Full text: Sitzungsberichte / Akademie der Wissenschaften in Wien, Philosophisch-Historische Klasse Sitzungsberichte der Philosophisch-Historischen Classe der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, Wien, 73. Band, (Jahrgang 1873)

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W e nier. 
mus für die philosophische Begründung des gemeinmensch- 
liclien religiösen Unsterblichkeitsglaubens nicht aufzukommen 
vermag. Ein wahrhaft speculativer Gedanke ist es aber ganz 
gewiss, wenn Thomas die unvergängliche Dauer des mensch 
lichen Seelenwesens aus der Fähigkeit der Seele, die Ideen 
der Dinge zu erfassen, folgert. Die intelligiblen Formen der 
Dinge — sagt Thomas — sind unvergänglich, weil sie in ihrer 
Allgemeinheit über alle Zeit erhaben sind; um so mehr muss 
jene Potenz unvergänglich sein, welche die Intelligibilien aus 
der Potenzialität in die Actualität ihres geistigen Seins über 
führt; denn, wie Aristoteles sagt: Faciens est honorabilius facto. 
Zufolge der Aufgabe, die wir uns stellten, die psycho 
logischen Anschauungen Wilhelms von Auvergne darzustellen, 
wollen wir ihm nicht weiter, als es für unseren Zweck nöthig 
ist, auf das Gebiet der Erkenntnisstheorie hinüberfolgen, und 
auch da nur zu dem Ende, um die Cousequenzen seiner psycho 
logischen Anschauungen auf diesem Gebiete zu beleuchten. 
Wilhelm glaubt 1 gegen die Aristoteliker erweisen zu sollen, 
dass die intellective Kraft der Seele, sofern sie rein und un 
gehemmt wirke, wie es im Stande der nicht verdorbenen Natur 
der Fall wäre, keineswegs auf die Wahrnehmung und Erkenn t- 
niss des Allgemeinen beschränkt, sondern auch das Besondere 
d. i. das Singuläre und Individuelle zu erkennen im Stande 
sei. Als Hauptgrund dessen wird angegeben, dass die intel 
lective Seele doch vor Allem darauf angelegt sei, Gott zu er 
kennen, der im höchsten Grade singularis et individuus sei. 
Dieses Argument würde wohl für sich allein beweisen, dass 
man in Wilhelm keinen speculativen Denker vor sich habe; 
die wunderbare Einzigkeit Gottes mit der Singularität der 
Sinnendinge, die Individuität Gottes mit dem individualisirten 
Wesen der singulären Gattungsdinge in eine Classe zusammen 
werfen, bleibt wohl hinter den allerbescheidensten Anforde 
rungen an ein philosophisch gebildetes Denken zurück, und 
lässt die Befreundung der damaligen Theologie mit der aristo 
telischen Philosophie als ein wahres, innerstes Zeitbediirfniss 
erscheinen. Solchen Ansichten gegenüber, wie Wilhelm sie 
aussprach, handelte es sich wirklich vor Allem zuerst darum, 
1 De an. V, 17.
	        
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