen
annehmen und vermuthen, dass diese Verse (bei deren Auslegung
SextusEmpir. 200,53 Bk. dpipi öswv y.xs. ganz richtig durch uzobeiy-
paxty.wc TiZp£ xtvo? xwv äSijXuv wiedergibt) Hippokrates wohlbekannt
und seinem Geiste gegenwärtig waren, als er jene bedeutungs
vollen Sätze niederschrieb. Doch es ist Zeit inne zu halten, so ver
lockend es auch wäre, andere Anklänge an das herodoteische
Dictum und insbesondere Nachklänge desselben zu verfolgen. 1
1 Als ein solcher darf vielleicht wegen des ähnlichen Zusammenhanges, in
dem sie auftaucht, die nachstehende Aeusserung Diodor’s gelten (I, cap.
40):tüW 0’sv Ms'poEi xive; ipiXoaoyinv EHE^elprjuav aixlav (fipEiv xrj; TtXqptoasü);
ävE^EXeyr.xov paXXov r) TCiOavvp, und weiter unten: xaOo'Xou pev yap
äve^e'Xeyzxov ctKotpamv £!<rr)youp£vo: . . . 8 :acp£ul;E aO ai 10Ü5 azptßeti;
sX^y^ou; vopfl^ouar Sfxatov 8e xou; 7iepl xiväiv BiaßEßaioupfvou; r) xi)V lv-
dpyEiav rcap^yEaöai 5) xa; d7io8E(!jEi; XapßavEiv I? ap'/ijs auyxEywpr]-
plva; (1. auyx.EX w pr) <;). Zum Gedanken und Ausdruck vgl. Galen VI,
836 K.: X»)j;te'ov otj xavxauöa tpoXoyoupivj)V apypjv, oder Proclus comment. in
Euclid. p. 58 JBasil: p^OoSo: oe . . . jrapaofoovxai, xaXX(oxr) psv r\ ... ir.'
ap‘/r]v öpoXoyoupfvr)V dvdyouaa xo Jrjxoupevov, oder Hipparcli. ap. Stra-
bon. II, 89 = I, 117—118 Mein.: —dito prj au y^copoup^vou Xripp.axo;
zaxaaxeua^dpEvov. Desgleichen Aristotel. de gener. anim. II. 8 (747 b, 5):
— oö0’ oXto; Ix yvwpfpojv xxnoupEVo; xd; dp/a; oder Diocles Caryst. ap.
Galen. VI, 456 K.: — oiapapxavouaiv svIote, oxav dyvoo6|j.£va xai prj öpoXo-
youpsva xai ardOava Xapßdvovxs; ixavu; o’iawai XfyEiv xdjv aixlav. Einige
Zeilen weiter ist zu schreiben: oxav pdXXy) -apä xouxo [statt vrept xoüxou]
yvwpipwxspov 7) juoxöxEpov ysvfaüai x'o Xsyo'pEvov. Vgl. auch Aristoxenos,
Die liarmon. Fragmente (S. 46 lin. Marquardt): rjpEi; o 1 dpyd; te jEEipwpEÜa
XaßEiv (patvopdva; droxaa; (1. ajtaai) xo7; ipnislpoic; pouaixr|; xai xä ex toüxcov
aupßalvovxa a-ooEixvuvai. Ein schwerlich ganz zufälliger Anklang be
gegnet uns bei Antiphon, Fragm. X. Blass. — Zur Beleuchtung der
Herodoteische Studien II.
531
Nicht ohne gewaltiges Staunen wird man (cap. 25) aus
Stein’s Ausgaben und Uebersetzung die wundersame Mähr ent
nehmen, dass in Ober-Libyen das ganze Jahr hindurch ,die
kalten Winde blasen'; und das soll Herodot in demselben
Satze berichten, in welchem er von dem dort nie getrübten
Sonnenschein und der daselbst beständig herrschenden Hitze
spricht; ja die kalten Winde sollen in dem Lande des ewigen
Sommers (cap. 26) dazu beitragen, dass die Sonne dort das
ganze Jahr hindurch das bewirke, was sie anderswo nur zur
Sommerszeit bewirkt: xts Sioc xavr’oc tou /pövou aiöpwu ts scvto?
toü •qepoq tou y.c/r.'y. vxuxa toc ywpia xa't aXseivv;? tfjq ‘/.(ip'O? io'JGi)c r.od
ävsp.oiv tJ/'j)rp(5v, Sts^ioiv xoteei o!ov xep -/.oc: to Sipo? Iwöes xoise'.v
iuv to [xsaov tou oüpavou • Iaxei yxp Ix’ ewutov to üäwp y.te. Der Un
sinn dieser Textes -Ueberlieferung nöthigt uns zu der Annahme,
dass im Archetypus einige Worte (vielleicht eine Zeile) aus
gefallen sind und die fragliche Stelle ungefähr so zu schreiben
ist: y.ai ävq/wv (oi)3a|xa Ixejrevtwv) tfu/püv —. (Die analoge Schrei
bung des Sancroftianus und des Parisinus 1634: oost orcwv oder
Tragweite des Herodoteischen Ausspruchs und der Geistesverfassung, aus
der er hervorgegangen, mögen schliesslich ein paar moderne Parallelen
dienen: ,Auch hätte wohl durch ein leichtes vergleichendes Experiment
constatirt werden können, dass in den Raum wirklich verdünnter Luft
nicht nur Eisen, sondern auch andere Körper hineingetrieben werden;
allein gerade der Umstand, dass man solche Einwände er
heben kann, zeigt, dass der Erklärungsversuch einen frucht
baren Boden betritt, während mit der Annahme verborgener Kräfte,
specifischer Sympathien und ähnlichen Auskunftsmitteln gleich alles
weitere Nachdenken niedergeschlagen wird 1 (Lange, Geschichte des
Materialismus I122). — ,Chereher ce fait‘ (das Uebe.rnatürliche) ,avant
la crdation de l’homme; pour se dispenser de constater des miracles
historiques fuir au delä de l’histoire, h des epoques oü toute consta-
tation est impossible; c’est se refugier derriere le nuage,
c’est prouver une chose obscure par une autre plus obscure,
contester une loi connue ä cause d’un fait que nous ne connaissons pas‘
(Renan, Les Apötres p. XLVII). — ,But Mr. Casaubon’s theory 1 (von
einer Ur-Oftenbarung) ,was not likely to bruise itself u na war es
against discoveries: it floated among flexible conjectuves . . . it
was a method of Interpretation whieh was not tested by the neces-
sity of forming anytliing which had sharper collisions than an
elaborate notion of Gog and Magog: it was as free from interruptiou as
a plan for threading the stars togetber 1 (George Eliot, Middlemarch III,
92—93 (Tauchn; edit.).
532
Gomperz.
lovxiov avspuiw 'iuxpwv statt •/.«: dcvEgtsv ’W/p&'> besitzt zwar keinerlei
Autorität, da sie auch dem Vindobonensis und, wie es scheint,
dem Vaticanus fremd ist; doch hätte die sinngemässe, wenn
gleich allzu gewaltsame Conjectur, der die neueren Herausgeber
und Uebersetzer (etwa von Lange abgesehen, der die Worte
einfach auslässt!) einmüthig gefolgt sind, wohl eine Erwähnung
verdient. Stein’s tiefes Stillschweigen muss den Leser zu der An
nahme verleiten, der traditionelle Widersinn sei allezeit gläubig
hingenommen worden.
Wie hier, so hat Herr Stein auch in seiner Behandlung
von cap. 33 fin. das Kind mit dem Bade verschüttet. Dort heisst
es: xsXsuxa 8s 6 "Icxpci; iq OaXaacav pswv xf,v xcü Eü^eivou tovtgu oia
•xaaqq Eupwzr);, xrj ’laxpfyv o\ MiXvjsfwv oixsoust äiz:v/.oi. Yalckenaer
wies darauf hin, dass die durchschossenen Worte den ,eben-
mässigen Fluss der herodoteischen Rede' störend unterbrechen,
und er fand sie um so anstössiger, da ja wenige Zeilen vorher
mit |j.egy)v oyJ.qM'i xf ( v Eupwzrjv genau dasselbe gesagt sei. Die Be
merkung war nur .halb wahr, denn die Wortverbindung xsXeyxa
— pswv ist um nichts auffälliger und sicherlich eben so echt wie
das gleichartige ap/sxat pswv cap. 22 fin. Im Uebrigen hat-es
mit der (von Stein in Bausch und Bogen verworfenen) Athetese
gewiss seine volle Richtigkeit. Die erste Handhabe zur Inter
polation bot das missverstandene und darum als bezuglos er
achtete pswv, weiter gefördert hat sie das schulmeisterliche Be
streben, den von Herodot vorausgesetzten Parallelismus zwischen
Donau und Nil (von welch’ letzterem im Folgenden gesagt wird:
Scr/.sw Slot Tzic-^q xvjc; Atßtiiq? Sieijiovxa sijiaousöai xw ’'laxpw) auch sprach
lich bis zum Aeussersten durchzuführen. Auch brauchte der
Interpolator die fraglichen Worte (wenn es wirklich dessen be
durfte) nicht erst, wie Valckenaer annahm, aus IV, 49 herbei
zuholen, da er sic weit näher — cap. 56 fin. — in gleicher
Anwendung vorfand. 1
1 Abicht’s Umstellung (teXeuto o'e 6 ’larpog e§ OaXaaaav T7)V tou Eä£e(vpu
7covtou oia7iaarji; Eupto^y):) zerrt (las eng Zusammengehörende (tsXeutöc —
p^tov) auseinander, ohne doch den von Yalckenaer richtig empfundenen
Anstoss zu beheben. — Irre ich nicht, so sind auch IX, 51 fin. die Worte
ex. tou Ki9ocip<uvo<; aus dem Vorangehenden (<j^i£<$[J.evo$ 6 7:oTap.b; avtoOev ix
tou KiOaipwvo; ß&i xaTtu i$ to 7:eo(ov) wiederholt und Tzepid^l^exa>. fioutia
ebenso zu verstehen wie apyjxai o>v und teXeutö: f&ov an den oben
Herodoteische Studien II.
533
Auch von solchen aus naher und nächster Nachbarschaft
eingeschmuggelten Emblemen ist unser Text noch überfüllt;
und es wäre unbillig, hier in jedem einzelnen Falle das zu
verlangen, was sich in vielen Fällen mit einer jeden Zweifel
ausschliessenden Sicherheit leisten lässt: die Erbringung eines
strengen Beweises für die Unmöglichkeit der Ueberlieferung.
Die Macht der durch eben diese Fälle geschaffenen Prae-
sumtion, der Analogieschluss, in letzter Reihe auch das
geübte Sprachgefühl und das Ohr haben gleichfalls ein Wort
mitzureden, und gefehlt wird nur — allzu häufig! — dadurch,
dass diese untergeordneten Factoren sich eine Stellung anmassen,
die ihnen nicht zukommt. 1 Endlich dürfen wir auch auf minder
zwingende Indicien hin eine Mehrheit von Emblemen dort an
erkennen, wo die Hand des Interpolators einmal ergriffen
worden ist. Wer möchte uns z. B. Unrecht gehen, wenn wir
IX, 91 in. also schreiben wollen : w; 3s xoXX'o; vjv Xioocp-svo; [6
?eivo? b Sap.io;], el’psTO AsuTuyjSrjc, eite -/.XflSbvop eiveksv ©sXwv 7tu0E<j0ai
eite y.ai xcaa cuvTU/tYjv |0so'j toieuvto?] • ,S> ijefve Sdp-tc, ti toi to
ouvop.a‘; 6 Se Sitte ,'HvY)'ji'<jTpaTOs < . o 3s bttapitaoa? xov exiAoittcv Xofcv,
ei xiva u>pp,Y]xo Xs^siv 6 'Il-p^oi'oTpatoq, swte • ,Ssy.op.o!i xbv oiwvbv [xov
'llY^oiarpaTov], w i;stve 2äp.ie‘ —. Das letzte dieser Embleme
ist bereits von Valckenaer erkannt und als solches erwiesen
besprochenen Stellen, zu denen sich noch psiov (I, 72, 21), antxvArai
bscuv (I, 185, 23) und vjxEi fsouca (II, 127, 5—6) gesellen. Mit ähnlicher
Fülle des Ausdrucks heisst es II, 182 in.: ixve'0»)xe 8e xai ävaOrjpa-a jtE’pia;
(add. SVK) 6 v Au.aa:c e; rrjv ’EXXaSa.
1 Wie misslich es ist, der Stimme des rhythmischen Gefühls allein zu
vertrauen, das mag ein Beispiel zeigen. An der von uns im Obigen
(S. 165 [27]) so ausführlich besprochenen Stelle I, 32 haben Hehler (Mne-
mos. 1856, p. 66) und Cobet (bei Bähr I, p. X) das Wort avooao; für
verdächtig erklärt. Nun wüsste ich zwar kein anderes Verdachtsmo
ment zu nennen, denn dass dort eine zu der gehobenen Dietion der
Stelle sehr wohl passende Redefülle, aber keinerlei eigentliche Tauto
logie vorliegt, kann unsere Uebertragung derselben lehren; wohl aber
empfahl sich jener Tilgungsvorschlag mit der sich dann ergebenden Sym
metrie des Doppelpaares amrjpo? ... ct;;aOf|S xaxöv, Eunai; EUEiorj; dem Ohre
ungemein. Wer jedoch von unserer Darlegung überzeugt ward, dem
muss es nicht nur begreiflich, sondern nothweudig- scheinen, dass einer
Mehrzahl negativer Bestimmungen, der die ganze sprachliche Ge
staltung des Satzes angepasst ist, nur eine Minderheit von positiven
gegenüberstehe: ajnjpos, avouaos, äuaOrjs xaxwv — e'üuai;, EueiSrjs.
534
Gomper z.
worden; nackt zeigen es die Handschriften der ersten Classe,
während die übrigen durch Umwandlung des Accusativs in den
Genetiv es dem Zusammenhang anzupassen suchen. Platterdings
unmöglich scheinen mir die Worte 6 SsTvoc 6 2ap.tos; denn
,Fremdling aus Samos' ist als Anrede so passend und üblich,
wie unzulässig im Munde des Erzählers. Und da darf man
denn schliesslich wohl auch fragen, warum in dem Dilemma
efre -— eixs y.a! durch den Zusatz 0soü icotsövtos die Möglichkeit,
dass die Frage eine rein zufällige sei, geradezu ausgeschlossen
werden soll, während doch der von Herodot gewählte Ausdruck
(ouv-tuyjyj) eben hierfür die ganz eigentliche Bezeichnung ist (vgl.
z. B. IH, 121: eiV ex. wpovoiv;?— sl'xe xat guvtuyir, ziq toiocüty;
hzz'(b)vzo), und ihm, wollte er von einer göttlichen Fügung
reden, andere und minder plumpe Wendungen, wie 0eb] tu/t)
/pcd)|;.evos (HI, 139) u. dgl. zu Gebote standen. '
II, 13 spricht Herodot die Befürchtung aus, die Bewohner
von Unter-Aegypten und insbesondere des Delta würden im
Laufe der Zeit der Vortheile der Nilschwelle verlustig gehen,
falls anders ihr Land in demselben Masse wie bisher zu wachsen
fortfahre. Nur von der Erhöhung des Terrains kann hier
die Rede sein, nicht von der Zunahme seiner Masse nach der
Seeseite hin; 2 was soll also neben den allein sinngemässen
1 Man dürfte mir entgegnen, dass für den frommen Sinn, welcher in jedem
folgenreicheren Vorgang die Hand der Vorsehung erblickt, die Kate
gorie des Zufalls so gut als nicht vorhanden sei. Ganz richtig; aber
damit ist die Sache nicht abgethan. Denn auf diesem Standpunkte ist
die Scheidung aller Begebenheiten in jene, die menschlichen Absichten
entspringen, und in solche, die scheinbar zufällig sind, aber auf gött
licher Einwirkung beruhen, erst recht unmöglich. Denn warum sollte
das gläubige Gemüth dom Walten der Gottheit so enge Grenzen ziehen?
Warum sollte diese nicht auch menschliche Plane und Absichten beein
flussen und hervorrufen können? Dass dem Halikarnassier zum Minde
sten jede derartige Sonderung fremd ist, dies können vielleicht unsere
Bemerkungen zu VII, 137 darthun helfen.
2 In der letzten (vierten) Auflage seiner commentirteu Ausgabe versucht
Stein die angezweifelten Worte durch die folgende Erwägung zu recht-
fertigen: ,Denn sowohl die Vergrösserung als die Erhöhung des . . .
Areals vermindert allmälig die Wassermenge, die sich bei der Nil
schwelle über je einen Acker ergiesst. 1 Dass Herodot jedoch hieran
nicht denkt, sondern nur den Zeitpunkt ins Auge fasst, in welchem
die Nilfluthen jene Aecker überhaupt nicht mehr erreichen wer-
Herodotoische Studien II.
535
Worten: 1 v)v outw fj yAf'O outy; v.aia Xoyov exi8ioo> eg &i|/og noch der
Zusatz: zai xb 8ptoiov äxootäw eg atÜgyjatv ? Ich vermag — gleich
Yalckenaer und Krüger — in ihm nichts Anderes zu erkennen
als eine (mit Hilfe der sogleich in cap. 14 vorkommenden
Sätze: a'utY] fap egti r t auäjavcp.£VY] [sc. x“Prj] und et crai eQeao:—
eg u4og au^aveaöai angefertigte) Marginalerklärung, die durch
ein hinzugefügtes za! mit dem Text verschmolzen ward. (Der
einsichtsvolle Rawlinson nimmt zu der dem Original keineswegs
entsprechenden pleonastischen Wendung seine Zuflucht: ,if the
land goes on rising and growing at this rate'.) Sollte nicht
auch der Beisatz: t'ov extXc.xov zu den Worten xeicesOai t'ov xavxa
Xpovov AtyüxTiot eine fremde Zuthat sein? Dass die Worte in S
fehlen (aber nicht in R und V) beweist freilich nichts gegen ihre
Echtheit. Allein sie sind nicht nur völlig entbehrlich, da t'ov
xavxa xpovov allein ,die ganze Zukunft“ bedeutet, 1 sondern sie
machen auch den Eindruck eines Strebens nach peinlicher und
pedantischer Genauigkeit, das unserem Autor ebenso fremd
wie seinem antiken Interpolator geläufig ist.
Ich kehre zu der Reihenfolge der Capitel zurück. Zu H,
65, 17 ff.: 2 t'o 8’ av Ttg xwv Ovjptwv toutiov (der heiligen Thiere)
axczTeivv], -))v p.ev ezwv, Oavaxog ^ ’Cr t [tJ.r, xte. bemerkt Stein: ,Die
Worte to 8’ av Tig sind verdächtig, weil dem neutralen Relativ
keinerlei Beziehung im Nachsatze entspricht. Herodot schrieb
den, gellt aus dem Wortlaut seiner Aeusseruugen unzweideutig hervor:
p.r) 7.«TaxXu?0VT05 aurv)v toÜ Ne!),ou und weiter unten: p.rjxE o
7ioxap.be oto; t 1 faiai i; ti; apoupa; uz Ep ß a (v e iv. Mit Letronne,
der Schäfer’s und Scliweighäuser’s übergewaltsame Aenderungsvorscliläge
mit Recht zurückweist, in dem Satze eine statthafte Tautologie zu er
kennen (Journ. d. sav. 1817, 49), dazu wird sich heute schwerlich Je
mand entschliessen. Vielleicht rühren auch die Worte ec ütjios an beiden
Stellen von der Hand des Interpolators her.
1 Bei Herodot (denn Dichterstellen wie Sophocl. fragm. 515 N. können
allerdings nichts beweisen) begegnet uns (falls mir nichts entgangen
ist) dieselbe Phrase noch zwölfmal, theils auf die Vergangenheit, tlieils
auf die Zukunft bezogen, darunter zweimal mit dem durch den Zu
sammenhang gebotenen einschränkenden Zusatz t% £o/]; (I, 85 liu. und
VI, 52 fin.), sonst ohne jeden Beisatz (n, 173; III, 65; III, 75; IV, 187;
VI, 52; VI, 123; VIH, 140; IX, 27; IX, 73; IX, 106).
2 Beiläufig, II, 65, 5 genügt es vollständig, den, wie so häufig, fälschlich
eingesetzten Artikel mit Valckenaer zu tilgen: twv oe eVvexev ccvElrai
[t«J Ipct —.
536
Gom perz.
wohl o; 5’ av tu; u. s. w. und so hat Diodorh Ich würde diese
Bemerkung durch Krüger’s Verweisung auf seine Sprachlehre
§. 51, 13, 12 als erledigt erachten, wenn der treffliche Gram
matiker diese Ausdrucksweise auch aus Herodot selbst völlig aus
reichend illustrirt hätte. Man vergleiche vor Allem III, 99, 12:
f] äs oev •yuvr) y.xp.'p, msaÖTu; a'i STi/pswgsvat p-aXiaTa yjvaiy.EC zxuzoc
touji aväpaci Tcoisüac, wo die Verkennung dieser Construction zur
Schreibung v;v äs yrw) -/.aper, (in allen Handschriften ausser
in SVFK nach Gaisford, nur in der Aldina und [mit leichter
Modification] im Parisin. d nach Stein) geführt hat. Ebenfalls
hieker gehört IV, 99, 25—26. Gewählt aber ward hier diese
Sprachweise (die, nebenbei, so alt ist wie Od. c 285—286)
wohl darum, weil der Historiker sagen wollte: ,welches immer
dieser Thiere Einer tödten mag, es erwartet ihn dieselbe —
harte — Strafe, der Tod 4 , nicht viel anders als wie Strabo
(p. 733 == 1022, 16 Mein.) sagt: oxw ä’ av Oocwai Dem, irpwTü) tw
wupt s'j/cvTa:. 1 — Einem ähnlichen Missverständniss ist offenbar
die leichte Trübung der Ueberlieferung entsprungen, der man
II, 115, 24 begegnet: iyto et p.Yj Ttspt tioXXoö rjyEÜpirjv p,Y[äeva ^etvwv
(1. celvov) ‘/.Tstvstv, ocot fe’ dvepuov 77077 ditoXapi/pOevTe; yjXOov e; */wpr;v
ty]v sp-V —. Der gen. plur. ward hier gewiss von einem Schreiber
oder Corrector eingeführt, der die Stelle nicht minder unrichtig
als Rawlinson verstand: ,— that no strenger driven to my
country by adverse winds should ever be put to deatld, während
1 Dafür, dass oari; von Herodot mehrfach gleich 05 und ebenso 0; gleich
oari; gebraucht wird (hier kommt noch die Verbindung to o’av Tic in
Betracht), vergleiche man Krüger 51, 8, 4 (auch Dialekt. Synt.) und für
das erstere insbesondere Struve’s herrliche Untersuchung, Opuse. II, 250
sqq. Einen weiteren Beleg sowohl für diese Gebrauchsweise, als für
die in den Handschriften (des herodoteischen Werkes, wie der Hippo
kratischen Schriften, z. B. II, 74 fin.; VI, 34 fin.; VI, 99, Z. 7 v. u. L.)
stereotype Art der Verderbniss liefert IV, 149, 24, wo neben dem sjti
oü der Vulgata der erste Parisinus cm 1 oü, der Vatic. und Vindob. aber
<x7t0 toÜ (der Sancroft. ara> toütou !) darbieten, mithin sicherlich zu
schreiben ist: OloXüzou os yivETai Aiy&üc, dji’ oteu AiyEfSai zakEuvrai—.
Auch wenige Zeilen vorher ist auf Grund der Autorität dieser Hand-
scliriftenclasse an die Stelle des ir.l unseres Textes das sprachlich ganz
ebenso zulässige (Struve p. 262) ohro aus SVK zu entnehmen: T?j 8e
vrjaw ar.b toü 0?/.kjt&o 0>jpa r] sjuovupnr) iy^VETO und a~o tou e’jcso; toütou
ouvopa tw vet)v{ctxoj toutoj Olo'Xuxo; iy^vETO.
Herodoteische Studien II.
537
doch Proteus nur seinen Abscheu vor dem l;eivcxxovsetv (wie
es bei der Recapitulation des Gedankens im Folgenden heisst)
ausdriicken will und der Satz ogoi — y.wptjv xy;v ep.rjv ebenso zu
verstehen ist wie die ganz gleichartigen Satzglieder IX, 26, 11:
ocai 7)Br] &-o$oi y.oivai e-fsvovxo y.xl. oder I, 214 in.: oaai Brj ßapßapwv
avopwv p.ayai sysvovxo.
In der von Späteren, insbesondere von Aristoteles, so viel
benützten Beschreibung des Krokodils heisst es II, 68, 9: e/ei
3s oipGaXpou? gsv 66$, oSovxa? 8s [.(.SYaXouq y.ai yauXiooovxac v. a x ä
Aiyov xoü awp.axoc. Die letzten Worte halte ich aus folgenden
Gründen für unecht.
1. Sie fehlen bei Aristoteles (Hist. anim. II, 10 fin. =
502“, 9—10), wo sie Niemand vermisst.
2. Ihre Stellung ist eine ungeschickte, da sie augen
scheinlich zu [j.eyAaoui; gehören und doch davon getrennt sind.
3. Sie sind thatsächlich unwahr.
4. Solch ein Marginalzusatz konnte durch das vorangehende
xai 6 veoaa'oq /.ata Xofov xoü wou yhexai leicht veranlasst werden.
Die Wortverbindung y.axä Xcyov hat (von I, 134 und der
daselbst einst von Stein richtig erkannten Interpolation: y.axä
xov aux'ov 3s Xovov y.ai o: Ilspaai xtpurii abgesehen) in unserem Text
mehrfache Irrungen und Missverständnisse erzeugt. II, 109, 7
sollte es bei der von Krüger vorgenommenen Ausscheidung ,des
falschen Glossems' sein Bewenden haben: oy.ioc xoü Xowxou y.axä
Xo-fov |xij(; xsxavp.svr,;; axo®op^;] xsXsoi. Das Urtheil des Verstandes
wird diesmal durch das Ohr bestätigt. Ebenso bedeutet die
Phrase schlechtweg ,verhältnissmässig' VII, 36, 1 (wo Stein das
Richtige hat, Lange und Krüger mit ihrem ,der Natur der Sache
nach', ,natürlich' arg irren). Mit ,Verhältniss' ist \iyoq auch
I, 186, 4 (im Hinblick auf den regelmässigen Wechsel der Rohr
und Ziegelschichten); TI, 13, 14; II, 14, 1 ; V, 8, 4 wiederzu
geben, während VIII, 111, 11 xaxä Xöfov allerdings — y.axä xo
ohiq (so Stein) zu setzen ist. Was soll es aber heissen, wenn
VII, 95, 15 von den vqciöxai gesagt wird, sie seien ursprünglich
Pelasger gewesen, später aber Ionier genannt worden y.axä xov
aux'ov Xo^ov y.ai ot SuwSsxaroiXisi; "hovs^ ol aic’ ’AÖyjvswv? Hier soll
y.axä xov aux'ov Xoyov y.ai mit einem Male nicht mehr als ein
blosses y.axä xaüxä y.ai, ,ebenso wie' bedeuten (Krüger nach Valcke-
naer), was weder mit dem Sprachgebrauch, noch mit irgend
Sitzungsber. d. phil.-hist. CI. CIII. Bd. II. Hft. 35
538
G o ra p e r z.
einer der Bedeutungen von Xöyo; in Einklang zu bringen ist.
Stein übersetzt ,aus demselben Grunde*, ,mit demselben Rechte*
und erblickt in dem Satze eine Fortsetzung der I, 142 gegen
die ausschliesslichen Prätensionen der Zwölf-Städte-Ionier ge
führten Polemik, die m. E. kein Grieche aus den Worten
herauslesen konnte, um so weniger als dieser vermeintliche
Gedanke hier mit keiner Silbe begründet wird. Dass ferner die
owosy.aTOAcöc ’lwve; nicht mit den von Athen aus Angesiedelten
zusammenfallen, hatte zu allem Ueberfluss unser Historiker
I, 147 gesagt. Somit war Valckenaer sicherlich auf richtigem
Wege, als er den Schluss des Satzes aus einer Marginalglosse
herleitete. Nur muss man aus sprachlichen wie aus sachlichen
Gründen den ganzen Satz dahin verweisen. Es ist der echt-
bürtige Bruder des Schlusssatzes von I, 134.
Drei Irrthümer Krüger’s erwähne ich, weil sie sich auf
demselben Blatt vereinigt vorfinden. vyjSö? (H, 84 fin.) ist nicht
nur ,poetisch*, sondern auch ionisch (vgl. Ps. Hippocr. de
arte pass.); bei Herodot begegnet es ausser II, 37 (worauf
Krüger allein verweist) auch III, 42; IV, 71. Der Dativ
in der Phrase: b^ako'{s^xe.q 86, 5 ist keineswegs in den
Genetiv zu verwandeln, sondern mit Absicht gewählt, weil
die ägyptischen Einbalsamirer ,fixe Preise* und die Auf
traggeber nur" die Wahl zwischen den drei Begräbnissclassen
hatten, mithin kein Feilschen um den Preis und kein Handel
einswerden stattfand; vgl. Lysias I, §. 29: eyio 8s tö p.ev sy.sivsu
xt\i.r t (jtati oü ^uvsyüpouv. — Endlich zu 86, 8—9 (bei der Be
schreibung des Einbalsamirungs-Verfahrens) hat der treffliche
Grammatiker in kaum glaublicher Weise geirrt, indem er in
dem Satze: ii [j.ev oötw ' ovxe?, xa 3s sy/sems? «pdpp.ay.a
1 Mich erinnert dieser Gebrauch von oüno im Sinne von ,so, ohne Weiteres,
ohne etwas Weiteres zu thun* an die verwandte Bedeutung der Partikel:
,so, ohne dass es weiter etwas zu bedeuten hätte*, die icli bei Plato
in einer vielbehandelten Stelle des Symposion (217 D) wiederfinde. Ich
möchte dieselbe nämlich, jedenfalls unter Anwendung gelinderer Mittel
als bisher versucht wurden, also ordnen: opaie yap oti So)xpaT7j? spamxoj«;
ofaxeitai tujv zaXoiv xai asi Tuspi toutou*; sotiv xai iy.TCZTtlrjy.Tou, xat au ayvosf
Tcavra zai ougev oioev, oj$ to ayijp.a aurou touto [oü], oiX^vojoec. a^oopa yE
tguto yap (I. acpo'opa yap touto ys) outo; (1. outwc) $*foOsv 7:spißs'ßX7)Tai
oj 07:2p 6 syXu[ip.£'vo<; oiXirjvoc • IvSoOev os xts. Natürlich ist oüokv otoe oiX^viuoe;
TTerodotfiischfi Studien II.
539
die Worte xa 81 mit sapp-aza verband, wie seine Verwei
sung auf Dicht. Synt. 50, 3, 2 beweist! Richtig erklärt Stein:
,xx 8s, sc. k’qa.'fo'ne.q. Dem ooxw des ersten Gliedes entspricht hier
i'IXio'r.eq oapp.azA. Nur muss eben darum, ich denke notbwendig,
br/io.')izi geschrieben werden; sonst wäre die Verbindung eine
ebenso wenig angemessene wie VITI, 105 ezxdp-VMv ärpvemv eiiwXss
sc 3#pS:c, wo mir Naber mit der Verbesseimng szxap.mv zuvor
gekommen ist (Mnemos. 1854, pag. 481). Eine gleichartige
Corruptel werden wir zu III, 110 fin. mit Hilfe der besseren
Handschriftenfamilie berichtigen können.
Ich übergehe mancherlei Kleinigkeiten und komme zu
II, 104, wo, beiläufig bemei’kt, die von unserem Historiker offen
gelassene Frage nach dem Ursprung der Beschneidung jetzt
wohl dahin entschieden werden kann, dass die Sitte sicherlich
nicht von den Aegyptern zu den Negern, eher umgekehrt von
diesen zu jenen gelangt ist. 1 Denn wie unwahrscheinlich ist
es doch, dass äquatoriale Negervölker wie die Monbuttu und
Akka (vgl. Schweinfurth, lm Herzen von Afrika II, 153) von
ägyptischen Cultureinflüssen berührt worden seien. Am Ende
jenes lehrreichen Abschnittes ist aber meines Erachtens ein
Emblem auszuscheiden in den Worten: Ooivtztav ozecot -nj 'EXXotSt
srop.fcyovxai, ouzdxi Aiyuitxiouc p.tp.sovxai [zaxa xa aiSoia], äXXa xwv
smyivop.evwv ou itepixagvouat xa a!8o!a.
II, 107, 2: x'ov 8e w? piaOstv xoüxo, auxiza <jup.ßouXs6sc0ai xp
•/uvatv.i' y.ai -pap 8y] zat xr,v -^uvalza ap.a ayscOccr xv)V 8e ot oup.ßo'jAeucrat
xöv ixai'Swv iövxwv Bi; xcuc (ptev?) 2 ouo exxt xyjv iupr,v szxsivavxa ys^upMaa!
so gemeint, wie die Dichter aypta s:8=va: u. dgl. gebrauchen (vgl. Sopli.
Philoct. 0G0 oder Nauck zu Antig. 301; vielleicht ist auch Antig. 71 so
zu verstellen). — (Dass ein Vaticanus [1030 in Bekker’s Apparat] oütm;
statt ouxo5 bietet, hat wahrscheinlich wenig zu bedeuten.)
1 Wenn man nicht vielmehr, wie hei den Bewohnern der Pidji - Inseln
(Tylor, Early hist, of mank. 216) oder hei den Käftern (Buckle, Com
mon Place Book n. 4 im Index) .von jedem äusseren Zusammenhänge
absehen darf.
2 Die richtige Wortstellung zum Mindesten ist auch VIII, 129, 9 gestört
worden und nach SVK herzustellen: rät; p.sv ouo uotpac. Eine grössere
Zahl von Fällen, in welchen die Partikel uxv im herodoteischen Texte
ausgefallen ist, hat Naber zusammengestellt. (Mnemos. 1854, p. 482).
Sollte nicht auch III, 31, 22 hieher gehören: elpopivou mv tou hapßuaew,
uraxplvovto auxö) outot xod oixoua xal iaoot)Jtx, cpapsvoi vo p.r,v (p.ev) oOSsva
35*
to y.ato|A£vov, aüxou? 0£ et:’ e7,e£vo)v eiußaivsyxa? r/.ua)!Jeo6ai. xauxa ^oivjaac
tov Sdawaxpiv, y.al Süo jaev xöW o:a!5(ov y.axay.ayjvai TpÖTto xotoixu, xouc
oe XotTtoü? äTCoowöyjvat ap.a xü Taxpi. vocr^ca? Se ö SscwGxpi? ec
xf ( v A 17070:0v y.at xiaatAevo? xov aceApsov, xw |aev öiaiam xov Itw/vä^cxo
xwv Ta? yrnpa? y.axeaxpsipaTO, xoöxu [aev xaSs E/p-qaax:;. — Die
Worte xöW — y.axsoxpEiiaxo sind vormals von Stein mit Recht als
eine ungehörige (auch durch ihre Unvollständigkeit, wie
ich meine, als Emblem gekennzeichnete) Wiederholung aus
dem Anfang des Capitels: xöW sOvsuv xöv xäc -/wpa? y.axEoxpsibaxo,
erkannt worden. In dem Satzglied xou? — xaxpf hat Krüger
die Erwähnung der Gemahlin des Sesostris vermisst, und er
schlug zweifelnd vor, y.ai xyj [AY)xp{ ergänzend hinzuzufügen. Der
Anstoss scheint mir wohl begründet, das Heilmittel verfehlt.
Ich halte die Worte gleichfalls für ein Emblem, welches sich
durch seine Entbehrlichkeit und seine Unvollständigkeit eben
als solches verräth. Die Handhabe dazu mochte die Verkennung
des jaev solitarium bieten, ein Umstand, der auch 121 s, 14 min
destens die Einschaltung eines (dem Zusammenhang widerstrei
tenden) ce in mehreren Handschriften bewirkt hat.
II, 116 heisst es von Homer, er habe den ägyptischen
Aufenthalt der Helena zwar gekannt, aber für die dichterische
Darstellung des trojanischen Krieges minder geeignet befunden
und darum bei Seite gelassen, Sypuoca? w? y.at xouxov raoratTo xbv
Xö/ov S-TjXov (1. ot;aoT) Se y.axä 7taps7:ob;cs (so Bekk.) sv ’lXiaSt —.
Meine Aenderung erheischt der allgemein herrschende Sprach
gebrauch. 1 Die Schreiber haben hier gerade so geirrt wie
eijeuploxetv o; y.eXeuEt doEXtpeov auvoutäiv aoeXcpsrj, aXXov p.fvxot i^EuprjXSVxi
vöaov zxl.? Die Schärfe des Gegensatzes lässt hier (anders als z. B. VIII,
42 fin.) die Concessivpartikel vor pfvrot kaum als entbehrlich erscheinen.
1 Auf die Schlussworte des Capitels: ev xouxoiat xoTtji biEai Srjlof xtL kann
man sich gleichfalls insofern berufen, als sie augenscheinlich das Obige
wieder aufzunehmen bestimmt sind. Ob sie übrigens von Herodot’s
eigener Hand herrühren oder die Grenzen der hier längst erkannten
Interpolation sich weiter erstrecken, als man gemeiniglich annimmt, dies
ist eine der vielen derartigen Fragen, in Betreff deren ich mir vorläufig
Zurückhaltung auferlege. Mit erträglichem Geschick durchgeführte antike
Interpolationen lassen sich oft nicht mit voller Sicherheit als solche er
weisen, und man thut vielleicht bei einem so vielfach verunstalteten
Texte,, wie es der herodoteische ist, besser daran, sich zunächst auf die
Besprechung solcher Verderbnisse zu beschränken, die streng erweisbar
Herodoteische Stndien II.
541
mehrere neuere Herausgeber, welche 117 in. x,axa xauxa Ss ta
sxea y.ai xboe [xb ‘/(nptsv secl. Valcken.| oua. rp/.'.oxa äXXa gaXiaxa
SvjXov schreiben, während die Handschriften einstimmig SyjXoi
(,es erhellt') darbieten. Der unpersönliche oder subjectlose Ge
brauch von Sv)XoÜ aber ist meines Erachtens wie hier von Val-
ckenaer und seinen Nachfolgern (s. jedoch schon Schweighäuser’s
Berichtigung im Lexic. herod.), so auch III, 82, 5 seit jeher
verkannt worden in den Worten: vcai ev xouxw cr'/.ol y.ai ouxo<; uc
y) gouvap/iY, y.päxtoxov. Mein Einwand freilich: ,nicht der aus der
Pöbelherrschaft auftauchende Monarch, sondern der Kreislauf
der Dinge, der auch auf diesem Wege wieder zur Monarchie
zurückführt, ist der Beweis für die Güte dieser Regierungsform'
möchte leicht als übersubtil verworfen werden. Allein jeden
Widerspruch schlägt der Rückblick auf den kurz vorangehenden
Parallelsatz nieder: y.ai ev xouxm SieSecje öow saxi xouxo aptcxov.
Man schreibe daher mit einer Aenderung, die uns schon so
häufig als nöthig erschienen ist, auch hier : y.ai ev xouxw SyjXcI
y.ai ouxio üq r, gouvapytv) xpaxiaxov.
II, 124, 3: spvä^ovxo Ss y.axa osy.a guptaäa? dvOpwxwv aiet, ty)v
xpfgvjvov Ezacxoi. So ist nothwendig zu interpungiren und zu
schreiben, wenngleich diesmal schon im Archetypus derselbe
Fehler sich vorfand (sy.dcxrjv), der II, 168, 18 (KaXaaipfwv ygXtot
y.ai 'Epgoxußüov ebopucbpeov svtauxbv E/taoxct xbv ßaotXea) in Hand
schriften der ersten Classe und IX, 93, 9 (ouxot tpuXaaaouct svtauxbv
Ey.aaxsc) in solchen der zweiten Classe angetroffen wird; an
ersterer Stelle bieten nämlich R und S, an letzterer der Mediceus
von erster Hand sxacxov. Dieselbe unwillkürliche Assimilirung
benachbarter Worte hat auch II, 156 in. eine bisher nicht be
merkte Irrung erzeugt in dem Satze: ouxo; g£v vuv b wrpq xwv
oavsptöv goi xtov xspi xouxo xb tpov soxi 9ti)ugaotwxaxoc, xöv Se OEuxeptov
rijcoc y] X sggtp xaAsugsvY], Oder sollte Herodot wirklich, nachdem
er die Hauptmerkwürdigkeit des Ortes genannt hat, fortfahren :
,unter den Dingen zweiten Ranges aber ist die Insel Chemmis
sind oder ohne Beweis Jedermann einleuchten, und dadurch den Weg
zu ebnen für die Erkenntniss und schliessliche Ausmerzung auch der
tiefer liegenden Schäden. Nur so viel wird man mir vielleicht ohne
Weiteres zugeben, dass, falls auf 116, 19 x«i tu? I? SiSwva tyjs 4>otvfx»js
omtxexo unmittelbar folgte 117 xocxa xauxa 8s x« Sjseoc xxs., der Text keine
Einbusse erlitte, die nicht leicht zu verschmerzen wäre,
542
G o m p e r z.
die merkwürdigste ?‘ Warum führt er docli von diesen Bxuxspa im
Folgenden kein einziges an, und weshalb sollte er, der Meister
planer und natürlicher Darstellung, diesmal eine so gewundene
Ausdrucksweise gewählt Haben? Er schrieb vielmehr sicher
lich: xwv bk oeüxEpov — ,the next greatest marveh, wie Raw-
linson völlig sinngemäss übersetzt. Wer sich aber daran stossen
sollte, dass die Adversativpartikel nicht bei ocüxspcv steht (os&xspov
os xoüxwv), der sei auf Stellen verwiesen wie III, 128 in.: Aapsioc
pev xauxa STtsipwxa, xw os ävSps? tpc^xovra tesoxr,oav —; V, 81:
xou? p.sv Ala.vJ.bou; 091 ü-E-sp/J/av, xwv Be ävopwv eosovxo (mit Krüger’s
Anm.); VII, 36 in.: y.ai oi ptsv xauxa sixoieov, —xaq Bs aXXoi ap/:-
xsv.xovsc 's^sü^vueav. Herodot liebt es eben Personalpronomina so
wohl als den sie vertretenden Artikel an die Spitze des Satzes
zu stellen und die Adversativpartikel unmittelbar daran zu
knüpfen, eine Eigentümlichkeit, von welcher der Gebrauch von
0 os = a\\d (s. Krüger zu I, 17, §. 2) ein bekannter Special
fall ist. 1
1 Wie diese Eigentümlichkeit der herodoteischen Syntax liier an einer
leichten Trübung der Ueberlieferung mitschuldig ist, so bat sie VIII, 25
ein grobes Missverständnis und eine schwere Interpolation erzeugen
und verdecken helfen. Ich meine die Einschiebung der aus VII, 228
entnommenen Worte xtaaepe; yO.ictoE;, die von C. Heraeus (Jahrb. 1868,
507—510) in vollständig überzeugender Weise erwiesen worden ist. Da
Gründe hier ihre Kraft erschöpft zu haben scheinen (Stein zum Min
desten ist durch jene Darlegung, die man für eine endgiltige halten
sollte, von dem alten Wahne nicht geheilt worden), so darf ich viel
leicht ausnahmsweise das bemerken, was ich so häufig zu bemerken
unterlasse, dass ich schon lange vor Heraeus durch genau dieselbe Be
weisführung zu genau demselben Resultate gelangt war und auch heute
(nach fast dreissig Jahren) an jener Argumentation und ihrem Ergeb
nis unerschüttert festhalte. — Nur in einer Kleinigkeit hat Heraeus
geirrt (und darum allein komme ich auf die Sache zurück), nämlich
darin, dass er xtuv in xtuv uirv yt/.loi itpafvovro xelpevot vExpol für ,demon
strativ 1 gebraucht hielt. Es ist vielmehr, denn in jenem Ealle würde
man ein yap vermissen, das Relativ und gilt einem touxtov y xp gleich,
wie so oft bei Herodot, z. B. I, 210, 14; VII, 154, 12 oder III, 14,
10: to os xou ixaipou ratOos (diese Vulgat-Lesart und nicht das nfvOo; der
besten Handschriften wird von Sinn und Zusammenhang gebieterisch ge
fordert) TjV ffitov Sxxpucov, Ös EX. Uol.AtUV XE X.ai EuBaipOVCOV EX.7C6aWV'e? JETtO-
X T l tr l v “koexat £7x1 yijpao; ouSw. Dieser Gebrauch ist mehrfach verkannt
worden und hat wiederholt die Einschaltung eines yap in der zweiten
Handscliriftencla.sse veranlasst, so: VH, 137: o'i [yap om. SVR] UEpoOiv-
HerodoteisohjB Studien II.
543
Jene Verderbniss von ivaczoi erinnert mich aber an die
analoge Corruptel III, 18, 12 (in der Schilderung des sogenannten
Sonnentisehes der Aethiopen): e? xbv xi? jasv vuxxa? eirixYjoeioyxa?
xtQevai Ta y.pia tou? Iv xlXä' IxacTou? lovxac, wofür man nothwendig
schreiben muss: tou? Iv xlXet Izacxoxe lovxa?, gerade so wie es
IV, 180, 21 heisst: y.oiyfj xapOIvov xvjv y.aXX'.Gxeüouxav ly.äcxoxs —.
(Anders geartet und unanstössig ist IV, 33, 9: asb Bl SxuGswv
vjoY) — xo'u; xXr ( <HO'/<»>pou<; ly.xaxou?.) Kaum der Erwähnung werth
scheint es, dass die entgegengesetzte Verderbniss (Ixäaxoxg statt
gy.d(7To«7i) II, 174, 3 in SVR begegnet.
II, 134 fin. lautet in allen mir bekannten Herodot-Ausgaben
(von einer abgesehen, von welcher später die Rede sein soll)
wie folgt: «xsl xe- yap xoXXctxt? xYjpusaovxwv AeXipwv iv. Geoxpoxisu B?
ßouXoixo xoivvjv xv)? Aicwxsu tyr/j\c, ävsXIcOat, dXXo? glv o'ooe't? iodvv),
’Idop.ovoc Bl xaiBb? xaf? aXXo? ’laBp.wv dvsi’Xsxo. Stein geht (oder
ging doch in den ersten Auflagen seines Commentars) über die
wundersame, ja beispiellose Construction stillschweigend hin
weg; er Scheint es daher mit Lhardy und der grossen Mehr
zahl der Herausgeber für statthaft zu halten, dass mit ’Täcp.ovo?
81 der Nachsatz beginne; Krüger meint, dass dies glicht füg
lich' der Fall sein könne und glaubt dadurch Hilfe zu bringen,
dass er nach aveiXsxo einen Beistrich setzt und die nachfolgenden
Worte outü) xai AiWxo? 'Jxogcvoc eyevexo als Nachsatz ansieht, —
eine Annahme, deren Unmöglichkeit sofort erhellt, wenn man
die Stelle im Zusammenhänge liest. Mir ward dieses Satz-Un-
gethüm, welches sich freilich durch eine ebenso leichte als
sichere Aenderung berichtigen lässt, der Anlass, die Frage nach
der Zulässigkeit des 81 in apodosi einer umfassenden (auch
auf Homer sich erstreckenden) Untersuchung zu unterziehen.
Ich konnte mich dieser Nothwendigkeit um so weniger ent-
schlagen, als ich zwar auf mancherlei nützliche Zusammen
stellungen und richtige Einzelbeobachtungen, hingegen auf
keinen einzigen Versuch traf, diese anomale Spracherscheinung
in ihrer Totalität bei diesem oder bei einem andern Schrift
steller zu behandeln, die Grenzen, innerhalb deren sie sich
bewegt, und die Bedingungen, welchen sie unterworfen ist,
te; ujio A«xiS«i|j.ov(uv xte., oder VI, 15, 5, wo nicht nur yäp eingeschoben,
sondern auch ot getilgt ward (Zeitschr. für österr. Gymn. 1859, S. 828).
544
Gomperz.
in erschöpfender Weise zu ermitteln. Die den herodoteischen
Sprachgebrauch betreffenden Ergebnisse sind in Kürze die fol
genden. Vor allem Andern ist jene Construction bei unserem
Historiker an eine ausnahmslose Regel gebunden: 8s im
Nachsatz lehnt sich immer an ein Personal-Pronomen
an oder an den als ein solches gebrauchten Artikel. — (Anders
ist es bei Homer, bei dem nicht selten Zeitpartikeln und auch
andere Wortarten an der Spitze derartiger Sätze erscheinen,
und welchen daher Krüger, Di. Synt. 50, 1, 11, in diesem Be
tracht nicht mit Herodot auf eine Stufe stellen durfte.) Ferner zer
fällt die Gesammtheit der authentischen Fälle in drei Gruppen,
die sich in Kürze wie folgt charakterisiren lassen:
A. Wiederholung des apodotischen 3s aus dem Vorder
sätze.
B. Auftreten desselben in Nachsätzen einer Doppel
periode (deren beide Hälften jedoch nicht stets gleich-
mässig ausgeführt sind).
C. Eigentlich anakoluthischer, durch begrifflichen
Gegensatz motivirter Gebrauch des 3s — einem
aXXct.
Nachdem Werfer (acta philol. monac. I, 88 sqq.) und Buttmann
(im 12. Excurs zur Midiana) die Frage vielseitig und grund
legend behandelt, Lhardy und Stein (insbesondere zu I, 112
und II, 39) nützliche Bemerkungen und Sammlungen hinzu
gefügt hatten, habe ich vor Jahren das Gesammtmaterial
zusammenzustellen versucht, wobei mir hoffentlich nichts, jeden
falls nichts Erhebliches, entgangen sein dürfte. Ich ordne die
Stellen also:
A. I, 138 in. -züta os (os add. Vindob.); 163 5 (ein Satz der
alles Ungefüge verlöre, wenn wir statt w? [Z. 2J 3<; schreiben
dürften [man vgl. III, 120 6 oder IV, 52 2 für oikw 8vj x-
mit folgendem Relativ]); 171 fin.; 11,50 17, 61 3, 111 19,
120 10; III, 37 11 ; IV, 66 fin.; IV, 81 7? (ich vermuthe
nämlich: (iyd) 8s) «3s SyjXiiicü), vgl. III, 37 und IV, 99) 99 1,
204 8; V, 37 15; VI, 16 14, 58 si, 157 17; VIII, 115 23;
IX, 63 8, 85 9.
B. I, 13 4*, 173 3*, 196 l; II, 26 22, 39 15*, 42 in., 102 6,
149 7*, 174 5; III, 36 21* 69 5, 133 24; IV, 3 2*, 61 14,
Herodoteische Studien II.
545
65 21*, 68 11*, 94 10*, 126 4*, 165 in.* (wo, nebenbei be
merkt, Stein das tsuc der Handschriften in sw? verändert,
während er im ganz gleichen Falle I, 173 3 diese Aen-
derung vorzunehmen unterlässt. Dass tew? mehrfach re
lativ angewendet wird, erhellt zumeist aus einer Anzahl
hippokratischer Stellen [s. Thes.], am deutlichsten aus de
morb. sacr. c. 16, wo man sinnwidrig liest: w? Äv
toü v)epo?, die besten Handschriften aber — darunter der
Vindob. und Marcian. — ts w? bieten d. h. tew?; auch bei
Plato Symp. 191E würde ich die alterthümliche Form nicht
wegcorrigiren); V, 1 6*, 73 8*; VI, 52 1*; VII, 159 24,
160 o*, 188 4*; IX, 6 in.*, 48 18*, 63 9*, 70 10. (Derartige
Doppelperioden ohne 3e in apodosi erscheinen z. B. II,
121 6; III, 108 13; III, 158 16, wo outoi p.ev aus SVR zu
entnehmen ist, halb ausgeführt I, 184—185 u. s. w.)
C. I, 112 18 (vgl. aXXd in IX, 42 23); III, 68 16; V, 40 15;
VII, 51 9, 103 18 (Gegensatz der Personen wie bei äXXa
VII, 11 2 oder IX, 48 15);' VIII, 22 U; IX, 60 24.
Aus dem Rahmen von B tritt scheinbar heraus VI, 30 in.;
eine Ausnahme, welche jedoch in Wahrheit die Regel bestätigt:
denn die Doppelperiode ist nur darum nicht zur Ausführung
gelangt, weil die eine Alternative zwar hypothetisch, die andere
aber wirklich ist. Viele ähnliche Fälle (über welche Werfer
pag. 94 zu vergleichen ist) mussten wir unter A stellen. Des
gleichen steht von dem Gros der unter C vereinigten Stellen
ein wenig abseits III, 108 1: lixsav 6 awipivo? — äpyyqzM SiazivEogsvo?
— 6 3e ägiouEi Ta? [J.fiTpa?, wo das Unerwartete der Thatsache,
dass das Junge im Mutterleib diesen theilweise zerstört, die
Wahl des ungewöhnlich lebhaften Ausdrucks augenscheinlich
veranlasst hat. Endlich tritt in kaum merklicher Weise aus
dieser dritten Reihe heraus IV, 189, 17—20: rjJryi yäp on — Ta
oe äXXa TtavTa, wo Steins Aenderung des 5s in ys schwerlich be
rechtigt ist und die — leichte — Anomalie nur darin besteht,
dass der Artikel als solcher und nicht pronominal gebraucht ist.
1 Ist nicht auch VIII, 140a, 19 zu schreiben: (aXX 1 ) Trapsarai xoWonzXr]-
(jlrj, gleichwie (nach Krüger’s überaus ansprechender Vermuthung) VI
13, o : (aXX’> aXXo acpi napfovoa 7ievTa7:X7jaiov ?
546
Go mp erz.
Man sieht, dass diese anomale Gebrauchsweise sich bei
Herodot in sehr engen Grenzen bewegt. A und C sind Special
fälle allgemeinerer, weit umfassenderer Sprachphänomene —
der Wiederholung oder Epanalepsis einerseits, die ja ebenso
bei anderen Partikeln (wie eben hier bei gsv) und desgleichen bei
anderen Wortarten und ganzen Satzgliedern auftritt und bei Bs
selbst auch ausserhalb der Apodosis, — der ebenso gelinden
als wohl motivirten Anakoluthie andererseits, die bei Schrift
stellern, welche nicht Herodot’s Vorliebe für die Voranstellung
des Personal-Pronomens theilen, durch ein die Construction kaum
störendes i'kka bewirkt wird (s! (jw) xpotepov, otXka vuv). So
bleibt denn als etwas Eigenthümliches und der Erklärung Be
dürftiges nur B zurück, oder genauer gesprochen — denn das
Be im Nachsatz der zweiten Periode kann, streng genommen,
auch als ein Specialfall von A gelten — jene neunzehn Fälle,
die wir durch ein Sternchen ausgezeichnet haben. Ueber diese
ist einfach zu sagen, dass unser Autor aus der ungleich weiteren
aber freilich auch nicht unbegrenzten Gebrauchssphäre Homer’s
diesen Rest der ursprünglichen Parataktik als ein Kunstmittel
übernommen hat, welches dazu dient, eine Doppelperiode durch
scharf pointirende Hervorhebung ihrer einzelnen Bestandteile
innerlich zu gliedern. Sehr bezeichnend ist in diesem Betracht
die Beifügung von -co-ce (rj oe litt II, 149 7, wofür es bei Homer
ictspa Be geheissen hätte), gleichwie das Fehlen des Be bei jenen
Nachsätzen, deren Inhalt aus dem Vordersätze wie etwas Selbst
verständliches hervorgeht (z. B. II, 174 ö), und seine Hinzu
fügung dort, wo die Apodosis als etwas Unerwartetes und
Ueberraschendes sich der Protasis gegenüberstellt (vgl. insbe
sondere III, 36 21 ; III, 133 24 [denn das Geheimhalten einer
Krankheit ist die Ausnahme, die Herbeirufung des Arztes die
Regel]; IV, 61 14; VI, 52 l: VII, 159 24.) Doch die Anerken
nung dieser drei Gebrauchsweisen ist nicht neu (wenngleich
Buttmann’s feine Unterscheidungen von Späteren wieder viel
fach in Verwirrung gebracht wurden), wohl aber die Ver
bindung dieser Normen mit der zuerst erwähnten und die
Einsicht, dass die unserem Doppelkanon widerstrebenden Fälle
bei Herodot ausnahmslos auf Textesfehlern oder auf falscher
Erklärung beruhen, wie die nachfolgende Musterung derselben
lehren soll.
Herodoteische Studien II.
547
1. II, 32 14: exel utv xoiii; vevjvi'a; ä7K>xsp.xopivoU(; wo xmv ■rfki-
xwv, iioaxl xe xai amoict eu s^piu|jiEVQUc, isvai Ta xpwxa gev oia rr t c
oixeopivr)«;, xaüxrjv 8s SieijeXOövxa; ei; xyjv O^ptuSea äxixeaOai, ex oe
TCZUTYJ? XYjV EpiJ|XOV StsijlEVai, XYjV OOCV XO!£Up,EVOUC Xpb; i^öJ'JpOV aVegOV,
oiei;eX06vxa<; oe -/wpcv xoXX'ov itxp.p.woea —. Diese Stelle muss
liier darum Erwähnung finden, weil kein Geringerer als Gottfried
Hermann zu Viger. (n. 241, pag. 784) den Nachsatz mit den
Worten SisijsXOovxa; §s beginnen liess, — eine Annahme, die
ganz unabhängig von der Frage nach der Zulässigkeit eines
derartig gebrauchten apodptischen os unbedingt zurückzuweisen
und in der That wohl von sämmtlichen Interpreten vor und
nach Hermann verworfen worden ist; denn (um mit Matthiae
zu sprechen) ,in protasi commemorari, tamquam aliunde vel
per se satis nota, non possunt ea quae et nondum commemorata
sunt et caput narrationis continenth Dabei muss es nothwendig
sein Bewenden haben, man mag nun welches immer der bisher
vorgeschlagenen Heilmittel (unter denen Reiske’s Verwandlung
von sxei in sixeiv oder etxai [so auch Stein] den meisten An
klang gefunden hat) in Anwendung bringen oder es mit Herold
für das Wahrscheinlichste halten, dass der Sitz des Fehlers in
äxoxEgxogsvou; zu suchen und durch die Herstellung des Infinitivs
dxoxep.xeoOai zu heben ist. 1 Vgl. die Beispiele dieser Construction,
welche Lluirdy zu I, 24 zusammengestcllt hat, auch III, 50 -1-5:
sxstxe oe oepsa; äx£xsp.xexo.
2. Noch schlimmer steht es mit der nach Gaisford und
Stein jeder handschriftlichen Grundlage entbehrenden
Vulgat-Lesart III, 26 3 in dem Satze: exeioy) ex xy); 'Odnoq xo:üxy]<;
lew. 1 , oid xvjq <hd[j.|j.ou exi aepea;, YeveijOai xe [a'jxou;'?| pexaiju xou p.a-
Xiaxa aüxwv xe xai xy); 'Oaato;, apioxov aipeop.evoiat aüxoloi exixveü-
aat vöxov pi-j-av xe xai eijaiciov xxs. Hier hat der Herausgeber
der Aldina und die Mehrzahl seiner Nachfolger (jedoch nicht
mehr Schweighäuser und Gaisford, wenngleich auffälliger Weise
wieder Bekker) ein Se zwischen apioxov und aipeogevoiat ein-
1 Dies schlug Herold, wenngleich zweifelnd vor emend. herod. II, 6,
indem er auch auf die gleiche Verderbniss im cod. Flor. 2 (I, 2, 2)
hinwies, Hermann’s Irrthum vielleicht noch besser als Matthiae wider
legte und Bredow’s missverständliche Auffassung von IV, 10, 19 (de
dial. herod. 107) endgiltig beseitigte.
548
G o mp er z.
geschoben, augenscheinlich in der Absicht, den Satz deutlicher
zu gliedern, wobei die Meisten wohl gleich Krüger den Nach
satz bei YsvsaBai xs beginnen lassen wollten, sicherlich nur Wenige
mit Lhardy diese Verwendung des apodotischen os für möglich
oder zulässig hielten.
3. Der erstaunliche Irrthum, den ein hervorragender Gram
matiker hier begangen und hartnäckig festgehalten hat, nöthigt
uns zu einer kurzen Bemerkung über die nachfolgende Stelle
(IV, 72 4): xwv os Sr, vevjvi'muiiv xöv axoxsTtvtYpivwv xaiv xsvxvjy.ovxa
bta. szaaxov ävaßißa^ouat km xbv txxov (1. sx’ bnxov, vgl. S. 572), 5>5e
ävaßißai^ovxs; • sxsav ve-zpoO szaoxou xapä rrjv azavöav ^uXov opGbv 3i-
eXaGwat \xv/_pi xcü xpayvjXou - zaxwGsv os üxspsyst xoü EbXou y.xe. Hierzu
bemerkt Krüger, auch in der letzten, nach seinen handschrift
lichen Aufzeichnungen vervollständigten Auflage seines Com-
mentars: ,Hier liegen Fälschungen vor. Denn abgesehen von
dem oe, das Herodot im Nachsatze so nicht zu gebrauchen
pflegt, fehlt auch die Darstellung des ävaßtßdLsw selbst. . . .
Eine Lücke nach xpay^Xou annehmend lese ich jetzt (in 2. Aufl.):
zaxwGev Sv; oder xo (o) zaxtoGev öxepeyet xoü E^Acu xoüxou kq' —. Die
Worte sxsdv — xpaypXoo bilden natürlich (wie auch Stein richtig
erkannt hat) keineswegs die Protasis zum Folgenden, sondern
die an wSs unmittelbar sich anschliessende Erklärung, die He
rodot allerdings gewöhnlicher durch einen Participialsatz liefert.
Er hätte sagen können: wSe ctvaßißaCoucf SieXaGavxE; zxs., gerade
wie er (und darauf verweist Krüger selbst zu IV, 48) II, 2 2
sagt: otSwai xoip.evi xps^etv kq xa xoiptvla xpoipvjv xiva xonjvSs' ev-
xsiXa|j.svo; jj.vjSsva zxs. Doch ermangelt auch die vorliegende
Ausdrucksweise nicht einer genau zutreffenden Parallele; VII,
15 fin. lesen wir: süplozw 3e 5>3’ <äv -pivopEva xaüxa - s! Xäßot; xr ( v
EplYjV G'/.EUY)V Ttäoav ZXS.
4. IV, 76 19: xouxo p.sv yap ’Avdyapai; exstxs xoXXvjv 9sw-
pvjoa; zai axoSsEafAsvo; zax’ auxvjv Gocptvjv xoXXvjV ezo|j.1£eto kq vjGsa xä
SzuGswv, xXewv oi’ 'EXXyjgxovxou xpoatoyst ei; K6£izov zxs. Hier
bieten mehrere Handschriften, darunter jedenfalls der Mediceus
und Florentinus: 1 xXswv 3s 3i’ 'EXXyjgxovxou, der Sancroftianus
* Wenn ich mich nicht bestimmter ausdrüeke, so ist daran der Widerstreit
der Angaben Schuld. Nach Stein fehlt dieses in P (d. h. Parisin. 1633),
während Gaisford das Gegentheil behauptet.
Herodoteische Studien II.
549
und Vindobonensis hingegen statt 3s St’ nur 3’ der Vaticanus
nur ce, der Parisinus 1633 (?) und die Aldina nur St’. Der letzteren
ist ein Theil der Herausgeber ohne Weiteres gefolgt, während
Andere (wie Krüger) Zweifel an der Richtigkeit der angeb
lichen Ueberlieferung äusserten, wieder Andere (gleich Bekker)
die Interpunction änderten, ura den Nachsatz nicht mit jenem
icXstov Ss beginnen zu lassen, und wohl der einzige Lhardy das
,Ss in apodosi“ unanstössig fand, indem er sich auf unsere Nr. 3
berief! Die unserem Doppelkanon und zugleich aller und
jeder Analogie widersprechende Instanz kann mithin schon durch
das Schwanken der handschriftlichen Ueberlieferung, durch
das ihr wenig günstige Zeugniss der besseren Familie und zu
gleich durch das nahezu einstimmige Urtheil aller einsichtigeren
Herausgeber als beseitigt gelten.
5. VI, 76 in. liest man: siteite St SitapTiiijTap aytov ätiizETO
Eid TOxap,bv ’Epaatvov, cp Xe-fetai pssiv ex, xrj; StupupaXtSop Xtjjtvpp (ttjv
yap 3vj Xiptvrjv TaöiY)v sp y<x<j\>.a atpavep exSiSoucav ävapatvecöat sv "Ap-fet,
t'o evGeutev Se t'o üSwp ijSr) toöto üid 'Apysltov ’Epatnvov xaXesGÖa:),
äicixöpisvoc S’ uv 6 KX£op.evv)p sid t'ov icoTapiov toutov xts. Innere
und äussere Gründe vereinigen sich hier um die Unhaltbarkeit
dieses ,Se in apodosi“ und im schlimmsten Falle seine totale
Unbrauchbarkeit als Stütze anderer Anomalien zu erweisen.
Vor Allem, die Partikel fehlt, nicht nur (wie Krüger bemerkt,
der mir in der Tilgung derselben vorangegangen ist) ,in meh
reren Handschriften', sondern in SVR, womit die Sache für
Jeden, der über die Grundlagen der Herodot-Kritik mit uns
übereinstimmt, abgethan ist, — es wäre denn, dass gewichtige
innere Gründe zu Gunsten der Lesart sprächen. Davon ist
jedoch das gerade Gegentheil der Fall, da ,wv“ (nicht S’ 2>v,
dessen Begriffsnüance eine sehr verschiedene ist) ,nach einer
Parenthese“ (Krüger) die übliche und regelmässig zur Anwen
dung gelangende Partikel ist. (Vgl. unsere Erörterungen zu
I, 144, desgleichen zu III, 97.) Wer jedoch endlich diesen
1 Gaisford’s unrichtige Angabe, der Vindobonensis biete St’, ist leicht be
greiflich. Man muss Stellen, in welcher 3’ und St’ nebeneinander Vor
kommen, vergleichen, um zu erkennen, dass die Wiener Handschrift die
beste Lesart hier nicht darbietet, wohl aber eine solche, die von ihr nur
schwer zu unterscheiden ist.
Go mp er 7,.
550
Erwägungen sicli versohliessen wollte, der müsste die Behaup
tung aufstellen, dass die Verbindung 8’ <T>v nicht weniger als
das einfache o>v das geeignete Vehikel sei, um die durch einen
längeren Zwischensatz aus dem Geleise gekommene Construction
wieder aufzunehmen und weiter fortzuführen; womit selbst
verständlich für andere Gebrauchsweisen des apodotischen 8s
nicht das Mindeste bewiesen wäre.
6. In der dritten und vierten Auflage seiner commentirten
Ausgabe versucht es Stein, die ,anakolutlie Fügung' in II, 134
durch eine vermeintliche Parallele zu stützen, die er VIII, 135
wahrzunehmen glaubt. Er schreibt nämlich daselbst wie folgt:
iq toüto t'o Ip'ov sitsccs ■rcaps’/.Oeiv xov y.aAscptsvcv xouxov Muv, erreoOat
os öl tü'i aoxtov aipsToup avopaq xpei? cnu'o toö y.otvou üc <b:oypad<o|jtsvo’J?
Ta Ostnrisiv sp.s'/As, za: icpözaxs xbv x:p6|j.avTtv ßapßäpw yAtioccY] /päv.
Auch hier erhält, so meint er, ,der Satz szsaOat 3s — ep.eÄhe'
durch Veränderung der ursprünglich beabsichtigten Construction
,die Geltung eines Nachsatzes und die ganze Periode wird
anakoluth'. Dagegen ist zu erwidern, dass SVR jenes os nicht
kennen und wir nur (mit Gaisford, Bekker, Krüger, Abicht
u. s. w.) die Partikel auszulassen brauchen um eine vollkommen
regelrechte Fügung zu gewinnen. Herodot will sagen: Sobald
die in dem Gefolge des Mys einherschreitenden Drei-Männer
das Heiligthum betreten hatten, begann der Promantis sofort
in fremdländischer Sprache zu weissagen. Er verwendet hier
bei y.at in der bekannten (beispielsweise von Nauck zu Oed.
Tyr. 717 illustrirten) Weise zur Markirung des betreffenden
Zeitpunktes, und die Coordinirung der beiden Sätze (eicsoöai -— y.ai
-pozare-ypav) erhellt deutlich genug aus der Wahl des gleichen
Tempus, des Praesens. Allein auch wenn man jenes Ss für echt
halten wollte, so wäre man dadurch keineswegs genöthigt die
befremdliche, durch nichts motivirte Anakoluthie anzuerkennen;
denn der Nachsatz könnte sehr wohl mit y.ai itpozaxe beginnen,
indem y.at — wie so oft, auch bei Herodot (s. Eltz pag. 129
und Stein selbst zu II, 45) — steigernde Kraft besässe und
y.ai xrpcy.axc gleichzusetzen wäre einem y.ai auxtza, wie es uns bei
Plato Sympos. 220A begegnet (xooxou p.ev ouv p.ot Sozei y.ai aimza
[,alsbald' Lehrs] 5 Tkzy/oq easoOai). Ein y.at an der Spitze des Nach
satzes erscheint auch VII, 128, 15 oder VIII, 64, 5, anders als
das homerische y.ai tote (Krüger, Di. Synt. 65, 9, 1 und 69, 18, 1).
Hcrodotoische Studien II.
551
Wir kehren endlich wieder zu dem Ausgangspunkt unserer
Untersuchung, zu II, 134 zurück. Wie wahrscheinlich muss es
uns nunmehr von vornherein erscheinen, dass an der einzigen
Stelle, an welcher die Annahme eines unserem Doppelkanon
widerstreitenden ,oe in apodosk noch allseitige Billigung findet,
dieselbe gleichfalls auf irriger Auffassung oder falscher Ueber-
lieferung beruht. Diese Wahrscheinlichkeit wird jedoch dadurch
zur Gewissheit erhoben, dass wir anderenfalls noch eine weitere
Anomalie mit in den Kauf nehmen müssten, von der (um das
Geringste zu sagen) bei Iierodot, in der griechischen Prosa über
haupt und in der nach-homerischen Poesie keine sichere Spur zu
entdecken ist 1 und die in der ausgebildeten Sprache einem Wunder
1 Hielier rechnet maft freilich Thncyd. III, 98 in. und Plato Legg. X, 898 C.
Allein die erst.ere Stelle gehört in die Kategorie der D o p p e lp e r i o d e n
(nach dem Schema [Hv, 0£: 8i, ourw 8rj gebildet, wo das |Hv der ersten
Protasis natürlich dem oi der zweiten entspricht); die letztere enthält,
wie Jeder, der darauf aufmerksam gemacht ist, erkennen muss, die Prä
missen eines Schlusses, nicht diesen selbst. ICleinias fällt dem Athener
ins Wort, zieht aus jenen Prämissen die richtige Conclusion und wird
dafür von diesem aufs Wärmste belobt. Man setze daher nach tr)v Ivav-
ttav einen Gedankenstrich statt eines Schlusspunktes und die vermeint
liche Anomalie ist beseitigt. Dasselbe Heilmittel glaube ich im liymn.
in Apoll. Del. v. 159 anwenden zu dürfen, ja zu müssen. Ein Beistrich
nach io'/saipav gesetzt, so dass mit pvi)tjdp.Evai der Nachsatz beginnt (G. Her
mann liess ihn nach pvr)odp.£v«i beginnen), bewirkt eine ungleich passen
dere Gedankenfolge als die jetzt übliche Interpunction; auf Hymnen zu
Ehren Apolls, dann der Leto und Artemis folgen weltliche Gesänge;
statt üpvov v. 160 lese ich olpov, diesolbe Aenderung, welche Nauck 0 429
vornehmen will und auf die ich auch an letzterer Stelle verfallen war. (In
Nauck’s überreichem Beweismaterial, Krit. Bemerk. V, 21 fehlt nur das
Nächstliegende, 0 74.) Somit bleiben nur die hielier gehörigen Anoma
lien in Ilias und Odyssee übrig, die Niemand ohne Weiteres auf andere
Sprachperioden und Redegattungen wird übertragen wollen. Hier mahnt
aber noch Mchreres zu besonderer Vorsicht. Die Instanzen, in denen
man solch’ eine Responsion von piv und 3i erkennen will, bilden eine
verschwindend kleine Minderheit in der Gesainmtzalil der Fälle des apodo-
tisehen 3e (3 unter 114, wenn man die Doppelpcrioden ausscliliesst, zu
denen auch H' 321 gehört). Diese drei Fälle schliessen sich aber wieder
nicht zu einer Gattung zusammen, sondern bilden vereinzelte Singulari
täten, über welche die Kritik und Interpretation noch nicht ihr letztes
AVort gesprochen haben, ln zwei von den drei Fällen erscheint ei im
Vordersatz pF 558 und o 831), an letzterer Stelle auch im Nachsatz in
der Phrase ei 3’ ayz, wobei — falls wir an der alten elliptischen Er-
552
Goraperz.
gleich zu achten wäre: ein psv in der Protasis, welches einem
cs der Apodosis entspräche, d. h. also ein Satz, der nicht mittelst
einer Anakoluthie von der Subordination in die Coordination
übergeht, sondern von Haus aus zugleich parataktisch und
hypotaktisch angelegt ist! Und endlich es bedarf zur Aus
merzung dieses Rattenkönigs von völlig analogiewidrigen Ab
normitäten so wenig eines gewaltsamen Eingriffs, dass es viel
mehr genügt, ein Wort durch Conjectur herzustellen, welches
bei Herodot nicht nur häufig, sondern (falls Bredow, de dialect.
herodot. pag. 107, nicht irrt) ausnahmslos verderbt, und zwar
immer in derselben Weise verderbt worden ist. Es handelt
sich um das ionische nnd nach des Aelius Dionysius aus
drücklicher Angabe herodoteische erceixev, welches jedes
mal, wo es richtig verstanden ward, in das attische Izeixa ver
wandelt und nur dort, wo es unverstanden blieb, unter der
durchsichtigen Hülle «rel xs oder i~site erhalten ward, — ein
Process, in den uns die handschriftlichen Varianten zu II, 52;
klärung festhalten — ci nicht zum Nachsatz gehört; die neue Lange’sclie
Auffassung ist mir aber überhaupt nicht verständlich; denn wenn ei so
wohl als 5ye auffordernde Kraft besitzen sollen, so begreift man nicht,
warum die zwei Worte regelmässig durch die Adversativpartikel getrennt
sind. Es wird wohl einfach hier (und vielleicht auch anderwärts) ei’ aye
(einst eia aye geschrieben) zu lesen sein. Vgl. Theocrit. 11, 95 (wo die
Handschriften schwanken) oder Aristopli. Kan. 394: ay’ e'a. (M 1 '558—559
erinnert so auffallend an o 545—546, wo pfv fehlt, dass ich nicht umhin
kann zu denken, Beides sei Nachbildung eines älteren Vorbilds.) In X
385—387 endlich gilt mir o’ im Nachsatz (falls nicht mit Nauck rjXu0
statt fjXQs 3’ zu schreiben oder der Ausfall eines Verses anzunehmen
ist) als Wiederaufnahme des aOrctf. an der Spitze des Vordersatzes, das
piv aber müsste dann als pev solitarium betrachtet werden. - Nebenbei
bemerkt, die Untersuchung dieses sprachlichen Phänomens bei Homer
wird ungemein vereinfacht, wenn man die Fälle, in welchen das of
des Nachsatzes nur dieselbe oder eine andere Adversativ-Partikel des
Vordersatzes wieder aufnimmt, aus der Gesammtheit der Instanzen
aussondert. Dass diese Unterscheidung keine willkürliche ist, erhellt
wohl zur Genüge daraus, dass die homerischen Hymnen aus
schliesslich, die hesiodeisclien Gedichte nahezu ausschliesslich, diese
Art von of in apodosi kennen. Die vollständige Ignorirung dieses Ge
sichtspunktes bildet meines Erachtens einen Hauptmangel der unge
mein fleissigen, als vollständige Stellensammlung überaus schätzbaren
Monographie L. Lahmeyer’s (de apodotico qui dicitur particulae of in
carmiuibus liomericis usu, Lips. 1879). S. Excurs I.
Herodoteische Studien II.
553
VI, 83; VI, 91 u. s. w. (s. Bredow a. a. 0. oder Schweighäuser’s
lex. herod.) die sicherste Einsicht eröffnen. Man schreibe daher
(im Hinblick auf Stellen wie VII, 7 fin. ypovw p.sx2xstxsv; VII, 197 in.
P-exetcsixev 8e; I, 146 fin. y.a! Iitsixsv xaüxa TOnjaavTe?; II, 52 in.
sxeixev 3e ypovou xoXXoü Ste^eXOövxo?) auch n, 134: — w? Bis8e!;e
xyjoe oüy. yjxkjxoc • exsixev yap xoXXaxi? wqpuaaovxiöv AeXomv £•/. 6eo-
Ttpom'ou 5? ßoüXocxo xoivr ( v xijc Aiowzoü 4u'/y;c ävsXecÖat, ci'h'ho: p.ev
oüBets sipavY], ’laBpiovo? Be xaiSo? zaR iJiXXo? TaS|juov ävEiXsxo. (Ich
muss dieser langwierigen Erörterung noch die Bemerkung bei
fügen, dass die Schreibung sxsixsv bereits bei Abicht sich vor-
tindet, jedoch nicht nur ohne ein Wort der Motivirung, sondern
auch ohne dass diese Neuerung als eine solche bezeichnet wäre.
Weder das Verzeichniss der Abweichungen von Dietschens Aus
gabe in der Teubner’schen, noch die adnotatio critica der Tauch-
nitz’schen Edition mit ihrer Aufzählung der Discrepanzen von
Stein’s Text enthält irgend eine hierauf bezügliche Aeusserung.
Sollte wirklich der Setzer diesmal die Rolle des emendirenden
Kritikers gespielt haben?) —
Im folgenden Capitel bestreitet Herodot die irrige An
nahme mancher Griechen, die schöne Hetäre Rhodopis habe
eine Pyramide erbaut, mit dem folgenden Argumente: vqc, yäp
xy)v 8exaxYjv xdiv ypY]p,äx<i>v iBscöca ecxi 2xl y.ai kc, xoBs zavxt xw ßouXo-
ptivü), ouo£v Ssi |ji£yäXa oi ypr ( p,axa ävaSstvai. Hat wirklich
noch Niemand an dieser unerhörten Logik Anstoss genommen:
,Denn da noch heute Jedermann den Zehnten ihres Vermögens
sehen kann, darf man ihr kein grosses Vermögen zuschrei
ben. ‘ In der That? Doch nur kein grösseres, als sie wirklich
besass, und ebenso wenig ein kleineres! Und als wäre es an
dem formalen Fehlschluss noch nicht genug, widerstreitet auch
die materielle Conclusion schnurstracks demjenigen, was der
Geschichtschreiber in dem unmittelbar vorangehenden Satze
geäussert hatte: oüxco Byj yj 'PoBözii; EXsuOspwÖY) y.a! y.axsp.sivs xe sv
Aiyüzxw y.al y.apxa sxappöBixo? ysvop.svY) jj-s-faXa sy.x^caxo yp^gaxa,
w; äv (1. |j.ev) 1 slvai 'PoBwzi, äxäp oüy. &g ys s? zopapiSa xotaüxYjv
1 Die Unstatthaftigkeit des av in dieser Verbindung haben Lliardy und
Krüger gut erkannt. (Stein’s Bemerkung zur Stelle wird, soweit sie einer
Widerlegung bedarf, durch seine ebendaseihst zu c. 135, Z. 11 erfolgende
Verweisung auf VIII, 88, 9 und das dort Zusamniengestellte bestens wider-
Sitzungsber. d. phil.-hist. CI. CIU. ild. II. Hft. 36
m
....
554
Gomperz.
sijiTisöac. Ich denke, wenn jemals eine Interpolation mit un
bedingter Sicherheit als solche zu erkennen war, so ist dies
hier der Fall. Schuld an derselben trägt zweierlei : die Ver
kennung des demonstrativen Gebrauchs des Artikels (der
genau so angewendet ist wie z. B. I, 172 touji ydp; II, 124 tt)?
ydp; II, 148 tou ';dp) und der durch '{dp eingeführte begründende
Satz, dessen Bezug nicht richtig verstanden wurde. Es ist, als
ob Herodot einen skeptischen Leser vor Augen hätte, der ihm
die Frage entgegenhält: woher weisst du denn über das Ver
mögen der blonden Thrakerin so genauen Bescheid, dass du
zu sagen vermagst, es sei zwar gross gewesen für eine Person
ihres Standes, aber doch nicht gross genug um die Erbauung
solch’ einer Pyramide zu ermöglichen. Diesem Einwurf begegnet
die Berufung auf die Autopsie in dem Satze: zf t q ydp zrpi Ssxar/jv
tmv -/pr;p,äTwv ioecQai e<m szt xai iq zooe xavzl zü) ßoiAogevo). Nicht
allzu selten sind die Fälle, in welchen ein durch '{dp eingeleiteter
Begründungssatz nicht den Inhalt der vorangehenden Aus
sage, sondern das Stattfinden derselben und das ihr zu Grunde
liegende Wissen erklärt (vgl. z. B. Lysias I, 11: 6 ydp mOpMxoq
evoov* vjv ücTEpov ydp obtavta eotOop.v)v oder Aeschyl. Pers. 341
Dind.: Hsp^Y) oe, xai ydp o!oa, yjdkidq gev rpt xts.). Die schlagendste
Parallele bietet aber unser Schriftsteller selbst dort, wo er von
legt!) Was o>; av bedeuten würde, mag Euripid. frg. 689 lehren: — xoü ra-
-eivo; oüo’ ayav 11EÜoyxo; ob; av SoÜXo; •—. Auffallender Weise hat übrigens
nicht nur Stein die sämmtlichen hieher gehörigen Fülle, sondern auch
Krüger zwei derselben m. E. vollständig missverstanden. II, 8: omlz\ noXXöv
■/oiplo'i ob; Eivai AiyÜKTOu heisst: ,nicht mehr viel Kaum, für ein
Land wie Aegypten nämlich 1 ; IV, 81: za: oXlyou; ob; SxüOa; eivai ,und
wenige, für ein Volk wie es die Skythen sind 1 , deren Zahl mit jener der
Thraker und Inder verglichen wird. An beiden Stellen dient also genau wie
an unserer (oder wie bei Thucyd. I, 21: ob; jiaXaii Eivai oder, worauf Krüger
selbst verweist, wie Gorgias 517 B) der in d>; liegende Begriff der ideellen
Abhängigkeit dazu, an die Stelle eines absoluten Massstabes
einen relativen zu setzen. (Beiläufig, den von Krüger als ,seltsam und
verdächtig 1 bezeichneten seemänischen Ausdruck xai ev evSexo opyuirja:
1’cEai II, 5 wendet sehr ähnlich auch Polybius an IV 40 [1,340,29—30 Bekk. |:
to yäp toi xXeiotov aur/jc pipo; ev ETträ xai jie'vte opyuiaf; loxiv —, wo wieder
Hultsch mit Unrecht, wie man sieht, ändern wollte.) Dass es aber dem nach
folgenden arap gegenüber rätliliclier scheint, av in piv zu verändern, als es
einfach zu tilgen, dies dürfte Jedem, der darauf aufmerksam gemacht ist,
von selbst einleuchten.
Herodoteische Studien II.
555
den angeblich goldgrabenden riesigen Ameisen Indiens sagt:
sie sind kleiner als Hunde, aber grösser als Füchse, und den
über die Genauigkeit dieser Angabe befremdeten Leser durch
die Bemerkung beschwichtigt: man braucht ja nicht jene in
dische Wüstenei aufzusuchen um diese wunderbaren Thiere zu
sehen; es gibt deren auch am Hoflager zu Susa (III, 102): ev
S1) mv zfj lpvjg,M (dies, nämlich ep-jp.M [sie] bieten R und V statt
Iprjp.i'Y)) tcwty) y.al ~Yj (jidp-p.M yiwnai p.upp.Y]y.£? p-eydedea iyovzeq y.uVMV
p.ev sXäccova, akwusxMV Ss p.ei^ova - eiat yap outmv y.al roapä ßaaiAil
[tmv rispcsMv], 1 evOeu-cev 0v)p£u0evTEq. Ob übrigens Herodot hier
durch den Bericht eines Persers getäuscht ward, oder — was
der Wortlaut seiner Aeusserung und sein durch Matzat’s Unter
suchung so gut als sichergestellter Aufenthalt in Susa (Hermes
VI, 449) weitaus wahrscheinlicher macht — jene tibetanischen
Murmelthiere (s. Bähr, Stein, Rawlinson ad loc.) im persischen
Schönbrunn selbst gesehen hat, aber in Fragen der zoologischen
Classification so ungeübt war, um vierftissige Thiere nicht nur in
Betreff ihrer Lebensweise (was ja zutreffen soll), sondern auch
,in Rücksicht ihres Ansehens' Ameisen ,höchst ähnlich' 2 zu
finden, dies wage ich nicht mit voller Sicherheit zu entscheiden.
— Der im Obigen erbrachte Nachweis einer groben, wenngleich
alterthümlich klingenden und wahrscheinlich auch alten Inter
polation darf uns künftig aufstossenden Exemplaren derselben
Gattung gegenüber einigermassen zuversichtlicher stimmen.
Dieser erhöhten Zuversicht bedarf es freilich nicht, um (diesmal
mit Stein) in den alsbald folgenden Worten touto avaGelvat iq
&sA<fo6q ein durch keinerlei Art von Epanalepsis zu entschul
digendes, aller Analogie widerstreitendes Einschiebsel zu er
kennen. (Ich erwähne die Sache nur darum, weil Stein diesen
wohlbegründeten Verdacht zwar vor und nach Veröffentlichung
seiner kritischen Ausgabe ausgesprochen, aber in dieser irgend
wie zum Ausdruck zu bringen versäumt hat.)
1 S. Zeitsehr. für österr. Gymn. 1859, 825.
2 Etat 8s zai auxol (atpt) to eiSo? opoioraioi dürfte die richtige, auf Ver
schmelzung der Lesarten beider Handschrifteneiassen beruhende Schreibung
sein, wobei autoi im Unterschied zu der vorher geschilderten Sloaxx (dem
Hauptpunkt der Uebereinsthnmung mit den ,hellenischen Ameisen“) ge
sagt, ist. lieber V berichtet Gaisford diesmal richtig.
556
Gomperz.
II, 143,15: 'Ey.axaiw 8s YevsYiXo-f^Gavxi iwuxov x.at dvaSijaavxi ep
s7c/.ociSs-/.axGv öe'ov a'rceyaver / 'k6yriG<xv [iw tp äpiGp.ijoEi] —, avTevevev;-
Aoyr/cav oh wSs - —.
Was sollen hier die Worte iw rij dpi0p.-/jcEt (diese und
nicht die ionische Form des Wortes bieten alle Handschriften)?
Die thebanischen Priester hatten dem Hekatäus gegenüber
genau dasselbe gethan, was sie Herodot gegenüber thaten
(sTOiY)ffav — otöv xi •/.tx 1 ep,o ! . ob '[B'/ai]koff\GxnC) ) d. h. sie hatten
ihm die 345 Standbilder der Hohenpriester vorgewiesen und
behauptet, jeder derselben sei der Sohn seines Vorgängers ge
wesen. Der Unterschied bestand nur in der polemischen
Wendung, welche diese Darlegung der Prätension des Hekatäus
gegenüber gewann, sein sechzehnter Ahn sei ein Gott gewesen.
Dies bedeutet dvTSYevEvjXöfijciav, ohne weiteren Zusatz. Nur
ein zugleich einsichtsloser und pedantischer Leser konnte diese
Unterscheidung nicht für erheblich genug halten und sie durch
jenen ungeschickten und dem Sachverhalt widersprechenden
Zusatz verstärken zu müssen glauben. Rawlinson übersetzt die
Stelle so, als ob jene drei Worte nicht vorhanden wären: ,the
priests opposed their genealogy to his 1 etc. Stein’s Ueber-
tragung aber: Rechneten sie dagegen bei jener Zählung
ihre Geschlechter vor' wird den Worten nicht völlig gerecht
(denn ew xjj dptOp/^aei hiesse ,over and above their enumeration 1 )
und macht doch den Eindruck einer (Unterscheidung ohne
Unterschied 1 . 1
H, 154: toütuv 8e oktoöevTWv sv At^uwu, o! "EXXyjve? ol/cto
e7up.1a76p.svot xouxotai xd itepi Al^uwov ^tvipeva, er,to l l J app.vjx!/ou ßaatheo?
1 Beruhen nicht auch die Worte total evujtvlotat 141, 21 auf Interpolation?
Oder kann der Plural das eine Traumgesicht, oder, falls wir auf den
Inhalt desselben blicken, die eine Traumgestalt, von der die Rede ist (eju-
otctvta xbv Oeov), bezeichnen? Vielleicht vermag mich hierüber Jemand zu
belehren, xoiitoiat Sr] luv jtfauvov (vgl. VII, 153 xoüxotat 8’ 2>v Ttlauvo; Itov)
bedarf jedenfalls keiner solchen Zuthat, wir mögen nun das Pronomen
als Neutrum auffassen (vgl. VII, 10, 11: tö or] x«l rciauvo; etbv) und auf
den geschilderten Vorgang oder es auf die von dem Gotte versprochenen
tipwpol beziehen. Dass Stein in dem vorangehenden Satze das allein
sprachgemässe jtfpjiEiv der besseren Handscliriftenclasse wieder in rfpjia
verändert, kann ebenso als ein Curiosum gelten, wie seine Verteidigung
des aus der vorangehenden Zeile mechanisch wiederholten, von Krüger
mit Recht als Einschiebsel erkannten pEt’ ewuxou 152 fin. (vgl. III, 51).
Herodoteische Studien II.
557
ap^at|X£vot, 5c«vt« (lies: xaüxa) xa't Ta üaxEpov ExicTaiasOa axpExswc' —.
Diese Verbesserung dürfte wohl durch sich selbst einleuchten.
Die Verderbniss, welche hier der Archetypus erlitt, ist ein
anderes Mal auf den Parisinus 2933 beschränkt geblieben
|HI, 48 i Gaisford]. Eine andere Verwechslung von ir und x
wird uns zu IV, 88 beschäftigen. Ist nicht umgekehrt frg.
trag, adesp. 426 (Nauck) xcacvxa zu xauxa entstellt worden in
den Versen:
zavxwv Tupavvo? rj Tü/yj ecrxi xöv Oemv,
Ta 8’ äXX’ ovop.axa xauxa xpccxsixat p.äxr)v —?
Einen erstaunlichen Uebersetzungsfehler Stein’s würde ich
unerwähnt lassen) wenn er nicht zu einer allgemeineren Be
merkung Anlass gäbe. Die Worte 172, 16: gsxa Sk Gotpiy auxoo?
b ’Äp,aciq, oux ayvwp.oaüvf) xpocYiYaYexo bedeuten nämlich nicht:
er gewann sie ,auf eine kluge, gar nicht unfeine Art', sondern:
durch geschmeidige Klugheit, nicht durch rücksichts
lose Härte. Für diese Bedeutung von aYvwp.ocivy;, aYvorj-wv
(z. B. Xen. Cyrop. IV, 5, 9: wp.b; elvai xat aYVwgwv) wie für die
entgegengesetzte von suYV(op.wv (aequus, s. Nauck zu Brach. 473),
suYvwp.oGuvY] u. s. w. genügt es auf die Wörterbücher (auch auf
Schweighäuser’s lex. herod.!) zu verweisen; hat doch Stein
selbst die Phrasen xpo? aYVwp,oouvr)v xpexecOa'., aYVwp.ooüv») 8iay w pac0a:
IV, 93 oder VI, 10 keineswegs missverstanden. Was ihn diesmal
irrte, war augenscheinlich der Gegensatz ao<pw). Und darum
mag es nicht überflüssig sein daran zu erinnern, dass auch
bei Theognis v. 218 (P. L. G. II 4 , 140) nahezu genau die
selbe Gegenüberstellung sich findet: xpsigctöv xot ao®ti)
äxpoxirj?. Dem Griechen, zu dessen Nationalhelden Odysseus der
TcoXüxpoTO? gehörte, bedeutete die praktische Intelligenz eben in
erster Reihe und oft nur allzu ausschliesslich jene vielgewandte
und aalglatte Geschmeidigkeit, die sich in alle Verhältnisse zu
schicken, jeder Anforderung anzupassen, in Alles zu fügen und
zu schmiegen weiss; das Sinnbild dieser aotpia ist der seine
Farben wechselnde Polyp, das Chamäleon der Alten (vgl. Theo
gnis a. a. 0. und was sonst Athenäus VII, 317 und XII, 513
zusammengestellt hat); nichts natürlicher daher, als dass Worte,
die ursprünglich nur Mangel an Einsicht bedeuteten, dahin ge
langt sind, die Rücksichtslosigkeit, die Härte, die Starrheit, ja
558
G o m p e r z.
wohl auch die blosse Kraft zu bezeichnen, wie denn jenes zpo;
ayvwpLscjvYjv xpaicipievot (IV, 93) sich von einem icpb«; ihv.rpt expditovxo
(IV, 125) kaum merklich unterscheidet. 1
II, 173, 20 wird der Uebergang vom Vergleichsobject zum
Verglichenen durch das Satzglied bewirkt: oüxco Br; xat ävOpoV
tou ■f.ca&QXo.v’.q. Es ist dies, falls ich nicht irre, gegenwärtig das
einzige Beispiel dieser missbräuchlichen Anwendung der betref
fenden Partikelverbindung in unserem Texte, während ein
derartiger Uebergang regelmässig durch ouxw Be, wc oe (dies be
vorzugt unser Autor) oder Öxjaixwi; Be eingeleitet zu werden
pflegt. Bei späteren Prosaikern mag solch’ eine Verwirrung
immerhin glaubhaft scheinen, nicht so bei Schriftstellern, die
lebendiges Sprachgefühl besitzen. Bei Plato schwindet diese
Irrung allmälig ans den Texten, so Gorgias 514 E (wo erst Schanz
gebessert hat) oder Protagoras 3131), wo Stephanus ebenfalls
oüxw Bv; las, was seither der richtigen Lesart der besseren
Handschriften gewichen ist; Meno 87 B scheint mir oütw S*rj
gleichfalls unzulässig. Bei Ilippokrates, de prisca medic. c. 9,
liest man noch heute (auch bei Littre und Ermerins): oütw Bf,
7.v). ol xazot xe y.ai ttXewxoi i^xpoi, während der Parisinus A (und,
wie ich hinzufügen kann, auch der Marcianus) das allein an-
1 In Betreff des liielier gehörigen Bruchstücks der soplioklcischen Iphigenie
(frg. 286 N.) bin ich mit Nauck der Meinung, dass dasselbe durch Porson’s
und Bergk’s Bemühungen noch keineswegs geheilt ist. Völlig sicher scheint
mir nur Eines: dass im ersten Vers vo'si 7;pb; avSpa (nicht ävopi) zu schreiben
ist, da r.poi c. acc. für die hier erforderte Bedeutung des Sich-Anpassens
und Anbequemens der ganz eigentliche Ausdruck ist; vgl. ausser dem,
was Krüger 68, 39, 5 anführt, noch insbesondere Thucyd. II, 54: — rpö; ä
l’jiaoym xr)v pvrJ|j.j;v räoioimo (,sie aceommodirten ihre Erinnerung ihren
Erlebnissen 1 ). Da sich nun der zweite Vors nicht ohne übergewaltsame
Aenderungen mit der Annahme vereinigen lässt, jene drei Worte ent
halten einen in sich abgeschlossenen Gedanken (= toioCtov lyz xov vouv,
oTos 5v ^ 6 svxuy^dvipv croi), so bleibt kaum etwas Anderes übrig als die
Schreibung:
No’ei Txpco; avopa ypSpa 7tou).üjtou; bx'nc
Khpix'i rparJaOai yv/jafou opov)j|j.ato;.
(D. h. taOt to xif; oiavola? '/pwua jcpo; xov IxdoroiE EVTuyydvoVTa aiJ.s([jEaüa:
xaOamEp o -okiinou; jipo; Ixdaxrjv rJxpm dpElßera:.) Der also erwachsende
Anklang an Shakespeare^ ,native hue 1 of resolution ist merkwürdig
genug.
Herodoteische Studien II.
559
gemessene oüxw ce dasbieten. 4 Und dies hat man ohne Zweifel
auch liier herzustellen, gleichwie dieselbe Corruptel VII, 10 s, 7
(wo sie nur an einer kleinen Zahl von Handschriften haftet)
und VII, 135, 17 (wo die Aldina, nach Stein, ihr einziger
Träger ist) bereits beseitigt wurde.
So oft oüxw ovj bei Herodot consocutive Bedeutung hat,
drückt es eine thatsächliche Folge aus; ein Schluss, eine
logische Folgerung hingegen wird durch oüxw oder oüxw ß>v
eingeführt, z. B. I, 32: oüxw uv w KpoTos xav eox: avOpuzo? cpjp,<popy;
oder II, 134: oüxw y.a't Afconro? Taop.ovoi; sysv exo (,so ergibt sich
denn hieraus, dass Aesop‘ u. s. w.). Daher that Stein wohl
daran, III, 16, 12 mit den älteren Herausgebern (und gegen
SVR) zu schreiben: oüxw (nicht oüxw Sv;) oüäsxspoiat vop.^cp.sva
evsxsXXexo troiesiv 6 Kap.ßücr,?, denn dies ist ein aus dem Voran
gehenden abgeleiteter Schluss, nicht eine daraus fliessende that
sächliche Folge. Ganz dasselbe gilt aber von VII, 152, 15, wo
Sinn und Sprachgebrauch gebieterisch die Schreibung heischen:
oüxw oü§’ ’ApyEiotcit aio^ioxa TtExoiYjxat (oüxw statt oüxw Svj mit SVR,
ooo’ statt oüx, mit Krüger). 2 Richtig liest man auch bereits bei
Beklcer IV, 13 fin.: oüxw oüäs eixos o'jjKpEpsxai vrsp: xr;? /mpy: xocjvqc,
2xü0y)<h, wo Wesseling, angeblich mit SV, irrthümlich oüxw br t
1 Eine analoge Irrung erscheint in den meiston Handschriften des hippo
kratischen Nri|j.o; (§. 1 = IV, 63S L.), wo man mit der für diese Schrift
massgebenden Handschrift zu schreiben hat: öp-oidraxo: yap ot xoioiSe xoia:
7xap£taayopLSvo:a: -poawOTiat Iv xrjat xpaywS!j](ji eia!' xat (nicht <!>;) yap eze!voi
<j^rj|j.a p.kv za: crroXrjv /.«1 jtpo'awjrov Ü7toxpixou kyouai, oüz eiai Sk ürazpixa!"
oütii) Sk (nicht oüxw) zai b)xpo! • 9vjp.r) piv jeoXXo!, k'pyw Sk mxy/u ßaio!. Ob
die Ersetzung des za! durch w; auch diesmal in der jüngst wieder von
M. Schanz so reichlich illustrirten Weise stattfand (lthein. Mus. 3S, 142),
bleibe dahingestellt.
2 Warum haben doch die Herausgeber bisher die Besserung verschmäht,
welche die Handschriften der ersten Classe zu I, 75, 22 darbieten? Es gilt
dort eine Steigerung des Unglaubens auszudrücken, eine Aufgabe,
der die gegenwärtigen Textesworte ganz und gar nicht genügen. Wollte
Herodot nicht schreiben: dXXä xoiixo pkv ou 7tpoa!ep«i (apx>jv) (vgl. IV 25;
V, 106; VI, 121 und 123), so musste er mindestens das sagen, was SVK,
(freilich mit dem leichten Buchstabenfehler jepoaie'va: statt Tepoaieuai) ihn
sagen lassen: aXXä xoüxo pkv oü8k jtpoaiEpai. (Die Behauptung, dass
Thaies den Halys zeitweilig aus seinem alten Bette abgeleitet habe,
hält der Historiker für wenig glaubhaft; die zweite Behauptung, das
alte Bett sei für immer trocken geworden, gilt ihm aus inneren Gründen
560
G o m p e r z.
schrieb (V hat in Wahrheit olkw Se), während VI, 69, 22 der
selbe Fehler einst von mir ausgemerzt worden ist. 1 Es ist kaum
mehr als ein Zufall, wenn wir uns hier fortwährend im Kreise
handschriftlicher Lesarten bewegen; denn entschieden werden
derartige Fragen nicht durch die Zeugnisse der Codices, weder
indem wir dieselben zählen, noch selbst indem wir sie wägen.
Es genügt, meines Erachtens, wenn wir aus einer Anzahl wohl
beglaubigter Fälle die Ueberzeugung gewinnen, dass der Schrift
steller verschiedene Ausdrucksweisen mit Bewusstsein zum
Vehikel verschiedener Begriffsniiancen gewählt hat. Ist er
kein Stümper und kein Wirrkopf, so können wir nahezu gewiss
sein, dass er sich des einmal errungenen Vortheils nicht wieder
muthwillig wird begeben haben. Und diese annähernde Gewiss
heit wird zu einer vollkommenen, wenn das Schwanken der
Handschriften uns eine Gegenströmung offenbart, welche jene
Absicht verhindern musste, zu völlig reinem und unzweideutigem
Aiisdruck zu gelangen.
II, 178: — xal Syj y.ai toici äitixveu|jtevoiat £<; Ai'youtjv e'Swüc
Nauxpattv rciXiv ivoix^aai • touti §e p.r ( ßaiXoiAvoiat outwv oiy.eeiv, abrau
8e vaimXAopivoütt eSwxs -/wpou? eviäpiaaaOac ßwjxoüi; xat xspivsa Oeüv.
Ich wüsste nicht, dass man im Griechischen ein ,dort‘ bei oixssiv
eher entbehren könnte, als dies im Deutschen zulässig ist.
Sollen wir also etwa evQauxa oder autou (letzteres mit dem cod.
Remiger.) einschalten ? Ich denke, wir würden damit nur den
Process der Anpassung eines Marginal-Zusatzes an seine Um
gebung einen Schritt weiter führen; denn begonnen hat der
selbe (wie ich glaube) schon mit der Ersetzung der Schrei
bung der ersten Handschriftenclasse durch die Vulgat-Lesart.
Jene lautet nämlich ivotxeeiv (in SVR) und verräth deutlich
genug ihre Abstammung von dem vorangehenden Ivoixvjoai. Von
derartigen, theils erklärenden, theils ergänzenden Randbemer-
als ganz und gar unglaublich.) Muss nicht auch IX, 42 ou8^ an die
Stelle von oüz treten in dem Satze: f)|j.E?s toIvuv aurb -oüto sniaiaucvat.
oute 'cp.Ev etc! to ipbv [touto Om. SVR] oute ETCi^Ecpijaopev Biapaai^Eiv, toiut7);
te ci'vExa Tfj; aWrj; ouz. arcoXEopEOa (,und aus diesem Grunde werden
wir auch nicht zu Grunde gehen 1 ) ?
1 Zeitschr. für österr. Gymn. 1859, S. 828. otj fehlt nach Gaisford in SF bc,
wozu jedenfalls noch V kommt. Nach Stein, der in der ersten Auflage
seiner commentirten Ausgabe die Partikel duldete, wäre sie eine blosse
Zuthat der Aldina.
Herodotcische Studien II.
561
klingen werden uns noch gar viele begegnen. Hieher gehört
z. B. III, 22, 14: l!;Y)YEopivwy 8s xmv 'I/Ousoavojv xbv xöqj.ov aüxoü
yeXäxac o ßaatXsu; y.ai vop.ica; slvat <7©£a ixEba; sTze w? xap’ swuxotat
eien pwp.aXEwxspac xouxswv [xxeSai]. Oder IV, 23: xat cwxb xr)<; xa/üxyj-
-o? abxoe [ttj? xp'jyb;] -aXäOac auvxiöeTui (denn der nach Abfluss
des Fruchtsaftes übrig bleibende Rückstand heisst im gewöhn
lichen Griechisch Tp6| und wird hier von Herodot ica/frn)? ge
nannt; die Verbindung beider Worte — von ihrer wenig ange
messenen Stellung abgesehen — schlösse die falsche Voraus
setzung in sich, dass die xpii; auch nicht dicke Bestandtheile
enthält. [Die zwei Worte will, wie ich erst jetzt sehe, schon
Reiske tilgen, dessen Mahnung aber ungehört verhallt ist]).
Und sicherlich auch das Folgende: VI, 69, 1: xov -/pevev yap
[xou<; ot/.y. pjvac] cubey.w scfy/.e'.v —; wenige Zeilen später heisst
es zu allem Ueberfluss: xixxoust yäp -yuvabts? xal svveap.Y;va xai
£-xap,r ( va, y.ai ob xaaai 8ey.a p.vjvac ex.xeXd©aaat. Gelehrtem Vorwitz,
entstammt (meines Bedtinkens) die Zuthat, die ich II, 47, 19 an
der totalen Entbehrlichkeit einer der zwei verbundenen Bestim
mungen und an der ganz und gar unberechtigten Emphase der
asyndetischen Nebeneinanderstellung erkenne in dem Satze:
xoiai [Asv vuv aXXolat Oeoiai 06stv 5? ob Siy.aiEÖci Atybuxtot, ZeXijvr] 8s
y.ai Aiovuaw p.oüvotax xoö abxou ypövou [rr] abxv] xavaEXi)vw xouc] 1 5?
1 Wie man hier den Artikel zu rechtfertigen vermag, ist mir unerfindlich.
(Die zwei Worte xou; u; tilgt jetzt Stein, Comment. Ausg. 4). Er ist so
wenig zu dulden wie z. B. III, 21, wo selbstverständlich auch ohne das
Zeugniss von SVK zu schreiben wäre: Iraiv oüxco eüjiexAu; kXxtoai [xi]
xö!|a Hspaa: |j.eydO£a xoaauxa, oder V, 27 fin.: xou; 8k alvsaOat xov AapHou
axpaxöv [xbv om. ABC d] Ab SxuOAov öjtkrco Aoxopi£o'p.Evov, ,das Heer des
Darius auf seinem Rückzug aus dem Skythenland 1 , wo schon Schäfer ge
bessert hatte; oder VII, 5: ouxo; piv ol [ö om. SV] Xo'yo; xipuopo;
(= xoüxo [i.i'i xxe.); oder VIII, 59 in.: r.ph 5) xov Eüpußiä8r;v -pofkiva: [xöv]
Xo'yov xtov eivez« cruvrjyayE xou; axpaxrjyous (was Cobet Var. lect. 353 be
richtigt hat); oder VII, 34, wo ich wenigstens nicht erst das Zeugniss
von SVR abgewartet habe, um die Sprachwidrigkeit des gangbaren Textes:
xrjv 8’ Exfprjv xrjv ßußXIvrjv zu erkennen. Es war ja vorher (c. 25) zwar
die Austheilung von Flachs- und Basttauen an Phöniker und Aegypter,
nicht aber deren Verwendung für je eine Brücke gemeldet worden. Zu
schreiben ist aber die Stelle auf Grund jenes Zeugnisses also: lycyupouv
xoiai rcpoakxEixo, xrjv pkv XeuxoXIvou <I>o(vixe; xf;V Sk ßußXlvrjv Alyöitxioi, ,die
Brücken errichteten Jene, denen dies oblag, die eine — aus Weissflachs
— die Phönizier, die andere — aus Papyrusbast — die Aegypter“. Dass
562
G o in p e r z.
Oüaaneg rcaxeöttai x<5v zpedW. Das Ohr allein entscheidet, ich denke
ohne Appell, über die Unechtheit der Schlussworte in dem Satze
(VII, 73): ot Ss <I>pu-fcg, wg MaxeSöveg Xeyouct, IzaXeovxo Bptyeg
ypevov ögo'i EüpcmxYpoi eovxsg cuvoizst vjoav MazsSöat, ptsxaßdvxcg oe eg
xf,v ’Achjv a\j.a tyj ympr] zai xo cilvap.a p.exsßaXov [lg ‘bpu-pag], Vgl.
sogleich c. 74: ol Se Auoot Mipoveg l/.aXeuvxo TtaXa’., im oe Auooü xoü
”Axuog eojrov xyjv iTxwvup.^v, p.exaßaXovxeg xb oovopia. — Doch kann
auch bei richtig erklärenden oder ergänzenden Zusätzen wohl
mitunter ein Zweifel in Betreff ihrer Unechtheit Zurückbleiben,
so gilt das nicht von jenen Fällen, in welchen der Glossator
selbst die Meinung des Autors vollständig verfehlt hat. So V,
29 fin., wo die von den Pariern bewirkte Neuordnung der Ver
hältnisse zu Milet erzählt wird. ,Jene Weuigen, deren Aecker
die panischen Abgesandten wohl gepflegt fanden, bestellten sie
zu Hütern des Gemeinwesens“, xoug oe dXXoug MiXvjoi'oug [xobg xrpiv
oxaoidgovxxg] xouxwv exaSgav ixefQeaOac. Die einen sollten gebieten,
die anderen gehorchen; das Kriterium war die Sorgfalt und die
Sorglosigkeit, mit der sie ihre Privatinteressen verwaltet hatten,
nicht aber das Mass ihrer Theilnahme an der allgemeinen, zwei
Menschenalter hindurch währenden Zerrüttung des Staates. 1 —
Wie aber, wenn der fremde Eindringling mit dem Boden,
auf dem er sich eingenistet hat, zusammengewachsen und gleich
sam eins geworden ist? Dann mag der befreiende Schnitt nur
gelingen, wenn ein glückliches Ungefähr uns seinen kaum zu
erhoffenden Beistand leiht.
der Artikel als das näclistliegende aller Verdeutlichungsmittel gar häufig
eingeschoben ward, dies weiss ja auch Herr Stein, der denselben mehr
fach mit Recht gegen die Autorität der Handschriften getilgt hat, oder auch
(was für ihn auf dasselbe hinauskommt) auf die Autorität der ersten
Handschrifteneiasse hin, wie III, 9, 10: pai^dpevov [xuv] enpoßolcov za! [xüv]
aXXtuv oeppaxwv oyexov [J.r'zsV ä-izveipevov I; xrjv avjopov, dyayEW — wo man
sich nur wundert, dass ihn nicht, wenn schon nicht der ständige Sprach
gebrauch, so doch dieselbe Autorität (SV) veranlasst hat, bei der Wieder
aufnahme des Satzes zu schreiben: dvaystv 3t piv (statt aysiv). Auch IV,
136, 4 scheint mir der von SVR ausgelassene Artikel keine Rechtferti
gung zuzulassen in dem Satzglied mite oü XExp)p.Evtu>v fiutvj oodW. —
1 Wird nicht auch VIII, 41 zum Mindesten der Schwerpunkt des Ge
dankens verrückt durch die überlieferte Schreibung: fejteuaav oe xauxa
üjiEzOtffOai statt k’<jjiEU!jav St xaüx« ,sie betrieben dies (das Rettungswerk)
eifrig“, ,sie beeilten sieh damit“? umzOfoOai macht ganz und gar den Ein
druck einer aus dem folgenden ürai-lzEiTo entnommenen Ergänzung.
Herodotcisclie Studien II.
563
Ehe Herodot daran geht, die so erstaunliche Aufspeiche
rung von Wasservorräthen und dem dazu gehörigen Geschirre
in der syrischen Wüste zu schildern, bemüht er sich vorerst,
die Neugier seiner Leser aufs Aeusserste zu spannen. Er stellt
daher der Unmasse von Weingeschirr, die jahraus jahrein nach
Aegypten wandert, die überraschende Thatsache gegenüber,
dass ,sozusagen nicht ein einziges leeres Weinfass im Lande
zu sehen ist*. ,Wohin — so mag wohl Jemand fragen —
kommt dies Alles V' Worauf die systematische Einsammlung
und Fortschaffung all’ dieses Geschirres mitgetheilt wird. Nun
lautet der betreffende Satz in unseren Texten (III, 6 in.) also:
—■ £? AI'yuctov ex, xr ; q 'Iv.Aäccc xacr’/j; xal xpo; ex d'oiv’xr,; xepap.o?
erayetai rcX^py]? ot’vou Si<; xou exeoi; Ixaaxou, xal ev xepagtov
oivr,pov äptOgw xelgevov oux ecrui u)? Xovu elxeTv ioeoOai. xou orjxa xxl.
Wozu Herr Stein das Folgende anmerkt: ,cic xou exeoc, wahr
scheinlich, weil die Kauffahrer nur zweimal im Jahre die Tour
von Hellas nach Aegypten machten. Von phönikisehen
Hilf cn aus konnte sie schon öfter im Jahre wiederholt
werden/ Die letztere Bemerkung ist vollkommen richtig; nur
dünkt es uns ein wenig verwunderlich, dass der Historiker dies
nicht sollte eingesehen haben, dies und noch einiges Andere.
Denn wenn jenes ,S1? xou exeoc exaoxou* in Betreff Phöniziens
völlig sinnlos ist, ist es mit Rücksicht auf Griechenland etwa
besonders verständig? Es mag wahr sein oder nicht, dass der
einzelne Schiffer die Tour in der Regel nur zweimal im Jahre
zurücklegte, kann man darum füglich sagen, dass die Wein
einfuhr in Aegypten nur ,jedes Jahr zweimal* stattfand? Und
wenn man es sagen konnte, welchen Grund hatte Herodot es
zu sagen, — es eben hier zu sagen, wo er uns von der Grösse
jener Einfuhr die möglichst stärkste Vorstellung beibringen will
und auf behutsame Einschränkungen so wenig bedacht ist, dass
er die Weineinfuhr aus ,ganz Griechenland* stattünden
lässt, ohne etwa jene Landstriche ängstlich auszunehmen, denen
der Bacchussegen versagt blieb ? ,Aus allen Theilen Griechen
lands und überdies noch aus Phönizien* — und ,das ganze
Jahr hindurch*, das stimmt zu einander, und das schrieb
unser Geschichtschreiber. Denn jenes Sk xou exeo? exetoxou
ist nur die Lesart der einen Handschriftenclasse. Die andere,
die so oft allein das Ursprüngliche bewahrt hat, bietet ganz
564
Gomperz.
Anderes. R und S freilich mit ihrem St’ eteo; zv.xaiou lassen das
Richtige nur ahnen; der Vindobonensis aber legt uns die Lösung
des Räthsels in die flache Hand durch seine Schreibung: St'
etou? ixtoz sy.atJTou! Also (blossem und Glossirtes nebeneinander
(wie in allen Handschriften toutou etvey.a neben icpb? xauxa steht,
I, 165); nur liefert das Glossem diesmal eine falsche Erklä
rung: ,alljährlich* (sxeo? ey.aaxcu) statt ,das ganze Jahr hindurch*,
was St’ sieo«; (bereits im Archetypus zu St’ etolic verschrieben,
gleichwie z. B. VI, 75, 4 cxpoeßaive in den meisten Handschriften
zu Txpoüßatve geworden ist) allein bedeutet. Man vergleiche IT,
22, 4: iy.ftvot oe y.at ysXtSivE? St’ eteo? [eovte??] oüv. äxoXewcoufft —;
ebenso Sta ßtou, Sta vux.tö<;, St’ evtauxsu, St’ iq[;,epY)s (letzteres bei un
serem Autor I, 97, 21; II, 173, 14; VI, 12, 9; VII, 210, 6—7).
Wie aber aus der Verschmelzung des Erklärten und- der Er
klärung, durch Veränderung und Tilgung je eines Buchstabens,
der Unsinn der Vulgat-Lesart entstehen konnte, während die
minder naiven Vertreter der ersten Handschriftenfamilie das
scheinbar überschüssige exouc einfach über Bord warfen, wem
müssen wir dies erst weitläufig erklären? 1
Doch ich erschrecke über den Umfang, welchen meine
Erörterungen anzimehmen drohen, wenn ich in der bisherigen
Weise fortfahre. Ich beschränke mich daher fortan mehr und
mehr auf das Wichtigste und befleissige mich so grosser Kürze,
als die Sache nur immer zulässt.
Drittes Buch.
III, 11 fin.: p-a/.'O? 8e YEVOjxevyjg -/.apxepvjs xat xeaövxiov ei; ap.tpo-
xepwv xtov tjxpaTOTteSwv xkij6et xoXXwv expcbrovTO oi Aiyu^-tot. Gewiss
konnte Herodot sich also ausdrüeken, wenngleich er in allen
1 Dass Herodot auch mit noch grösserem Nachdruck gesagt haben könnte:
,Jahr für Jahr das ganze Jahr hindurch“, so dass die Lesart des Vindo
bonensis unverkürzt in den Text zu setzen wäre, diese Möglichkeit ist
mir freilich auch in den Sinn gekommen und sie wird der Wahrschein
lichkeit um einen Grad näher gebracht durch den analogen Ausdruck
des Komikers Amphis (frg. com. gr. III, 319): jilvouo’ exctoxr]? i)[Dpas
ot’ fjpjpa;, der mir nachträglich zufällig aufstösst (obgleich ich ihn Val-
ckenaer’s Anm. zu VI, 12 entnehmen konnte). Ob aber diese Ausdrucks
weise für unseren Historiker nicht allzu epigrammatisch zugespitzt und
darum die oben ausgeführte Vermuthung doch wohl die wahrscheinlichere
ist, mögen Andere entscheiden.
Herodoteisclie Studien II.
565
anderen derartigen Fällen eine verschiedene Ausdrucksweise ge
wählt hat. So 1,76 fin.: |Se zapxsp?;? YevogEvr;? zai xsabvxiov <xgyo-
xspwv ttoXXwv. I ; 80 fin.: y_pov(p Se txecovxuiv aptooxspiov %oXXwv
Expdtcovxo oi Auooi —. IV, 201 in.: ypovov Ss 8r\ utoXXbv xpißogevwv
zat tcitcxövxwv äp.ipoxEptov TroXXoiv. VI, 101 med.: ixpoaßoXiji; 8s
YlV0|JiiVY)s zapxepvji; %p'og xo xeiyo? etii-tov etc! e^ vjpLepa? xoXXoi gev
ä|j.pox£p<ov —. Allein stutzig werden darf angesichts solcher
fast stereotyper Grleichmässigkeit des Autors wohl auch der am
wenigsten nivellirungssüchtige Kritiker, insbesondere wenn er
zweierlei erwägt: erstens, dass gerade an unserer Stelle die
Worte ap^oxepwv xtov oxpaxoTCotov wenige Zeilen vorher Vorkommen
— und zweitens, dass in den Handschriften der ersten Familie
i'z fehlt (e; om. SVR; das Wort tilgt auch Krüger 2 ). Ist es nicht,
als oh wir die Interpolation schrittweise vor unseren Augen er
wachsen sähen?
III, 15, 9—11: xoXXotat p.EV vuv zat äXXotat soxt axaGp.üaao0at
ext xouxo o ! jxu VEvop.tz.aci TtotEEtv, ev 8s zat tu xe ’lvapw TxatS't 0av-
vüpa, b? aTtsXaße vtp ot 6 Traxr,p stys apyvjv, zat xw Ap.opxat'ou llauat'pt —.
Wenn der vortreffliche Reiske den herodoteischen Sprachge
brauch nicht eingehend genug erforscht hatte, um das über
lieferte sv Se zat xüoe' ”lvapto zxs. richtig zu verstehen, so wird
dies Niemand befremden. Wohl aber darf es uns Wunder
nehmen, wenn auch Stein Reiske’s ,f(ortasse) xw xs‘ sich ange
eignet und diese grundlose Aenderung in den Text gesetzt hat. 1
Man vergleiche vor Allem VI, 53 in., wo Herr Stein (nach
meinem Vorgang, Zeitschr. f. österr. Grymn. 1859, S. 828) die
Lesart der ersten Handschriftenclasse mit Recht angenommen
hat: xäos Se zaxot xa Xs^optsva te’ ‘EXXvjvwv syti) Ypäcw xouxou? xou^
Awptswv ßaaiXsaq zxs., wo beiläufig auch das grobe ,proleptische‘
Emblem xouGsoü äTrEÖvxo? zu tilgen war. Denn so drückt sich
1 Ob Inaros’ Solm 0avv6pcis oder ’lOavvüpas geheissen hat, darüber fehlt uns
meines Wissens jede weitere Kunde. Auf Grund der nahezu überein
stimmenden Lesarten von SVK schreibe ich die Worte: ’lvctpu xou Afßuos
7tai8i ’lOavviipa —. (V bietet: sv 3t xa! tSSe (sic), ’lvapw (sic) xtu (sic) Alßuoj
natoi ’lüavvüpa, w; (sic) xxt.) — Dass Inaros schon c. 12 (wo, beiläufig
Stein das treffliche (von V und R gebotene) äiapa^Eia; wieder ausgemerzt
hat und wo xidpa; sicherlich ein aus VII, Gl stammendes Glossem zu
uüouc ist) ,der Libyer“ genannt ward, kann doch wahrlich kein Grund
sein, die zwei Worte hier für verdächtig zu halten.
566
Goniperz.
kein verständiger Schriftsteller aus, wohl aker entspricht die
im Plinblick auf das unmittelbar folgende: IXe^a 3s jj.sxP 1 Hspuso?
xoüSs eivexa x.-s. erfolgte Anfertigung dieses Zusatzes ganz und
gar der uns wohlbekannten Manier des Interpolators. (Besser,
aber auch nicht völlig genügend behandeln Krüger und Abicht
die obige Stelle.)
III, 20 fin.—21 musste ein in der ersten Handschriften-
classe fehlender Zusatz aus dem Text entfernt werden: — -/.cd
OY] y.ai y.axa tyjv ßao’iXvjivjv xoiipoe’ xöv av twv äoTtöv y.pivwoc p.E-piGTOv
ts sivat y.ai y.axa t'o gEyaOos s - /eiv -y)V icj^uv, xoüxov [ä^'.ouoi om. SVR]
ßaaiXsietv. Denn was ist, so frage ich jeden Unbefangenen,
wahrscheinlicher: dass ein Schreiber oder Redacteur jene echt
herodoteische Brachylogie in den Text hineingefälscht, oder
dass die Unkenntniss derselben die Ergänzung veranlasst hat?
Man vergleiche III, 84: ^epi Se Tt\c, ßaaiXvjiY]? eßouXsusavTo -totövoe-
otsj av 6 -Txkos YjXi'oo «cavoa^avTO? 1 "pwiroi; <pOsY?vjva' — toöxov 'iyv:t
xy)V ßaaiXr, iv]v.
III, 52, 6: TsxapxY] os vjp.sp-f] iSwv p.'.v o Ibpiavopoc dXouciYjof zs y.ai
äoi-iYjCi cup.x:£YöTti)y.oxa oixtsipe ■—. 2 Diese einfachen Worte sind,
so unglaublich es scheinen mag, von Uebersetzern und Heraus
gebern (ja auch von den Verfassern des Thesaurus) um die Wette
missverstanden worden. Lhardy, Stein, Krüger, Abicht setzen
Gup.YrexrwxÖTa einem Ttepwteiriwy.sxa gleich; Rawlinson geht dem ver
fänglichen Worte klüglich aus dem Wege, und nur der gerad-
1 Dass mit SVR so und nicht ir.a'iitß&rmoi y.u schreiben ist (vgl. auch VII,
223 in.), kann Jedermann eine kurze Ueberleguug lehren. Es galt hier
doch den Zeitpunkt so genau als irgend möglich zu fixiren (,after
the sun was up‘ übersetzt bestens der einsichtige Rawlinson). — Wie oft
hat doch jene Handschriftenclasse das richtige Tempus allein bewahrt,
so HI, 25, 10, (1)5 rjxouae (statt rjxoue) oder 07 in. sßoccjO.euE statt IßourO.EuaE
(der falsche Smerdis setzte ja nur seine schon begonnene Usurpatoren
herrschaft fort; er begann sie nicht zu jenem Zeitpunkt).
2 Im Vorangehenden c. 50 fin. ist nach Schwoighäuser’s und Wesseling’s
Hinweis auf II, 1G2 fin.: jiEpi0ü[j.(u5 I’^ovia (vgl. auch II, 45, 13 iralpM?
eysiv oder IV, 95 9 jcavreXeus e'l/e) von Abicht TOp,iOu|j.io; f/fov zweifel
los richtig hergestellt worden. Dass Stein, um nur nicht die Lesart der
ersten Handschriftenclasse (repi0üp.co5 SVR) annehmen zu müssen, lieber
auf.Schäfer’s r.lpi Oupö) e’/op.EVo? zurückgreift und selbst sein ,coniectabam
TiEpi Oup.o) ä'/0ojj.Evo;’ der Erwähnung wertli achtet, darüber darf man füg
lich erstaunt sein.
Herodoteische Studien TI.
567
sinnige alte Lange übersetzt sach- uncl sprachgemäss, wenngleich
nicht allzu zierlich: .zusammengefallcn'. Diese Auffassung ist
natürlich allein richtig. Wir erwarten hier, wo das Herz des
Fürsten durch den Anblick des unglücklichen Prinzen gerührt
wird, die Wirkungen der von ihm erduldeten Entbehrungen,
des Hungers und der mangelnden Körperpflege bezeichnet zu
finden. Da es nöthig scheint, füge ich den wenigen von den
Wörterbüchern angeführten Belegen dieses Gebrauches von
Gupwdxrw einige weitere hinzu: Erasistratus ap. Aul. Gell. (Noct.
att. 16, 3 = 11, 150 Hertz): iXoyi'(äp.sOx cuv xocpä tyjv ta^upav Gtjp.-
xtwgiv y.oOJ.xq sÜva: t»)v (elvai Tiva?) GipoSpa äci-iav y.TS. —
Genesis (LXX) 4, 5—6: guvexege tc xpoGtox:v gou. — Plutarch.
de curiosit. c. 2 (624, 42 Dübn.): oütwc ep.xafJw<; ecyev (Aristipp
nämlich, als er vor Begier brannte, Sokrates kennen zu lernen),
öcte xw Gwp.art Gup.xeGslv y.ai yevegöoc xavtaxaGtv w/po? y.ai layyoq.
Aehnlich ist der Gebrauch von GUTt^zsoSai. Zur Sache vergleiche
man auch Eurip. Orest. 226: wc vfpi'wGat ota pay.päc äÄouciac.
Der unglückliche Vater lässt kein Mittel unversucht, um
den harten Sinn des zürnenden Jünglings zu beugen oder zu
erweichen. Er schlägt den Ton ernster Ermahnung an und
gleich darauf jenen des zärtlichen, gemüthvollen Zuspruchs:
El yap TI? GUjJ.GCpY) £V EWUTOtGl 1 EC T^C 6.XOt]UV)V E? EgE E'/EtC,
ep.o! te aut-<i yeyove za! eyw auxTj? to xXeüv (j.etg/_gc eip.i. Dies
sind ungemein wohlgewählte, überaus sorgfältig abgewogene
Worte. Sie schliessen ein halbes Schuld- und Reuebekenntniss
in sich, aber doch nur ein halbes. Und die dichten Schleier
der kunstvoll gewobenen doppelsinnigen Rede dämpfen den
Eindruck auch dessen, was kein Missverständnis zulässt. Wie
ein verletzend greller Lichtstrahl fährt aber in diese wohlberech
nete Dämmerung das nunmehr folgende Satzglied: oaw auTÖ?
Gffisa i^epycxodp.ry! Was soll dieses unumwundene, unverblümte
Geständnis? Was kann Periander bewegen, ein solches abzu-
1 ,Denn wenn ein Unglück unter uns geschehen ist“ — dies ist der vom
Zusammenhang geforderte Gedanke. Und mit Recht lässt uns Eltz
(Jahrb. Supp. Bd. IX, 127) nur die Wahl, diese Bedeutung in den über
lieferten Worten (tv auToicn) zu linden oder dieselben durch iv icouxoTai
zu ersetzen. Für die erstere Auffassung liefert er kaum genügende, für
die letztere vollkommen ausreichende Belege, auch aus unserem Autor
(insbesondere V, 20, 4).
568
Gomperz.
legen? Warum sprach er eben erst von dem ,Argwohn', den
der Sohn gegen ihn hegen mag, wenn er entschlossen war, ihm
selbst die volle, zweifellose Gewissheit zu geben, das Entsetz
liche nackt und ohne jede Bemäntelung mit wahrhaft verblüf
fender Offenheit auszusprechen? Und wie stimmt dieses un
verhüllte Armensünder - Bekenntniss zum Folgenden, wo uns
nicht etwa der Ausdruck reumüthigster Zerknirschung, sondern
der Appell an die väterliche Autorität entgegentritt, (ixoiöv ti e?
tiu; xc/.iac y.ai to'uq y.pEcaova? TEÖujjwSaOat) ? Ich kann es nicht
glauben, dass diese Worte echt sind und dass Iderodot sich in
einem Athem als einen Meister und als einen Stümper in der
Kunst psychologischer Berechnung erwiesen hat. Wohl aber
ist es unschwer begreiflich, dass die absichtliche Zweideutig
keit des schliessenden Satzgliedes (,und ich habe daran den
grösseren Antheil') die ergänzende Thätigkeit eines alten Inter
polators herausgefordert hat.
TOUTO’J §£ |J.T;y.£Tt EOVTOt^, BsUXcpa TÜV XoiTtWV U[J.IV (I) Hsp<J£Z'. fl'-
vstm p.ot ävayy.aioTaxov evxeXXEcOai xa Oe/.w p.ot yEvsoOa’. tsXeutwv x'ov
ßtov (III, 65, 15). Hier haben die zwei durchschossenen Worte
bisher keinerlei befriedigende Erklärung gefunden. Denn Stein’s,
Abicht’s und Krüger’s übereinstimmender Vorschlag, den Genetiv
von avayy.aioxaxov abhängen zu lassen: ,das Dringendste von dem
Uebrigen', ,unter dem Uebrigen, was ich noch zu sagen habe',
,den übrigen Aufträgen“, ist augenscheinlich verfehlt. Weder
begegnet uns im Folgenden die leiseste Hindeutung auf derartige
weitere Aufträge (oder auch auf die Unmöglichkeit, dieselben
vorzubringen), noch findet hier überhaupt — und dies ist ent
scheidend — der Uebergang zu einem neuen Thema
statt. Nicht von einem Gegenstand zu einem andern wendet
sich Kambyses, sondern von einer Person zu anderen, von dem
ermordeten Smerdis zur Gesammtlieit der Perser. Er spricht
vorher wie nachher von dem einen Anliegen, das seine ganze
Seele ausfüllt und den einzigen Inhalt seines letzten Willens
ausmacht: von der Nothwendigkeit, dem Usurpator die ange-
masste Herrschaft zu entreissen. Soeben hatte er den verhäng-
nissvollen Irrthum beklagt, welchem derjenige zum Opfer fiel,
,dein es am meisten zukam, die von den Magern erlittene
Schmach zu rächen“. Da der Bruder — so fährt er fort —
nicht mehr unter den Lebenden weilt, so seid — in zweiter
Herodoteische Studien II.
569
Reihe — unter allen Uebrigen Ihr Perser diejenigen, die mir am
nächsten stehen, mit mir durch das engste und stärkste Band
(ävay/.r,) verknüpft sind und an die mithin mein Auftrag ergehen
muss. (Eine wortgetreuere Uebertragung scheitert an der Unmög
lichkeit, den in ävaYxawxaxov liegenden Doppelsinn im Deutschen
wiederzugeben.) Total unzulässig ist die alte Auffassung, ver
möge welcher xwv Xoiixwv von Seüxepa abhängen soll. Von der
Unzulänglichkeit des also zu gewinnenden Gedankens abgesehen,
(der wieder ein verschiedener ist bei Valla: ,secundum ex re-
liquis 1 und bei Lhardy: ,an zweiter Stelle unter den Uebrigen*,
wobei die Uebrigen ,alle Perser nach Abrechnung des Smer-
dis* sein sollen!) spricht der herodoteische Sprachgebrauch, der
nur ein absolut' gebrauchtes oder ein im Sinne von
ucxspov mit einem Genetiv verbundenes Ssuxepa kennt, 1
peremptorisch dagegen. Wer die zwei Worte nicht tilgen will
(und dazu würde, meines Erachtens, nicht die Berufung auf
VIII, 5 oder VI, 123 genügen, wo dieselben oder ganz ähnliche
Worte anerkanntermassen unecht sind), der wird sich wohl bei
unserer Auslegung derselben beruhigen müssen. Zur Ungleich
artigkeit der verglichenen Begriffe vgl. unsere Bemerkungen
und Verweisungen zu IX, 82, 8.
III, 69 fin.: [raSouca Se oü ya\s.~M~ äXX’ süxexew? oüx 'iyo'na
[xov avSpa ? | foxa, üq vjp-epy) xayjaxa iyeyovie, 'icep.tj/aaa £<r<jp,r]VE xcj> xraxpt
[xä Y£v6g£va]. Die letzten zwei Worte sind nicht nur vollkom
men entbehrlich (vgl. IV, 76, 9—10: y.ai xwv x:c 2x.u0eü>v y.axa-
ippaaÖE'.? auxov xauxa xoieuvxa eay)pr.yjvs xü ßaatXet. SaoXtw), sie sind
auch, da es dem Otanes um den ermittelten Sachverhalt weit
mehr als um den Vorgang der Ermittelung zu thun ist, so
wenig passend, dass die Uebersetzer ihr Vorhandensein ein-
mlithig ignoriren (,and of this — she sent word to her father*
1 Zur ersten Kategorie gehören, falls mir nichts entgangen ist, die folgen
den Fälle: I, 112 16, 126 9; II, 137 13, 158 22; III, 14 18, 22 13, 31 11,
53 9, 68 16, 74 l, 80 n (wo Stein in kaum glaublicher Weise irrt, indem
er xouxcov von SEoxEpa abhängen lässt, statt von dem folgenden oOS^v),
135 17; IV, 76 19, 145 12 (xo SsuxEpov); V, 36 19, 3 8 23; VII, 53 in.,
136 6, 141 15 und 20, 209 fin.; IX, 42 5, 99 in. (wobei wir den prädicativen
Gebrauch des Wortes von dem adverbialen nicht gesondert haben). Von
Fällen der zweiten Art kenne ich nur I, 91 21 (Seuxepa oe xouxwv /.aiopivü)
auxtö ETErjp/cOs) undVII, 112 in. (äEiixEp« xoüxcov jtapap.Elßexo x£i)(Ea xa üiEpiov);
zur letzteren Stelle mag man Kriiger’s Verweisungen vergleichen.
Sitzungsber. d. phil.-hist. CI. CII1. Bd. II. Hft. 37
—
9
570 Goraperz.
Rawlinson; ,und that ihm die Sache kund' Stein; 1 ,und sagt’ es
ihm an' Lange). Das Wort yevop.eva verdankt auch ein anderes
Mal (VI, 75,9, Zeitschr. f. österr. Gymn. 1859, 828) dem gleichen
Ergänzungsbestreben des Interpolators sein Dasein. So trefflich
ferner der Artikel an seinem Platze ist Z. 5 dfyaoov auxou xd wxa oder
Z. 13 xd Ö)xa ä7ü£xa|j.£, so unpassend dünkt er mir in dem Satz
glied Z. 9, das ich im Uebrigen mit einem Theil der Hand
schriften (zum Theil nach Bekker) also schreiben möchte: et yap
3i] p) i/iitv xu-f/ävct [xd] dixa ■—. (Der Vindobonensis hat ei mit
SR, xirp/avei mit Medic. und Pass., und die Wortstellung wie
S und R.)
Wer mir Stein’s Ausgabe benützt und einiges kritische Ver
mögen besitzt, der läuft fortwährend Gefahr, Emendationen zu
finden und als neue vorzubringen, die bereits in einigen, in
vielen oder auch in den meisten Ausgaben 2 verzeichnet sind. Mit
genauer Noth bin ich dieser Fährlichkeit in Betreff des Schlusses
von III, 73 entgangen. Gobryes endigt seine Rede mit dem
Rathe, so lange beisammen zu bleiben, bis man darüber einig
geworden ist, den Pseudo-Smerdis schnurstracks anzugreifen und
zu tödten: p.f) otaXueaöat ez, xou cuXXcyou xouSe dXX’ (•))) tövxa? era xöv
Mäyov !0ewc. Diese vorzügliche, zu dem kraft- und schwung
vollen Ton der Rede trefflich stimmende Lesart der ersten
Handschriftenclasse (statt der Vulgata: aXXoOt tovxat; ist —
sammt der selbstverständlichen kleinen Ergänzung — schon von
Palm und von Dindorf angenommen worden; ich erwähne dies,
weil nicht nur Stein gewohnterWeise darüber schweigt, sondern
auch die anderen neuen Herausgeber die Besserung nicht zu
kennen scheinen (vgl. IX, 109, 8: xou ep-eXXe cüSei? apijsiv dXX’ •/}
iw.rr,. Empfiehlt sich nicht auch IV, 131, 10 die Schreibung:
1 Stein’s Deutung der Worte in der commentirten Ausgabe (,den wahren
Sachverhalt 4 ) wird durch die von ihm herbeigezogenen Stellen keines
wegs ausreichend erhärtet.
2 Dass selbst dies keine Uebertreibung ist, mag ein ergötzliches Beispiel
lehren. Cobet, der nur Stein’s Textausgabe vor Augen hat, glaubt (Mnemos. 2
XI, 88) die ,vera lectio 4 (xouvo? (j-ouvoOsv (I, 116, 4) zum ersten Male zu er
mitteln. Dieselbe steht jedoch schon bei Jacob Gronov im Texte, des
gleichen in fast all den Ausgaben, die mir zur Hand sind, so bei Gais-
ford, Bekker, Dindorf, Dietsch, Lliardy und (was nicht am mindesten
bemerkenswert!! ist) bei Stein selbst (Ausgabe m. deutsch. Anm., 1. Aufl.).—
i
Herodoteisclio Studien II.
571
o Bs ouSsv stprj ol ExsoxäXOai, äXX’ y) [codd. äXXo •))] Bovxa xyjv xayiaxYjv
äxaXXäccrEcOai ?). 1
III, 97, 7 hat die Restitution der in Folge des missverstan
denen Zwischensatzes (s. oben I, S. 172) arg geschädigten Stelle
natürlich von der trefflichen Lesart der ersten Handschriften-
classe ’(B’ ixdcavxo SR, Be ixdi;avxo Y) auszugehen: KoXyot Be xä
exä^avxo [s? xyjv BwpEYjv] za! ol xpoasyee? (zsypi Kauzdaro? opeo? (s? xouxo
yäp xo opo? öito IläpaYjai äpyexai, xä Be xpb? ßopeYjv ävEp,ov xou Kauzd-
oio? llEpaewv oüoev Ixt ©povxi^st), ouxot wv Bwpa xa sxa^avxo Ixt za! e?
eps otä xsvxexYjptBo? äytvsov zxs. Sehr bemerkenswerth ist es, dass
schon Reiske (von der nothwendigen Ausscheidung der drei
interpolirten Worte 2 abgesehen) diese Herstellung fand, obgleich
ihm nur die schlechte Lesart der zweiten Handschriftenclasse
(3’ sxa!;dv o!) vor Augen lag. Die Phrase ec xyjv Bwps^v begegnet
II, 140, 2, wo sie ganz wohl an ihrem Platze ist; hingegen er
scheint sie III, 135 fin. in einem nicht nur völlig entbehrlichen,
sondern durch den Widerspruch mit dem Vorangehenden auch
verdächtigen Satzglied: xyjv p.svxoi BXzaSa, xyjv ol Aapelo? sxaYYsXXsxo
[s? xyjv BwpEYjv xolot äBsXipso'itji], BszscOai stpvj. Vorher heisst es:
Bwpa oe puv xw xaxpi za! xolci aOEX^Eofoi szsXeue xdvxa xä ezsivou
IxtxXa Xaßövxa aystv, cpä? äXXa ol xoXXaxXijata etvxiBdicreiv • xpb? Be [I?
xä Bwpa?] oXzäBa ol e<pvj ou|j.ßaX££o0at zxe. Die Verbindung xäoosoöat
ei? xyjv ompeijv müsste als grammatisch möglich erwiesen werden,
wenn man sich bei Stein’s Conjectur: KcXyoi Be xai;d|j.£vot e? xyjv
Bmpeijv beruhigen sollte.
Die Anschaulichkeit der Erzählung gewinnt allezeit durch
scharfe Scheidung der auf einander folgenden Zeitmomente.
Wie lässt es sich daher bezweifeln, dass III, 110 fin. mit
1 Sollen wir übrigens in diesem kleinen Meisterstück der Redekunst, wo
Alles Feuer, Ungestüm, kraftvolle Gedrungenheit ist, einen so matten
und abschwächenden Zusatz dulden müssen, wie er uns sogleich in den
Anfangsworten begegnet: avSpE; tpIXoi, luv zote xdXXiov icap^ei avaawaaaSea
tt)Y äpyriv, vj e’i ys afj otol te sao|xe0a [aixrjv «vaXaßefv], axoOavelv (III, 73 in.)?
Die ,Fülle des Ausdrucks 1 bei Herodot hat sehr weite Grenzen, aber
doch Grenzen; ausserhalb derselben liegt, meines Erachtens, auch
'EXXipcov IX, 72, 3 (vgl. IV, 53 in.) oder rjpipY) I, 32, 4.
2 ,Als ihr pflichtmässiges Geschenk“ erklärt Stein und verweist zugleich
auf II, 140 wo er dieselben Worte ganz richtig und ganz anders (,zu
dieser Gabe 1 ) übersetzt hatte.
37*
572
Gomperz.
der ersten Handschriftenclasse zu schreiben ist: xöc BeT äic-
ap.uvap.evou? (SV statt dtTCapuvop.EVou?) goto x65v SfGaXpöv oiixw
Sp&rcsiv xyjv y.aovr ( v, und sogleich wieder 111, 15: xa? Be opviGa?
y.axaTCxapevai; (SVR statt zaxcOTexopeva? aüxwv, das letzte Wort
tilgt auch Stein mit Anderen) ocvacpopeeiv l%\ xoc? veotratct?? Bin
ich allzukühn, wenn ich auch die vollkommen entbehrlichen,
in den zwei Handschriftenfamilien verschieden angeordneten,
aus dem Vorangehenden wiederholten Worte xa xwv ÜTCO&jytwv
piXsa oder xa pdXea xwv ÜTCo^uyiiov ebenso für eine schon im Arche
typus vorhandene Objectsergänzung halte, wie dies z. B. V, 92 y
15 sicherlich die in der ersten Classe fehlenden Worte xo xatäiov
sind (x'ov TCpüixov auxtov Xaßövxa TCpooouSiaat, vgl. dort Z. 11 und
Z. 17)?
III, 113, 9: äp.at;i'oa? yap tcoieüvxe? ütcoBeouui auxa? xjjat o'uprjat,
ev'o? exctcrxou y.rij'/sac xrjv oüpfyv i%' ä p a ?! 3 a -/.axaBeovxs?. Hier bieten
die sämmtlichen Handschriften den sinnwidrigen, aber bisher
nicht angefochtenen Zusatz £-/.äaxr,v nach äpa£!Ba, etwa wie jene
der zweiten Classe IV, 72, 6 das einfache etc’ itctcov (so SVB)
nicht geduldet haben in dem Satze: xüv Be Sy) vsY)Vta>Ui>v xüv goto-
TC£TCVtyp.£Vü)v xwv TCevxvy/.ovxa eva sxaoxov ävaß'.ßä^ouct etc: xov itctcov —.
Denn gezwungen wäre die Erklärung ,auf das zum Jüngling
gehörige Pferd'; ist doch im Vorangehenden zwar von fünfzig
Jünglingen und fünfzig Rossen, nicht aber von ihrer Zusammen
gehörigkeit die Rede gewesen, die eben mit diesen Worten
ausgesprochen wird: ,Von den fünfzig erdrosselten Jünglingen
setzten sie je einen auf ein Pferd/
III, 115 in.: Auxai p.ev vuv ev xe xy; ’Actvj etr/axtcd eia. y.ai sv
xy| Atßivj' TCEpi Be xwv ev x-i; Eupwirfl j xÖ>v tcpo? carcepr,v] eoy^axtewv
e/u pev ouy. axpexew? Xsyeiv oiixe yäp sywys evoezop.a 1 . ’HpiSavov xiva
(add. SVR) y.aXeeoOat otpo? ßapßapuv TCOiap.bv ey.BtBovxa eg GotXacraav
x/jv TCpb? ßopevjv avepov, «tc’ oxeu xb •ijXex.xpov ifoixäv Xöyo? saxt, oüxe
vvjaouc olBa KaamxepiBac eouoac [sy. xwv c xaaai'xepo? v;p,Tv 901x0t]. Diesmal
hat der Interpolator seine Sache schlecht gemacht. So wenig
Herodot bei Asien und Libyen blos an den Osten denkt und
denken kann, sondern neben diesem (106 in. itpo? xr ( v vjw) auch
den Süden (107 in. itpo? 0’ au p.eoap.ßptY]?) und den Südwesten
(114 in. aTCoy.Xivop.EV7)? Be p.eaap.ßp(Y]? — TCp'o? Bivovxa fjXiov) im
Auge hat, ebenso wenig kann er hier den Norden ignoriren.
Und er ignorirt ihn auch thatsächlich nicht, da er ja sofort
Herodoteische Studien II.
573
vom Nor dm e er und alsbald auch vom nordischen Festland
spricht (116 in. zpb? oe äpy.xcu xij<; Eup4>zr,c xxs.)! Genannt aber hat
er an der Spitze des Capitels gewiss keine dieser Weltgegenden,
sondern sich damit begnügt, den zwei schon behandelten Erd-
theilen den dritten gegenüberzustellen, das Uebrige der Ein
sicht seiner Leser überlassend. Zu ’HpiSaväv xiva und oiixs vijgou?
oTSa KaaatxeptSa? eoua«? vergleiche man den uns so wohlbekannten
Satz: ou yap Tiva eyioye o73a zoxap.bv 'Qy.eavov sovxa (II, 23), wo
auch die Fortsetzung, der Hinweis auf den poetischen Ursprung
des Wahnglaubens, zu dem hier Folgenden stimmt (uzo zonjxiw
Be xivo; zoiyjGsv). ,Und was die Zinninseln betrifft, so weiss ich
auch nichts von wirklichen Inseln dieses Namens' — wie kann
sich hieran der von uns eingeklammerte Satz anschliessen, da
doch aus dem Nicht-Seienden weder das Zinn, noch sonst etwas
herstammen kann V Einen blossen Glauben oder eine Sage
weiss aber Herodot sehr wohl auch sprachlich von der Wirklich
keit zu unterscheiden; warum sagte er nicht auch hier, falls
er dies ausdrücken wollte, epotxäv Hycc exxi, oder (wenn er vor
der Wiederholung der soeben gebrauchten Wendung zurück
scheute) <paixäv oder Xeyouat? Der Name der ,Zinninseln'
sprach eben deutlich genug und bedurfte keines Commentars;
es genügte, wenige Zeilen nachher den realen Sachverhalt, von
allem Problematischen geschieden, festzustellen: iS £ay_dxYjc 8’ wv
o ts -/.aaatTepo? tpoträ xat xb Yj7.sy.xpov.
Seltsamer Weise scheint noch kein Herodot-Forscher be
merkt zu haben, dass die Schlussworte von III, 143 an ihre
gegenwärtige Stelle passen wie die Faust auf das Auge. Maian-
drios hat die namhaftesten seiner Widersacher in den Kerker
geworfen; er erkrankt und schwebt in Lebensgefahr; sein Bruder
Lykaretos tödtet, die Gefangenen, um sich nach dem Ableben des
Bruders der Herrschaft um so leichter bemächtigen zu können.
Was soll da der begründende Satz: ,Denn sie wollten eben,
wie es scheint, ganz und gar nicht frei sein?' Hingegen wären
diese Worte an einer früheren Stelle sehr wohl an ihrem Platze,
dort wo dem Maiandrios, als er ,der gerechteste der Menschen'
sein und den Sandern ihre Freiheit wiedergeben will, statt
freudigen Entgegenkommens und begeisterten Dankes nur
Anklagen und Chicanen zu Tlieil werden und die Ausführung
seines edlen Vorhabens vereiteln. Hier (143 in.) möchte ich
574
Gompor z.
die wolil einst zufällig ausgelassenen, am Rande beigeschrie
benen und am Unrechten Orte eingesetzten Worte einschalten,
wie folgt: MaiavSpto? 3s vom Xaßrnv, w? ei |j.sr/jss'. ty)v apyrjv aXXoq
xt? a.'n autoo vdpcmoq y.ai:acrcr]<7STai (oü -pap 3y], ü; ol'y.act, IßoüXov-co
siva: sXeö0Epot), oüS’ stt 1 3v vorn siys gsTtEvat aütyjv, aXX’ üq ävEyyöpYjcE eq
r/]v äy.poitoXiv y.ts. —.
Viertes Buch.
Wer an den Rhythmus der herodoteischen Sprache gewohnt
ist, der wird bei den Worten IV, 9, 4—5: syw yap ly. <jeu TpsTc
zaiäa? ’dyjji sofort einen Anstoss empfinden. Denselben räumt
die Lesart der ersten Handschriftenclasse (die Bekker auf
nahm) aus dem Wege: sym yap ly. c£0 rat!Sa? ~pd.q. Dass dies
Stein nicht fühlt und nicht auch durch derartige, an sich
kleine, aber durch ihre unaufhörliche Wiederkehr bedeutsame
Mahnungen zu einer richtigeren Würdigung dieser Familie
geführt ward, dünkt uns gar befremdlich — um so befremd
licher, da er, der Macht der Wahrheit widerwillig gehorchend,
eben in diesen Partien nicht selten Lesarten von SV oder SVR
annimmt, die wahrlich keinem noch so geschickten antiken
Corrector ihr Dasein verdanken können, so BtaXsrastv (statt 3ta-
Xtraiv) III, 155, 18, die Auslassung von toTc nipcrjai III, 156, 15,
von ap-/6vTo)v IV, 5, 20.
Ueber die so schwierige als vielbehandelte Stelle IV, 11
will ich (von den Abenteuerlichkeiten der neuesten Herausgeber
absehend) nur so viel bemerken, dass selbstverständlich von
der völlig sinngemässen Lesart der ersten Handschriftenclasse aus-
1 Zur Rechtfertigung dieser trefflichen, wenngleich nur von S dargebotenen
(von Schweighäuser, Gaisford, Bekker u. s. w. angenommenen, von Stein
jedoch wieder verschmähten) Besserung (statt ou Sij ri) genügt der Hin
weis auf den Gedankenzusammenhang und allenfalls auf Stellen wie
VI, 133, 2: ot 8k Tlapioi oxto? u.sv ti omooucti MiXuaSr) [apyuptou secl. Krüger]
o08k oievoeuvto, ot oe oxtoc otacpuXaijouai Trjv ~6\tv [touto om. SV] Ep.7]yavloVTO
zte. Hier wie dort deutet 0O8I auf die Schwierigkeit oder Unmöglichkeit
der Ausführung hin, neben dem Nichtvorhandensein (beziehungsweise
Nichtmehrvorhandensein) der betreffenden Absicht. Dass diese allein
sinngemässe Lesart (die an letzterer Stelle Stein’s ABC und S dar
bieten) in VR durch oüSe'v verdrängt ward, sollte uns nicht hindern,
sie in den Text zu setzen.
Herodoteische Studien TI.
575
zugehen und das von Valcltenaer so trefflich gefundene, durch
die schlagendsten Parallelen gesicherte pivovxac; anzunehruen ist
(vgl. insbesondere VI,22, 7—8; VII, 173,9—11; VIII, 74,20—22;
IX, 55, 24), wodurch wir zu Bredow’s (pag. 29) und Herold’s
(emend. herod. I, pag. 6) Schreibung gelangen: w? cbtaXXdroEaOat
TipijYp.a enj pt-TjSs i:pbq ctXXou; pivov^xa?) xtvSoveusiv. Und dabei
könnte man sich beruhigen, wenn nicht einerseits die drei Buch
staben AGO vor MGNON eine Erklärung, beziehungsweise Ver
wendung heischten, andererseits das blosse itpb; toXXo6; einen
unzureichenden Gedanken enthielte. Denn sich mit ,Vielen‘
schlechtweg zu schlagen, dies schliesst nicht notlnvendig eine Ge
fahr, am wenigsten eine solche in sich, die man, ohne für feige
zu gelten (evxövoo? plv ap/poxspa?!), zu vermeiden für räthlich
und geboten halten kann. Passend wäre %pbq ireXXcncXvjctouq oder
icpo? TcoXXob? oMycuq iörtaq (vgl. I, 176 in.); allein wenn wir Ge
waltsamkeiten scheuen und methodisch Vorgehen wollen, so
bleibt kaum etwas Anderes übrig, als in jenem Lautüber
schuss die Deckung dieses Gedankenabganges zu suchen.
Daher glaube ich auch Gebhardt’s (emendat. kerodot. III, pag. 9)
Siapivcvzaq zurückweisen und vermuthen zu dürfen: — pvjoe icpb?
toXXouq Oos pevov(xa<;} xivbuvsieiv -—. (Ueber Verwechslungen von
o und w im Archetypus unseres Textes vgl. Herold a. a. O,
pag. 5 und specim. pag. 9; die Nachstellung von öSe begegnet
mehrfach, zum Mindesten bei den Tragikern.)
Sicherer ist es, dass wir IV, 18, 19 statt: pyj Se Kocxü-xEpös
xouxiov Yj epr,\j.oq scxl em tcoXXov mit SVR (denen Gaisford und
neuestens Abicht, nicht aber Stein und Krüger gefolgt sind)
zu schreiben haben: v) Sb xaxfeepOs xoixwv (sc. yij s. yßp’f]) Ipvjpö?
egxi sxt itoXXöv. Ich führe dies als einen weiteren Beleg für die
seltsame Verblendung derjenigen an, welche die Ueberlegenlieit
der ersten Handschriftenclasse beharrlich leugnen.
IV, 36 in.: — xbv yap vcept ’Aßctptoq Xöyov tou XeyouEVou elvat
T^gpßophi) ou Xs-fio, Xsywv <*>S tbv oiaxbv raptecpeps zaxd Ytaaav yp,
oüäev aiTsopEvoq. — Das durchschossene Wort lässt sich weder
durch die von Wesseling angeführten, unzutreffenden Parallelen
stützen, noch timt es Noth, dasselbe mit Reiske (dem Stein folgt)
zu tilgen, noch endlich frommt die von Schweighäuser zweifelnd
vorgebrachte, von Krüger angenommene Aenderung zu Xeyovxa.
Minder gewaltsam und zugleich sinngemässer scheint es, zu
576
G o m p e r z.
schreiben: Xeyto 31 «c x.xe. Vgl. IV, 99, 24: X^yw Ss w? elvai
xauxa y.xs. Häufiger allerdings wird diese Phrase im Sinne von
,ich meine, ich will sagen* mit dem Accusativ verbunden;
doch fehlt es auch nicht an Beispielen, die unserem Falle genau
entsprechen, wie Aristot. Rhet. III, c. 11 (1413 a 12): Asyu> 8’
oxav axoSiSömv —.
IV, 46 in.: '0 8s IIovxo«; o Euijsivo^, ix' Sv ecxpaxsusxo o AapsToc,
yupswv xacswv xaps/sxai s?w xob 2x.u9ty.ou sGvsa äjjLaGsaxaxa. oiixs
yap s'Gvo? xwv ivxop xou IIovxou oübsv lyo[j,vt xpoßaXscGai aoept'r]«; xspi
ouxs ävopa Xofiov o”oa|jt,£V ^evopisvov xaps? xou xe (xe add. Herodian.
x. p-ovyjp. Xe?, p. 88 Lehrs.) Zx.uGty.oü sGvsop xott ’Avtz^äpcriop. xo> 8s
SxuGtxw yevei Sv p.sv xb [Hyicxov xwv dvGpwxnp'wv xpr]Ypäxwv ootptuxaxa
xavxuv i?eupr ( xat xwv -ypj.stc iSgsv, xä ptivxot aXXa oux dvap.at • xb [3s
om. SVR und Flor.] 1 [Aeyiaxov (xouxo) ouxto 2 oot avsuprpai, &cxs y.xs.
Hatte es Herodot wirklich so eilig, den Skythen, unter
denen er doch nur einen Weisen zu nennen und von denen er
sonst blos zu rühmen weiss, dass sie sich gegen Eroberer besser
als jedes andere Volk zu vertheidigen verstehen — konnte er
es in der That so wenig erwarten, ihnen einen Platz unter den
gebildeten Nationen anzuweisen, dass er darüber den logisch
grammatischen Faden aus der Hand verlor und es unterliess,
sich so auszudrücken, wie jeder gute Schriftsteller sich in
gleichem Falle ausdriicken würde: ,Die Pontusgestade, gegen
welche jetzt Darius zu Felde zog, beherbergen unter allen
Ländern die ungebildetsten Völker. Denn ich kenne kein Volk
1 Unser Schriftsteller liebt es nämlich, an eine Ankündigung (und zwar nicht
nur wenn diese durch o8e, co8e u. dgl. eingeführt wird, worüber Herold zu
vergleichen ist, der jedoch die widerstrebenden Stellen nicht ändern durfte)
den Gegenstand derselben asyndetiscli anzureihen. So ist sicherlich
III, 12 in. yap mit der ersten Handschriftenclasse, die auch in diesem Be
tracht so oft allein das Ursprüngliche bewahrt hat, zu tilgen in dem
Satze: Ocoup.a 8s piya eToov 7cu0o'p.£vo<; Tzapx tüjv bzr/u>pUov • tcdv [yap] oaWcov
-EpixE/upivtov xte. Dahin gehört es auch, dass IV, 47, 11 auf die Worte
toutous; ovop.av£co ohne weitere Vermittlung die Aufzählung beginnt: w I<jtpo<;
[j.ev TTEVTaaTop-o; xte. (anders Stein, der den Ausfall eines Satzgliedes vor
aussetzt). Man vgl. IV, 119 in. so^faOrjaav ai yvüSp.ai* 6 piv TeXw'/o; xte.,
wo man früher gleichfalls gegen das Zeugniss der Haupthandschriften
beider Familien o plv yap las. Desgleichen tilge ich yap mit SV II, 1G1, 13.
2 Vgl. VIII, 98 in.: outco Toiart IUparjai £?Eup7)Tai touto. Verschieden ist IV,
200 fin.: touto p.£v 8r) outw (hoc modo) E^supiOr).
m
Herodoteisclie Stadien II.
577
ausser dem skythischen* u. s. w. Die Worte e^o) xoü 2y.u9iy.ou
sind, wenn nicht Alles täuscht, eines jener ,proleptischen‘ Em
bleme, die der Ungeduld, nicht des Autors, sondern eines vor
witzigen Lesers entsprungen sind, der hier Regel und Aus
nahme durch einander wirft.
IV, 61, 14 haben, so viel ich sehen kann, sämmtliche
neuere Herausgeber mit Reiz (nicht mit Gronov, wie Gaisford,
Stein, Krüger irrig berichten) der nicht ganz regelmässigen
Construction dadurch aufzuhelfen gesucht, dass sie zwischen
Tuyjotn r/ovcsc und Asßrj-a? die Präposition sc einschoben. Ein
Blick auf die in jedem Betracht vollständig analoge Stelle n,
39, 14 ff. genügt, um die Entbehrlichkeit dieser Aenderung zu
erweisen. Wohl aber ist nach eicena (richtiger sksitsv) mit R
und V 8e einzusetzen (S hat 8’). Dass Stein im Folgenden den
sinnwidrigen Artikel in den Worten ijv 81 ^ uei xapij 6 Xsßrjc (6 om.
SVR) aus den Handschriften der zweiten Classe eingeschaltet
hat, gehört zu den Seltsamkeiten, die uns immer von Neuem
in Erstaunen setzen.
IV, 88 in.: Aapzhg 8s ij-sxä Taüxa vjaOsii; ti) c/sSir^ föv äp^ixe-
yxova MocvSpoxXea t'ov 2c<|juov sSwp^oaxo uSai oiy.a' ehe’ wv or] MavSpo-
yXhjs ä-apxh v —• So lange wir der Vernunft in kritischen Din
gen nicht Valet sagen, wird es bei der (von uns Zeitschr. für
östeiT. Gymn. 1859, 811 ff. eingehend begründeten, 1 vorher
schon von Krüger [zur Stelle] und von Hehler, Mnemos. 1856,
pag. 69 geäusserten) Meinung sein Bewenden haben, dass die
Wortverbindung itam Ssya an dieser Stelle völlig unverständlich
und darum unmöglich ist. So begreiflich nämlich diese Rede
weise dort erscheint, wo es sich um ,je zehn 1 , ,je hundert* u. s. w.
Beutestücke, Opferthiere, Rinder, Schafen, dgl. handelt,
so undenkbar ist die Anwendung einer Zahlenbestimmung in
einem Zusammenhang, der uns über die Natur der zu zählen
den Gegenstände vollständig im Unklaren lässt. Auch der
Ausweg, dass es sich um eine uns unbekannte persische Sitte
1 Dem dort zusammengestellten Materiale kann icli jetzt ein paar neue
Belegstellen, wie rcavra ^tXta bei Porphyr, de abstin. II, GO (120, 27—28
Nauck) oder xd'hoc ixonrov bei Parthenius IX fin. (10, 23 Hereber), aber
nichts hinzufügen, was das dort erzielte Ergebniss zu modificiren ver
möchte.
578
Gomperz.
handle, bleibt verschlossen, da der Geschichtschreiber seine
Leser in solchen Dingen keineswegs für wohl unterrichtet hält
und sie daher ausreichend zu belehren niemals verabsäumt.
Somit erübrigt uns nichts als ein kritischer Eingriff, und schwer
lich ein anderer als jener, den ich damals nur darum unaus
gesprochen liess, weil ich der Hoffnung nicht entsagte, ein ge
linderes Heilmittel zu finden. Statt itaui wird man taXdvroiori
zu schreiben und den Fehler durch ein Compendium wie TOI CI
oder TÄCI veranlasst glauben müssen (vgl. z. B. I, 50, 13 xd-
Xxna or/.a und Gardthausen S. 257, mittl. Col.).
IV, 176 lesen wir: r t S’ otv xXslcTa eyv], Vuxv] dpicx?) Se-
Bozvai elvat — und ähnlich I, 32: rj Bs av xa izXeicxix ejn], dpi'arf
auvij. Nur IV, 64 heisst es mit einer Schwerfälligkeit, die schier
als unerträglich gelten darf: oc, yäp av x:\eicxa. Beppaxa ‘/eipä-
pay.-rpa eyr], cxvYjp aptcxoi; oüroq -/.sy-pixac sTvat. Von dem ersten der
beiden Worte befreit uns die bessere Handschriftenfamilie
(om. SVR); von dem zweiten und noch weniger passenden
dürfen wir uns wohl selbst befreien. 1
Es wäre nicht schwer, jeden Unsinn und jede Fälschung
der Ueberlieferung zu rechtfertigen, wenn es uns freistünde,
den Worten und Phrasen jedesmal ad hoc besondere und un
erhörte Bedeutungen beizulegen. Etwas Derartiges versuchen die
Interpreten zu IV, 68, 7—8: dxtypevov os eXsyycua: ot pdvxie<; ü?
emopy^aa«; <pat'vsxa’. ev xp pavxr/.p xaq ßaaikffaq iari’.ac,. Das Wort pav-
’ Nebenbei sei auch auf die kleine Interpolation hingewiesen IV, G5 in.:
za: 5)v ukv f| — 5)v 8k [f om. SVR] jcXoüaco;. Vgl. 196, 6: za: fv p.kv
aanojxal crcp: d:hcj; b ypu ab; rwv <popxüov — fv ok p.f a^'.oc, wo Stein die
selbe Interpolation vielleicht gleichfalls angenommen hätte, wenn nicht
seine ABC sich hier zwiefach vergriffen hätten: in der Wahl des Verbums
(il'ica statt cpodvecOai) und in der Wortform (e’itj statt. r\). Doch da jenes
Blatt aufgeschlagen vor mir liegt, so will ich eine andere, durch fremde
Zuthaten schwer entstellte Satzreihe zu ordnen versuchen (199, 11): rptoxa
psv yap ta 7üapa0aXdaa:a [tüv zapjxtov] öpyä ap-aaöal te za: xpuyaaOa: • toijtwv
te 3f <juyz£zop:ap.E'vtov xd ujtkp tSv OaXaaaioüov ‘/töpwv [xd u.iaa om. SVR]
°PT? ffuyzop.!^eaDat, xd ßouvou; zaXsoua: • ouyzEzdp.ujxa( xe outo; o [j.eero;
zapjio; xte. Dieselbe Sprachwidrigkeit, die hier in xd TjapaOaldacna xwv
zapraov (siehe den verunglückten Erklärungsversuch bei Krüger) begegnet,
ist V, 58, 9 (xd jioXXd xtov ywpcov) durch Wesseling’s Conjectur (yrnplwv
statt yo'jpow) beseitigt worden; geratliener scheint es auch dort (mit
Krüger 2 ) zu schreiben: mpiolxEov Sk a-psa? xd TcoXXd [xeov ytopwv] xouxov
xov ypovov 'EXXfvwv "Jcdve;.
Herodoteische Studien II.
579
sei hier ,concret zu fassen' (Stein). Doch genügt diese Aus-
thicht nicht, um den sich unabweislich aufdrängenden Zweifel an
der Echtheit dieses Zusatzes hinwegzuräumen. Es bedarf noch
der weiteren, nicht minder gewagten Annahme, dass e-top-
v.r^ac, oai'vsxat einen solchen Beisatz gestattet. Dies widerstreitet
jedoch vollständig dem Sprachgebrauch Herodot’s und enthält
zugleich eine durch den Zusammenhang keineswegs nahegelegte
Abschwächung des Gedankens. <pai'vop.at mit einem Particip ver
bunden steht nämlich nach der bekannten, für unseren wie für
jeden anderen griechischen Schriftsteller gütigen Regel völlig
gleich einem StjXo; eoxi, oavepc; xaOiaxaxat, wenn es nicht gar wie
II, 97 in. at xöXis; p,ouvai <pai'vovxai ixepe^ouaa: (,man sieht die
Städte allein hervorragen') nur die Geltung einer Periphrase
besitzt ((pctivovTat üx£ps-/ w ouaai = üxcpe/ouat). Man vergleiche bei
spielsweise: II, 79 <pa!vovxat 8s atet y.sxs xouxov asiccvisc; III, 116
xoXXw ts xXsTaxo; qmvsxat XP UC0 ? st&v; IV, 12 ^odvovxat — osuyovxs;
und daneben ganz gleichwerthigaavepoi 8£ eici — Si<J>!*avxE;; IV, 45 fin.
sy. XYj; 'Aai'-p; xe ©aivsxai eouaa; IV, 53 <pa£vexai 8e pswv Si’ £pijp.ou;
V, 9 in. ep7)p.o; ’/wp'p ©atvexat eouaa; VI, 121 «palvovxat piaoxipavvot
ecvxe;; VIII, 120 in. [Ava 31 — gapxuptov <pa!vsxat Y«p Hsp^r,p —
äxcx,öp.evo<;; VIII, 142 otxtve; — <patveaOe xoXXou; sXeuSeptiaavxe; —.
Der Process der Weissagung gilt den Wahrsagern als ein ebenso
vollwichtiges Beweismittel wie dem Cyrus sein Traumgesicht,
auf Grund dessen er zu Ilystaspes spricht (I, 209): xaic ao; —
extßouXeuiov eaXwy.s, gerade wie es von wirklich überführten
Verschwörern heisst (VIII, 132): exißouXeüovxe; oe <b; ?avepot
eysvovxo —. Der Zusatz sv x?) [xavxa^ ist ganz ebenso auszu
scheiden wie (mit Abicht) jenes ev xolai epyoiai II, 126, wo weder
Valckenaer’s Vorschlag (über welchen gemeiniglich falsch be
richtet wird) sv zu tilgen, noch Werfer’s Conjectur exi (statt sv)
die rechte Hilfe bringen; denn auch ein s; xa spya wäre un
zulässig, da von den epycc im Vorhergehenden noch gar nicht
die Rede war. Die Königstochter, so heisst es, wollte auch
ihrerseits ein pv^poauvov zurücklassen (was an sich ein ganz
unbestimmter Ausdruck ist; man vergleiche, wenn es Notli
thut, II, 135 oder IV, 81 fin.); darum bat sie jeden ihrer Be
sucher um einen Stein, und aus diesen Steinen hat sie eine
Pyramide erbaut. (Stein freilich gibt die Worte deutsch so
wenig sinngemäss wieder, wie sie griechisch lauten: ,er möge
580
G-omper*.
ihr bei ihrem Bau einen Stein schenken'.) —- Von demselben
Kaliber ist zweifelsohne auch der wenige Zeilen später folgende
gleichartige Zusatz: y.ai vjv (aev x.a: ouxoi euopEovxs; [s<; r>;v |j.avTi>ujv]
/.aTaSi^auat liciopxrjsai, wo man nach der Analogie von s«3wv s; Ta
Ipa ( VII, 219 in.) im Gedanken ein kq xa; pxßoou;, kq xo'u? <pa*e-
Aouc ergänzen mag. 1
Wenn Männer Frauenrollen spielen, so wählt man hiezu
allezeit bartlose Jünglinge (xvopx<; Xe'.oyevsi'ouc, wie es in ähnlichem
Falle hei unserem Autor heisst V, 20) ; und wenn ein Amazonen
heer irrthümlich für ein Männerheer gehalten ward, so konnte
man in den streitbaren Frauen nur jugendliche, unbärtige Krieger
erblicken. Dies muss nothwendig auch Herodot dort sagen
wollen, wo ihn unsere Handschriften so verkehrt als möglich
sprechen lassen (IV, 111): ISoy.sov 8' aüxa? sTvai avSpa; tyjv at)TY)v
YjA'.y.!r ( v lyp'naq, was die Interpreten einstimmig etwa also er
klären: ,alle von gleichem Alter, nämlich gleich jung und
bartlos'. Ebenso gut könnte man sagen: wir hielten einen
Trupp Zigeuner für Mulatten, denn sie waren insgesammt von
gleicher (nämlich von dunkler) Farbe. Nicht die Gleichheit,
die ja ebenso wohl die Gleichheit des Greisenalters sein könnte,
1 In der Schilderung- der skythischeu Maritik bleibt nach allen Bemühun
gen der Kritiker und Exegeten noch manche Dunkelheit zurück. Dass
Steins’ Versuch, die Phrase srci p.iav szda-njv ßdßoov -i0fvr£; nach der Ana
logie taktischer Ausdrücke (gleichsam als einen Stab hoch) zu erklären,
nicht geglückt ist, zeigen die von ihm selbst angeführten Parallelstellen
deutlich genug; es müsste doch zum Mindesten heissen im [j.(av ras ßdßoou;
xiÖEvrss. Ob mit Krüger piav Ijtl piav oder nicht vielmehr (nach I, 9, 5 oder
III, 11, 14) zccrä piav ly.otarr)V twv ßaßotov zu schreiben sei, will ich nicht
entscheiden. Für sicher halte ich jedoch, dass der Schluss des Satzes
zu lauten hat: zat aü-ns zccrä piav [auv]n0£mi und dass der Zusatz aus
dem vorangehenden ouveiXeo-jui gerade so mechanisch wiederholt ist, wie
III, 36, 17 sXapfiotVc in SVR durch Einwirkung des benachbarten sntXa-
ßfaOai zu OTsXäpßavE geworden ist. Und ist nicht eben dasselbe auch IV,
114 in. geschehen? Oder was ist wahrscheinlicher (denn so muss man
die Frage stellen): dass Herodot den geschlechtlichen Verkehr, den er
sonst immer durch ploysaOai ausdrückt, an dieser einen Stelle durch das
(bei anderen Autoren allerdings nachweisbare) au|j.|A(oy£<j0ai wiedergibt,
oder dass die Präposition aus dem gerade hier vorangehenden trupp. (-
SavTEs (xa arparaaEOa) den Schreibern unwillkürlich in die Feder kam
und er auch diesmal geschrieben hatte: yuvaixa £y<ov szaaTo; -raürrjv rj to
Ttpfitov I p. {y 0 y] ?
*
r
Herodofceißche Studien II. 58 1
sondern die Jugendlichkeit muss hier zum Ausdruck gelangen.
Man schreibe (wie, irre ich nicht, bereits Dietsch einmal irgend
wo vorschlug) tr)v TtpuTVjv y)Xijuy)v und denke sich die Corruptel
aus einer Abbreviatur wie ATHN oder AHN (s. Garclthausen,
Palaeogr. 248 oder z. B. Hermes 17, 181) entstanden. Eine
derartige Annahme hat bereits einmal einer trefflichen Ver
besserung unseres Textes (I, 59 Tpw]zocEou<; statt toütou; ,nempe
utrumque per t scribebatur addita terminatione ou? f , Naber
Mnemos. 1855, pag. 10) 1 zur Grundlage gedient. (Verwandte,
minder überzeugende Vermuthungen desselben Kritikers und des
scharfsinnigen Hehler sieh ibid. 1854, pag. 482 und 1856, pag. 72.)
Dieselbe Schreibung von xptlrojv mag die seltsame Variante der
ersten Handschriftenclasse in H, 79 fin. veranlasst haben (aütrjy
SVK statt TocitYiv xpa)Tv)v.) 2 Und ist nicht endlich auch ein Zahl
zeichen einzusetzen III, 11, 11: vjuav tto “harr, nalSe? ev AquicTW
zaTaXeXe!|i.gevoi (i), wo mir wenigstens die Anschaulichkeit der
Erzählung unter dem Mangel einer solchen Angabe erheblich
zu leiden scheint? Man beachte, dass die Zahl jener Söhne
des Phanes jedenfalls eine beträchtliche war (darauf weisen die
Ausdrücke oiä ixävtwv 3e SieijeAOovrsc und -mm eva sy.aarov töv
itaiSwv unverkennbar hin), und dass es sich um das Schicksal
eines Halikarnassiers handelt, in Betreff dessen unserem
1 VII, 205 5 ist meines Erachtens nothwendig zu lesen: 05 tote rjis es 0eppo-
rcuXa; EJCiXe5ä(j.£vo; SvBpa; xe [xou;] xaxEaxEwxa; xpujxoaloog xai xoioi exuyxavov
7iatSe? eo'vte5, dreihundert Männer von gesetztem Alter“ (vgl. Thucyd.
II, 36) ,und die schon Kinder hatten“, wie Lange vollkommen sachgemäss
übersetzt. Sollte der Artikel, der jedenfalls weichen muss, weil er mit
ijtiXe?ä|j.£vos unbedingt unvereinbar ist (man müsste denn Krüger’s ge
wundene Erklärung billigen: ,die bestehende organisirte Schaar, die
er sich wählte, nicht einzeln, sondern im Ganzen“), vielleicht aus
eben jenem Compendium entsprungen sein, welches diesmal seine richtige
Auflösung gleichsam überlebt hätte?
2 Täuscht mich nicht Alles, so hilft dieselbe Annahme eine auch vom jüng
sten Herausgeber nicht geheilte Corruptel bei Marc Aurel (comment. IV,
33 fin.) beseitigen: — xai Siäfletnj ä<raa£o[j.e'vr| jtcüv xo aupßaTvov, u>; ävayxaibv,
(o; yvthp'.p.ov, co; an’ äp/,% toi 7tptöxr); (statt xoiabxr]?) xai roiyrjs ß&v. Vgl.
insbesondere VIH, 23: aup.ßalvEi xl poi; Bfyopai, erci xou; Geou; avx'pfpojv,
xai xrjv Ttävxwv Jtrjyrjv, ätp’ ■qg jiavxa xd yivopeva auppipuExai. Oder auch
VI, 36: ratvxa exeTGev Ep^exai — xai xb /aapa oöv xo Xe’ovxog — xai
~aax xazoupyia — Exeiviov S7uyevv7{paxa xSv aepvwv xai xaXtov. prj oüv auxä
dXXo'xpta xouxou, ob a^ßeig, ^avxai^ou • aXXa xr]v jtavxtov nrjyrjv EjuXoy(l(ou.
m
582
G om per z.
Historiker gewiss die genauesten Informationen zu Gebote
standen. Durch den Ausfall eines oder mehrerer Zahlzeichen
erklärt sich auch am leichtesten die Lücke, die ich (mit Dobroe)
IV, 153, 6 annehmen zu müssen glaube.
IV, 119, 14: T)v [JI.SVT01 STOY] Z.od SXt T7)V f,|J.£TepT)V ap^Y) T£ äoi-
■/.swv, •/.ai oü -staoptsOa —. Da die Conjecturenfluth, die
sich von Alters her (schon der Sancroftianus, aber freilich
weder V [der oü rceiatbjxeöa hat] noch R, bietet oüx. oiao|/.£0a) über
diese Worte ergossen hat, noch immer anschwillt, so scheint es
nöthig daraufhinzuweisen, dass Letronne 1 (Journ. des sav. 1817,
pag. 90) dieselben bereits vollkommen ausreichend erklärt hat
als pme tournure negative qui equivaut . . . a une aftirmation
energique', = evavTt(n)0Y]aop.e9d oder |/.a/£o6|/.e0a. Ich verweise
ausser auf die von Letronne angeführten schlagenden Parallelen
im Heliasten-Eid bei Demosth. 24, 149; Xenoph. Cyropaed.
IV, 5, 22; VII, 4, 1; VII, 4, 10 — auch auf die allbekannte
analoge Gebrauchsweise von oü-/. eäv, oü-/. emperceiv (im Sinne
von ,verhindern, verbieten'), oü <pr ( [/.t = nego, oü-/ üxoa/voup.at
,ich schlage ab' u. s. w. (s. Krüger 67, 1, 2).
Ich berühre im Folgenden nur mehr eine Anzahl wichti
gerer Stellen aus den letzten drei Büchern. 2
1 Bähr hat bereits auf Letronne hingewiesen und seine Ansicht gebilligt.
Da er jedoch die zuerst erwähnte, vielleicht überzeugendste Parallelstelle
aus Xenophon (rjroi [ra/oupsvou; ye 5) teeujoiHvousJ übergangen und jeden
falls keinerlei Wirkung erzielt hat, so schien es nöthig, dem eingewurzel
ten Irrthum von Neuem entgegenzutreten. Beiläufig, Eltz hat nicht,
wie Stein berichtet, ,vel ol OToiad|j.eOa vel £7teiad[j.E0«‘ zur Auswahl vor
gelegt, sondern die letztere Conjectur nur als eine solche vorgebraclit,
,quae quidem in proclivis est, sed probari non potest 1 . Das r.pwxo'i
i|i£u8os seiner langwierigen, aber diesmal unfruchtbaren Erörterung war
die wohl von den meisten Kritikern stillschweigend getheilte Voraus
setzung, dass roujopai hier das Futur von 7.äa/io, nicht von ji£(0opai sei.
2 Ueber die Bücher V und VI habe ich einst (Zeitschrift für österr. Gymn.
1859, 824—829) ausführlich gehandelt. An der grossen Mehrzahl meiner
damaligen Vorschläge halte ich noch heute fest, obgleich die Heraus
geber selbst die evidentesten derselben, wie zu V, 113 in.: p.a/o|j.=vtov Bi /.ai
Ttov aXXcov (eö) ST7](jriv<op /i£. (vgl. auch II, 169 in.) nicht einmal einer
Erwähnung werth erachtet haben. Die Jugend ist vertrauensvoll, und so
Herodoteischo Studien II.
583
Xerxes spendet bei seinem Besuche von Akanthos den
Bewohnern der Stadt Lob, Anerkennung und Geschenke, cpewv
aÜTOU«; TrpoOugou? sovtac, e? tov ttoXep.ov xa't TO opuypa ^ritcüoovTac)
äv.ouuv (VII, 116). So glaube ich den Satz, dessen Lücken
haftigkeit schon von Valla erkannt ward, am leichtesten und
sinngemässesten vervollständigen zu können. Krüger’s Vorschlag,
av.ouü)v zu tilgen, macht die Rede gusupo?, während Stein (der,
nebenbei, die treffliche Lesart aÜTou: [so SVR] in v.od verwandelt,
welches er aus dem v.al tou? der anderen Handschriften ent
nimmt) der Ergänzungskraft des Lesers Unmögliches zumuthet.
Dass uns dieses Supplement auch von einer völlig vereinzelten
sprachlichen Singularität befreit, kann nur zu ihren Gunsten
sprechen; die sämintlichen angeblichen Parallelen zu xb cpiiygo:
saoüwv, auf welche Stein verweist, sind nämlich unzutreffend;
glaubte ieli damals, was mir nach reiflichster Ueberlegung als zweifellos
sicher erschien, nicht erst weitläufig begründen zu müssen. Es schien
mir genügend, die Aufmerksamkeit der Interpreten auf einen von den
selben nicht wahrgenommenen Anstoss zu lenken und denselben in plau
sibler Weise zu beseitigen. Ebenso wenig ahnte ich zu jener Zeit, dass
die selbstverständlichsten Besserungen seit Jahrhunderten gefunden und
doch für moderne Herausgeber so gut als nicht vorhanden sein können.
Gelang mir eine Emendation, von der die neueren Ausgaben, die ich zur
Hand hatte, nichts wussten, so schloss ich eben hieraus, dass Niemand
vor mir auf dieselbe verfallen war. So war denn meine damalige Literatur-
kenntniss eine recht unvollständige und benütze ich diesen Anlass gerne
um zu bemerken, dass meine Athetese zu V, 55,6 von Jacobs (nach Abiclit’s
Angabe in letzter Auflage), ebenso mein Vorschlag VI, 35,15 aus dem x& der
schlechteren Handschriftenfamilie y( zu gewinnen, schon von Reiske vor
weggenommen war, gleichwie derselbe das von mir aus dem Vindobonensis
entnommene itpcöttov statt j:ptoTov (VI, 57, 3) bereits vermuthet und ebenso
die Richtigkeit der Ueberlieferung in VI, 75 8—9 angezweifelt, aber die
Stelle in anderer (ich denke, minder überzeugender AVeise) zu ord
nen versucht hatte. Ebenso übersah ich es, dass schon Jac. Gronov die
Echtheit von VI, 98 4—6 bezweifelt und dass jedenfalls Kiepert (wenn
nicht auch Andere) vor mir die Unhaltbarkeit des überlieferten Textes
in V, 52, 1 erkannt und zum Mindesten in ähnlicher Weise zu berich
tigen versucht hat (siehe Hermes VI 454). Mich von derartigen Ver
sehen frei zu halten, ist mir Angesichts der Uniibersehbarkeit insbeson
dere der Adversarien-Literatur, des Mangels einer neueren Ausgabe cum
notis variorum und der in diesem Betracht wenig zulänglichen Be
schaffenheit der Stein’schen Ausgabe auch diesmal schwerlich vollständig
gelungen.
m
584
Gomperz.
es sind ausnahmslos Verba des Fragens, Forschens, Nicht
wissens, die mit derartigen Accusativen verbunden erscheinen.
Eine der merkwürdigsten Stellen unseres Werkes, die uns
in die theologischen Ansichten des Geschichtschreibers den
tiefsten und überraschendsten Einblick eröffnet, ist noch von
einer kleinen interpolatoriscken Zuthat zu befreien, die den im
Uebrigen (was auch Stein sagen mag) sonnenhellen Gedanken
in bedauerlichster Weise verdunkelt hat. Zwei vornehme Spar
taner, Bulis und Sperthias, hatten sich als freiwillige Opfer
dargeboten, um den einstmals an den Abgesandten des Darius
verübten Frevel ihres Volkes zu sühnen und so endlich die
unablässig fortwirkende gYjvic des Talthybios, des Ahnherrn der
lacedämonischen Herolde, zu beschwichtigen. Xerxes weigerte
sich das Sühnopfer anzunehmen und so die Spartaner von ihrer
Schuld und deren nachwirkender Strafe zu erlösen. Allein die
Söhne jener Männer erlitten im zweiten Jahre des peloponnesi-
schen Krieges, in Folge des Verraths des thrakischen Königs
Sitalkes, der sie an die Athener auslieferte, von der Hand der
letzteren den schon von ihren Vätern erstrebten Opfertod. Hier
zeigt sich, so ruft Herodot aus, das unverkennbare Walten
der strafenden Gottheit! Er unterscheidet nämlich in der Ge-
sammtheit dieser Vorgänge einen gewissermassen natürlichen
und einen (wie er meint) zweifellos übernatürlichen Theil.
Die göttliche Gerechtigkeit, die keinen Frevel ungeahnt lässt,
gilt ihm als ein Bestandtheil der natürlichen Ordnung
der Dinge, so sehr, dass er sich verwundert fragt, was denn
den Athenern als Entgelt für die gleiche Missethat ,Unerfreu
liches zu Theil ward“ (VII, 133). Gleichwie es dem Griechen
in ähnlichen Fällen nur wie eine natürliche und unvermeidliche
Wirkung der Uebelthat erscheint, dass die Opfer nicht gelingen,
(c. 134), dass die Frauen, die Heerden, das Land selbst seine
Fruchtbarkeit einbüsst, so findet auch unser Historiker es ,nur
recht und natürlich' (x'o oi'y.aiov ouxw sepepe), dass der Zorn des
Talthybios nicht zur Ruhe kam, ehe er seine Opfer gefordert
hatte, und desgleichen, dass er sich, da es einen an ,Boten'
begangenen Frevel zu rächen galt, wieder auf ,Boten' entlud.
Allein, dass dies gerade die Söhne jener zwei Männer waren,
die ohne dem Geschlecht der Herolde anzugehören, freiwillig
den Opfertod gesucht hatten, dass die Spartaner eben sie, Nikolas
Herodoteische Studien II.
585
und Aneristos, als ,Boten' nach Asien sandten, dass der Thraker-
künig wieder eben sie an den Feind verrieth — darin, dass alle
diese zu ganz anderen Zwecken unternommenen menschlichen
Willenshandlungen sich als Glieder in der Kette des göttlichen
Strafgerichtes erwiesen, in diesem wunderbaren Zusammentreffen
(to 8s aup-sosiv), in dieser über die Massen kunst- und planvollen
Veranstaltung nimmt der gläubige Sinn des Geschichtschreibers
den ,Finger der Vorsehung' so deutlich wahr wie nur in wenigen
anderen Begebenheiten (toütc pc. sv tomji OetS-a-ov ipafverat vEveaOac).
(Man vergleiche den verwandten, wenn auch schwächeren
Ausdruck bei ähnlichem Anlass IX, 100: SyjÄa or, xoAXoiut TExpr]-
pfoici eari xoe OsTa twv xpyjYpdTwv, st y.ai tote tjjc outy)? vjpEpY]:; aup-
TclxTOVTO? [so, zweifellos richtig, Reiske] -/.ts.) Und so fasst er
denn schliesslich (VII, 137,25) seinen Glauben an ein unmittelbares
absichtliches Eingreifen der Gottheit in den Ausruf zusammen:
SvjXov 1 Sn pet, oTt OeTov to xp?;Ypa e^eveto. (Diese vortreffliche
Wortstellung, statt e^eveto to xprjYpo:, bieten V und S dar.) —
Die nunmehr folgenden Worte sx. rqq p^vioq aber tilge ich als
ein sinnstörendes, den Gedanken gründlich verderbendes Ein
schiebsel ; denn nicht der erst wenige Zeilen vorher (8id tt ( v
pvjvtv) erwähnte Zorn des Talthybios, der unserem Autor viel
mehr als eine Art von Natur kraft gilt, kann ihm als das
allwissende und allvermögende, jeder Berechnung spottende,
menschliche Pläne und Absichten in seinen Dienst zwingende,
strafende und rächende Princip erscheinen, dessen Walten er
hier ehrfürchtend bewundert.
Den Orakelspruch von der ,hölzernen Mauer' deuteten
manche ältere Leute auf die athenische Akropolis, rj yap dxpö-
TLO/.iq to xdXat twv ’AOyjvswv p'ip/w sxsippo:y.TO’ ol psv er, [y.aTa tov <pporYpov]
auvsßecXXovTo toüto to ijüXivov tei^o? eivai (VII, 142). Mir wenigstens
erscheint diese Athetese ungleich weniger gewaltsam als die
Interpretationskünste, welche hier Stein zur Anwendung bringt:
,dieser Ausdruck, hölzerne Mauer, beziehe sich auf die
Umzäunung'. (Krüger und Abicht wollen nur xora tilgen).
1 Die leichte Anakoluthie erklärt sich vollständig aus der Gemütlisbewegung
des Schriftstellers. Wer dieselbe mitempfindet, müsste es fast verwun
derlich finden, wenn derselbe mit kahler und kalter Correctlieit gesagt
hätte: to 8k aupteaetv — Texpjpto'v p.01 xte.
Sitzungsber. d. phil.-liist. CI. CIII. Bd. II. Hft.
38
586
ßomperz.
Zwei Zeilen später lieisst es: xou? uv ov) vea? Xsyovxa:: stvat
TO ijÜXlVOV TEIX 0 ?-
VH, 143 fin. schreibe ich x'o Bs cugxav elxa: (statt slvai).
Denn die nur hier erscheinende Phrase, in deren Auffassung
die Erklärer weit airseinander gehen (vgl. z. B. Kühner’s
handgreiflich unmögliche Auslegung: ,summam rei in eo verti
aiebant'), lässt sich durch keinerlei zutreffende Analogien stützen,
da die bekannten Verbindungen xo vuv slvai, Tip xpuxv)v slvai,
szoiv stvat, y.axä xoüxo slvai durchaus einschränkende Kraft
besitzen (vgl. Ast lex. plat. I, 625 oder Dobree adv. 25). Der
Gedankenzusammenhang heischt hier vielmehr einen Ausdruck
wie üc ouXXf ( ßBr ( v etxstv, iv'i Bs sxet ouXXaßovxa sixstv (dies III,
82, 6) u. dgl. Nun lesen wir II, 91 in.: x'o 5s ougxav sixstv, gerade
wie bei Thucyd. I, 138 y.ai x'o £ugxav stxstv. Ferner hat genau
dieselbe Corruptel VI, 37, 22 (wo mir Abicht zuvorgekommen
ist) in der Phrase x'o OsXst x'o exo? slxat stattgefunden (vgl. Stein’s
Zusammenstellung zu VII, 162); und wenn endlich die Form
sixai in den Handschriften seltener begegnet — die sie jedoch
mitunter, wie VII, 133, 14 oder VIII, 118, 13, fast einstimmig
darbieten (gleich darauf Z. 16 zum Mindesten SR, und V zu slxs
entstellt) — so mochte sie eben darum Irrungen veranlassen
(s. unsere Erörterung zu I, 31 in.)
VII, 220, 12: toüty) y.ai p.aXXov ty) YvcogY] xXslaxi? sip.t. —
Valckenaer’s Vorschlag, nach der Analogie von I, 120, 14:
y.ai aux'o? S> Mayct xauxp xaeTcxoc y v d)p.vjv sip.t, auch hier den Ac-
cusativ mit oder ohne Artikel an Stelle des Dativs zu setzen,
hätte vielleicht überzeugender gewirkt, wäre man sich der in
derartigen Fällen fast mit der Stärke eines Naturgesetzes wal
tenden Assimilirungs-Tendenz bewusst gewesen. Man vergleiche
die Lesart der Aldina: xp yvii>|j,Y), auch an der zweitgenann
ten Stelle ; desgleichen die handschriftliche Ueberlieferung von
Sophocl. Philoct. 1448: zayto yv(1>|ay] xaux-p xiOsp.at, oder Ari-
stoph. Eccles. 658: y.äya) xa6xr ( v xt0£|j.at. Beide Male hat
Toup das allein mögliche yvoigvjv xo6ty) und xa6xvj yv(I)|AY]V herge
stellt. S. die erschöpfende Erörterung des Gegenstandes bei Bonitz,
,Beiträge zur Erklärung des Sophokles' (Wien, 1856), I, 66—68.
Zu den daselbst angeführten elliptischen Wendungen ist noch hin
zuzufügen Plato Theaet. 202 C: dpsGy.et ouv ge y.ai xi0£aat xaüx-p
(sc. tlvjipov oder yvt&p.Yjv),' — eine Stelle, an welcher seltsamer
Herodoteische Studien II.
587
Weise auch Stallhaum’s wortreicher Commentar stillschweigend
vorübergeht, desgleichen Ast’s lexic. Platonicum. 1
VII, 237 fin.: ouxco uv [ixepi] y.a-/.o'koy'':r l c xrj? ic, AY]p,dpf|Xov,
ecvxo? ep.ou cjei'vou t: e p t, v/jaOai xiva xoü Xoitxou y.sXeuu. Die wunderbar
krause Redeweise entstammt nur Stein’s Wunsch, keinen Bro-
sam von der Ueberlieferung der zweiten Handschriftenclasse
unter den Tisch fallen zu lassen. Die treffliche, von Krüger
adoptirte, Lesart syjcöoc. (in SVR, nicht in R allein!) sollte nicht
angenommen werden, xcpir/eaGat war und blieb unverständlich;
so kam es denn zu jener kritischen Missgeburt! Tiefer Sinn läge
übrigens in Stein’s Verweisung auf VIII, 77 fin. ävxiXoyb)? /p^cp.üv
xept, wenn sie besagen sollte, dass hier wie dort die Hand eines
Fälschers gewaltet hat. Angesichts der Langmuth jedoch, die der
neueste Herodot-Herausgeber gegen jene von Krüger ausgeschie
denen Abschnitte: VII, 238, VIII, 77, IX, 83—84 an den Tag
legt, will ich nur meine Ueberzeugung aussprechen, dass der
letztgenannte Kritiker im Ganzen wie im Einzelnen vollkommen
richtig geurtheilt hat, und dass die das herrliche Geschichtswerk
geradezu schändenden, theils blödsinnigen, theils arglistigen
Fälschungen schleunigst aus demselben zu entfernen sind. Auch
an einer anderen Stelle ist die Präposition zspt aus dem Texte
auszuschliessen, VIII, 26 fin. in dem Satze: xazai MapSovte, xoiou;
stt’ ävopa;; fjp.ccc vjyayec, oi ob —epl /pvjp,äx<i)v xbv äywva xxoisuvxat äXXa
~spi apcx^i;. Denn obgleich diese Verbindung weder sinn- noch
sprachwidrig' ist (vgl. Thucyd. V, 101: ou yap xepl avopayaOG? ö
äywv zxi), so wird man doch der Autorität der ersten Hand
schriftenclasse Folge leisten müssen (xspl om. SVR); zu dieser
Wendung bieten die Verse der sophokleischen Elektra 1491—
1492 eine genau zutreffende Parallele: Xoywv yap ou j| vuv eoxtv
äyüv, äXXa v^ept. Irre ich nicht, so ist einige Zeilen
vorher das Wortaiei einzusetzen und zu schreiben: oi B’ ebxov xjjs
iXa!r ( c xbv (aiei) BiB6p.svov oxg<pavov. Den Ausfall desselben Wortes
vor derselben Silbe hat Valckenaer (mit vollem Rechte, wie ich
1 Ein schwer zu lösendes Räthsel gibt uns übrigens hier die Lesart der
ersten Handschriftenclasse auf (pyXos nach dpi SVR). Sollte darin ein
mit päW.ov zu verbindendes xoXXö; stecken, welches durch jiAetaxo? ver
drängt ward? Auch der Comparativ begegnet in derselben Redensart bei
Lucian. Demostli. encom. §. 4: si xal r.Uiuv Espi xr]v yvwpr)v (worauf
Valckenaer verwiesen hat).
38*
588
Gomperz.
denke) IV, 162, 4 vermuthet: -r, 34 Xagßavouaa xo (aiei) SiSogevov
xaX'ov |AEV £fl\ XXE.
VIII, 53 in.: — ypövw 4x xüv axopwv s<pavy; Sr, xt? ecoSop xolci
ßapßapoic: v.xe. Hier liegt, wenn mich nicht Alles täuscht, dieselbe
uralte Buchstabenverwechslung vor (von 5 und I), vermöge
welcher VII, 130, 12 Saw, wie Schäfer erkannte, in lijoi oder bei
Sophokles Oed. R. 1483 (Nauck) xpouceXy;t7av in xpou^vvjaav ver
wandelt ward. Denn wenngleich im Folgenden die Entdeckung
und Benützung eines unbewachten Zuganges zur Akropolis er
zählt wird, so kann dies doch nicht mit einem ganz verschiedenen
Gedanken : der Befreiung der Belagerer aus den Nöthen und
Verlegenheiten, die sie ringsum wie ein Wall oder eine hem
mende Fessel umgaben, in der Weise verschmolzen werden, wie
es durch die gegenwärtige Textgestalt geschieht. Man vergleiche
das unmittelbar Vorangehende: — Esp^v ex'i ypövov auyv'ov axo-
ptr)ct sveyeoGai, ou Suvdgevbv aaeaq eXeTv mit der unbildlichen
Anwendung desselben Ausdrucks IV, 43, 22: xo xXolov xo xpocrio
ou Suvaxbv Ixt elvai xpoßaiveiv aXX’ svioyEoGai, oder mit den ver
wandten Stellen: IV, 131 in.: xeXo? Aapeib? xe ev axopirjai slyexo
und I, 190 fin.: Kupo? 3s axopfflai eveiyexo ypovou xe e-ppvogevou
ouyvoü dvwxspw xe ou3ev xöv xpYjyp.dxwv xpoxoxxop.evo)v — (auch I, 24
8 : dxäiX^Öevxa 3e xov ’Aptova iq dxopi'^v). Mit dem von uns ver-
mutheten: — sy. x£5v axopwv e<pavr, Sn) xip E^oSop xxe. vergleiche
man aber Eurip. Helen. 1022 (Nauck): aüxot gev ouv xiv’ e^oSöv y'
EÜpioy.exE (= gYjyavrjv ou)xr,pta<; 1034) oder auch Aeschyl. Prometh.
59 (Dind.) : Setvoc yap eupelv xai; dp.Y)yavwv xöpoup.
VIII, 83, 24 ff. glaube ich, wie folgt schreiben zu müssen: —
xporj-fopeue eu eyovxa p.lv Ix xavxwv 0ep.icxoxXer]<;. xd oe sxea vjv xdvxa
(xd) xpscrow xotai rjaooot ävxixiOep.eva, oca [ovj] 1 ev ävOpmxou ©6a y.a:
xaxacxäoi iyylvstai• xapatveaa? er, xouxwv xd xpeaow odpeecOy. xxe.
1 Die, von der zweiten Hand des Mediceus abgesehen, einstimmige Ueber-
lieferung der Handschriften bietet hier 8i, das aus falscher Auffassung des
Zusammenhanges entsprungen scheint und mithin besser getilgt als ver
ändert wird. Das 8v) nach xapatveaai; aber mit dem Passion, und Florent.
in 3i zu verwandeln und hierdurch das eng Verbundene zu trennen,
scheint keineswegs räthlich. xd nach xdvxa setzt, wie ich nachträglich
sehe, auch Dobree ein (advers. 41), der im Uebrigen die Stelle meines
Erachtens nicht richtig verstanden hat.
Herodofceischo Studien II.
589
Den Inhalt der Rede bildete die erschöpfende Gegenüber
stellung aller besseren und aller schlechteren Motive, die auf den
zu fassenden Entschluss einzuwirken vermochten. Zum besseren
Verständniss der vielfach (auch von Rawlinson, der ein aisi vor
aipeeaOa: einschicben zu wollen scheint) nicht richtig gedeuteten
Worte dient vielleicht die Anführung einer bisher nicht be
achteten Parallele aus Demosthenes: ev Se xvj xwv za0Y][/ivwv uptov
evcc Ezaoxoo Yvdip.r) yiXavDpwiu'a :rpb? <p0ovov zai Stzaiooüvr] yrpb? zaziav
zat 7ravxa xä ypvjoxa trpb? xa x:ovv;p6xax’ ävxixäxxExai. wv xot? ßeXxio«
■x£i06|j,Evot zxe. (adv. Leptin. 165 und 166).
IX, 15, 16: ev0auxa 8e xwv 0r]ßa!uv zabrep jJW)St£övxwv ezetpe
xou? ywpouc, oiixt zaxä ey0o? abxwv aXX’ bz’ ävayzaiv)? pEystky;? £^cp,evo?
k'pup.a x£ xw oxpaxozeSw TtowfcaaOai, zat y)v cupßaXovxt oi pw) ezßai'vr]
öy.oTov xi eOsXoi, zp£c<piY£xov (xwbxb) xoüxo stoieexo. Diese Ergänzung
dürfte sich ohne weitere Befürwortung von selbst empfehlen. 1
IX, 17,10: — ep/qSt^ov yap oyj otpoopa zat obxot, ouz ezovxe? aXX’ bz’
ävayzaiYjc. Den Widersinn dieser Ueberlieferung, an sich und im
Verhältniss zum Vorangehenden (p.ouvo: Be Owzes? ob ouvEcsßaXov) so
wohl als zu dem, was c. 31 erzählt wird, hat bereits Schweighäuser
gebührend hervorgehoben. Doch ist die Heilung des Schadens
sicherlich nicht in der Tilgung von oooopa, sondern in der Be
seitigung von szovxe? zu suchen: ep/qbt^ov yap Br) zai obxot, ob 2
acpoSpa aXX’ tm' ävayzabjc. Was man nothgedrungen thut, das ge
schieht eben mit Lässigkeit, nicht mit Eifer. So heisst es auch VH,
172: ©ecrcraXot Sb bx’ ävayzaty]? x'o xpwxov Ep^Sicav, weiterhin aber
(174): ©EaoaXoi Be £py;p,w0Evxe? ct41.pt.aywv oöxw Br; Ept/ijBtcav xpoObpw?,
obS’ ext evBotacxw?. — Was Wunder aber, dass ein pedantischer
Corrector der, wie er denken mochte, unzureichenden logischen
Strenge dieses Gegensatzes in seiner Weise zu Hilfe kam, wobei
es ihm jedoch glücklicher Weise nicht gelungen ist, das Ur
sprüngliche (<j©68pa) ganz und gar aus dem Texte zu verdrängen.
1 Aehnlicli Krüger: ,Oder xwtko ohne sxotfexo? 1
2 Die Verneinungspartikel vor oyo'Spa einzusetzen, aber auch nur dies,
empfahl schon Letronne (Journ. des sav. 1817, p. 92) mit dem Bemerken:
,Ce dernier passage paroit inintelligible, si l’on n’insbre pas la nÄgation
(ou); la ressemblance de 8 et de a aura causÄ l’omission: ou acpöSpa est,
ä la lettre, notre pas beaueoup, qui signifie trbs-peu.‘ Doch ist
damit weder die Stelle verständlich gemacht, noch die Entstehung der
Corruptel in glaubhafter Weise erklärt.
590
Gomperz.
IX, 79, 24 schreibe und interpungire man wie folgt:
Aeuv(är) Be, xtp ge xeXeieti; xtp.wpricai, psydAwc TextpuoprjcGar t|«j-
yrjai ys (xe die Hss.) xflci xwvBe ävaptGp.qxoitjt xexi'[M)Tai xxe. Ver
wunderlicher Weise haben die Herausgeber, so viel ich sehen
kann, an der überlieferten Fassung des Satzes keinen Anstoss
genommen, die Uebersetzer hingegen die Verbindungspartikel
entweder ignorirt (Stein), oder durch .denn' ,nam‘, Rawlinson
sogar durch ,surely‘ wiedergegeben. Ebenso ist IX, 42, 22 das
von SVR dargebotene xe in ye zu verwandeln: cwxoc ye M«p86vco?
eXeye (vgl. was Eltz a. a. 0. 128 und 129 zusammengestellt hat.)
IX, 82, 8: Uauaavriqv 2>v opeovxa y.eXeÜGat xoü; ts äpxo'/.oxouc y.at
tou? otpoxotou; v.a~y. xaüxä [y.aGtbi;] Mapooviw Betxvov xapaazeua^etv. Das
der herodoteischen Sprache fremde y.aGwc haben Schäfer, Bredow,
Stein in verschiedener Art zu emendiren versucht. Räthlicher
scheint es, die Partikel (mit Abicht) zu tilgen und die Verbindung
y.axa xauxä MapBovtto in der bekannten brächylogischen Weise zu
verstehen, in der man auch von einem Beixvov op.oiov Map8ov(w
oder xpelatjov Mapooviou sprechen konnte. Vgl. Krüger 48, 13, 9;
47, 27, 5 und 28, 7, wozu sich eben aus Herodot noch gar
Manches beibringen liesse, wie z. B. IV, 46 in.: ywpetov xacetov
xapeyexa: eGvea äpaGeaxaxa oder ebenda ootpiGxaxa xavxtov e^sup^xai
xtov rjiJ.eXg lopsv. (Vgl. auch unsere Erklärung von III, 65, 15, oder
Stein’s Nachweise zu I, 172 und H, 127.)
IX 94, 8 : — o\ Be ’A.xoXXtovi7)xca axöppvjxa xonjcdpevot xpoeGeuav
xtov doxwv avSpctci (xptat) Btaxpvjijai. — Eine quantitative Bestimmung
ist hier schwerlich zu entbehren, während eine grössere Zahl
durch den geheimen Betrieb der Angelegenheit unwahrschein
lich gemacht und durch den Fortgang der Erzählung (eXOovxe?
6i xaptTovxo und ot Be xapeBpst) ausgeschlossen wird. Vgl. IV, 68 in.
xtov pavxttov avBpac xpeh; oder VIII, 135, 2—3: xtov acxtov atpexou;
avopa? xpeit? —.
IX, 99, 14 —15: exoieov Be xo6xou elvexev, iva iy.xbq xoö
cxpaxoxeBo'j etoat. Der durch die Unvollständigkeit und Aerm-
lichkeit des Ausdrucks gleichwie durch den ganz unmotivirten
Subjectswechsel auffällige Satz erweist sich nicht nur als völlig
entbehrlich (zwischen wc exiGTapevoiat B770sv paXtcxa xr,v ytop-tjv und
xouxou; p.ev ’ltbvtov — xpoetpuXaa-crovTO 01 llepaat!), sondern er
widerspricht auch dem, was cap. 104 gesagt wird: exocyO-tjaav
p.ev vuv exi xoöxo xb xprjYp.a ot MiXifatoi xouxou xe etvezev zal tva
Herodoteisclie Studien II.
591
|j,Y) xapeovxsi; tw axpaxoxESo) Tt veo^p-bv xqieoiev. Ich halte ihn für
einen erklärenden Zusatz, der aus dem Rande in den Text
gedrungen ist. 1
Ebendort (cap. 104) begegnet uns m. E. eine andere derartige
Zuthat in dem Satze: za! teXo? aüxo! <791 sywovxo [zx£i’vovxeg| ■ko'Kb-
p.u&xaxot. Das eingeklammerte Wort ist, wenn es nur erklären
soll, zu viel und, wenn es anschaulich schildern soll, zu wenig.
Mich dünkt es räthlicher, dasselbe zu tilgen, als etwa (denn
auch daran könnte man denken) zu schreiben : — xoXepuwraxo'.
ZTEIVOVTE; (zai SlWZOVXE?).
Im Folgenden: pd] za! xplv zaxstza^ouafl (zaxeizcc^ouaa die
Hss.) xd -pvop.eva oüxw ExeupE0rj xrpYjcrGtuv, halte ich es nicht für zuläs
sig, mit der Aldina und der Mehrzahl der neueren Herausgeber
(worunter Bekker, Stein, Krüger, Abicht, Dindorf, aber nicht
Gaisford) ein Anakoluth wegzuemendiren, welches nicht erstaun
licher ist als jenes, das III, 16, 6—7 von den Handschriften
1 Im Beginn des folgenden Capitels ist die unpersönliche Construction
u>S St apa jxapEoxEuaaxo xotai "EXXrjai (so, wenngleich zweifelnd, Reiske
und Bekker) vor Alters missverstanden und durch das zum Belmfe der
Erklärung beigeschriebene rcapEaxsudSaxo (sc. oi ‘'EXXrjvEc) verdrängt worden.
Dass dies der thatsäcliliche Hergang war, erhellt aus der von keinem
Herausgeber, wohl aber von Miklosich (Subjeetlose Sätze, 61) angeführten
Parallele aus Thucydides I, 46, 1 (siehe daselbst Krüger): sjiEiSr) aüxoT;
jxapEazEÜaaxo. Stein glaubt die Ueberlieferung dadurch retten zu können,
dass er auf den Plural — nicht des Verbum, sondern der Adjectiva
in ähnlicher Construction (Thucyd. H, 3 Ins! os — Ixotpa ^v) hinweist!
Wie oft subjeetlose Sätze von den Interpreten noch heute missverstanden
werden, dies können Stein’s Anmerkungen zu IH, 80 in. oder zu III,
113 in. lehren, wonach in dem Satze: xkö^si Se x% yojprj;—öeotee'c.ov cü;
rjSu das letzte Wort das Subject sein soll! — IX, 33 in. lesen wir: d>;
oe apa jxavxE; oi ETExdyaxo xaxa (xe SVR) eöveo: xai teXe«. In SVR fehlt
jedoch Tidvxs;, was den Gedanken nahe legt, es möge auch hier eine sub
jeetlose Construction zuerst missverstanden, dann verdrängt und schliess
lich in der zweiten Handschriftenclasse bis auf die letzte Spur verwischt
worden sein, genau so, wie dies an der oben besprochenen Stelle ge
schehen wäre, wenn etwaReiske’s Alternativvorschlag, k«vt« einzusetzen,
von einem alten Corrector anticipirt und ausgeführt worden wäre. Ist
diese Combination richtig, so fehlt dem also gewonnenen: w; 8 e apa o i
etetaxto auch nicht eine genau zutreffende Parallele in dem (gleichfalls
von Miklosich ebendas, angeführten) Satze: <I>? 8e 091 StExfxaxxo —.
(VI, 112 in.) Man erinnere sich auch unseres Besserungsvorschlages zu
HI, 82.
592
Goniper z.
dargeboten und von den Interpreten nicht mehr angefochten
wird: IIepcttjai pev 81’ oirsp El'pY]xai, 0ew ou otzacov slvai Xeyovxs?
(wo die Aldina gleichfalls Xsyouat herstellte; vgl. daselbst Stein’s
und Krüger’s Hinweise, insbesondere auf IV, 132, 15 und VIII,
74, 19-20).
Artayktes setzt sich durch betrügerische Vorspiegelungen
in den Besitz des schätzereichen Heroon des Protesilaos
(IX, 116, 19): Xe-pov Sep^Yjv SisßdXsxo. ,Sscxoxa, eoxi
oixo? <xv8p'o? "EXXyjvo? evOauxa, o? exi pjv cf,v axpaxEuadp.Evo? bay;?
x.upvjaa? a7i£0av£‘ xoüxou p.ot Sb? xbv olz.ov, iva v.m xi? |Aa0r) &id pf'
xt)v cr;v p.i) crxpaxeusaGaf. xauxa Xsywv euttexew? ejj.sXXe ävarsiasiv Ssp^v
[Souvat avSpo? oTy.ov], cuSev raoxox7]0EV7a xöiv ez.eTvo? eifpivss. Wer den
bisherigen Ausführungen nicht ohne Billigung gefolgt ist, für
den bedarf es keines Beweises, dass dieser Stelle durch unsere
Athetese und nicht durch irgend welche Anwendung kritischer
Kleinkunst (,SoOv«t oi xou avSpo??* Stein) aufzuhelfcn ist.
IX, 119: Oioßaipv p,sv vuv r/ysüvovxa (1. sx^uvivxa mit SVR,
Schäfer u. A.) s? xf ( v 0pv)ty.r;V 0p//.y.sc ’AipivO'.ot Xtzßovxs? s'0uaav HXi'.-
OXWpW rär/WplU 0£ü> XpOTCW XÜ GfpEXEpü), xou? Se |A£X’ SZEl’vOU aXX(j)
Xpbltw EipOVEUGOW.
Man fragt sich hier zunächst, warum denn die Gefangenen,
die nicht geopfert wurden, alle auf gleiche Weise sollen getödtet
worden sein; und ferner, weshalb Herodot diese Art der Hin
richtung nicht, wenn sie kein besonderes Interesse darbot, un
erwähnt Hess, andernfalls aber, wenn sie durch ihre Grausam
keit oder irgend einen anderen Umstand bcmerkenswerth war,
nicht klar und deutlich bezeichnet hat (durch xou? Se psx’ sy.si'vou
avsazoXoirtaav oder etwas Aelinliches). Die zwei Worte entstam
men meines Erachtens dem Ergänzungsbestreben eines Lesers,
der den wahren Sinn der Stelle nicht verstand : ,die Thraker
opferten den persischen Flüchtling einem einheimischen Gotte,
und zwar nach den Bräuchen ihres Volkes, seine Begleiter aber
tödteten sie (schlechtweg)'. 1
1 Dass im Folgenden xou vor co; xarsXajxßavovro zu tilgen ist, scheint mir
selbstverständlich; der die Construction störende Zusatz ist hier eben
bereits in den Archetypus eingedrungen, wie V, 87,17 in den Stamm
codex der schlechteren Familie, Zeitschr für österr. Gymn. 1859, 826.
Auch bei Abicht fehlt die Partikel im Texte, man weiss nicht, ob ab
sichtlich oder zufällig, da das Variantenverzeichniss darüber schweigt.
Herodoteische Studien IT.
593
IX, 122 in. spricht Artembares zu Cyrus: ,£itei Ze'ui; Ilep-
(7Y]ct v)Y£|i.ovi’r;v StSot, ävSpfiW oe cot Küpe, xaxeXa)v ’AcTuotYYjv, <pepe,
Y'^v y«P E'/.r^p.cOa oXiyvjv y.xld Der Schicksalsumschwung, welcher
die Perser zum führenden und herrschenden Volk erhoben hat,
wird begreiflicher Weise der Gottheit oder dem obersten Gotte
zugeschrieben ; dass aber auch der Sturz des Astyages nicht
dem Cyrus als dem unmittelbaren Urheber dieses speciellen
Ereignisses, sondern der entfernten obersten Ursache aller irdi
schen Vorgänge beigelegt wird, dünkt mich in hohem Masse
befremdend. Dieser Anstoss würde beseitigt, wenn wir mit S
und einem Palatinus (denen Abicht folgt) ab an die Stelle von
aoi setzen dürften. Und in der That scheint uns nur die Wahl
zu bleiben zwischen der Annahme dieser alten Conjectur (denn
etwas Anderes ist sie nicht) und der Athetese jener zwei Worte,
die sehr wohl von einem male sedulus lector (mit oder ohne
Rücksicht auf VII, 8a: eiterte TxapsXaßop.sv xrjv -rjyejj.ovtyjv xy)vo£
irapa MvjSwv, Kopou '/.axskovxot; ’Acxuayviv) an den Rand ge
schrieben sein können. Ich ziehe die letztere Alternative vor,
weil es dem Sprechenden, der von Cyrus nichts Geringeres
verlangt, als dass er den Persern neue Wohnsitze anweise,
mehr darum zu thun sein muss, die Grösse seiner Macht
als jene seines Verdienstes hervorzuheben. 1 Statt s/_wp.Ev
und x/ovxec im Folgenden bieten SVR a/wp.sv und 'iyp'nuq dar,
zwei sinngemässere Lesarten, von denen auffälliger Weise nur
die erstere bisher (bei Krüger und vormals hei Stein) Billigung
gefunden hat.
1 Sprachlich ist die eine Auffassung- und Schreibung so zulässig wie die
andere; denn durch avöptov können ebensowohl die Einzelnen im Gegen
sätze zur Nation wie die Menschen im Unterschiede von Göttern
bezeichnet werden. Vgl. Herod. IV, 46, 19—20: oute yap sOvo? — oute
avopa XT§. VIII, 93 in.: — fycouaav 'EXXrjvcov apiara AiyivfjToci, etu 8e ’AOrjvatoi,
avSpöSv Bk IloXuxptio'i; ts xtsL IX, 71 in.: ’HpfaTEuaE 8s ttov ßapßaptov t:e^o;
(xlv o nspas'tov, Ytc7üo$ Bk Sax&ov, av7jp XsyETat MapBovio?. Hingegen A 761:
7tavT£<; eu^eto'cuvto Ostov All, NivTopi t 1 avSptov.
Excurs I.
Ae in apodosi bei Homer.
Bei der Behandlung derartiger Probleme ist die sachgemässse Classi-
ficirung der Einzelfälle mehr als die halbe Lösung. Ich glaube, das bei
Lahmeyer (s. oben S.552) vollständig zusammengestellte Material nach grossen-
theils verschiedenen Gesichtspunkten wie folgt gruppiren zu müssen.
Ilias.
I. Ae im Nachsatz als Wiederholung derselben oder einer
anderen Adversativpartikel des Vordersatzes : A 58, 137, 324 (= 137);
B 718; A 212 (vorher mittelst 8e angereihter Zwischensatz, nach Nikanor’s
wohl richtiger Auffassung); E 439; Z 475; 11 149, 314; 1 167 (gehört kaum
hieher, wie denn Bekker die Stelle parataktisch auf fasst und interpungirt; ist
nicht av in pkv zu verändern: d 8’ aye, rou; pkv kyouv sKtoJiopa'. ■ ol 8k TtiOkaGmv ?),
301; A 268, 409, 714; M 145 (wenn nicht vielmehr arap— als Wiederholung
von aurap der Protasis — den Nachsatz beginnt); 0 321 (vorher mit 8k an
gereihtes Satzglied), 745; fl 199, 264, 706; P 733; 2 545; T 55; T 448;
l I> 560; 858; Q 15, 445 (vorher Zwischensatz mit ok).
II. Temporale Perioden: A 194 (vorher mittelst 8k angereihter
Schluss der Protasis); A 221 (wo Nauclc in den Addend. ändern will); K 507
(nahezu = A 193—194 und P 106—107); RI 375 (vorher Zwischensatz mit 8k);
N 779 (wenn anders nicht rou8’ [Wolf, Nauck] zu lesen ist); 0 343 (wo Nauck
ändern will), 540; P 107 (106 = A 193 und 107 = A 221); S 258 (wo Nauck
gleichfalls ändern will); *F 65 (nach längerem Zwischensatz).
III. Temporale und relative Doppelperioden: B 189; I 509,
511; I( 419 (die Doppelperiode zwar verschrumpft, aber als einziger Fall
einer Relativperiode doch wohl besser hieher, als unter II zu stellen), 490;
M 12; V 42 (falls die Lesart xoypu 8’ die richtige ist), 48.
IV. Gleichnisse oder analoge Wendungen: Z 1.46; 1 1 F 91 (wenn
nicht etwa Bekker’s Interpunction den Vorzug verdient).
1 Die Schreibung rofr; 8k, welche Lahmeyer pag. 36 n. ,pro vulgato hucus-
que roujSe’ empfiehlt, steht schon in Bekker’s erster Ausgabe; es war,
wie die Scholien lehren, Aristarch’s Lesart. Befremdlich ist es, dass
Lahmeyer ebendaselbst (pag. 37) die lange Reihe der mit aurap snef
beginnenden Stellen anführt, ohne zu erkennen, dass das apodotische 6k
durch aurap bedingt ist.
Herodoteisclie Studien II.
595
V. Eigentliches Anakoluth, durch begrifflichen Gegensatz (8^
= äXXd) oder die Construction störende Zwischensätze veranlasst: A 161 (5i
= aXXd, nach efaep, wenn anders die Conjectur 8^ statt ti begründet ist),
262 (gleichfalls nach E'ijtep, vgl. aXXd analcoluthisch nach e! oder e’ijcep, z. B.
A 82 oder M 349); M 240 (desgleichen); <I' 53 (scheint eher hieher als unter
I zu gehören); V 463.
VI. Zweifelhafte oder doch völlig vereinzelte Fälle: B 322
(fällt weg, wenn Nauck 321 mit Recht atlietirt hat); li 261 (mag reine Para
taxis sein, nach a?); X 381 (gehört 3’ jedenfalls nicht zum Nachsatz, auch
wenn man es nicht mit uns für unerlässlich hält zu schreiben ela &yet’, w ^ e
o 832, s. S. 551); M 1 ' 321 (würde unter III gehören, wenn nicht der Sinn, w r ie
ich denke, Nauck’s Aenderung: aXXo; pkv erheischte), 559 (s. ebend.).
Odyssee.
I. y A74; e 444 (falls nicht Bekker’s und Nauck’s Interpunction Bil
ligung verdient); £ 100 (wenn rai 3’ ap — gegen Bekker und Nauck — zu
lesen ist); r; 47, 185, 341 (falls wrpuvov 6’ — wieder gegen die zwei letzten
Herausgeber — zu lesen ist); 0 25; : 182, 311 = 344; '/. 112, 366, 571; X 35,
387 (falls die Stelle in Ordnung, s. S. 552); p 54 (kann auch zu V gezogen
werden), 164 (mit 54 fast identisch), 182; v 144; o 304, 439, 502; t. 274
(lässt sich auch zu V ziehen); a 60 (falls nicht mit Nauck und einem Tlieil
der Handschriften 8’ oder mit Bekker die Protasis zu tilgen ist); <p 255, 261,
274; 458 (wenn nicht 8f mit Nauck zu beseitigen ist; ich möchte den
Nachsatz erst mit 461 beginnen lassen); tc 205, 422, 490.
II. y 10 (nach oi im letzten Theile der Protasis); 8 121 (120 = A 193);
e 366 (365 = A 193), 425 (424 = A 193); 0 540 (wenn nicht, mit Nauck,
toüS’ zu schreiben ist); /. 126; p 359 (wenn die Verse nicht mit Nauck zu
athetiren sind); u 57 (u 56 = 1 P 62; der Gegensatz der Personen und der
Handlung kommen vielleicht gleichfalls in Betracht), 77 (wo auch der Zwi
schensatz nicht wirkungslos sein mag).
III. i 57; X 148, 149; t 330 (wenn nicht tm8e mit Nauck zu lesen ist).
IV. j; 109.
V. X 592 (Ausdruck getäuschter Erwartung); 5 178 (desgleichen), 405;
o 546 (erinnert an die herodoteisclie Gebrauchsweise); c 62; •/ 187 (Hesse
sich auch unter II stellen, doch entscheidend wirkten wohl die Zwischen
sätze), 217.
VI. 8 832 (s. S. 551); p 42 (vielleicht twS’ zu lesen, sonst tü> 8’ nach
wie sonst nur in Doppelperioden.)
Man sieht,-wie sehr nach Ausscheidung unserer Classe I die Zahl der
Fälle zusammenschwindet, wie viel auch von dem Rest auf formelhaft wieder
holte Wendungen fällt und wie zahlreich die speciellen Entschuldigungen,
insbesondere bei den Instanzen unserer (vielleicht am wenigst, feststehenden)
Nr. II sind. Doch diesen Gegenstand hier weiter zu verfolgen, liegt mir
ferne. Nur gegenüber Lahmeyer’s mir völlig unglaubhafter Annahme ,8^ par-
ticulam in apodosi positam respondere particulae p^v in protasi 1 (pag. 13)
möchte ich darauf hinweisen, dass in vier von den sechs Fällen, die derselbe
596
Go mp er z.
namhaft macht — über die zwei räthselhaften, auch durch die Verwendung
anderer Partikeln aus dem Rahmen der Normalfiille heraustretenden Instanzen
s, S. 551 — dem pkv der Protasis sicherlich nicht das 8k der Apodosis, sondern
ein nachfolgendes aXX’ oxe 8r) (I 553), auxap ejeei (ÜI 13), vuv Sk (£ 261) und rjpo; 8’
(i 57) entspricht. Dass dies sich wirklich so verhält und die Aufeinanderfolge
keine zufällige ist, kann das Fehlen jenes pkv in den sonst genau analogen
Temporalperioden lehren. Und verlangt endlich Jemand nach einer geradezu
entscheidenden Crucialinstanz, so findet er auch diese in A 84 ff.:
otppa p e v jjw; xal äkljsxo ispov rjpap,
xocppa paX’ aptpoxkpwv ßkXs’ ijarETO, jccute 8k Xao; ■
^po; oe Spuxopo; ~sp avrjp oaXiaoaxo Seüivov xxe.
verglichen mit i 56 ff.:
ocppa pkv 7]m5 qv xal akljsxo lEpöv ^pap,
xotppa 8’ äXsljdpEVot pkvopsv jiXkova; r.ep sovxa; ■
^po; 8’ rjdX’.os pEXEviaaExo ßouXuxo'voE xxl.
Von den zehn hesiodeischen Stellen, die Lahmeyer gesammelt hat, fallen
sechs (0 58, 609, 800; ixrj 284, 333, 363) unter unsere Rubrik I, eine (0 600)
unter IV, eine (ex^ 681) unter V •— indem, wie ich meine, die zu einer
Periode erweiterte Protasis das Fallenlassen der subordinirten Construction
veranlasst hat — zwei endlich (0 155 und Ixrj 323) sind in kritischer Be
ziehung ebenso anfechtbar wie angefochten. Die zwei gesicherten Instanzen
aus Elegikern und Jambikern endlich vertheilen sich auf I (Tyrtaeus 12, 27)
und IV (Theogn. 357 — wo die Wiederholung des 8k aus der Protasis ge
rade wie bei Hesiod die alterthümliche Kühnheit mildern hilft —); dahin
gehört schliesslich auch Archiloch. 32, falls die Anführung bei Athenäus X 447 h
ein abgeschlossenes Satzgebilde darbietet.
Excurs II.
Ermangelt Herodot’s Werk einer abschliessenden Redaetion? 1
Ueber diese im Laufe der letzten Jahre viel behandelte Controverse
mögen hier noch einige kurze Bemerkungen Raum finden. Es kommen hierbei
insbesondere die nachfolgenden Punkte in Frage:
1. Die Wiederholung von 1,75 in. in VIII, 104 (S. Rawlinson I 3 ,
33). Die meines Erachtens richtige und endgiltige Lösung dieser Schwierigkeit
hat schon Valckenaer gegeben: die letztere Stelle ist interpolirt. Zu
den diesmal wohlbegründeten Bemerkungen Stein’s (zu VIII, 104 comm.
Ausg.) tritt noch als vielleicht entscheidendstes Argument die Thatsache,
dass die bessere Ueberlieferung (SVR) statt cupcpkpExai das blosse cpkpsxai
1 Ich fasse hier KirclihofFs stillschweigende Voraussetzung, das nicht zum
Abschluss gediehene Geschichtswerk entbehre auch der letzten styli-
stischen Feile, und Heinrich Stein’s ungleich anspruchsvolleren Versuch,
Spuren des ursprünglichen Werdeprocesses oder einer späteren Neu
bearbeitung des Werkes aufzuweisen, in eine Besprechung zusammen.
Herodoteische Studien IT.
597
bietet (= fertur), eine Gebrauchsweise, die — nach dem Ausweis der Wörter
bücher wenigstens und soweit auch meine Kenntniss reicht — der älteren
Sprache durchaus fremd ist.
2. KirchhofFs Folgerungen (Abfassungszeit 2 , 3 If.) aus I, 100 und I, 184:
Herodot soll in Folge einer längeren Unterbrechung der Arbeit seine dort
gegebenen Versprechungen einzulüsen vergessen und — wie wir hinzufügen
müssen — diesen Widerspruch niemals bemerkt und berichtigt haben. Hier
wünschte man zu wissen, wie sich Kirchhoff mit einem Einwurf abgefunden hat,
der viel zu naheliegend ist, als dass er einem so scharfsinnigen Forscher hätte
entgehen können. Wenn wir eine liegen gelassene Arbeit wieder aufnehmen,
pflegen wir doch zumeist das vorher Geschriebene durchzulesen; wie konnte
der Verfasser eines Geschichtswerkes, dessen Composition eine so überaus ver
schlungene ist, dies zu thun unterlassen? Und wenn er sich wunderbarer
Weise dieser Unterlassungssünde schuldig gemacht hatte, wie kann das noch
grössere Wunder glaubhaft werden, dass er in seiner ganzen weiteren Lebens
zeit nicht dazu gelangt ist, jene Partie seines Werkes anzusehen und sein
voreilig gegebenes Versprechen mit einem Federstrich zu tilgen? Anstatt
diese und andere kaum geringere Unwahrscheinlichkeiten hinzunehmen, glaube
ich vielmehr mit Stein (Einleitung 4 , S. XLV—XLVI) und Anderen, insbe
sondere mit ßawlinson (zu I, 106) an die Abfassung und selbständige Existenz
der ’Actnipto: Aoyo:.
3. Nicht haltbarer erscheinen mir die Consequenzen, die Kirchhoff
a. a. 0. aus I, 130 ableitet. Denn es heisst, wie ich meine, nicht, ,den Ge
schichtschreiber . . einer thöricliten und durch nichts gerechtfertigten Willkür
zeihen“, wenn wir annehmen, er habe den Aufstand der Meder gegen den
ersten Darius zwar einer beiläufigen Erwähnung, nicht aber einer ausführ
lichen Schilderung werth erachtet. Beruht doch der ganze Plan seines Werkes
auf einer fortwährend mit vollem Bewusstsein (vgl. VII, 96 und 99) geübten
strengen Sonderung des Wesentlichen von dem Unwesentlichen, auf sorgfäl
tiger Auslese des Wichtigsten und Wissenswürdigsten aus der unübersehbaren
Fülle des ihm unaufhöi-lich zuströmenden Stoffes. Hat er doch beispielsweise
— und dies ist, wenn ich nicht irre, schon längst bemerkt worden — aus den
vielen Kriegszügen des Cyrus nur drei zu eingehender Schilderung ausgewählt.
4. Weit berechtigter ist die Verwunderung darüber, dass der Historiker
es unterlassen hat, die VII, 213 in Aussicht gestellte genauere Belehrung
über die Tödtung des Ephialtes durch den Trachinier Atlienades seinen
Lesern zu ertheilen. Es ist dies, so viel ich sehen kann, der einzige Punkt,
der die Aufwerfung jener Redactions- oder Revisionsfrage überhaupt ermög
licht. Allein ehe wir aus solch’ einem ganz vereinzelten Vorkommnisse so
weitgehende Folgerungen ziehen, werden wir gut daran thun, der Möglichkeit
zu gedenken, dass eine Lücke des Geschichtswerkes jene wahrscheinlich sehr
kurze Mittheilung verschlungen hat. Und eine solche Lücke zum Mindesten
(im Ausmass von zwanzig Zeilen) ist VIII, 120 handschriftlich bezeugt, worauf
Stein in diesem Zusammenhang verständiger Weise hingewieson hat.
5. Dennoch hat eben derselbe Gelehrte und nach ihm Andere, wie
Rüse in einem Giessener Gymnasial-Programm vom Jahre 1S79: Hat Herodot
598
Gomperz.
sein Werk selbst herausgegeben? — von jener auf so schwanker Grundlage
ruhenden Hypothese einen Gebrauch gemacht, gegen den man nicht entschie
den genug Einsprache erheben kann. Ich will mich die Mühe nicht ver-
driessen lassen, zum Mindesten die sämmtlichen von Stein selbst vorge
brachten und zu IX, 83 zusammengestellten Behauptungen einer, wenngleich
summarischen, Beurtheilung zu unterziehen. Derselbe glaubt nämlich nach
trägliche Zusätze Herodot’s zu seinem Geschiehtswerlce an folgenden
Stellen zu erkennen:
I, 18, 4 (eomment. Ausg.), wo die Worte xa piv vuv — npoUEfyE Evxexa-
piveo; einen ,der nicht wenigen Zusätze“ bilden sollen, ,womit der Autor den
fertigen Text seines Werkes nachträglich berichtigte oder ergänzte“. Der
unbefangene Leser möge selbst entscheiden, ob meine in weit engere Grenzen
eingeschlossene Athetese (s. I, IGO) nicht ausreicht, jeden wirklichen Anstoss
zu entfernen, und ob andererseits die von mir hervorgehobenen Anstösse
durch Stein’s Voraussetzung wirklich beseitigt werden. Ich frage hier nur:
angenommen, jener Process habe wirklich stattgefunden, wie kann es möglich
sein, ihn mit einiger Sicherheit zu erkennen? Denn Ilerodot wollte (falls
Stein’s Annahme überhaupt richtig ist) diesen Zusatz mit dem Texte ver
schmelzen — man beachte die Anfügung mit xöc pVv vuv und ferner die
Worte w; xai npoxEpov poi SEBrjXwxat — und doch soll ihm das so wenig
gelungen sein, dass der Kritiker seinen Finger auf jene Zuthaten legen
und von ihnen sagen kann: sie ,heben in überraschender Weise das bisher ...
Erzählte zum Theil wieder auf und unterbrechen überdies“ u. s. w. u. s. w.
— Und damit haben wir wohl den wundesten Fleck dieser ganzen Hypothese
berührt; In der That: blosse Marginalzusätze lassen sich oft genug als
solche erkennen (und mögen in einzelnen, wenngleich seltenen Fällen auch
ihren Urheber verrathen), desgleichen doppelte Recensionen und andererseits
eigentliche, absichtliche Interpolationen. Doch von alle dem ist hier nicht
die Rede; vielmehr gilt es in der Mehrzahl der Fälle, von der Hand des
Verfassers herrührende Ueberarbeitungen herauszufinden, womit dem
menschlichen Scharfsinn eine, so viel ich sehen kann, schier unlösbare Auf
gabe zugemutliet wird. Müssten doch dergleichen Stücke des Be
fremdlichen eben genug enthalten, um nicht für ursprüngliche
Aufzeichnungen des Autors, und nicht genug, um für Interpola
tionen zu gelten! Wo ist der Kritiker, dessen Luchsauge diese haar
scharfe Linie mit Gewissheit oder auch nur mit annähernder Wahrschein
lichkeit zu erspähen vermöchte? In Wahrheit entpuppen sich denn auch
alle diese angeblich nachträglichen Zusätze zum Theil als verderbte und
interpolirte Stellen, zum andern Theil aber als völlig unverdächtige Stücke,
deren Verknüpfung mit dem Vorangehenden oder Nachfolgenden nur bisweilen
einen Anstrich von Gewaltsamkeit besitzt, — ein Eindruck, der in der Ge-
sammtanlage des herodoteischen Werkes tief begründet ist und bei der schein
bar absichtslosen Verbindung so vielartiger Stoffe nicht leicht ganz zu ver
meiden war. Man erinnere sich doch der so häufig wiederkehrenden, auf
Abschweifungen von dem ins Auge gefassten Ziele und auf die Rückkehr zu
demselben bezüglichen Wendungen (indvEipi 5e eju xov npoxEpov Jjia Wäjwv
Herodotoisclie Studien II.
599
Xoyov u. dgl. m.) und auch des principiellen Ausspruchs unseres Autors
(IV, 30): apooOijxct; yäp Srj poi ö Xiyoc eI; etpyijs EBi£r]To, den doch kaum irgend
Jemand mit einem neueren ITerodot-Forsclier so verstehen wird, als wollte
der Halikarnassier sagen: ich bin von Anfang an darauf ausgegangen, mein
Werk durch nachträgliche Zusätze zu erweitern!
I, 125 hat Stein das Verdienst, die Stelle k'an 8s IlEptje'cov — Xotyäp-not
als anstüssig bezeichnet zu haben. Allein den bedeutendsten Anstoss, der
für mich wenigstens in der Phrase Ectti 8k raoE liegt (was heissen soll: die
von Cyrus berufenen Stämme waren diese), insbesondere nach dem sprachlich
so gleichartigen und sachlich so verschiedenen Satze kor: 8k — ys'vEa, räumt
die Vermutliung nicht hinweg, der Autor habe diese Bemerkungen ,erst
später 1 , ,oline strenge Rücksicht auf den Zusammenhang des Textes“
hinzugefügt. Auch der übel gewählte Aorist «vfitEtoe — als ob der weiterhin
erzählte Erfolg hier schon bekannt wäre — bleibt auf diese Weise unerklärt.
Die Stelle gilt mir als das Machwerk eines nicht kenntnisslosen, aber wenig
sprachkundigen Interpolators.
II, 58 wird zu IX, 83 mit aufgeführt; doch unterlässt es Stein, zur Stelle
selbst etwas Derartiges zu bemerken. Man sieht: wenn nicht das Werk des
Historikers, so scheint doch jenes seines Herausgebers einer endgiltigen und
einheitlichen Redaction zu ermangeln.
II, 127 hätte schon das in jenem Fall ganz bezuglose yccp in oute y«p
üteeoti Stein vor der Anwendung seiner Lieblingshypothese bewahren sollen.
Nur die Annahme einer kleinen Lücke (mit Abicht), etwa (cö-Xco; 8k sv8E£<jTk-
pv|v), nach Taüta — E[AETpvj(jap.£v, tliut den Bedingungen des Falles ein volles
Genüge.
II, 156 fin. wird das Zusammengehörige nicht erst ,durch die später
eingefügte Bemerkung über Aescliylos“, sondern bereits durch die zwei, auf
die Verwandtschaftsverhältnisse und Benennungen ägyptischer Gottheiten
bezüglichen Sätze getrennt. Sollen auch diese auf späterer Zuthat beruhen?
Man kann das Eine so gut wie das Andere behaupten; nur dürfte es einiger-
massen schwierig sein, auf dieser abschüssigen Bahn zu rechter Zeit inne
zu halten.
III, 89 mag man einen Augenblick darüber stutzig werden, dass die
Ankündigung xara raSs SieD.s erst nach mehr als zehn Zeilen zu ihrem
Rechte gelangt. Allein wie sollten die Mittheilungen über die Höhe der
persischen Tribute dem griechischen Leser verständlich werden, ehe er über
die Bedeutung der dabei angewandten Massgewichte aufgeklärt ist? Und da
nun die Darstellung einmal — notlnvendiger Weise, wie auch Stein anzu
erkennen scheint — aus ihrem Geleise gekommen ist, was Wunder, dass der
Geschichtschreiber nicht sofort wieder in die gerade Strasse einbiegt, sondern
eine Bemerkung hier einschaltet, für die er sonst nicht leicht eine ange
messene Stelle gefunden hätte? Das mag nicht übermässig kunstvoll sein,
aber es ist der echte und rechte Herodot. Nicht viel anders steht es um
III, 98, eine Stelle, die auf den ersten Blick mehr als irgend eine
andere zu Gunsten der Stein’sclien Hypothese zu sprechen scheint. Hier
wird die Ankündigung einer Schilderung (rpo'mp toiöSe xtwvtoci) von dieser
GOO
G omperz.
selbst durch nahezu fünfzig 1 Zeilen getrennt. Aber der Uebergang von einem
Thema zum anderen ist jedesmal ein völlig sach- und naturgemässer, und
während der Historiker von seinem Gegenstände abzuschweifen scheint, liest
er unterwegs alle Elemente seiner späteren Darstellung wie zufällig auf:
die Sand wüste an den Grenzen Indiens, die streitbarsten 1 Inder, welche eben
die goldgewinnenden sind (im Unterschied von und im Zusammenhang mit
den übrigen Stämmen des weiten Landes, ihren Sitten und Bräuchen), end
lich jene Riesenameisen, welche bei der Gewinnung des Goldes in der
Sandwüste eine so bedeutende Rolle spielen. Wer hier etwas als späteren
Zusatz 1 ausscheiden will, kann wieder nicht einfache Randbemerkungen aus
schalten, sondern er muss eine vollständige Umarbeitung der Stelle voraus
setzen, beziehungsweise vornehmen. Und welche unübersteigliche Hinder
nisse solch einem Beginnen entgegenstehen, glauben wir bereits sattsam ge
zeigt zu haben. Bei
III, 131, 12—15 brauchen wir uns um so weniger aufzuhalten, da
Stein’s eigene Bemerkungen: ,eine gelehrte chronologische Notiz“, ,ohne
klaren Bezug zum Vorhergehenden“ (aber doch an dieses geknüpft, daher
keine blosse Marginalglosse, können wir hinzufügen!), ,eine unleidliche
Tautologie“ u. s. w-, nur dazu dienen können, die Stelle als Interpolation zu
kennzeichnen (so schon Abicht), womit wir von Herzen einverstanden sind.
Zur Zeit, da Herodot, Jedenfalls erst nach Vollendung des Ganzen“, diese
und ähnliche Stellen seinem-Werke einfügte (was übrigens Herr Stein dies
mal nicht mit voller Zuversicht behaupten will), muss seine Geisteskraft
bereits erheblich gelitten haben.
IV, 2 überhebt uns der Wortlaut von Stein’s Anmerkung jeder Ent
gegnung. ,Das sowohl seinem Inhalte nach sehr problematische, als
in den Zusammenhang schlecht passende Capitel scheint erst nach
träglich vom Verfasser eingesetzt zu sein.“ Man lese: scheint interpolirt
zu sein, und man hat aus den diesmal sehr wohlbegründeten Prämissen den
allein angemessenen Schluss gezogen. (Krüger und Abicht halten die Stelle
für lückenhaft.)
IV, 14 und 15 ,werden erst nachträglich hinzugekommen sein“, weil
— nun, weil Ilerodot’s Herausgeber es verwunderlich findet, dass dieser nach
Abschluss einer Episode mittelst der in diesem Falle ganz gewöhnlichen
Redewendungen (’ApiarEco piv vuv ~Epi -oaocuta EiprjaO«. zrji 81 yijc trj; TtEpi
o3e o Xoyog copprjro« XEyEaOai xte. c. 15—IG) zu seinem Hauptthema zurück
kehrt. Die zuversichtliche Diagnose, vermöge welcher
IV, 86 fin. der parenthetische Satz xupiyjzoa 8e xat — u.^Trjo rou
ITovrou für ,eine nachträglich zugefügte Notiz“ erklärt wird, darf mit Fug unser
Staunen erregen. Wieder handelt es sich nicht etwa um eine abgerissene,
unverbundene Randbemerkung, sondern um einen Satz, der echt oder unecht
sein mag, dem aber wahrlich Niemand die nachträgliche Hinzufügung vom
Gesichte ablesen kann. Doch was soll man erst zu jener Musterleistung
kritischer Mantik sagen, die uns zu
V, 27 begegnet? In dieser allerdings schwer beschädigten Stelle (die
jedenfalls zugleich lückenhaft und interpolirt ist) erkennt Stein nicht weniger
Herodoteische Studien II.
601
als vier verschiedene Schichten: den ursprünglichen Text, eine nachträgliche
,Randnote 1 des Autors, welche dieser ,später mit dem Context zu ver
schmelzen 1 beabsichtigte, die aber eine ungeschickte Hand ,unpassend“ in den
Text ,eingefügt“ hat, und endlich die Zuthat eines noch Späteren, der ,den
hierdurch zerstörten Zusammenhang“ wieder ,herzustellen“ bemüht war. Thut
es wirklich Noth, über diese Art von Textes-Geologie ein Wort zu verlieren?
VI, 39 und 60 (zwei auf die Uebereinstimmung einiger spartanischer
mit persischen und ägyptischen Einrichtungen bezügliche Capitel) sollen.
,wenn sie auch vom Verfasser herrühren, doch wohl erst nachträglich in den
Text gekommen“ sein. Warum? Weil sie ,nebensächliche Bemerkungen“
enthalten. Herr Stein scheint also von der nicht eben gewöhnlichen Voraus
setzung auszugehen, dass ein Autor bei der ersten Abfassung seines Werkes
kritischer und wählerischer verfährt als bei der Revision oder Neubearbeitung
desselben. Nebenbei wird ein formales Bedenken, nicht gegen die beiden
Abschnitte, sondern gegen die letzten zwei Zeilen des zweiten derselben er
hoben, welches mir wenig begründet scheint. Es ist von der Erblichkeit
gewisser Berufszweige in Sparta die Rede, nnd da scheint es denn Herodot
besonders bemerkenswerth, dass über die Wahl von Herolden nicht, wie
anderwärts, die Stimmbegabung, sondern nur die Abstammung entscheidet.
Ich kann nicht im Entferntesten linden, dass in den Worten ou xaxi Xapjxpoxao-
v(7)v otitiGe'pevcu aXXoi acpe'a; 7rapazXrjfouoi, aXXa xaxa xa jxaxpia ETXixeX^ouai ,das
Asyndeton“ (an der Spitze des das Vorangehende weiter ausführenden Satzes)
oder ,der lose“ (soll wohl heissen ausschliessliche) ,Bezug auf den einen
Stand der Herolde“ (mit ol xijpuxE; begann die Aufzählung jener Stände, mit
xrjou; xr'p'jxo; scliliesst sie wieder ab) ,den flüchtigen Anmerker verratlien.
Die zwei Capitel geben meines Erachtens zu kritischen Anfechtungen irgend
welcher Art nicht den allermindesten Anlass.
VI, 79. Die parenthetische, auf die Höhe des im Peloponnes üblichen
Lösegeldes für Gefangene bezügliche Notiz mag man als nicht zur Sache
gehörig immerhin beanstanden und demgemäss athetiren. Allein Stein’s
Lieblingsauskunft ist unbedingt unanwendbar; denn die Art der Anknüpfung
ist die beste, welche die Sache irgend zuliess, und Herodot hätte die Notiz,
falls er sie vom Rande in den Text zu verpflanzen beabsichtigte, wieder
genau so fassen müssen, wie wir sie bereits jetzt in diesem lesen.
Zu VI, 98 fin. (dem Versuch einer Wiedergabe dreier persischer Königs
namen) lesen wir: ,Die Stelle ist verdächtig, nicht ihres Inhaltes oder ihrer
Sprache wegen, sondern weil sie nur einen zufälligen Zusammenhang mit
dem Vorhergehenden hat und wie eine gelehrte Randnote aussieht. Dennoch
mag sie von Herodot herrühren.“ Wenn freilich unser Historiker die leidige
Gewohnheit hatte, den Rand seines Handexemplars mit allerhand ungehörigen
Auslassungen anzufüllen, so ist die Aufgabe seiner I lorausgeber eine recht
missliche geworden. Weniger conservative und minder phantasievolle Kritiker
werden allerdings Wesseling’s Athetese mit beiden Händen unterschreiben
und sich auch des Umstandes erinnern, dass die unmittelbar vorangehenden,
in einem Theil der Handschriften fehlenden Zeilen einmüthig verurtheilt
werden. Die Bemerkung zu
Sitisungsber. d. phil.-liist. CI. CIII. Bd. II. Illt.
39
ggg
! m*
602
Go mp er z.
VII, 20, 5 scheint uns so vollständig aus der Luft gegriffen, dass man
sich wohl der Mühe enthoben erachten kann, sie eingehend zu widerlegen.
Wo konnte wohl Herodot diesen ,Excurs über das Verhältniss des Xerxeszuges
zu früheren Expeditionen 1 besser unterbringen, als an der Stelle, wo er von
den riesigen, vier volle Jahre in Anspruch nehmenden Vorbereitungen zu
diesem Kriegszuge gesprochen hätte? Wie man liier von einem ,losen sach
lichen Verbände“ sprechen kann, ist mir ein Räthsel, und auch die sprachliche
Anknüpfung: ,Xerxes zog ingenti copiarum manu (Stein’s eigene Uebertragung)
ins Feld: denn fürwahr einen gewaltigeren Kriegszug hat es nie gegeben 1
u. s. w. bedarf keiner Rechtfertigung.
VII, 96 in. soll das Sätzchen IjcsßatEuov — Zscza: ,später nachgefügt 1
sein. Dass eine auf die gesammte Flotte bezügliche Angabe nirgends besser
am Platze ist als am Ende der Aufzählung der einzelnen Schiffscontingente,
dürfte Niemand leugnen. Doch ist ein Mangel an Concinnität hier sowohl
wie in den nächsten Sätzen (touroov 8k —. toütokj: r.Zai —.), die auch
Stein nicht für spätere Zuthaten hält, nicht zu verkennen. Der Grund dieses
stylistischen Mangels ist meines Erachtens ein sachlicher: er liegt in der
Schwierigkeit, mehrere von einander unabhängige tliatsächliche Einzelan
gaben in angemessener Weise zu verbinden.
VII, 106, 4. Die auf diese Stelle bezügliche Bemerkung (zu Z. 11)
habe ich zu wiederholten Malen gelesen, ohne mich doch des Verständnisses
völlig sicher zu fühlen. Es mag mir daher erlaubt sein, dies eine Mal, wo ein
missbilligendes Urtheil so leicht einem Missverständniss entspringen könnte,
Stillschweigen zu üben.
VII, 113, 4 nennt Stein die Worte et: !u>v nicht mit Unrecht ,für
das Verständuiss mehr als entbehrlich 1 . Da nun in demselben Satze
auch eine sprachliche Absonderlichkeit sich findet: Xöy ov xoiEiaOai, wo Herodot
sonst nvrj[j.y]v TrotefdOai zu sagen pflegt, so liegt die Annahme nahe, diese
anstössigen Worte seien eingeschoben und des Geschichtschreibers einfache
Angabe Tfjs ijpyj Boyr); sei von einem übereifrigen Leser, der sich des vor
her erzählten Todes jenes Persers (c. 107) und zugleich einer ähnlichen, aber
doch auch verschiedenen Wendung (IV, 16) erinnerte, zu dem wenig ge
schickten Satz erweitert worden, der uns jetzt vor Augen liegt. Warum aber
der sein Werk revidirende Autor das an den Rand geschrieben haben soll,
was ,für das Verständuiss mehr als entbehrlich ist 1 , dies ist mir mindestens
wenig begreiflich. Zu
VII, 137, 12 wird der den Aneristos, Sohn des Sperthias, näher bezeich
nende Satz S? ecXe— jGojpE: ävopwv als ein ,überflüssiger, notize n'artiger
Zusatz 1 bezeichnet. Dieser Einwand kann sich nur gegen den Inhalt des
Satzes richten und müsste, falls er (was meine Meinung nicht ist) begründet
wäre, seine Tilgung zur Folge haben. Die Form ist völlig anstandslos;
sie ist eben diejenige, in welcher Herodot ihn schliesslich in den Text zu
setzen gewillt sein musste; wozu kann also die Muthmassung dienen, dass er
ihn vorerst am Rand verzeichnet habe? Zu
VII, 162, 7 nennt Herr Stein die Worte ro lOsXst XE'yEtv (mit Eltz,
p. 332—333) ,die erklärende Randnote eines Lesers 1 . So hat denn
Herodoteische Studien II.
G03
offenbar nur ein lapsus memoriae die Anführung dieser Stelle zu IX, 83
veranlasst und somit den Schein erzeugt, als halte Herr Stein den sein Werk
revidirenden Autor selbst für eben den Leser, der die Worte outo; ok o vöo;
toü ^rjp.aro; durch dio am Rand verzeichnete Phrase to eOe'Xei Xfyew zu
glossiren für gut befunden hat. Bei
VII, 191 jedoch gibt es keine derartige Zweideutigkeit. Hier erfahren
wir, dass die Sätze ursprünglich anders und besser zusammenhingen und
dass — dies wird uns mit einer Zuversicht mitgetheilt, die uns füglich ver
blüffen darf — ,erst nachträglich Ilerodot die Episode von Ameinokles
eingeschoben und jenen Zusammenhang gelockert 1 hat. Mit an
deren Worten: der Herausgeber findet eine Stelle nicht in wüuschenswerther
Ordnung und weiss dafür keine glaubhaftere Erklärung als die Annahme,
dass der Verfasser sein eigenes Werk nachträglich verdorben hat! Warum
freilich der treffliche Schriftsteller ein so linkischer Revisor gewesen sein soll,
dieses Räthsel bleibt hier und anderwärts ungelöst. Denn, wohlgemerkt, nicht
den Mangel einer letzten Redaction, sondern eine vom Autor selbst verschul
dete Verballhornung seines Textes meint Herr Stein und muss er meinen;
sieht doch jene Episode einem blossen vorläufigen Marginalzusatz so unähnlich,
dass sie weit eher ein Zuviel als ein Zuwenig von Ausarbeitung aufweist und
durch einen — von der Umgebung sich merklich abhebenden — eigenthiim-
licli gespreizten und prätentiösen Ton den Verdacht einer, freilich uralten,
Interpolation wachruft'. Und dieser Argwohn wird allerdings dadurch erheb
lich verstärkt, dass die Ausscheidung des Stückes eng Zusammengehöriges
näher aneinander rückt. Ganz ebenso wenig wird Herr Stein behaupten
wollen, dass
VII, 193 der von ihm anstössig gefundene Participialsatz IIoaEiSüovo;
— vopuiJovcEs eine Randnotiz des Autors sei. ,Der Zusatz ist wohl erst später
vom Autor nachgetragen 1 , — diese Bemerkung kann auch hier nur besagen
wollen, dass Herodot sein Werk mit so beispiellosem Ungeschick revidirt
hat, dass wir auf Schritt und Tritt seine nicht bessernde, sondern ver
schlechternde Hand erkennen. Wem der brachylogische Ausdruck für
sprachwidrig gilt, dem bleibt nichts übrig als die Auskunft der Atlietese;
uns freilich scheint der Umstand, dass der Subjectbegriff des Participialsatzes
ein einigermassen weiterer ist als jener des Hauptsatzes (,sie benannten und
man benennt noch heute 1 ), keinerlei kritischen Eingriff zu rechtfertigen (vgl.
Krüger 57, 9, 1—2). — Zu
VII, 210 macht Stein mit vollem Recht darauf aufmerksam, dass der
herbe Tadel über die Untüchtigkeit der persischen Truppen (ofjXov 8’ sitofsuv
— oXfyoi 8e av8p=s) zur ,Schilderung des rastlosen Angriffs 1 derselben durchaus
nicht stimmen will. Allein heisst es diese Schwierigkeit hinwegräumen,
wenn wir annehmen, dass der Autor die Worte ,wohl erst später eingefügt 1
hat, ,an nicht eben passender Stelle 1 ? Ich kann nur mein Unver
mögen eingestehen, dieser Bemerkung irgend einen verständlichen Sinn ab
zugewinnen; denn (so bemerkt dies eine Mal auch Herr Tournier, Exercices
critiques pag. 140) ,comment il a pu eehapper ä Ilerodote que cette addi-
tion le mettait en contradiction avec lui-meme, c’est co qu’il n’eüt pas
39*
604
Gomperz.
ete superflu d’expliquer*. Das kritische Hilfsmittel, zu welchem wir
immer dann greifen müssen, wenn ein an sich vortrefflicher Satz ,an nicht
eben passender Stelle* erscheint, ist die Transposition; und so darf man
wohl vermuthen, dass die Darstellung des erfolglosen Kampfes der feind
lichen Ueberzahl mit dem wunderbar tapferen Häuflein der Griechen durch
eben diesen emphatischen Ausspruch abgeschlossen wurde. Am Schluss des
c. 212 (unmittelbar vor den Worten: ir.opio'not; 81 ßaatHo? xri) dürfte seine
ursprüngliche Stelle gewesen sein. (Dazwischen liegen 29 Zeilen der Stein’-
schen Ausgabe, das Vierfache des Zwischenraumes, den wir bei der einzigen
anderen von uns als nöthig erachteten Umstellung — III, 143 — an
nehmen mussten. Darf man hierin einen auf die Einrichtung des Arche
typus bezüglichen Wink erblicken?)
VII, 223 liegt ohne Zweifel ein Textesschaden vor. Mit der Verlegung
des Kampfplatzes auf den freieren Raum vor der Passenge (e; to EupürEpov
xoü abyj'ioi) mussten die Verluste auf beiden Seiten wachsen. Allein während
der Geschichtschreiber den Vorgang im Einzelnen auch tliatsächlich so dar
stellt, so gilt doch seine darauf bezügliche allgemeine Bemerkung (etutetov
jtXqOe'i r.oXXo'i rtov ßapßapcov) nur dem einen Tlieil, und zwar demjenigen, auf
welchen dieselbe jedenfalls geringere Anwendung fand. Da nun ferner in
den Worten r.oXXol ji'ev 81] — m iXlojXcov noch von den Barbaren die Rede
ist, die unmittelbar folgenden 81 Xoyoc oOSe'i; tou ctroXXupivou aber (wie
die Begründung ars yap xr£. zeigt) sich auf die Griechen beziehen und es an
jedem vermittelnden Uebergange fehlt, so lässt sich — wie Dobree (advers.
pag. 40) einsah — kaum an dem Ausfall eines Sätzchens zweifeln, welches dieser
zwiefachen Anforderung Genüge 'leistete, und das, wie der soeben genannte
Kritiker vermuthet hat, etwa also lautete: (feucrov 81 xctpra jroW.oi xai tfiv
'EXXijvtuv). Diese Annahme erledigt alle Schwierigkeiten, denn in dem Sub-
jectswechsel: tote 81 aupplafovTEs — lumrov xrl. vermag ich keine solche zu
erblicken; bereits das Particip bezeichnet ja eine beiden Theilen gemein
same Handlung, und ist es doch, als oh Herodot sagen wollte: tote 81 nup-
alayovTE; — Ejcmtov apipotEpot nXqOE'i r.oXXo!, eine Ausdrucksweise, die nur
um des bequemeren Ueberganges zur Einzeldarstellung willen in ihre beiden
einander folgenden Bestandtheile zerlegt wird. (Vgl. auch die Zusammen
stellungen der Herausgeber zu I, 33 und was wir zu I, 31 bemerkt haben.)
Stein’s Vermuthung einer nachträglichen Abfassung von Z. 10—16 aber
unterliegt nicht nur unseren nunmehr bereits so oft wiederholten Einwen
dungen, sondern überdies noch einem speciellen, an sich kaum abzuweisenden
Einwurf: wie über alle Massen unwahrscheinlich ist es doch, dass der Histo
riker den integrirenden Theil eines Gesannntvorganges — und zwar an einem
Höhepunkte seiner Geschichtsdarstellung! — erst nachträglich erfahren, oder
wenn er ihn schon früher kannte, nicht sofort in die Erzählung verwoben
hat! — Doch es ist nicht immer leicht, über diese Willkürannahmen mit
ernster Miene zu verhandeln, am allerschwersten vielleicht zu
VII, 238. Xerxes lässt dem todten Leonidas den Kopf abschlagen und
der Geschichtschreiber bemerkt dazu, dieser an einem Leichnam verübte
Frevel sei wohl der stärkste Beweis dafür, dass der Perserkönig keinen an-
Horodoteisclie Stadien II.
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deren Menschen so sehr gehasst habe als den heldenhaften Vertheidiger der
Thermopylen. Was kann wohl besser Zusammenhängen? Weil aber nach
SfjXa (in orjXo: poi uoXXocji pkv xtk.) die zu erwartende Yerbindungspartikel
wv, vuv oder dgl. fehlt, — so soll — nicht etwa eine solche ausgefallen,
(Krüger will 8k einschalten) soudern ,die Bemerkung wohl später nachgefügt
sein 1 ! Wer, der nicht schon von der Wahrheit jener Hypothese überzeugt ist,
wird sie auf solche Gründe hin annehmen wollen, und selbst welcher Adept
der Lehre wird diese ihre Anwendung billigen können? Setzt dieselbe doch
voraus, dass Herodot jenen Satz, der ganz und gar in seiner gewohnten
Manier geschrieben ist (uoXXoiot pkv zai aXXoici TEzprjpioiai, h ok xai twoe!)
und einer provisorischen Randnotiz so wenig gleicht wie irgend ein Kunst-
product seinem Rohstoff, zur Aufnahme in sein Werk völlig fertig gestellt
und nur eben die Einschaltung jener Partikel — wir müssen wohl sagen, einer
zweiten Revision Vorbehalten hat! — Zu
VII, 239 verwickelt sich Herr Stein in einen Widerspruch, dessen
Auflösung wir ihm selbst überlassen müssen. Er findet ,das Geschichtchen
von Demaratos’ Brief, welches den Inhalt des Capitels bildet, ,hier um so
passender untergebracht, als 1 u. s. w. Er erhebt auch gegen ,die
ganze Uebergangsformel*, welche den Abschnitt an das früher Erzählte an
knüpft und die er eingehend erläutert, nicht den mindesten Einspruch, eben
sowenig gegen darin enthaltene sprachliche oder sachliche Einzelheiten.
Dennoch wird' derselbe zu IX, 83 unter den ,Nachträgen 1 angeführt.
Warum, wissen wir nicht; uns freilich gilt Krüger’s Nachweis, dass ,dies
ganze Capitel ein ungehöriges Einschiebsel 1 ist, für vollständig gelungen
und gesichert.
IX, 73 soll wieder Herodot den Satz: oürw wüte—■ dzE/saOcu mit so
argem Ungeschick interpolirt oder, wie Herr Stein dies ausdrückt ,wohl erst
nachträglich eingesetzt* haben, dass wir die Fuge ohne Weiteres ajs solche
erkennen. Der Satz gewinnt jedoch alsbald den vermissten .passenden An
schluss an das Vorhergehende*, wenn wir die Einzelvorstellungen der ,Proe
drie* und ,Atelie* zum Gesammtbegriff der ,ehrenden Auszeichnung* oder
(wie der Zusammenhang es erheischt) der ,Bethätignng der Dankbarkeit*
erweitern. Doch wozu viele AVorte? Wie mag nur Herr Stein selbst, die
Stelle übersetzen? ,Von diesem Dienste her* (so lautet seine Uebertragung)
.gemessen die Dekeleer in Sparta Freiheit von Steuern und Ehrensitz bei
den Spielen noch bis auf diesen Tag, dergestalt, dass selbst noch in dem
Kriege . . . die Lakedämonier . . . allein Dekeleas verschonten.* Eine Frei
heit der Anknüpfung also, die der deutsche Uebersetzer sich unbedenklich
gestattet, sollte dem Autor verwehrt sein, der griechisch schrieb, d. h.
in einer Sprache, die von aller pedantischen Wortgerechtigkeit freier ist als
vielleicht jede andere!! Herr Stein bemerkt freilich noch: ,Wäre, wie ver-
muthet worden, dieser Abschnitt der Erzählung erst zur Zeit des Krieges ge
schrieben, so wäre die ganze Aufzählung der Ehrenrechte, die doch nur im
Frieden galten, recht seltsam.* Was soll man, da es nicht als höflich gilt, ein
gegnerisches Argument zu ignoriren, darauf erwidern? Doch wohl nur, dass
der Ausbruch eines Krieges nicht jede Erinnerung an die vorhergegangene
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Goraperz. Herodotcisclie Studien II.
Friedenszeit auszulöschen pflegt, und dass der Kriegszustand stets als eine
zeitweilige Unterbrechung der normalen Friedensbeziehungen gegolten
hat. Zu
IX, 83 endlich genügt es glücklicherweise, auf Kriiger zu verweisen,
mit dessen Verwerfungsurtheil ich vollständig übereinstimme. Stein’s An
nahme, dass der nichtssagende Notizenkram, der dieses Capitel ausfüllt, ,nicht
bei der ersten Verfassung geschrieben* sei, erscheint diesmal wie immer als
ein ebenso beweisloser wie unzulänglicher Nothbehelf. Kann jener Klein
kram überhaupt von Herodot seihst herrühren, so mag er ihn ganz ebenso
wohl sogleich in den Text, als vorerst an den Rand geschrieben haben (wenn
letzteres Stein’s Meinung ist); ja in solchem Falle wäre, wie wir schon ein
mal bemerken mussten, eine nachträgliche Ausmerzung weit eher zu erwarten
als eine nachträgliche Hinzufügung. So darf man denn dieser ganzen, so
unbegründeten als unergiebigen, kein Problem lösenden oder auch nur ver
einfachenden, Schwierigkeiten nicht hinwegräumendeu, sondern häufenden Hy
pothese gegenüber wohl an den alten Grundsatz der Scholastiker erinnern:
ontia non sunt multiplicanda praeter necessitatem.
Nachtrag,
Zu VIII, 79, 15: So lange nicht Jemand den Beweis liefert, dass xottpo;
in alter Sprache genau so viel wie ypovo; bedeutet, wird man statt h te to>
aXXco xaipoi zu lesen haben: h tl mo aXXto zatpw.
Hätte ich rechtzeitig bemerkt, dass Stein in der letzten Auflage des
zweiten Heftes seiner comment. Ausgabe (1881) den S. 535 besprochenen
Aenderungsvorschlag zu II, 65, 17 fallen gelassen hat, so wären meine hierauf
bezüglichen Bemerkungen natürlich unterblieben. Ein gleichartiges Versehen
hat es verschuldet, dass meine Aeusserung (S. 538) über Krüger’s Anmerkung
zu II, 84 fin. nicht einigermassen modificirt und jene über seine Erklärung
von II, 86, 8—9 nicht getilgt worden ist.
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BIBL ÖAW