Full text: Sitzungsberichte / Akademie der Wissenschaften in Wien, Philosophisch-Historische Klasse Sitzungsberichte der Philosophisch-Historischen Classe der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, Wien, 77. Band, (Jahrgang 1874)

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Scherer. 
den Mund gelegt und rührt es von einem männlichen Dichter 
her? Der epische Eingang scheint dem letzteren mehr gemäss. 
Und vielleicht auch die Art, wie der Falke hier verwendet 
wird. Der Falke ist das Bild des streitbaren Mannes. ,lch 
habe heute Falken ausfliegen sehen*, sagt ein Bote bei Arnold 
von Lübeck 2, 18. Und es ergibt sich gleich, dass zwanzig 
adelige Jünglinge damit gemeint sind. Der ritterliche Geliebte 
wird daher oft mit dem Falken verglichen, wie bekannt: 
vergl. Vollmüller Kürenberg (Stuttgart 1874) S. 17 ff. Er ist 
ein gezähmter Falke, so lange er treu bleibt. Aber auch 
umgekehrt für die Geliebte wird der Vergleich gebraucht. 
vnp unde vederspil die iverdent lihte zam, singt ein Ueber- 
müthiger MF. 10, 17. Und der Troubadour Guiraut von Borneilh 
hat einen Traum von einem wilden Sperber, der sich auf seine 
Faust setzte und abgerichtet schien, erst scheu, dann anschmieg 
sam und zutraulich — und der Traum wird ihm auf eine hohe 
Freundin gedeutet, die er gewinnen würde (Diez Leben der 
Troubadours S. 136). Der Falke im Munde der Frau also ist 
der Geliebte. Der Falke im Munde des Mannes ist die Ge 
liebte. Hier aber, in dem vorliegenden Gedichte, steht er als 
Symbol der Freiheit und die Frau vergleicht sich selbst mit 
ihm: der Falke fliegt dahin wo es ihm gefällt, er wählt sich 
den Baum, der ihm gut dünkt: so hat sie sich den Geliebten 
erkoren. Ich weiss nicht, ob ich meinem Gefühle trauen 
darf, aber der Vergleich scheint mir etwas Unweibliches zu 
haben. Ich traue ihn eher einem Manne zu, der Frauen 
empfindung zu schildern sucht, als einer Frau, die ihren 
eigenen Gefühlsgehalt in Verse fasst. Ich finde auch sonst 
nichts in dem Gedichte, was ich nicht einem Manne beimessen 
könnte. Die geheimnissvollen Offenbarungen zarten Seelen 
lebens, welche uns in den kürnbergischen Frauenstrophen 
geboten werden, geben uns den Massstab für dieses Gedicht. 
Es wäre darnach das älteste seiner Gattung, das älteste von 
einem Manne im Sinn und im Namen der Frau gedichtete. 
Das Motiv kehrt bei Meinloh MF. 13, 27 wieder. 
Sollte nicht ßeinmar durch die Strophe zu seinem Ge 
dichte MF. 156, 10 angeregt sein? Der Vergleich mit dem 
Falken kehrt wieder. Dort ist der hohe Flug Zeichen der 
Freude. Die bei Reinmal- so seltene Einstrophigkeit ist be-
	        
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