318
W e nier.
mus für die philosophische Begründung des gemeinmensch-
liclien religiösen Unsterblichkeitsglaubens nicht aufzukommen
vermag. Ein wahrhaft speculativer Gedanke ist es aber ganz
gewiss, wenn Thomas die unvergängliche Dauer des mensch
lichen Seelenwesens aus der Fähigkeit der Seele, die Ideen
der Dinge zu erfassen, folgert. Die intelligiblen Formen der
Dinge — sagt Thomas — sind unvergänglich, weil sie in ihrer
Allgemeinheit über alle Zeit erhaben sind; um so mehr muss
jene Potenz unvergänglich sein, welche die Intelligibilien aus
der Potenzialität in die Actualität ihres geistigen Seins über
führt; denn, wie Aristoteles sagt: Faciens est honorabilius facto.
Zufolge der Aufgabe, die wir uns stellten, die psycho
logischen Anschauungen Wilhelms von Auvergne darzustellen,
wollen wir ihm nicht weiter, als es für unseren Zweck nöthig
ist, auf das Gebiet der Erkenntnisstheorie hinüberfolgen, und
auch da nur zu dem Ende, um die Cousequenzen seiner psycho
logischen Anschauungen auf diesem Gebiete zu beleuchten.
Wilhelm glaubt 1 gegen die Aristoteliker erweisen zu sollen,
dass die intellective Kraft der Seele, sofern sie rein und un
gehemmt wirke, wie es im Stande der nicht verdorbenen Natur
der Fall wäre, keineswegs auf die Wahrnehmung und Erkenn t-
niss des Allgemeinen beschränkt, sondern auch das Besondere
d. i. das Singuläre und Individuelle zu erkennen im Stande
sei. Als Hauptgrund dessen wird angegeben, dass die intel
lective Seele doch vor Allem darauf angelegt sei, Gott zu er
kennen, der im höchsten Grade singularis et individuus sei.
Dieses Argument würde wohl für sich allein beweisen, dass
man in Wilhelm keinen speculativen Denker vor sich habe;
die wunderbare Einzigkeit Gottes mit der Singularität der
Sinnendinge, die Individuität Gottes mit dem individualisirten
Wesen der singulären Gattungsdinge in eine Classe zusammen
werfen, bleibt wohl hinter den allerbescheidensten Anforde
rungen an ein philosophisch gebildetes Denken zurück, und
lässt die Befreundung der damaligen Theologie mit der aristo
telischen Philosophie als ein wahres, innerstes Zeitbediirfniss
erscheinen. Solchen Ansichten gegenüber, wie Wilhelm sie
aussprach, handelte es sich wirklich vor Allem zuerst darum,
1 De an. V, 17.