Tirouische Noten.
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verbessert werden mussten. Nur Nachlässigkeit annelnnen zu wollen,
ist hier nicht möglich. Denn einige im Codex vorkommende Fehler
sind zu arg; andererseits würde dem auch die Wiederholung gewisser
Unrichtigkeiten an verschiedenen Orten widersprechen. Wie lässt
sich nun aber dieses Resultat mit dem früher erhaltenen, dass der
Schreiber ein gewisses Verständniss für die Noten verräth, zusam -
menreimen? Nach meiner Ansicht ist er nicht mehr mit dem voll
ständigen Systeme der Tironischen Schrift vertraut. Wenn den
noch seine Noten bis etwa auf ein Hunderttheil correct sind, so ver
dankt er cs einerseits einem guten Lexikon, das ihm zur Abschrift
vorliegt, andererseits ist er selbst ein gewissenhafter Copist. Dabei
kommt es ihm zuStatten, dass er doch noch einiges Verständniss für
die Notenbildung hat, sei es, dass ihm die einfacheren Regeln,
wenigstens die von den Tironischen Einzelbuchstaben, den gewöhn
lichsten Verschränkungen und den am häufigsten vorkommenden
liilfszeichen durch Überlieferung bekannt sind, sei es, dass er
tausende von Noten nachzeichnend sich diese einfacheren Regeln
abstrahirt und dann im weiteren Verlaufe selbstständig anwendet.
Der Schreiber des Cod. Gotwicensis gehört also in Bezug auf die
Kenntniss der Tironischen Schrift einer Übergangszeit an: in ihrer
Gesammtheit versteht er nicht mehr die Gesetze dieser scriptura
literalis, sondern bildet nur mehr oder minder mechanisch den
Notenvorrath nach, der ihm in Sammlungen früherer Jahrhunderte
vorlag.
Es. scheint mir, dass in dem trefflichen Werke Kopp's in der
Geschichte der Tironischen Schrift der Umstand, dass nothwendiger
Weise ein Übergangsstadium eintreten musste, nicht zur Genüge
berücksichtigt worden ist und dass aus diesem Grunde mehrere
Folgerungen, die er aus seiner Auffassung zieht und die er sofort als
Kriterien auf die Diplome des IX. Jahrhunderts anwendet, nicht
stichhaltig sind. Ähnlich wie dem Schreiber unseres Codex ist es in
einer gewissen Zeit den Notaren der Kanzleien oder jenen Männern
gegangen, die hie und da in Handschriften noch Tironische Noten
angewandt haben; sie haben wohl noch die Einzelbuehstaben und
deren einfachere Verbindungen, ferner die auxiliaria (die sich ja zum
Theil als Abkürzungszeichen das ganze Mittelalter hindurch erhalten
haben) gekannt, haben aber die Mehrzahl der Noten, als wenn sie
scriptura realis wären, ohne genaues Verständniss für deren Bildung