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Volksmärchen auch in Spanien, wenn auch erst in späterer Zeit,
Eingang gefunden und auch dort eine eigenthümliche Gestaltung
bekommen haben, die bei einem so frommen gläubigen Volke natür
lich meist einen legendenartigen Charakter annehmen musste *).
Die nachfolgenden, ihrem ursprünglichen Charakter noch treuer
gebliebenen Märchen werden dies noch mehr bestätigen und den
Beweis liefern, dass es auch hierin nur der rechten Forscher und
Sammler bedurfte, um den im Munde des spanischen Volkes noch
fortlebenden Antheil an dem grossen, ganz Europa gemeinsamen
Märchenschatze über jeden Zweifel zu erheben; so wird, was die
Brüder Grimm (a. a. 0. Th. III, S. 309) nur aus spärlichen Prä
missen scldiessen konnten, nun durch immer zahlreicher aufgefun
dene Belege documentirt, und schon durch das Vorliegende ist ein
schöner Anfang zu dem gemacht worden, was W. Grimm auch
damals (1856) nur noch als Wunsch aussprechen konnte, indem er
sagt (a. a. 0. S. 399): „Sammlungen von Märchen aus Spanien und
Portugal sind mir nicht bekannt geworden, und doch kann es
daran dort nicht fehlen, wenn man sie nur aufsuchen und
vor dem Untergange bewahren will“ 2 ).
[. Thiermärchen,
l.
Tom halben Bähnchen (Medio-Pollito).
(La Gaviota. Tomo I. p. 104—111.)
Es war einmal eine schöne Henne, die lebte ganz vergnügt
in einem Hofe, umgeben von ihren zahlreichen Jungen, unter
1) Vgl. darüber meine: „Studien zur Geschichte der spanischen und portugiesischen
National-Literatur“ Berlin 1859, 8., S. 513—514 und 547—548, wo mehrere Bei
spiele von der Umgestaltung solcher Märchen in Volksromanzen, besonders in
moderne Vulgärromanzen mit Hinweisung auf ihre nächsten Quellen gegeben
sind, — und die in den „Proben“ und von W. Grimm, in Haupt’s Zeitschrift,
Bd. 11, S. 210 ff., nach Milä y Fontanals catalanischen Versionen mitgetheilten
Märchen. — Dass übrigens schon viel früher manch märchenhafter Stoff, namentlich
in den mit den Apologen so nahe verwandten Thiermärchen, unmittelbar aus orienta
lischen und altclassischen Quellen in die spanische Literatur übergegangen sei, ist
aus den Werken des Infanlen D. Juan Manuel, der Erzpriester von Mita
und Ta lavera, u. A. bekannt (vgl. meine „Studien“; S. 89 ff., 109 ff., 234).
2 ) Hiezu gibt auch folgende Stelle eines Artikels von S. de la Selva über Dur an's
Bearbeitung des Märchens aus dem Pentamerone (V. 9, Le tre cetre) unter dem Titel: